Der grosse Trip
Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst
EAT, PRAY, LOVE meets Hape Kerkeling
Gerade 26 geworden, hat Cheryl Strayed das Gefühl, alles verloren zu haben. Drogen und Männer trösten sie über den Tod ihrer Mutter und das Scheitern ihrer Ehe hinweg. Als ihr ein...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der grosse Trip “
EAT, PRAY, LOVE meets Hape Kerkeling
Gerade 26 geworden, hat Cheryl Strayed das Gefühl, alles verloren zu haben. Drogen und Männer trösten sie über den Tod ihrer Mutter und das Scheitern ihrer Ehe hinweg. Als ihr ein Outdoor-Führer über den Pacific Crest Trail in die Hände fällt, trifft sie die folgenreichste Entscheidung ihres Lebens: mehr als tausend Meilen zu wandern. Die berührende Geschichte einer Selbstfindung - voller Witz, Weisheit und Intensität, mit einer respektlosen Heldin, die man lieben muss.
Klappentext zu „Der grosse Trip “
Eine unvergessliche wahre Geschichte, die erst Amerika eroberte und jetzt die Welt"Die Frau mit dem Loch im Herzen, das war ich." Gerade 26 geworden, hat Cheryl Strayed das Gefühl, alles verloren zu haben. Mit Drogen und Männern tröstet sie sich über den Tod ihrer Mutter und das Scheitern ihrer Ehe hinweg. Als ihr ein Outdoor-Führer über den Pacific Crest Trail in die Hände fällt, trifft sie die folgenreichste Entscheidung ihres Lebens: mehr als tausend Meilen zu wandern, durch die Wüsten Kaliforniens, über die eisigen Höhen der Sierra Nevada, durch die Wälder Oregons bis zur "Brücke der Götter" im Bundesstaat Washington - allein, ohne Erfahrungen und mit einem Rucksack auf dem Rücken, den sie "Monster" nennt. Klapperschlangen und Schwarzbären, Hitze und Strapazen, Abenteurer und Einsamkeit sind Cheryl Strayeds Begleiter auf dieser Reise, die sie fast umbringt, stärkt und schliesslich heilt. Das atemberaubende Abenteuer einer Selbstfindung - voller Witz, Wahrhaftigkeit und Intensität, mit einer respektlosen Heldin, die man lieben muss.
Lese-Probe zu „Der grosse Trip “
Der große Trip von Cheryl StrayedAus dem Amerikanischen von Reiner Pfleiderer
Prolog
Die Bäume waren groß, aber ich war größer, denn ich stand auf einem steilen Berghang in Nordkalifornien. Vor wenigen Augenblicken hatte ich meine Wanderstiefel ausgezogen, und einer war in ebendiese Bäume gefallen, war zuerst in die Luft katapultiert worden, als mein großer Rucksack daraufkippte, dann über den Schotterpfad gerutscht und über den Rand geflogen. Mehrere Meter unter mir prallte er an einem Felsvorsprung ab, bevor er auf Nimmerwiedersehen zwischen den Baumkronen des Waldes darunter verschwand. Mir blieb vor Schreck die Luft weg, obwohl ich seit achtunddreißig Tagen in der Wildnis unterwegs war und mittlerweile gelernt hatte, dass alles passieren konnte und tatsächlich auch passierte. Trotzdem war ich geschockt, als es passierte.
Mein Stiefel war weg. Tatsächlich weg.
Ich drückte mir seinen Gefährten an die Brust wie ein Baby, obwohl das natürlich zwecklos war. Was ist ein Stiefel ohne den anderen? Nichts. Er ist nutzlos, eine Waise für immer und ewig, und ich konnte kein Mitleid mit ihm haben. Es war ein richtig großer und schwerer Latschen, ein brauner Raichle-Stiefel mit rotem Schnürband und silbernen Metallschließen. Ich hob ihn hoch, warf ihn mit aller Kraft fort und sah zu, wie er zwischen den sattgrünen Bäumen und aus meinem Leben verschwand.
... mehr
Ich war allein. Ich war barfuß. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und ebenfalls eine Waise. Eine richtige Rumtreiberin, wie mich ein Fremder ein paar Wochen zuvor genannt hatte, als ich ihm meinen Namen nannte und erklärte, wie verlassen ich auf der Welt war. Mein Vater verschwand aus meinem Leben, als ich sechs war. Meine Mutter starb, als ich zweiundzwanzig war. Nach ihrem Tod verwandelte sich mein Stiefvater von einem Menschen, in dem ich meinen Dad sah, in einen Mann, den ich nur noch zeitweise wiedererkannte. Meine beiden Geschwister gingen in ihrer Trauer eigene Wege, obwohl ich mich bemühte, uns zusammenzuhalten. Bis ich aufgab und ebenfalls meiner Wege ging.
In den Jahren, bevor ich meinen Stiefel über diese Bergkante warf, hatte ich beinahe auch mein Leben weggeworfen. Ich war durch die Lande gezogen - von Minnesota über New York nach Oregon und durch den gesamten Westen -, bis ich schließlich im Sommer 1995 ohne Stiefel dastand, mehr an die Welt gebunden als frei, zu gehen, wohin ich wollte.
Es war eine Welt, in der ich nie gewesen war, von der ich aber die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie da war, eine Welt, in die ich traurig und verstört, voller Furcht und Hoffnung getaumelt war. Eine Welt, von der ich hoffte, sie würde mich zu der Frau machen, die ich werden zu können glaubte, und zugleich in das Mädchen zurückverwandeln, das ich einmal gewesen war. Eine Welt, die gut einen halben Meter breit und 4284 Kilometer lang war.
Eine Welt namens Pacific Crest Trail.
Ich hatte erst sieben Monate zuvor zum ersten Mal davon gehört, als ich in Minneapolis lebte, traurig und kurz vor der Scheidung von einem Mann, den ich immer noch liebte. Ich stand an der Kasse eines Outdoor-Ladens an, um einen Klappspaten zu bezahlen, als ich ein Buch mit dem Titel The Pacific Crest Trail, Volume I: California aus dem Regal neben mir nahm und den Text auf dem Rückendeckel las. Der PCT, stand dort, sei ein durchgehender Wildnispfad, der von der mexikanischen Grenze in Kalifornien bis kurz hinter die kanadische Grenze führte und auf den Kämmen von sieben Gebirgszügen verlief: Laguna, San Jacinto, San Bernardino, San Gabriel, Liebre, Tehachapi, Sierra Nevada, Klamath und Cascades. Eine Strecke von rund tausend Meilen - 1600 Kilometer - Luftlinie. Aber der Pfad war mehr als doppelt so lang. Er durchquerte die drei Bundesstaaten Kalifornien, Oregon und Washington in voller Länge und passierte Nationalparks und ausgewiesene Wildnisareale, Stammesgebiete, staatliche und private Ländereien, Wüsten, Gebirge und Regenwälder, Flüsse und Highways. Ich drehte das Buch um und sah mir das Foto auf dem Cover an - ein mit Felsbrocken übersäter See, umringt von Bergspitzen, die gegen einen blauen Himmel abstachen -, dann stellte ich das Buch ins Regal zurück, bezahlte meinen Spaten und ging.
Aber ich kam später wieder und kaufte das Buch. Damals war der Pacific Crest Trail für mich noch keine Welt. Er war eine vage, ausgefallene Idee, fremdartig, verheißungsvoll. Etwas regte sich in mir, wenn ich mit dem Finger seine gezackte Linie auf der Landkarte abfuhr.
Ich beschloss, an dieser Linie entlangzuwandern - jedenfalls so weit, wie ich in hundert Tagen kam. Ich lebte damals getrennt von meinem Mann in einer Einzimmerwohnung in Minneapolis und jobbte als Kellnerin, so tief gesunken und durcheinander wie nie zuvor in meinem Leben. Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis- Trekkerin zu werden. Und warum auch nicht? Ich war schon so vieles gewesen. Eine liebende Frau und Ehebrecherin. Eine geliebte Tochter, die ihre Feiertage allein verbrachte. Eine ehrgeizige Streberin und ambitionierte Autorin, die sich von einem Verlegenheitsjob zum nächsten hangelte, gefährlich mit Drogen experimentierte und mit zu vielen Männern schlief. Ich war die Enkelin eines Bergmanns aus Pennsylvania, die Tochter eines Stahlarbeiters, der auf Vertreter umgesattelt hatte. Nach der Trennung meiner Eltern lebte ich mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester in Wohnsiedlungen, die allein erziehende Mütter und ihre Kinder bevölkerten. Als Teenager lebte ich im Norden Minnesotas weit draußen auf dem Land in einem Haus ohne Innentoilette, Strom und fließend Wasser. Dennoch wurde ich an der Highschool Cheerleader und Homecoming Queen, ging anschließend aufs College und wurde auf dem Campus eine radikale, linke Feministin.
Aber eine Frau, die tausendsechshundert Kilometer allein durch die Wildnis wandert? Ich hatte nie etwas Vergleichbares getan. Aber einen Versuch war es wert. Ich hatte nichts zu verlieren.
Als ich jetzt barfuß auf diesem Berg in Kalifornien stand, kam es mir so vor, als wäre es Jahre her, dass ich die wohl unsinnige Entscheidung getroffen hatte, mich allein zu einer langen Wanderung auf dem PCT aufzumachen, um mich zu retten. Als wäre es in einem anderen Leben gewesen, dass ich glaubte, alles, was ich davor gewesen war, hätte mich auf diese Wanderung vorbereitet. Aber nichts hatte mich darauf vorbereitet, und nichts hätte mich darauf vorbereiten können. Jeder Tag auf dem Pfad war die einzig mögliche Vorbereitung auf den nächsten. Und manchmal bereitete mich nicht einmal der darauf vor, was am nächsten geschehen würde.
Wie zum Beispiel darauf, dass meine Stiefel unwiederbringlich von einer Bergflanke segelten.
In Wahrheit sah ich den Verlust mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sechs Wochen lang war ich in diesen Stiefeln durch Wüsten und Schnee gewandert, vorbei an Bäumen, Sträuchern, Gräsern und Blumen aller Formen, Farben und Größen, bergauf und bergab, über Wiesen und Waldlichtungen und durch Landstriche, über die ich nichts Näheres sagen konnte, nur, dass ich dort gewesen war, dass ich sie durchquert hatte und gut durchgekommen war. Und in diesen Wochen hatte ich mir in diesen Stiefeln die Füße wund gelaufen, mir Blasen und blaue Zehennägel geholt, von denen sich vier ablösten, was mit großen Schmerzen verbunden war. An dem Tag, als ich die Stiefel verlor, war ich fertig mit ihnen und sie mit mir, obwohl ich zugeben muss, dass sie mir ans Herz gewachsen waren. Sie waren für mich keine leblosen Objekte mehr, sondern ein Teil von mir, wie so ziemlich alles, was ich in diesem Sommer schleppte - Rucksack, Zelt, Schlafsack, Wasserfilter, Kocher und die kleine orangerote Pfeife, die ich anstelle einer Schusswaffe dabeihatte. Alle diese Gegenstände waren mir vertraut. Ich konnte mich auf sie verlassen, sie halfen mir durchzukommen.
Ich spähte hinab auf die Bäume, deren hohe Wipfel sich im heißen Wind wiegten. Sollen sie meine Stiefel ruhig behalten, dachte ich und blickte über das herrliche weite Grün. Dieser Aussicht wegen hatte ich beschlossen, hier zu rasten. Es war ein Spätnachmittag Mitte Juli, und ich war kilometerweit von jeder Zivilisation entfernt, Tage von der einsamen Poststelle, wo das nächste Versorgungspaket auf mich wartete. Es war durchaus möglich, dass mir jemand auf dem Pfad entgegenkommen würde, aber nicht sehr wahrscheinlich. Gewöhnlich wanderte ich tagelang, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Aber es spielte ohnehin keine Rolle, ob jemand vorbeikam. Mit dieser Sache musste ich allein fertigwerden.
Ich blickte auf meine nackten, geschundenen Füße mit dem traurigen Rest meiner Zehennägel. Sie waren gespenstisch blass bis zu den Linien ein paar Zentimeter über den Knöcheln, wo die Wollsocken, die ich normalerweise trug, endeten. Die Waden darüber waren muskulös, goldbraun und behaart, schmutzverkrustet und voller blauer Flecken und Schrammen. Ich war in der Mojave- Wüste losgelaufen und fest entschlossen, nicht aufzugeben, bevor ich an der Grenze zwischen Oregon und Washington die Hand auf die Brücke legte, die sich dort über den Columbia River spannt und den grandiosen Namen »Brücke der Götter« trägt.
Ich blickte nach Norden, in ihre Richtung - der bloße Gedanke an die Brücke war mir ein Ansporn. Ich blickte nach Süden, wo ich herkam, in das wilde Land, das mich vieles gelehrt und mich demütig gemacht hatte, und erwog meine Möglichkeiten. Mir war klar, dass es nur eine gab. Es gab immer nur eine.
Weitergehen.
Teil Eins
Die zehntausend Dinge
1
Die zehntausend Dinge
Meine dreimonatige Solowanderung auf dem Pacific Crest Trail hatte viele Anfänge. Da war zunächst der leichtfertige Entschluss, es zu tun, gefolgt von einem zweiten, ernsthafteren Entschluss, es wirklich zu tun, und dann der lange dritte Anfang, bestehend aus den Wochen, in denen ich einkaufte, packte und mich vorbereitete. Ich kündigte meinen Job als Kellnerin, verkaufte fast meine gesamte Habe, brachte meine Scheidung vollends über die Bühne, nahm Abschied von meinen Freunden und besuchte ein letztes Mal das Grab meiner Mutter. Ich fuhr quer durchs Land von Minneapolis nach Portland in Oregon, und ein paar Tage später flog ich nach Los Angeles. Von dort ließ ich mich in die Stadt Mojave chauffieren und weiter zu der Stelle, wo der PCT einen Highway kreuzte.
Dann schließlich die tatsächliche Ausführung meines Vorhabens, rasch gefolgt von der bitteren Erkenntnis, was das bedeutete, und dem Entschluss aufzugeben, weil es lächerlich und idiotisch war und wahnsinnig schwierig, viel schwieriger, als ich erwartet hatte, und weil ich in keiner Weise darauf vorbereitet war.
Und endlich die wirkliche und wahrhaftige Ausführung.
Bleiben und weitermachen, trotz allem. Trotz der Bären, trotz der Klapperschlangen, trotz der Pumas, die ich selbst nie zu Gesicht bekam, nur ihre Exkremente. Trotz der Blasen und Schürfwunden, Kratzer und Schrammen. Trotz der Erschöpfung und der Entbehrungen. Trotz Hitze und Kälte, Eintönigkeit und Schmerzen, Hunger und Durst, trotz der Gespenster der Vergangenheit, die mich auf den tausendsechshundert Kilometern verfolgten, die ich im Alleingang von der Mojave-Wüste bis zum Bundesstaat Washington zurücklegte.
Und schließlich, als ich es tatsächlich getan hatte, als ich losmarschiert war und Tag für Tag Kilometer um Kilometer zurücklegte, die Erkenntnis, dass das, was ich für den Anfang gehalten hatte, eigentlich gar nicht der Anfang gewesen war. Die Erkenntnis, dass meine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail in Wahrheit nicht erst begonnen hatte, als ich mich spontan dazu entschloss. Sie hatte früher begonnen, noch bevor ich überhaupt daran dachte, nämlich genau vier Jahre, sieben Monate und drei Tage früher, als ich in einem kleinen Raum in der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, stand und erfuhr, dass meine Mutter sterben würde.
Ich trug Grün. Grüne Hosen, grüne Bluse, grünes Band im Haar. Alles von meiner Mutter genäht - sie hatte mein Leben lang Sachen für mich geschneidert. Einige waren genau so, wie ich sie mir erträumt hatte, andere weniger. Ich war nicht allzu sehr versessen auf diesen grünen Hosenanzug, trug ihn aber trotzdem, als Buße, als Opfer, als Glücksbringer.
In dem grünen Hosenanzug begleitete ich meine Mutter und meinen Stiefvater Eddie den ganzen Tag in der Mayo Clinic von Etage zu Etage, von einer Untersuchung zur nächsten. Und die ganze Zeit ging mir ein Gebet durch den Kopf, obwohl Gebet nicht ganz das richtige Wort ist. Ich war nicht gottesfürchtig. Ich glaubte nicht einmal an Gott. Mein Gebet lautete nicht: Bitte, lieber Gott, erbarme dich unser.
Ich wollte nicht um Gnade bitten. Das hatte ich nicht nötig. Meine Mutter war fünfundvierzig. Sie sah gut aus, ernährte sich seit vielen Jahren vorwiegend vegetarisch. Sie hatte überall in ihrem Garten Ringelblumen gesät, um Schädlinge zu vertreiben, statt ihnen mit Insektiziden zu Leibe zu rücken. Meine Geschwister und ich mussten rohe Knoblauchzehen essen, wenn eine Erkältung im Anmarsch war. Menschen wie meine Mutter bekamen keinen Krebs. Die Untersuchungen in der Mayo Clinic würden das beweisen und die Diagnose der Ärzte in Duluth widerlegen. Davon war ich überzeugt. Wer waren diese Ärzte in Duluth denn schon? Was war Duluth? Duluth war ein kaltes Provinznest, in dem Ärzte, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, behaupteten, fünfundvierzigjährige Nichtraucherinnen, die sich vegetarisch ernährten, rohen Knoblauch aßen und Naturkosmetik verwendeten, litten an Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.
Zum Teufel mit ihnen.
Das war mein Gebet: Zum Teufel mit ihnen, zum Teufel mit ihnen.
Und doch war meine Mutter in der Mayo Clinic jedes Mal völlig erschöpft, wenn sie länger als drei Minuten stehen musste.
»Willst du einen Rollstuhl?«, fragte Eddie sie, als wir auf einem mit Teppichboden ausgelegten Flur an mehreren vorbeikamen.
»Sie braucht keinen Rollstuhl«, sagte ich.
»Nur für eine Minute«, sagte meine Mutter, ließ sich förmlich in einen hineinplumpsen und sah mich an, als Eddie sie zum Aufzug schob.
Ich zuckelte hinterher, verbot mir jeden Gedanken. Wir waren auf dem Weg zu dem Gespräch mit dem letzten Arzt. Dem richtigen Arzt, wie wir ihn ständig nannten. Dem, der alles, was über meine Mutter zusammengetragen worden war, auf den Punkt bringen und uns sagen würde, was Sache war. Während der Aufzug nach oben schwebte, zupfte meine Mutter an meiner Hose und rieb stolz den grünen Baumwollstoff zwischen den Fingern.
»Perfekt«, sagte sie.
Ich war zweiundzwanzig, im selben Alter, in dem sie mit mir schwanger geworden war. Sie sollte im gleichen Augenblick aus meinem Leben scheiden, in dem ich in ihres getreten war, dachte ich. Aus irgendeinem Grund kam mir dieser Satz genau in diesem Moment vollständig ausformuliert in den Sinn und verdrängte vorübergehend das Zum Teufel mit ihnen. Ich heulte fast auf vor Schmerz. Ich erstickte fast an dem, was ich wusste, noch bevor ich es wusste. Ich sollte den Rest meines Lebens ohne meine Mutter verbringen. Ich schob diese Tatsache mit aller Macht beiseite. Ich durfte dort in dem Aufzug nicht daran glauben und trotzdem weiteratmen, also glaubte ich etwas anderes. Zum Beispiel, dass man in einen Raum mit einem glänzenden Holzschreibtisch geführt wird, wenn einem ein Arzt eröffnet, dass man bald sterben muss.
So war es nicht.
Wir wurden in ein Untersuchungszimmer geführt, in dem eine Schwester meine Mutter aufforderte, ihre Bluse abzulegen und einen Krankenhauskittel anzuziehen, an dem seitlich Schnüre herunterbaumelten. Als meine Mutter fertig war, kletterte sie auf einen mit weißem Papier bespannten Polstertisch. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, erfüllte das Knistern des Papiers den Raum. Ich sah ihren nackten Rücken, die leichte Rundung unterhalb der Taille. Sie würde nicht sterben. Ihr nackter Rücken schien das zu beweisen. Ich starrte ihn an, als der richtige Arzt in den Raum trat und uns mitteilte, dass meine Mutter bestenfalls noch ein Jahr zu leben hätte. Er erklärte, dass sie unheilbar krank sei und daher nicht behandelt werde. Man könne nichts für sie tun. Lungenkrebs werde häufig so spät entdeckt.
»Aber sie ist Nichtraucherin«, entgegnete ich, als könnte ich ihm die Diagnose ausreden, als halte sich Krebs an vernünftige, verhandelbare Regeln. »Sie hat nur in ihrer Jugend geraucht. Seit Jahren hat sie keine Zigarette mehr angerührt.«
Der Arzt schüttelte traurig den Kopf und fuhr fort. Er musste seiner Pflicht nachkommen. Man könne versuchen, sagte er, durch Bestrahlung die Schmerzen im Rücken zu lindern. Durch Bestrahlung lasse sich das Wachstum der Tumoren entlang der Wirbelsäule eventuell eindämmen.
Ich weinte nicht. Ich atmete nur. Angestrengt. Ganz bewusst. Und vergaß dann zu atmen. Ich war einmal ohnmächtig geworden - als ich mit drei vor Wut die Luft anhielt, weil ich nicht aus der Badewanne steigen wollte. Ich war damals noch zu klein, um mich später daran zu erinnern. »Was hast du getan?«, fragte ich meine Mutter meine ganze Kindheit hindurch und ließ mir die Geschichte immer wieder und wieder erzählen, erstaunt und begeistert über meinen unbändigen Willen. Sie habe die Hände ausgestreckt und zugesehen, wie ich blau angelaufen sei, erzählte meine Mutter dann immer. Sie habe gewartet, bis mein Kopf in ihre Hände gefallen sei. Dann hätte ich wieder geatmet und sei ins Leben zurückgekehrt.
Atme.
»Kann ich noch reiten?«, fragte meine Mutter den richtigen Arzt. Sie saß mit fest verschränkten Händen da, die Fußknöchel ineinandergehakt. An sich selbst gefesselt.
Als Antwort nahm er einen Bleistift, stellte ihn aufrecht auf den Waschbeckenrand und klopfte damit kräftig gegen das Becken. »So ist Ihre Wirbelsäule nach der Bestrahlung«, sagte er. »Ein Stoß, und Ihre Knochen könnten zerbröseln wie ein Cracker.«
Wir gingen auf die Damentoilette, jede in eine eigene Kabine, und weinten. Wir wechselten kein Wort. Nicht weil wir uns so allein in unserem Kummer gefühlt hätten, sondern weil wir so vereint in ihm waren, als hätten wir nur einen Körper statt zwei. Ich spürte, wie sich meine Mutter mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnte und mit den Händen langsam dagegenschlug, sodass die gesamte Kabinenkonstruktion wackelte. Später kamen wir heraus, wuschen uns die Hände und das Gesicht und beobachteten uns dabei in dem hellen Spiegel.
Wir wurden zum Warten in die Krankenhausapotheke geschickt. Ich saß in meinem grünen Hosenanzug zwischen meiner Mutter und Eddie, das grüne Band wie durch ein Wunder noch im Haar.
Im Raum war auch ein alter Mann mit einem großen kahlköpfigen Jungen auf dem Schoß. Und eine Frau, deren Arm vom Ellbogen abwärts heftig schlenkerte. Sie hielt ihn mit der anderen Hand fest und versuchte, ihn ruhig zu stellen. Sie wartete. Wir warteten. Eine schöne dunkelhaarige Frau saß in einem Rollstuhl. Sie trug einen lila Hut und an jedem Finger einen Diamantring. Wir konnten die Augen nicht von ihr wenden. Sie sprach Spanisch mit ihren Begleitern. Angehörige und vielleicht ihr Mann.
»Glaubst du, sie hat Krebs?«, flüsterte mir meine Mutter laut zu.
Eddie saß auf meiner anderen Seite, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Hätte ich ihn angesehen, wären wir beide zerbröselt wie Cracker. Ich dachte an meine ältere Schwester Karen und meinen jüngeren Bruder Leif. An meinen Mann Paul und an die Eltern und die Schwester meiner Mutter, die anderthalbtausend Kilometer entfernt lebte. Was sie wohl sagen würden, wenn sie es erfuhren. Wie sie weinen würden. Mein Gebet war jetzt ein anderes: Ein Jahr, ein Jahr, ein Jahr. Diese beiden Wörter pochten wie ein Herz in meiner Brust.
So lange würde meine Mutter noch leben.
»Woran denkst du?«, fragte ich sie. Musik rieselte aus den Lautsprechern des Wartezimmers. Die Instrumentalversion eines Songs, aber meine Mutter kannte den Text und sang ihn mir leise vor, statt meine Frage zu beantworten. »Paper roses, paper roses, oh how real those roses seemed to be«, sang sie. Sie legte ihre Hand auf meine und sagte: »Als ich jung war, habe ich das Lied oft gehört. Komisch, wenn ich mir das so vorstelle. Dass ich jetzt dasselbe Lied höre. Das hätte ich nie gedacht.«
Der Name meiner Mutter wurde aufgerufen: Ihr Rezept war fertig.
»Hol es für mich«, sagte sie. »Sag ihnen, wer du bist. Sag ihnen, dass du meine Tochter bist.«
Ich war ihre Tochter, aber nicht nur. Ich war Karen, Cheryl, Leif. Karen Cheryl Leif. KarenCherylLeif. Mein Leben lang verschmolzen unsere Namen im Mund meiner Mutter zu einem. Sie flüsterte und brüllte ihn, sie zischte und säuselte ihn. Wir waren ihre Kinder, ihre Kameraden, ihr Ein und Alles. Im Auto durften wir abwechselnd bei ihr vorn sitzen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie uns immer und hielt ihre Hände zwanzig Zentimeter auseinander. »Nein«, antworteten wir mit einem verschmitzten Grinsen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie wieder und immer wieder, wobei sie ihre Hände jedes Mal ein Stück voneinander weg bewegte. Aber es genügte nie, ganz gleich wie weit sie die Arme spreizte. Ihre Liebe war so groß, dass ihre Arme nicht ausreichten. Sie ließ sich weder quantifizieren noch fassen. Sie war die zehntausend Dinge in der Welt des Tao Te King und noch zehntausend mehr. Ihre Liebe war bedingungslos, allumfassend und ungeschminkt. Jeden Tag ging sie bis an die Grenze der Erschöpfung.
Sie wuchs als Soldatenkind auf und wurde katholisch erzogen. Sie lebte in fünf verschiedenen Bundesstaaten und zwei Ländern, bevor sie fünfzehn war. Sie liebte Pferde und Hank Williams und hatte eine beste Freundin namens Babs. Mit neunzehn wurde sie schwanger und heiratete meinen Vater. Drei Tage später prügelte er sie durch die Wohnung. Sie verließ ihn und kam zurück. Verließ ihn und kam zurück. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen, aber sie tat es. Er brach ihr die Nase. Er zerschlug ihr Geschirr. Er schleifte sie am helllichten Tag an den Haaren über den Bürgersteig, sodass sie sich die Knie aufschürfte. Aber er konnte ihren Willen nicht brechen. Mit zweiundzwanzig schaffte sie es, ihn endgültig zu verlassen.
Sie war allein mit KarenCherylLeif, die abwechselnd im Wagen vorn neben ihr sitzen durften.
Wir lebten in einer Kleinstadt eine Autostunde außerhalb von Minneapolis, in einer Reihe von Wohnsiedlungen mit irreführend wohlklingenden Namen wie Mill Pond und Barbary Knoll, Tree Loft und Lake Grace Manor. Sie wechselte häufig die Jobs. Sie kellnerte in einem Lokal namens Norseman und dann in einem anderen namens Infinity, in dem sie bei der Arbeit ein schwarzes T-Shirt trug, auf dem quer über der Brust in glitzernden Regenbogenfarben »Go for it« stand. Sie arbeitete tagsüber in einer Fabrik, die Kunststoffbehälter für hoch aggressive Chemikalien herstellte, und brachte Ausschussware mit nach Hause. Schalen und Dosen, die in der Maschine Risse oder Macken bekommen oder sich verzogen hatten. Wir bastelten uns Spielzeug daraus - Betten für unsere Puppen, Garagen für unsere Autos. Sie rackerte sich ab, und wir blieben trotzdem arm. Wir bekamen Käse, Milchpulver, Lebensmittelmarken und medizinische Beihilfen vom Staat, Weihnachtsgeschenke von privaten Spendern. Wir spielten Fangen, Ochs vorm Berg und Silbenrätsel neben den Wohnungsbriefkästen, die ständig auf Schecks warteten.
»Wir sind nicht arm«, sagte meine Mutter immer wieder. »Denn wir sind reich an Liebe.« Sie rührte Lebensmittelfarbe in Zuckerwasser und tat so, als wäre es ein besonderes Getränk. Sarsaparilla, Orange Crush oder Limonade. Noch ein Glas gefällig, Madam?, fragte sie mit versnobtem britischem Akzent und brachte uns damit jedes Mal zum Lachen. Sie breitete weit die Arme aus und fragte uns, wie viel. Dieses Spiel ging nie zu Ende. Sie liebte uns mehr als die zehntausend Dinge der Welt. Sie war optimistisch und heiter, bis auf die wenigen Male, wenn sie die Beherrschung verlor und uns mit einem Holzlöffel den Hintern versohlte. Oder das eine Mal, als sie Scheiße! brüllte und weinend zusammenbrach, weil wir unser Zimmer nicht aufräumen wollten. Sie war gütig und nachsichtig, großzügig und naiv. Sie traf sich mit Männern, die Spitznamen hatten wie Killer, Doobie oder Motorcycle Dan, und mit einem Typ namens Victor, einem begeisterten Skifahrer. Wenn sie mit unserer Mutter allein in der Wohnung sein wollten, gaben sie uns immer fünf Dollar für Süßigkeiten.
»Nach links und rechts schauen«, rief sie uns immer nach, wenn wir wie ein Rudel hungriger Wölfe losrannten zum nächsten Laden.
Als sie Eddie kennenlernte, dachte ich nicht, dass es funktionieren würde, denn er war acht Jahre jünger als sie, aber sie verliebten sich trotzdem ineinander. Auch Karen, Leif und ich verliebten uns in ihn. Er war damals fünfundzwanzig, und siebenundzwanzig, als er unsere Mutter heiratete und versprach, uns ein Vater zu sein. Er war Zimmermann von Beruf und ein geschickter Handwerker, der alles konnte, alles selbst reparierte. Wir kehrten den Wohnsiedlungen mit den Fantasienamen den Rücken und zogen mit ihm zur Miete in ein baufälliges Farmhaus, das einen Keller mit Lehmfußboden hatte und außen in vier verschiedenen Farben gestrichen war. In dem Winter nach ihrer Hochzeit fiel Eddie bei der Arbeit vom Dach und brach sich das Kreuz. Ein Jahr später kauften er und meine Mom mit den zwölftausend Dollar, die er als Abfindung bekam, sechzehn Hektar Land in Aitkin County, anderthalb Autostunden westlich von Duluth, und legten das Geld bar auf den Tisch.
Ein Haus gab es nicht. Auf dem Grundstück hatte nie ein Haus gestanden. Unsere sechzehn Hektar bildeten ein perfektes Quadrat mit Bäumen, Büschen, Wiesen und sumpfigen Weihern und Teichen mit Rohrkolben, die sich in nichts von den Bäumen, Büschen, Wiesen und Teichen im Umkreis von Kilometern unterschieden. In unseren ersten Monaten als Landbesitzer schritten wir mehrmals die Grenze des Grundstücks ab und bahnten uns einen Weg durch die Wildnis auf den beiden Seiten, die nicht an die Landstraße heranreichten, als könnten wir sie dadurch vom Rest der Welt abschotten und zu unserer machen. Und mit der Zeit gelang uns das auch. Bäume, die für mich anfangs wie alle anderen ausgesehen hatten, erkannte ich so leicht wie die Gesichter alter Freunde in einer Menge, denn ihre Äste und Blätter winkten mir plötzlich zu wie vertraute Hände. Grasbüschel und die Ränder der mittlerweile gut bekannten Sumpflöcher wurden Orientierungspunkte, Wegweiser, die jeder von uns lesen konnte.
Wir sprachen immer von »oben im Norden«, solange wir noch in der Kleinstadt eine Stunde außerhalb von Minneapolis lebten.
Sechs Monate lang fuhren wir nur an den Wochenenden in den Norden, arbeiteten wie besessen, machten einen Teil des Grundstücks urbar und bauten eine Ein-Zimmer-Hütte, in der wir schlafen konnten. Anfang Juni, ich war dreizehn, zogen wir endgültig in den Norden. Genauer gesagt, meine Mutter, Leif, Karen und ich, zusammen mit unseren beiden Pferden, unseren Katzen und Hunden und einer Kiste mit zehn Küken, die meine Mutter in einer Futterhandlung geschenkt bekommen hatte, als sie fünfundzwanzig Pfund Hühnerfutter kaufte. Eddie kam den ganzen Sommer über nur an den Wochenenden nach Norden und zog erst im Herbst nach. Sein Rücken war so weit wiederhergestellt, dass er in seinen Beruf zurückkehren konnte, und es war ihm gelungen, für die Hauptsaison eine Stelle als Zimmermann zu ergattern, die zu gut bezahlt war, um sie aufzugeben.
KarenCherylLeif waren wieder allein mit ihrer Mutter, so wie in den Jahren ihres Single-Daseins. In diesem Sommer waren wir praktisch rund um die Uhr zusammen und bekamen nur selten jemand anders zu sehen. Wir wohnten dreißig Kilometer von zwei Ortschaften entfernt, die in entgegengesetzten Richtungen lagen: Moose Lake im Osten, McGregor im Nordwesten. Im Herbst sollten wir in McGregor, mit vierhundert Einwohnern die kleinere der beiden, zur Schule gehen, aber den Sommer über waren wir, sah man einmal von gelegentlichen Besuchern ab - weit verstreut wohnenden Nachbarn, die auf einen Sprung vorbeischauten, um sich vorzustellen -, mit unserer Mutter allein. Wir stritten und redeten und dachten uns Witze und Spiele aus, um uns die Zeit zu vertreiben.
Wer bin ich? war so ein Spiel. Wer dran war, musste sich eine Person ausdenken, jemand Berühmtes oder auch nicht, und die anderen mussten erraten, wer es war, indem sie ihn mit Fragen löcherten, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden durften: Bist du ein Mann? Bist du Amerikaner? Bist du tot? Bist du Charles Manson?
Wir spielten es, während wir in dem Garten arbeiteten, der uns durch den Winter bringen sollte und dessen Boden jahrtausendelang sich selbst überlassen gewesen war, und während wir an dem Haus weiterbauten, das wir auf der anderen Seite des Grundstücks errichteten und bis Ende Sommer fertig zu haben hofften. Bei der Arbeit fielen Schwärme von Stechmücken über uns her, aber unsere Mutter verbot uns, Insektenschutzmittel oder andere Chemikalien zu benutzen, die das Gehirn schädigten, den Boden verseuchten und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigten. Stattdessen mussten wir uns mit Flohkraut oder Pfefferminzöl einreiben. Abends machten wir uns dann einen Spaß daraus, bei Kerzenschein unsere Mückenstiche zu zählen. Dabei kamen wir auf Summen wie neunundsiebzig, sechsundachtzig oder einhundertdrei.
»Eines Tages werdet ihr mir dafür dankbar sein«, erwiderte meine Mutter immer, wenn wir uns darüber beschwerten, was wir jetzt alles nicht mehr hatten. Wir hatten zwar nie im Luxus oder auch nur wie Leute aus der Mittelschicht gelebt, aber wir hatten nie auf die Annehmlichkeiten der Neuzeit verzichten müssen. Wir hatten immer einen Fernseher im Haus gehabt, ganz zu schweigen von einer Toilette mit Wasserspülung oder einem Wasserhahn, an dem man sich jederzeit ein Glas füllen konnte. In unserem neuen Leben als Pioniere war selbst die Befriedigung der simpelsten Bedürfnisse häufig mit einer Reihe mühsamer und zeitraubender Arbeiten verbunden. Unsere Küche bestand aus einem Campingkocher, einer Feuerstelle, einem altmodischen Eisschrank, den Eddie gebaut hatte und den man mit richtigem Eis befüllen musste, damit der Inhalt einigermaßen kühl blieb, einer separaten Spüle, die an der Außenwand der Hütte stand, und einem Wassereimer mit Deckel. Bei all diesen Utensilien überstieg der Nutzen nur geringfügig den Aufwand. Man musste sie warten und instand halten, befüllen und entleeren, hochziehen und hinablassen, durch Pumpen und Kurbeln in Gang setzen, schüren und beaufsichtigen.
Karen und ich teilten uns ein Hochbett, das so dicht unter die Decke gebaut war, dass wir uns gerade noch aufsetzen konnten. Leif schlief ein paar Meter entfernt in einem kleineren Hochbett und unsere Mutter darunter in einem normalen Bett, das Eddie an den Wochenenden mitbenutzte. Jede Nacht redeten wir uns gegenseitig in den Schlaf. Direkt über dem Bett, das ich mit Karen teilte, war ein Dachfenster in die Decke eingelassen. Die Scheibe war durchsichtig, sodass mir jede Nacht der fantastische Nachthimmel und seine funkelnden Sterne Gesellschaft leisteten. Manchmal sah ich ihre erhabene Schönheit in solcher Klarheit, dass mir auf eindringliche Weise bewusst wurde, wie recht meine Mutter hatte. Ja, ich würde ihr eines Tages dankbar sein, und ich war ihr jetzt schon dankbar, denn ich fühlte etwas in mir wachsen, das stark und real war.
Auf das, was da in mir wuchs, sollte ich mich Jahre später besinnen, als Trauer mein Leben aus der Bahn warf. Es gab mir den Glauben, dass mich eine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail wieder zu dem Menschen machen konnte, der ich einmal gewesen war.
An Halloween zogen wir in das Haus, das wir aus Baumstämmen und Abfallholz gebaut hatten. Es hatte weder elektrischen Strom noch fließend Wasser, weder Telefon noch Innentoilette, noch nicht einmal ein Zimmer mit Tür. Meine ganze Teenagerzeit hindurch bauten Eddie und meine Mutter daran weiter, vergrößerten und verbesserten es. Meine Mutter legte einen Garten an, und im Herbst wurde das Gemüse von ihr eingemacht oder eingefroren. Sie zapfte Bäume an und kochte Ahornsirup, backte Brot, kämmte Wolle und stellte aus Löwenzahn und Brokkoliblättern ihre eigenen Textilfarbstoffe her.
Ich wurde älter und wechselte auf das St. Thomas College in Saint Paul, der Zwillingsstadt von Minneapolis, aber nicht ohne meine Mutter. In der Aufnahmebestätigung, die ich erhielt, wurde erwähnt, dass Eltern von Studenten gebührenfrei am St. Thomas studieren konnten. Sosehr meine Mutter ihr Leben als moderne Pionierin auch liebte, so hatte sie doch immer von einem Studium geträumt. Wir lachten beide darüber und dachten dann gemeinsam darüber nach. Sie sei jetzt vierzig, zu alt fürs College, sagte meine Mutter, und ich konnte ihr nicht widersprechen. Außerdem lag St. Thomas drei Autostunden entfernt. Wir redeten und redeten und trafen schließlich eine Abmachung: Sie würde aufs College gehen, aber wir würden getrennte Leben führen, diktiert von mir. Ich würde mir ein Zimmer im Studentenwohnheim nehmen, und sie würde hin und her fahren. Wenn sich unsere Wege auf dem Campus kreuzten, würde sie mich nur grüßen, wenn ich sie zuerst grüßte.
»Wahrscheinlich ist das alles für die Katz«, sagte sie, als die Sache beschlossen war. »Wahrscheinlich fliege ich eh wegen schlechter Noten.« Zur Vorbereitung und Einarbeitung machte sie alle Hausaufgaben, die ich in den letzten Monaten meines letzten Highschool-Jahres aufhatte, und erweiterte ihre Kenntnisse. Sie kopierte mein Unterrichtsmaterial, schrieb Referate über dieselben Themen wie ich, las jedes einzelne Buch. Ich benotete ihre Arbeiten, wobei ich die Korrekturen meiner Lehrer als Maßstab nahm. Nach meiner Beurteilung war sie bestenfalls eine Wackelkandidatin.
Sie ging aufs College und bekam glatte Einsen.
Manchmal umarmte ich sie überschwänglich, wenn ich ihr auf dem Campus begegnete, dann wieder rauschte ich an ihr vorbei, als wäre sie eine völlig Fremde.
Wir waren beide im letzten College-Jahr, als wir erfuhren, dass sie Krebs hatte. Zu dem Zeitpunkt gingen wir nicht mehr aufs St. Thomas. Nach dem ersten Jahr waren wir an die University of Minnesota gewechselt - sie an den Campus in Duluth, ich nach Minneapolis -, und zu unserer großen Erheiterung hatten wir ein Hauptfach gemeinsam. Sie studierte im Hauptfach Women's Studies und Geschichte, ich Women's Studies und Englisch. Abends telefonierten wir oft eine Stunde lang miteinander. Ich war inzwischen verheiratet, mit einem wunderbaren Mann namens Paul. Wir waren im Wald auf unserem Grundstück getraut worden, ich in einem weißen Satinkleid mit Spitzen, das meine Mutter genäht hatte.
Nach ihrer Erkrankung erfuhr mein Leben einen Bruch. Ich sagte zu Paul, dass er nicht mehr auf mich zählen könne. Ich würde kommen und gehen müssen, wie es der Zustand meiner Mutter erforderte. Ich wollte das Studium abbrechen, aber meine Mutter verbot es mir und flehte mich an, auf jeden Fall meinen Abschluss zu machen, egal was passierte. Sie selbst nahm eine Auszeit, wie sie es nannte. Ihr fehlten nur noch zwei Scheine zum Bachelor, und die werde sie auch machen, sagte sie, und wenn es sie das Leben koste. Wir lachten, und dann sahen wir einander traurig an. Sie werde im Bett arbeiten. Sie werde mir sagen, was ich zu tippen hätte, und ich würde es tippen. Sie würde stark genug sein, diese beiden Kurse bald in Angriff zu nehmen, davon sei sie überzeugt. Ich blieb auf dem College, rang aber meinen Dozenten die Erlaubnis ab, nur noch an zwei Tagen in der Woche am Vorlesungsbetrieb teilzunehmen. Sobald diese zwei Tage vorbei waren, raste ich nach Hause zu meiner Mutter. Im Unterschied zu Leif und Karen, die es kaum ertrugen, auch nur eine Stunde mit unserer Mutter zusammen zu sein, seit sie krank war, konnte ich es nicht ertragen, von ihr getrennt zu sein. Außerdem wurde ich gebraucht. Eddie war bei ihr, wann immer er konnte, aber er musste arbeiten. Jemand musste die Rechnungen bezahlen.
Ich kochte für meine Mutter, und sie versuchte zu essen, brachte aber selten etwas herunter. Erst hatte sie Hunger, dann saß sie wie ein Sträfling vor ihrem Teller und starrte auf das Essen. »Es sieht gut aus«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde es später essen können.«
Ich schrubbte die Böden. Ich räumte die Schränke aus und legte sie mit frischem Papier aus. Meine Mutter schlief und stöhnte und zählte und schluckte ihre Tabletten. An guten Tagen saß sie in ihrem Sessel und sprach mit mir.
Es gab nicht viel zu sagen. Sie war so mitteilsam und auskunftsfreudig und ich so wissbegierig gewesen, dass wir alles schon beackert hatten. Ich wusste, dass ihre Liebe zu mir größer war als die zehntausend Dinge und auch die zehntausend Dinge darüber hinaus. Ich kannte die Namen der Pferde, die sie als Mädchen geliebt hatte: Pal, Buddy und Bacchus. Ich wusste, dass sie ihre Jungfräulichkeit mit siebzehn an einen Jungen namens Mike verloren hatte. Ich wusste, wie sie im Jahr darauf meinen Vater kennengelernt und welchen Eindruck sie bei ihren ersten Dates von ihm gehabt hatte. Ich wusste, dass ihrem Vater der Löffel aus der Hand gefallen war, als sie zu Hause verkündete, dass sie schwanger sei. Dass sie es verabscheut hatte, zur Beichte zu gehen, und auch die Dinge, die sie gebeichtet hatte. Dass sie geflucht hatte und zu ihrer Mutter frech gewesen war, dass sie gemeckert hatte, wenn sie den Tisch decken musste, während ihre viel jüngere Schwester spielte. Dass sie an Schultagen morgens in einem Kleid aus dem Haus gegangen und unterwegs in eine Jeans geschlüpft war, die sie heimlich in ihrer Tasche mitnahm. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch löcherte ich sie mit Fragen, ließ mir diese und andere Szenen schildern, wollte wissen, wer was und wie gesagt hatte, was sie dabei empfunden hatte, wo dieser und jener gestanden hatte und wie spät es gewesen war. Und sie hatte es mir erzählt, mal widerstrebend, mal genüsslich, lachend und mich fragend, warum um alles in der Welt ich das wissen wolle. Ich wollte es einfach wissen. Ich konnte es nicht erklären.
Aber jetzt, wo sie todkrank war, wusste ich alles. Meine Mutter war bereits in mir. Nicht nur das von ihr, was ich kannte, sondern auch das, was vor mir gewesen war.
Ich musste nicht lange zwischen Minneapolis und zu Hause pendeln. Etwas mehr als einen Monat. Dass meine Mutter noch ein Jahr zu leben hätte, erwies sich rasch als traurige Illusion. Am
12. Februar waren wir in der Mayo Clinic gewesen. Am 3. März musste sie ins Krankenhaus im hundertzehn Kilometer entfernten Duluth, da sie unter starken Schmerzen litt. Beim Ankleiden zu Hause gelang es ihr nicht, ihre Socken allein anzuziehen. Sie rief mich ins Zimmer und bat mich, ihr zu helfen. Sie saß auf dem Bett, und ich kniete mich vor sie hin. Ich hatte noch nie einem anderen Menschen Socken angezogen, und es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Sie wollten einfach nicht über ihre Haut rutschen. Und wenn, dann saßen sie schief. Ich wurde wütend auf meine Mutter, als halte sie ihren Fuß absichtlich so, dass es mir unmöglich war. Sie saß zurückgelehnt da, mit den Händen auf dem Bett abgestützt, die Augen zu. Ich hörte, wie sie tief und langsam atmete.
»Verdammt noch mal«, schimpfte ich. »Hilf mir!«
Sie schlug die Augen auf und sagte eine Weile kein Wort.
»Schatz«, seufzte sie schließlich, sah mich fest an und strich mir über den Kopf. So hatte sie mich oft genannt, als ich noch ein Kind war, immer in einem ganz speziellen Ton. Das passt dir nicht, hatte dieses »Schatz« zu bedeuten, aber so sind die Dinge nun mal. Es war dieses Sichabfinden mit dem Leiden, was mich am meisten an meiner Mutter ärgerte, ihr ewiger Optimismus und Lebensmut.
»Lass uns gehen«, sagte ich, nachdem ich ihr mühsam die Schuhe angezogen hatte.
Mit schwerfälligen Bewegungen zog sie ihren Mantel an. Beim Gang durchs Haus stützte sie sich an den Wänden ab. Ihre beiden geliebten Hunde folgten ihr, rieben ihre Schnauzen an ihren Händen und Oberschenkeln. Ich sah zu, wie sie ihnen den Kopf tätschelte. Ich hatte kein Gebet mehr. Die Worte Zum Teufel mit ihnen waren trockene Pillen in meinem Mund.
»Wiedersehen, meine Lieblinge«, sagte sie zu den Hunden. »Wiedersehen, Haus«, sagte sie, als sie mir zur Tür hinaus folgte.
Ich hätte nie gedacht, dass meine Mutter sterben könnte. Bis sie tatsächlich starb, war mir diese Möglichkeit nie in den Sinn gekommen. Sie war ein unüberwindlicher Fels, die Hüterin meines Lebens. Sie würde alt werden und immer noch im Garten arbeiten. Dieses Bild war fest in meinem Kopf verankert wie eine ihrer Kindheitserinnerungen, die ich mir so haarklein von ihr hatte schildern lassen, dass ich mich an sie erinnerte, als wäre es meine eigene. Sie würde alt werden und schön bleiben wie Georgia O'Keeffe auf dem Schwarzweißfoto, das ich ihr einmal geschickt hatte. In den ersten Wochen nach dem Besuch in der Mayo Clinic klammerte ich mich an dieses Bild. Doch als sie in das Hospiz des Krankenhauses in Duluth aufgenommen wurde, verblasste dieses Bild, machte anderen Platz, bescheideneren und realistischeren. Ich stellte mir meine Mutter im Oktober vor, speicherte das Bild in meinem Kopf. Und dann im August und schließlich im Mai. Mit jedem Tag, der verging, fiel ein weiterer Monat weg.
An ihrem ersten Tag im Krankenhaus bot ihr eine Schwester Morphium an, doch sie lehnte ab. »Morphium geben sie Leuten, die sterben«, sagte sie. »Morphium bedeutet, dass keine Hoffnung mehr besteht.«
Aber sie hielt es nur einen Tag durch. Sie schlief und wachte, redete und lachte. Sie schrie vor Schmerzen. Tagsüber blieb ich bei ihr, nachts Eddie. Leif und Karen blieben weg, machten Ausflüchte, die ich nicht nachvollziehen konnte und die mich erbosten, obwohl es meiner Mutter offenbar nichts ausmachte, dass sie nicht kamen. Sie war nur damit beschäftigt, die Schmerzen niederzuhalten, was in der Zeit zwischen den Morphiumgaben ein aussichtsloser Kampf war. Wir schafften es nie, die Kissen richtig hinzulegen. Eines Nachmittags trat ein Arzt, den ich noch nie gesehen hatte, ins Zimmer und erklärte, dass meine Mutter im Sterben liege.
»Aber es ist erst ein Monat vorbei«, protestierte ich empört. »Der andere Arzt hat von einem Jahr gesprochen.«
Er gab keine Antwort. Er war jung, vielleicht dreißig. Er stand neben dem Bett meiner Mutter und sah, eine zarte, behaarte Hand in der Tasche, auf sie hinab. »Von jetzt an ist unsere einzige Sorge, dass sie sich wohlfühlt.«
Dass sie sich wohlfühlt - und dennoch gab man ihr so wenig Morphium wie möglich. Unter dem Pflegepersonal war auch ein Mann. Einmal, als er da war, konnte ich die Umrisse seines Penis durch seine enge weiße Hose sehen. Am liebsten hätte ich ihn in das kleine Badezimmer am Fußendes des Bettes gezerrt und mich ihm dargeboten, mich überhaupt zu allem bereit erklärt, wenn er uns nur half. Aber ich wollte auch selbst meinen Spaß dabei haben, das Gewicht seines Körpers auf meinem spüren, seinen Mund in meinem Haar spüren, ihn meinen Namen sagen hören, immer und immer wieder, ihn zwingen, von mir Notiz zu nehmen, unsere Sache zu seiner zu machen, seinem Herzen Mitleid mit uns abzuringen.
Wenn meine Mutter ihn um mehr Morphium bat, dann in einer Weise, wie ich nie jemanden um etwas bitten gehört hatte. Aber der Kerl sah sie dabei nie an, sondern immer nur auf seine Armbanduhr. Er verzog keine Miene, egal wie seine Antwort lautete. Manchmal gab er ihr das Morphium ohne ein Wort, und manchmal sagte er Nein mit einer Stimme, die so weich war wie der Penis in seiner Hose. Dann flehte und wimmerte meine Mutter. Sie weinte, und ihre Tränen rollten in die falsche Richtung. Nicht über ihre Wangen hinunter zu den Mundwinkeln, sondern weg von den Augenrändern zu den Ohren und in das Knäuel ihrer Haare auf dem Kissen.
Sie lebte kein Jahr mehr. Sie lebte auch nicht bis Oktober, August oder Mai. Sie lebte noch neunundvierzig Tage, nachdem ihr der erste Arzt in Duluth eröffnet hatte, dass sie Krebs habe. Noch vierunddreißig Tage, nachdem der andere in der Mayo Clinic die Diagnose bestätigt hatte. Tag folgte auf Tag, aber jeder war eine Ewigkeit, ein kaltes Licht im dichten Nebel.
Leif besuchte sie nie. Karen kam ein einziges Mal, nachdem ich darauf bestanden hatte. Ich war untröstlich, wütend, fassungslos. »Ich möchte sie nicht in diesem Zustand sehen«, führte meine Schwester immer wenig überzeugend als Grund an, wenn wir miteinander sprachen, und brach dann in Tränen aus. Mit meinem Bruder konnte ich nicht sprechen - Eddie und ich hatten keine Ahnung, wo er steckte. Nach Auskunft eines Freundes wohnte er in St. Cloud bei einem Mädchen namens Sue. Ein anderer hatte ihn beim Eisfischen am Sheriff Lake gesehen. Ich hatte keine Zeit, den Hinweisen nachzugehen, da ich jeden Tag von meiner Mutter in Anspruch genommen war, ihr Plastikschüsseln hinhielt, wenn sie sich übergeben musste, immer wieder die Kissen, die einfach nicht richtig liegen wollten, aufschüttelte und zurechtrückte, sie hochhob und auf den Topfstuhl setzte, den das Pflegepersonal neben das Bett gestellt hatte, sie drängte, einen Happen zu essen, den sie zehn Minuten später wieder erbrach. Die meiste Zeit sah ich ihr beim Schlafen zu, und das war von allem das Schlimmste. Zu sehen, wie ihr Gesicht selbst im Schlaf vor Schmerzen zuckte. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, gerieten die Infusionsschläuche, die überall um sie herumbaumelten, ins Schwingen, und mein Herz raste vor Angst, sie könnte die Nadeln, mit denen die Schläuche an ihren geschwollenen Händen und Handgelenken befestigt waren, herausreißen.
»Wie fühlst du dich?«, gurrte ich immer hoffnungsvoll, wenn sie aufwachte, fasste durch die Schläuche und wuschelte durch ihre platt gedrückten Haare.
»Ach, Schatz«, war meistens alles, was sie sagen konnte. Und dann sah sie weg.
Ich wanderte durch die Krankenhausflure, während meine Mutter schlief, spähte in anderer Leute Zimmer, wenn ich an offenen Türen vorbeikam, erhaschte Blicke auf alte Männer mit schlimmem Husten und lila verfärbter Haut, auf Frauen mit Verbänden um ihre dicken Knie.
»Wie geht es Ihnen?«, fragten mich die Schwestern immer in melancholischem Ton.
»Wir lassen uns nicht unterkriegen«, antwortete ich dann, als wäre ich ein Wir.
Aber ich war nur ich. Mein Mann, Paul, tat alles, was er konnte, damit ich mich nicht so allein fühlte. Er war noch derselbe freundliche, liebevolle Mann, in den ich mich vor ein paar Jahren verguckt und so heftig verliebt hatte, dass ich zum Entsetzen aller mit knapp zwanzig heiratete, aber seit meine Mutter im Sterben lag, war etwas in mir für ihn abgestorben, ganz gleich, was er sagte oder tat. Trotzdem rief ich ihn an den langen Nachmittagen täglich vom Münztelefon im Krankenhaus an oder am Abend, wenn ich wieder im Haus meiner Mutter und Eddies war. Wir führten lange Gespräche, bei denen ich weinte und ihm mein Herz ausschüttete. Er weinte mit mir und versuchte, mir alles ein klein wenig erträglicher zu machen, aber seine Worte klangen hohl. Es war fast so, als könnte ich sie gar nicht hören. Was wusste er schon, wie es war, alles zu verlieren? Seine Eltern lebten noch und führten eine glückliche Ehe. Meine Beziehung zu ihm und seinem unverschämt ungebrochenen Leben schien meinen Schmerz nur zu verstärken. Er konnte nichts dafür. Das Zusammensein mit ihm war mir unerträglich, aber mit jedem anderen auch. Der einzige Mensch, mit dem ich zusammen sein konnte, war der unerträglichste von allen: meine Mutter.
Morgens saß ich an ihrem Bett und versuchte, ihr vorzulesen. Ich hatte zwei Bücher: Das Erwachen von Kate Chopin und Die Tochter des Optimisten von Eudora Welty. Wir hatten beide am College gelesen und liebten sie. Also fing ich an, aber ich konnte nicht weiterlesen. Jedes Wort, das ich aussprach, löschte sich selbst in der Luft.
Dasselbe geschah, wenn ich zu beten versuchte. Ich betete inbrünstig, fanatisch, zu Gott, zu jedem Gott, zu einem Gott, den ich weder benennen noch finden konnte. Ich verwünschte meine Mutter, weil sie mich nicht religiös erzogen hatte. Aus Verbitterung über ihre repressive katholische Erziehung hatte sie als Erwachsene nichts mehr mit der Kirche zu tun haben wollen, und jetzt lag sie im Sterben und hatte nicht einmal einen Gott. Ich betete zu dem ganzen weiten Universum und hoffte, dass Gott irgendwo da draußen war und mich hörte. Ich betete und betete, und dann stockte ich. Nicht weil ich Gott nicht fand, sondern weil ich ihn plötzlich gefunden hatte: Gott war da, begriff ich, aber er dachte gar nicht daran, ins Geschehen einzugreifen, das Leben meiner Mutter zu retten. Gott erfüllte keine Wünsche. Gott war ein mitleidloser Schuft.
In den letzten Tagen ihres Lebens war meine Mutter mehr weggetreten als high. Sie hing mittlerweile an einem Morphiumtropf, aus einem Klarsichtbeutel sickerte Flüssigkeit einen Schlauch herunter, der an ihr Handgelenk geklebt war. Wenn sie aufwachte, sagte sie: »Oh, oh.« Oder sie stieß einen traurigen Seufzer aus. Sie sah mich an, und Liebe blitzte in ihren Augen auf. Oder sie sank wieder in den Schlaf, als wäre ich gar nicht vorhanden. Manchmal wenn sie aufwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Sie verlangte eine Enchilada und dann Apfelmus dazu. Sie glaubte, dass alle Tiere, die sie jemals geliebt hatte, bei ihr im Zimmer wären - und es hatte viele gegeben. »Das verflixte Pferd hätte mich beinahe getreten«, sagte sie und sah sich vorwurfsvoll nach ihm um, oder ihre Hände streichelten eine Katze, die unsichtbar auf ihrem Bauch lag. In dieser Zeit wollte ich, dass sie mir sagte, ich sei die beste Tochter auf der Welt gewesen. Ich wollte das nicht wollen, und trotzdem tat ich es aus mir unerfindlichen Gründen, als hätte ich hohes Fieber, das nur durch diese Worte gelindert werden konnte. Ich ging sogar so weit, sie direkt zu fragen: »Bin ich die beste Tochter auf der Welt gewesen?«
Sie sagte: Ja, natürlich.
Aber das genügte mir nicht. Ich wollte, dass sich diese Worte im Kopf meiner Mutter von selbst zusammenfügten und mir frei Haus geliefert wurden.
Ich hungerte nach Liebe.
Meine Mutter starb schnell, aber nicht plötzlich. Ein langsam verglimmendes Feuer, wenn die Flammen in Rauch aufgehen und der Rauch sich in Luft auflöst. Sie kam nicht dazu abzumagern. Sie war verändert, aber nicht ausgezehrt, als sie starb. Der Körper einer Frau, die noch unter den Lebenden weilte. Sie hatte auch noch ihre Haare, braun, brüchig und ausgefranst vom wochenlangen Liegen.
Durch das Fenster des Zimmers, in dem sie starb, konnte ich auf den Lake Superior sehen, den größten Süßwassersee der Welt und den kältesten. Allerdings war das nicht ganz leicht. Ich musste das Gesicht seitlich gegen die Scheibe drücken, dann konnte ich ein Stück von ihm sehen, das sich bis zum Horizont hinzog.
»Ein Zimmer mit Ausblick!«, rief meine Mutter, obwohl sie zu schwach war, um aufzustehen und sich den See selbst anzusehen. Und dann, leiser: »Mein ganzes Leben lang habe ich auf ein Zimmer mit Ausblick gewartet.«
Sie wollte im Sitzen sterben, also nahm ich alle Kissen, die ich kriegen konnte, und stopfte sie ihr hinter den Rücken. Am liebsten hätte ich sie aus dem Krankenhaus herausgeholt und zum Sterben auf eine Wiese mit Schafgarben gesetzt. Ich deckte sie mit einem Quilt zu, den ich von zu Hause mitgebracht und den sie selbst aus alten Kleiderresten zusammengenäht hatte.
»Schaff das Ding fort!«, knurrte sie böse und strampelte wie ein Schwimmer mit den Beinen, um die Decke abzuwerfen.
Ich beobachtete meine Mutter. Draußen glitzerten die Gehwege und die verharschten Schneehaufen in der Sonne. Heute war Saint Patrick's Day, und die Schwestern brachten ihr einen Wackelpeter, der, viereckig und grün, auf dem Tisch neben ihr wabbelte. Wie sich herausstellen sollte, war es der letzte ganze Tag in ihrem Leben, und die meiste Zeit davon lag sie ruhig mit offenen Augen da, weder schlafend noch wachend, zeitweise bei klarem Bewusstsein, zeitweise halluzinierend.
An diesem Abend verließ ich sie, obwohl ich eigentlich nicht wollte. Die Schwestern und Ärzte hatten Eddie und mir gesagt, dass es so weit sei. Ich hatte das so verstanden, dass sie in ein paar Wochen sterben würde. Ich dachte, dass Krebskranke dahinsiechten. Karen und Paul wollten am nächsten Morgen mit dem Auto zusammen aus Minneapolis kommen, und die Eltern meiner Mutter wurden in ein paar Tagen aus Alabama erwartet, aber Leif war immer noch unauffindbar. Eddie und ich hatten seine Freunde und deren Eltern angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen mit der Bitte, sich zu melden, aber er hatte sich nicht gemeldet. Ich beschloss, das Krankenhaus für eine Nacht zu verlassen, um ihn zu suchen und ihn eigenhändig ins Krankenhaus zu schleppen.
»Morgen früh bin ich wieder da«, sagte ich zu meiner Mutter und blickte zu Eddie hinüber, der, halb liegend, auf der kleinen Vinylcouch saß. »Und zwar mit Leif.«
Als sie seinen Namen hörte, schlug sie die Augen auf: blau und leuchtend, genau so, wie sie immer gewesen waren. Trotz allem hatten sie sich nicht verändert.
»Wie ist es möglich, dass du nicht böse auf ihn bist?«, fragte ich sie verbittert wohl zum zehnten Mal.
»Man kann einen Hund nicht zum Jagen tragen«, antwortete sie darauf gewöhnlich. Oder: »Cheryl, er ist erst achtzehn.« Aber diesmal sah sie mich nur an und sagte: »Schatz.« Genauso hatte sie reagiert, als ich mich wegen ihrer Socken aufregte. Wie überhaupt immer, wenn sie sah, dass ich litt, weil etwas nicht so war, wie ich es gern hätte. Dann versuchte sie mich mit diesem einen Wort davon zu überzeugen, dass ich die Dinge so nehmen musste, wie sie waren.
»Morgen sind wir alle vereint«, sagte ich. »Und dann bleiben wir alle hier bei dir, einverstanden? Keiner wird gehen.« Ich fasste durch die überall um sie herumhängenden Schläuche und streichelte ihr die Schulter. »Ich liebe dich«, sagte ich und beugte mich vor, um sie zu küssen, doch sie wehrte mich ab, denn ihre Schmerzen waren zu groß, um auch nur einen Kuss auszuhalten.
»Liebe«, hauchte sie, zu schwach, um »ich« und »dich« zu sagen. »Liebe«, wiederholte sie, als ich das Zimmer verließ.
Ich fuhr mit dem Aufzug nach unten, trat auf die kalte Straße hinaus und ging den Gehweg entlang. Ich kam an einer Bar vorbei.
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe Kailash Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich war allein. Ich war barfuß. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und ebenfalls eine Waise. Eine richtige Rumtreiberin, wie mich ein Fremder ein paar Wochen zuvor genannt hatte, als ich ihm meinen Namen nannte und erklärte, wie verlassen ich auf der Welt war. Mein Vater verschwand aus meinem Leben, als ich sechs war. Meine Mutter starb, als ich zweiundzwanzig war. Nach ihrem Tod verwandelte sich mein Stiefvater von einem Menschen, in dem ich meinen Dad sah, in einen Mann, den ich nur noch zeitweise wiedererkannte. Meine beiden Geschwister gingen in ihrer Trauer eigene Wege, obwohl ich mich bemühte, uns zusammenzuhalten. Bis ich aufgab und ebenfalls meiner Wege ging.
In den Jahren, bevor ich meinen Stiefel über diese Bergkante warf, hatte ich beinahe auch mein Leben weggeworfen. Ich war durch die Lande gezogen - von Minnesota über New York nach Oregon und durch den gesamten Westen -, bis ich schließlich im Sommer 1995 ohne Stiefel dastand, mehr an die Welt gebunden als frei, zu gehen, wohin ich wollte.
Es war eine Welt, in der ich nie gewesen war, von der ich aber die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie da war, eine Welt, in die ich traurig und verstört, voller Furcht und Hoffnung getaumelt war. Eine Welt, von der ich hoffte, sie würde mich zu der Frau machen, die ich werden zu können glaubte, und zugleich in das Mädchen zurückverwandeln, das ich einmal gewesen war. Eine Welt, die gut einen halben Meter breit und 4284 Kilometer lang war.
Eine Welt namens Pacific Crest Trail.
Ich hatte erst sieben Monate zuvor zum ersten Mal davon gehört, als ich in Minneapolis lebte, traurig und kurz vor der Scheidung von einem Mann, den ich immer noch liebte. Ich stand an der Kasse eines Outdoor-Ladens an, um einen Klappspaten zu bezahlen, als ich ein Buch mit dem Titel The Pacific Crest Trail, Volume I: California aus dem Regal neben mir nahm und den Text auf dem Rückendeckel las. Der PCT, stand dort, sei ein durchgehender Wildnispfad, der von der mexikanischen Grenze in Kalifornien bis kurz hinter die kanadische Grenze führte und auf den Kämmen von sieben Gebirgszügen verlief: Laguna, San Jacinto, San Bernardino, San Gabriel, Liebre, Tehachapi, Sierra Nevada, Klamath und Cascades. Eine Strecke von rund tausend Meilen - 1600 Kilometer - Luftlinie. Aber der Pfad war mehr als doppelt so lang. Er durchquerte die drei Bundesstaaten Kalifornien, Oregon und Washington in voller Länge und passierte Nationalparks und ausgewiesene Wildnisareale, Stammesgebiete, staatliche und private Ländereien, Wüsten, Gebirge und Regenwälder, Flüsse und Highways. Ich drehte das Buch um und sah mir das Foto auf dem Cover an - ein mit Felsbrocken übersäter See, umringt von Bergspitzen, die gegen einen blauen Himmel abstachen -, dann stellte ich das Buch ins Regal zurück, bezahlte meinen Spaten und ging.
Aber ich kam später wieder und kaufte das Buch. Damals war der Pacific Crest Trail für mich noch keine Welt. Er war eine vage, ausgefallene Idee, fremdartig, verheißungsvoll. Etwas regte sich in mir, wenn ich mit dem Finger seine gezackte Linie auf der Landkarte abfuhr.
Ich beschloss, an dieser Linie entlangzuwandern - jedenfalls so weit, wie ich in hundert Tagen kam. Ich lebte damals getrennt von meinem Mann in einer Einzimmerwohnung in Minneapolis und jobbte als Kellnerin, so tief gesunken und durcheinander wie nie zuvor in meinem Leben. Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis- Trekkerin zu werden. Und warum auch nicht? Ich war schon so vieles gewesen. Eine liebende Frau und Ehebrecherin. Eine geliebte Tochter, die ihre Feiertage allein verbrachte. Eine ehrgeizige Streberin und ambitionierte Autorin, die sich von einem Verlegenheitsjob zum nächsten hangelte, gefährlich mit Drogen experimentierte und mit zu vielen Männern schlief. Ich war die Enkelin eines Bergmanns aus Pennsylvania, die Tochter eines Stahlarbeiters, der auf Vertreter umgesattelt hatte. Nach der Trennung meiner Eltern lebte ich mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester in Wohnsiedlungen, die allein erziehende Mütter und ihre Kinder bevölkerten. Als Teenager lebte ich im Norden Minnesotas weit draußen auf dem Land in einem Haus ohne Innentoilette, Strom und fließend Wasser. Dennoch wurde ich an der Highschool Cheerleader und Homecoming Queen, ging anschließend aufs College und wurde auf dem Campus eine radikale, linke Feministin.
Aber eine Frau, die tausendsechshundert Kilometer allein durch die Wildnis wandert? Ich hatte nie etwas Vergleichbares getan. Aber einen Versuch war es wert. Ich hatte nichts zu verlieren.
Als ich jetzt barfuß auf diesem Berg in Kalifornien stand, kam es mir so vor, als wäre es Jahre her, dass ich die wohl unsinnige Entscheidung getroffen hatte, mich allein zu einer langen Wanderung auf dem PCT aufzumachen, um mich zu retten. Als wäre es in einem anderen Leben gewesen, dass ich glaubte, alles, was ich davor gewesen war, hätte mich auf diese Wanderung vorbereitet. Aber nichts hatte mich darauf vorbereitet, und nichts hätte mich darauf vorbereiten können. Jeder Tag auf dem Pfad war die einzig mögliche Vorbereitung auf den nächsten. Und manchmal bereitete mich nicht einmal der darauf vor, was am nächsten geschehen würde.
Wie zum Beispiel darauf, dass meine Stiefel unwiederbringlich von einer Bergflanke segelten.
In Wahrheit sah ich den Verlust mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sechs Wochen lang war ich in diesen Stiefeln durch Wüsten und Schnee gewandert, vorbei an Bäumen, Sträuchern, Gräsern und Blumen aller Formen, Farben und Größen, bergauf und bergab, über Wiesen und Waldlichtungen und durch Landstriche, über die ich nichts Näheres sagen konnte, nur, dass ich dort gewesen war, dass ich sie durchquert hatte und gut durchgekommen war. Und in diesen Wochen hatte ich mir in diesen Stiefeln die Füße wund gelaufen, mir Blasen und blaue Zehennägel geholt, von denen sich vier ablösten, was mit großen Schmerzen verbunden war. An dem Tag, als ich die Stiefel verlor, war ich fertig mit ihnen und sie mit mir, obwohl ich zugeben muss, dass sie mir ans Herz gewachsen waren. Sie waren für mich keine leblosen Objekte mehr, sondern ein Teil von mir, wie so ziemlich alles, was ich in diesem Sommer schleppte - Rucksack, Zelt, Schlafsack, Wasserfilter, Kocher und die kleine orangerote Pfeife, die ich anstelle einer Schusswaffe dabeihatte. Alle diese Gegenstände waren mir vertraut. Ich konnte mich auf sie verlassen, sie halfen mir durchzukommen.
Ich spähte hinab auf die Bäume, deren hohe Wipfel sich im heißen Wind wiegten. Sollen sie meine Stiefel ruhig behalten, dachte ich und blickte über das herrliche weite Grün. Dieser Aussicht wegen hatte ich beschlossen, hier zu rasten. Es war ein Spätnachmittag Mitte Juli, und ich war kilometerweit von jeder Zivilisation entfernt, Tage von der einsamen Poststelle, wo das nächste Versorgungspaket auf mich wartete. Es war durchaus möglich, dass mir jemand auf dem Pfad entgegenkommen würde, aber nicht sehr wahrscheinlich. Gewöhnlich wanderte ich tagelang, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Aber es spielte ohnehin keine Rolle, ob jemand vorbeikam. Mit dieser Sache musste ich allein fertigwerden.
Ich blickte auf meine nackten, geschundenen Füße mit dem traurigen Rest meiner Zehennägel. Sie waren gespenstisch blass bis zu den Linien ein paar Zentimeter über den Knöcheln, wo die Wollsocken, die ich normalerweise trug, endeten. Die Waden darüber waren muskulös, goldbraun und behaart, schmutzverkrustet und voller blauer Flecken und Schrammen. Ich war in der Mojave- Wüste losgelaufen und fest entschlossen, nicht aufzugeben, bevor ich an der Grenze zwischen Oregon und Washington die Hand auf die Brücke legte, die sich dort über den Columbia River spannt und den grandiosen Namen »Brücke der Götter« trägt.
Ich blickte nach Norden, in ihre Richtung - der bloße Gedanke an die Brücke war mir ein Ansporn. Ich blickte nach Süden, wo ich herkam, in das wilde Land, das mich vieles gelehrt und mich demütig gemacht hatte, und erwog meine Möglichkeiten. Mir war klar, dass es nur eine gab. Es gab immer nur eine.
Weitergehen.
Teil Eins
Die zehntausend Dinge
1
Die zehntausend Dinge
Meine dreimonatige Solowanderung auf dem Pacific Crest Trail hatte viele Anfänge. Da war zunächst der leichtfertige Entschluss, es zu tun, gefolgt von einem zweiten, ernsthafteren Entschluss, es wirklich zu tun, und dann der lange dritte Anfang, bestehend aus den Wochen, in denen ich einkaufte, packte und mich vorbereitete. Ich kündigte meinen Job als Kellnerin, verkaufte fast meine gesamte Habe, brachte meine Scheidung vollends über die Bühne, nahm Abschied von meinen Freunden und besuchte ein letztes Mal das Grab meiner Mutter. Ich fuhr quer durchs Land von Minneapolis nach Portland in Oregon, und ein paar Tage später flog ich nach Los Angeles. Von dort ließ ich mich in die Stadt Mojave chauffieren und weiter zu der Stelle, wo der PCT einen Highway kreuzte.
Dann schließlich die tatsächliche Ausführung meines Vorhabens, rasch gefolgt von der bitteren Erkenntnis, was das bedeutete, und dem Entschluss aufzugeben, weil es lächerlich und idiotisch war und wahnsinnig schwierig, viel schwieriger, als ich erwartet hatte, und weil ich in keiner Weise darauf vorbereitet war.
Und endlich die wirkliche und wahrhaftige Ausführung.
Bleiben und weitermachen, trotz allem. Trotz der Bären, trotz der Klapperschlangen, trotz der Pumas, die ich selbst nie zu Gesicht bekam, nur ihre Exkremente. Trotz der Blasen und Schürfwunden, Kratzer und Schrammen. Trotz der Erschöpfung und der Entbehrungen. Trotz Hitze und Kälte, Eintönigkeit und Schmerzen, Hunger und Durst, trotz der Gespenster der Vergangenheit, die mich auf den tausendsechshundert Kilometern verfolgten, die ich im Alleingang von der Mojave-Wüste bis zum Bundesstaat Washington zurücklegte.
Und schließlich, als ich es tatsächlich getan hatte, als ich losmarschiert war und Tag für Tag Kilometer um Kilometer zurücklegte, die Erkenntnis, dass das, was ich für den Anfang gehalten hatte, eigentlich gar nicht der Anfang gewesen war. Die Erkenntnis, dass meine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail in Wahrheit nicht erst begonnen hatte, als ich mich spontan dazu entschloss. Sie hatte früher begonnen, noch bevor ich überhaupt daran dachte, nämlich genau vier Jahre, sieben Monate und drei Tage früher, als ich in einem kleinen Raum in der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, stand und erfuhr, dass meine Mutter sterben würde.
Ich trug Grün. Grüne Hosen, grüne Bluse, grünes Band im Haar. Alles von meiner Mutter genäht - sie hatte mein Leben lang Sachen für mich geschneidert. Einige waren genau so, wie ich sie mir erträumt hatte, andere weniger. Ich war nicht allzu sehr versessen auf diesen grünen Hosenanzug, trug ihn aber trotzdem, als Buße, als Opfer, als Glücksbringer.
In dem grünen Hosenanzug begleitete ich meine Mutter und meinen Stiefvater Eddie den ganzen Tag in der Mayo Clinic von Etage zu Etage, von einer Untersuchung zur nächsten. Und die ganze Zeit ging mir ein Gebet durch den Kopf, obwohl Gebet nicht ganz das richtige Wort ist. Ich war nicht gottesfürchtig. Ich glaubte nicht einmal an Gott. Mein Gebet lautete nicht: Bitte, lieber Gott, erbarme dich unser.
Ich wollte nicht um Gnade bitten. Das hatte ich nicht nötig. Meine Mutter war fünfundvierzig. Sie sah gut aus, ernährte sich seit vielen Jahren vorwiegend vegetarisch. Sie hatte überall in ihrem Garten Ringelblumen gesät, um Schädlinge zu vertreiben, statt ihnen mit Insektiziden zu Leibe zu rücken. Meine Geschwister und ich mussten rohe Knoblauchzehen essen, wenn eine Erkältung im Anmarsch war. Menschen wie meine Mutter bekamen keinen Krebs. Die Untersuchungen in der Mayo Clinic würden das beweisen und die Diagnose der Ärzte in Duluth widerlegen. Davon war ich überzeugt. Wer waren diese Ärzte in Duluth denn schon? Was war Duluth? Duluth war ein kaltes Provinznest, in dem Ärzte, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, behaupteten, fünfundvierzigjährige Nichtraucherinnen, die sich vegetarisch ernährten, rohen Knoblauch aßen und Naturkosmetik verwendeten, litten an Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.
Zum Teufel mit ihnen.
Das war mein Gebet: Zum Teufel mit ihnen, zum Teufel mit ihnen.
Und doch war meine Mutter in der Mayo Clinic jedes Mal völlig erschöpft, wenn sie länger als drei Minuten stehen musste.
»Willst du einen Rollstuhl?«, fragte Eddie sie, als wir auf einem mit Teppichboden ausgelegten Flur an mehreren vorbeikamen.
»Sie braucht keinen Rollstuhl«, sagte ich.
»Nur für eine Minute«, sagte meine Mutter, ließ sich förmlich in einen hineinplumpsen und sah mich an, als Eddie sie zum Aufzug schob.
Ich zuckelte hinterher, verbot mir jeden Gedanken. Wir waren auf dem Weg zu dem Gespräch mit dem letzten Arzt. Dem richtigen Arzt, wie wir ihn ständig nannten. Dem, der alles, was über meine Mutter zusammengetragen worden war, auf den Punkt bringen und uns sagen würde, was Sache war. Während der Aufzug nach oben schwebte, zupfte meine Mutter an meiner Hose und rieb stolz den grünen Baumwollstoff zwischen den Fingern.
»Perfekt«, sagte sie.
Ich war zweiundzwanzig, im selben Alter, in dem sie mit mir schwanger geworden war. Sie sollte im gleichen Augenblick aus meinem Leben scheiden, in dem ich in ihres getreten war, dachte ich. Aus irgendeinem Grund kam mir dieser Satz genau in diesem Moment vollständig ausformuliert in den Sinn und verdrängte vorübergehend das Zum Teufel mit ihnen. Ich heulte fast auf vor Schmerz. Ich erstickte fast an dem, was ich wusste, noch bevor ich es wusste. Ich sollte den Rest meines Lebens ohne meine Mutter verbringen. Ich schob diese Tatsache mit aller Macht beiseite. Ich durfte dort in dem Aufzug nicht daran glauben und trotzdem weiteratmen, also glaubte ich etwas anderes. Zum Beispiel, dass man in einen Raum mit einem glänzenden Holzschreibtisch geführt wird, wenn einem ein Arzt eröffnet, dass man bald sterben muss.
So war es nicht.
Wir wurden in ein Untersuchungszimmer geführt, in dem eine Schwester meine Mutter aufforderte, ihre Bluse abzulegen und einen Krankenhauskittel anzuziehen, an dem seitlich Schnüre herunterbaumelten. Als meine Mutter fertig war, kletterte sie auf einen mit weißem Papier bespannten Polstertisch. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, erfüllte das Knistern des Papiers den Raum. Ich sah ihren nackten Rücken, die leichte Rundung unterhalb der Taille. Sie würde nicht sterben. Ihr nackter Rücken schien das zu beweisen. Ich starrte ihn an, als der richtige Arzt in den Raum trat und uns mitteilte, dass meine Mutter bestenfalls noch ein Jahr zu leben hätte. Er erklärte, dass sie unheilbar krank sei und daher nicht behandelt werde. Man könne nichts für sie tun. Lungenkrebs werde häufig so spät entdeckt.
»Aber sie ist Nichtraucherin«, entgegnete ich, als könnte ich ihm die Diagnose ausreden, als halte sich Krebs an vernünftige, verhandelbare Regeln. »Sie hat nur in ihrer Jugend geraucht. Seit Jahren hat sie keine Zigarette mehr angerührt.«
Der Arzt schüttelte traurig den Kopf und fuhr fort. Er musste seiner Pflicht nachkommen. Man könne versuchen, sagte er, durch Bestrahlung die Schmerzen im Rücken zu lindern. Durch Bestrahlung lasse sich das Wachstum der Tumoren entlang der Wirbelsäule eventuell eindämmen.
Ich weinte nicht. Ich atmete nur. Angestrengt. Ganz bewusst. Und vergaß dann zu atmen. Ich war einmal ohnmächtig geworden - als ich mit drei vor Wut die Luft anhielt, weil ich nicht aus der Badewanne steigen wollte. Ich war damals noch zu klein, um mich später daran zu erinnern. »Was hast du getan?«, fragte ich meine Mutter meine ganze Kindheit hindurch und ließ mir die Geschichte immer wieder und wieder erzählen, erstaunt und begeistert über meinen unbändigen Willen. Sie habe die Hände ausgestreckt und zugesehen, wie ich blau angelaufen sei, erzählte meine Mutter dann immer. Sie habe gewartet, bis mein Kopf in ihre Hände gefallen sei. Dann hätte ich wieder geatmet und sei ins Leben zurückgekehrt.
Atme.
»Kann ich noch reiten?«, fragte meine Mutter den richtigen Arzt. Sie saß mit fest verschränkten Händen da, die Fußknöchel ineinandergehakt. An sich selbst gefesselt.
Als Antwort nahm er einen Bleistift, stellte ihn aufrecht auf den Waschbeckenrand und klopfte damit kräftig gegen das Becken. »So ist Ihre Wirbelsäule nach der Bestrahlung«, sagte er. »Ein Stoß, und Ihre Knochen könnten zerbröseln wie ein Cracker.«
Wir gingen auf die Damentoilette, jede in eine eigene Kabine, und weinten. Wir wechselten kein Wort. Nicht weil wir uns so allein in unserem Kummer gefühlt hätten, sondern weil wir so vereint in ihm waren, als hätten wir nur einen Körper statt zwei. Ich spürte, wie sich meine Mutter mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnte und mit den Händen langsam dagegenschlug, sodass die gesamte Kabinenkonstruktion wackelte. Später kamen wir heraus, wuschen uns die Hände und das Gesicht und beobachteten uns dabei in dem hellen Spiegel.
Wir wurden zum Warten in die Krankenhausapotheke geschickt. Ich saß in meinem grünen Hosenanzug zwischen meiner Mutter und Eddie, das grüne Band wie durch ein Wunder noch im Haar.
Im Raum war auch ein alter Mann mit einem großen kahlköpfigen Jungen auf dem Schoß. Und eine Frau, deren Arm vom Ellbogen abwärts heftig schlenkerte. Sie hielt ihn mit der anderen Hand fest und versuchte, ihn ruhig zu stellen. Sie wartete. Wir warteten. Eine schöne dunkelhaarige Frau saß in einem Rollstuhl. Sie trug einen lila Hut und an jedem Finger einen Diamantring. Wir konnten die Augen nicht von ihr wenden. Sie sprach Spanisch mit ihren Begleitern. Angehörige und vielleicht ihr Mann.
»Glaubst du, sie hat Krebs?«, flüsterte mir meine Mutter laut zu.
Eddie saß auf meiner anderen Seite, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Hätte ich ihn angesehen, wären wir beide zerbröselt wie Cracker. Ich dachte an meine ältere Schwester Karen und meinen jüngeren Bruder Leif. An meinen Mann Paul und an die Eltern und die Schwester meiner Mutter, die anderthalbtausend Kilometer entfernt lebte. Was sie wohl sagen würden, wenn sie es erfuhren. Wie sie weinen würden. Mein Gebet war jetzt ein anderes: Ein Jahr, ein Jahr, ein Jahr. Diese beiden Wörter pochten wie ein Herz in meiner Brust.
So lange würde meine Mutter noch leben.
»Woran denkst du?«, fragte ich sie. Musik rieselte aus den Lautsprechern des Wartezimmers. Die Instrumentalversion eines Songs, aber meine Mutter kannte den Text und sang ihn mir leise vor, statt meine Frage zu beantworten. »Paper roses, paper roses, oh how real those roses seemed to be«, sang sie. Sie legte ihre Hand auf meine und sagte: »Als ich jung war, habe ich das Lied oft gehört. Komisch, wenn ich mir das so vorstelle. Dass ich jetzt dasselbe Lied höre. Das hätte ich nie gedacht.«
Der Name meiner Mutter wurde aufgerufen: Ihr Rezept war fertig.
»Hol es für mich«, sagte sie. »Sag ihnen, wer du bist. Sag ihnen, dass du meine Tochter bist.«
Ich war ihre Tochter, aber nicht nur. Ich war Karen, Cheryl, Leif. Karen Cheryl Leif. KarenCherylLeif. Mein Leben lang verschmolzen unsere Namen im Mund meiner Mutter zu einem. Sie flüsterte und brüllte ihn, sie zischte und säuselte ihn. Wir waren ihre Kinder, ihre Kameraden, ihr Ein und Alles. Im Auto durften wir abwechselnd bei ihr vorn sitzen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie uns immer und hielt ihre Hände zwanzig Zentimeter auseinander. »Nein«, antworteten wir mit einem verschmitzten Grinsen. »Liebe ich euch so viel?«, fragte sie wieder und immer wieder, wobei sie ihre Hände jedes Mal ein Stück voneinander weg bewegte. Aber es genügte nie, ganz gleich wie weit sie die Arme spreizte. Ihre Liebe war so groß, dass ihre Arme nicht ausreichten. Sie ließ sich weder quantifizieren noch fassen. Sie war die zehntausend Dinge in der Welt des Tao Te King und noch zehntausend mehr. Ihre Liebe war bedingungslos, allumfassend und ungeschminkt. Jeden Tag ging sie bis an die Grenze der Erschöpfung.
Sie wuchs als Soldatenkind auf und wurde katholisch erzogen. Sie lebte in fünf verschiedenen Bundesstaaten und zwei Ländern, bevor sie fünfzehn war. Sie liebte Pferde und Hank Williams und hatte eine beste Freundin namens Babs. Mit neunzehn wurde sie schwanger und heiratete meinen Vater. Drei Tage später prügelte er sie durch die Wohnung. Sie verließ ihn und kam zurück. Verließ ihn und kam zurück. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen, aber sie tat es. Er brach ihr die Nase. Er zerschlug ihr Geschirr. Er schleifte sie am helllichten Tag an den Haaren über den Bürgersteig, sodass sie sich die Knie aufschürfte. Aber er konnte ihren Willen nicht brechen. Mit zweiundzwanzig schaffte sie es, ihn endgültig zu verlassen.
Sie war allein mit KarenCherylLeif, die abwechselnd im Wagen vorn neben ihr sitzen durften.
Wir lebten in einer Kleinstadt eine Autostunde außerhalb von Minneapolis, in einer Reihe von Wohnsiedlungen mit irreführend wohlklingenden Namen wie Mill Pond und Barbary Knoll, Tree Loft und Lake Grace Manor. Sie wechselte häufig die Jobs. Sie kellnerte in einem Lokal namens Norseman und dann in einem anderen namens Infinity, in dem sie bei der Arbeit ein schwarzes T-Shirt trug, auf dem quer über der Brust in glitzernden Regenbogenfarben »Go for it« stand. Sie arbeitete tagsüber in einer Fabrik, die Kunststoffbehälter für hoch aggressive Chemikalien herstellte, und brachte Ausschussware mit nach Hause. Schalen und Dosen, die in der Maschine Risse oder Macken bekommen oder sich verzogen hatten. Wir bastelten uns Spielzeug daraus - Betten für unsere Puppen, Garagen für unsere Autos. Sie rackerte sich ab, und wir blieben trotzdem arm. Wir bekamen Käse, Milchpulver, Lebensmittelmarken und medizinische Beihilfen vom Staat, Weihnachtsgeschenke von privaten Spendern. Wir spielten Fangen, Ochs vorm Berg und Silbenrätsel neben den Wohnungsbriefkästen, die ständig auf Schecks warteten.
»Wir sind nicht arm«, sagte meine Mutter immer wieder. »Denn wir sind reich an Liebe.« Sie rührte Lebensmittelfarbe in Zuckerwasser und tat so, als wäre es ein besonderes Getränk. Sarsaparilla, Orange Crush oder Limonade. Noch ein Glas gefällig, Madam?, fragte sie mit versnobtem britischem Akzent und brachte uns damit jedes Mal zum Lachen. Sie breitete weit die Arme aus und fragte uns, wie viel. Dieses Spiel ging nie zu Ende. Sie liebte uns mehr als die zehntausend Dinge der Welt. Sie war optimistisch und heiter, bis auf die wenigen Male, wenn sie die Beherrschung verlor und uns mit einem Holzlöffel den Hintern versohlte. Oder das eine Mal, als sie Scheiße! brüllte und weinend zusammenbrach, weil wir unser Zimmer nicht aufräumen wollten. Sie war gütig und nachsichtig, großzügig und naiv. Sie traf sich mit Männern, die Spitznamen hatten wie Killer, Doobie oder Motorcycle Dan, und mit einem Typ namens Victor, einem begeisterten Skifahrer. Wenn sie mit unserer Mutter allein in der Wohnung sein wollten, gaben sie uns immer fünf Dollar für Süßigkeiten.
»Nach links und rechts schauen«, rief sie uns immer nach, wenn wir wie ein Rudel hungriger Wölfe losrannten zum nächsten Laden.
Als sie Eddie kennenlernte, dachte ich nicht, dass es funktionieren würde, denn er war acht Jahre jünger als sie, aber sie verliebten sich trotzdem ineinander. Auch Karen, Leif und ich verliebten uns in ihn. Er war damals fünfundzwanzig, und siebenundzwanzig, als er unsere Mutter heiratete und versprach, uns ein Vater zu sein. Er war Zimmermann von Beruf und ein geschickter Handwerker, der alles konnte, alles selbst reparierte. Wir kehrten den Wohnsiedlungen mit den Fantasienamen den Rücken und zogen mit ihm zur Miete in ein baufälliges Farmhaus, das einen Keller mit Lehmfußboden hatte und außen in vier verschiedenen Farben gestrichen war. In dem Winter nach ihrer Hochzeit fiel Eddie bei der Arbeit vom Dach und brach sich das Kreuz. Ein Jahr später kauften er und meine Mom mit den zwölftausend Dollar, die er als Abfindung bekam, sechzehn Hektar Land in Aitkin County, anderthalb Autostunden westlich von Duluth, und legten das Geld bar auf den Tisch.
Ein Haus gab es nicht. Auf dem Grundstück hatte nie ein Haus gestanden. Unsere sechzehn Hektar bildeten ein perfektes Quadrat mit Bäumen, Büschen, Wiesen und sumpfigen Weihern und Teichen mit Rohrkolben, die sich in nichts von den Bäumen, Büschen, Wiesen und Teichen im Umkreis von Kilometern unterschieden. In unseren ersten Monaten als Landbesitzer schritten wir mehrmals die Grenze des Grundstücks ab und bahnten uns einen Weg durch die Wildnis auf den beiden Seiten, die nicht an die Landstraße heranreichten, als könnten wir sie dadurch vom Rest der Welt abschotten und zu unserer machen. Und mit der Zeit gelang uns das auch. Bäume, die für mich anfangs wie alle anderen ausgesehen hatten, erkannte ich so leicht wie die Gesichter alter Freunde in einer Menge, denn ihre Äste und Blätter winkten mir plötzlich zu wie vertraute Hände. Grasbüschel und die Ränder der mittlerweile gut bekannten Sumpflöcher wurden Orientierungspunkte, Wegweiser, die jeder von uns lesen konnte.
Wir sprachen immer von »oben im Norden«, solange wir noch in der Kleinstadt eine Stunde außerhalb von Minneapolis lebten.
Sechs Monate lang fuhren wir nur an den Wochenenden in den Norden, arbeiteten wie besessen, machten einen Teil des Grundstücks urbar und bauten eine Ein-Zimmer-Hütte, in der wir schlafen konnten. Anfang Juni, ich war dreizehn, zogen wir endgültig in den Norden. Genauer gesagt, meine Mutter, Leif, Karen und ich, zusammen mit unseren beiden Pferden, unseren Katzen und Hunden und einer Kiste mit zehn Küken, die meine Mutter in einer Futterhandlung geschenkt bekommen hatte, als sie fünfundzwanzig Pfund Hühnerfutter kaufte. Eddie kam den ganzen Sommer über nur an den Wochenenden nach Norden und zog erst im Herbst nach. Sein Rücken war so weit wiederhergestellt, dass er in seinen Beruf zurückkehren konnte, und es war ihm gelungen, für die Hauptsaison eine Stelle als Zimmermann zu ergattern, die zu gut bezahlt war, um sie aufzugeben.
KarenCherylLeif waren wieder allein mit ihrer Mutter, so wie in den Jahren ihres Single-Daseins. In diesem Sommer waren wir praktisch rund um die Uhr zusammen und bekamen nur selten jemand anders zu sehen. Wir wohnten dreißig Kilometer von zwei Ortschaften entfernt, die in entgegengesetzten Richtungen lagen: Moose Lake im Osten, McGregor im Nordwesten. Im Herbst sollten wir in McGregor, mit vierhundert Einwohnern die kleinere der beiden, zur Schule gehen, aber den Sommer über waren wir, sah man einmal von gelegentlichen Besuchern ab - weit verstreut wohnenden Nachbarn, die auf einen Sprung vorbeischauten, um sich vorzustellen -, mit unserer Mutter allein. Wir stritten und redeten und dachten uns Witze und Spiele aus, um uns die Zeit zu vertreiben.
Wer bin ich? war so ein Spiel. Wer dran war, musste sich eine Person ausdenken, jemand Berühmtes oder auch nicht, und die anderen mussten erraten, wer es war, indem sie ihn mit Fragen löcherten, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden durften: Bist du ein Mann? Bist du Amerikaner? Bist du tot? Bist du Charles Manson?
Wir spielten es, während wir in dem Garten arbeiteten, der uns durch den Winter bringen sollte und dessen Boden jahrtausendelang sich selbst überlassen gewesen war, und während wir an dem Haus weiterbauten, das wir auf der anderen Seite des Grundstücks errichteten und bis Ende Sommer fertig zu haben hofften. Bei der Arbeit fielen Schwärme von Stechmücken über uns her, aber unsere Mutter verbot uns, Insektenschutzmittel oder andere Chemikalien zu benutzen, die das Gehirn schädigten, den Boden verseuchten und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigten. Stattdessen mussten wir uns mit Flohkraut oder Pfefferminzöl einreiben. Abends machten wir uns dann einen Spaß daraus, bei Kerzenschein unsere Mückenstiche zu zählen. Dabei kamen wir auf Summen wie neunundsiebzig, sechsundachtzig oder einhundertdrei.
»Eines Tages werdet ihr mir dafür dankbar sein«, erwiderte meine Mutter immer, wenn wir uns darüber beschwerten, was wir jetzt alles nicht mehr hatten. Wir hatten zwar nie im Luxus oder auch nur wie Leute aus der Mittelschicht gelebt, aber wir hatten nie auf die Annehmlichkeiten der Neuzeit verzichten müssen. Wir hatten immer einen Fernseher im Haus gehabt, ganz zu schweigen von einer Toilette mit Wasserspülung oder einem Wasserhahn, an dem man sich jederzeit ein Glas füllen konnte. In unserem neuen Leben als Pioniere war selbst die Befriedigung der simpelsten Bedürfnisse häufig mit einer Reihe mühsamer und zeitraubender Arbeiten verbunden. Unsere Küche bestand aus einem Campingkocher, einer Feuerstelle, einem altmodischen Eisschrank, den Eddie gebaut hatte und den man mit richtigem Eis befüllen musste, damit der Inhalt einigermaßen kühl blieb, einer separaten Spüle, die an der Außenwand der Hütte stand, und einem Wassereimer mit Deckel. Bei all diesen Utensilien überstieg der Nutzen nur geringfügig den Aufwand. Man musste sie warten und instand halten, befüllen und entleeren, hochziehen und hinablassen, durch Pumpen und Kurbeln in Gang setzen, schüren und beaufsichtigen.
Karen und ich teilten uns ein Hochbett, das so dicht unter die Decke gebaut war, dass wir uns gerade noch aufsetzen konnten. Leif schlief ein paar Meter entfernt in einem kleineren Hochbett und unsere Mutter darunter in einem normalen Bett, das Eddie an den Wochenenden mitbenutzte. Jede Nacht redeten wir uns gegenseitig in den Schlaf. Direkt über dem Bett, das ich mit Karen teilte, war ein Dachfenster in die Decke eingelassen. Die Scheibe war durchsichtig, sodass mir jede Nacht der fantastische Nachthimmel und seine funkelnden Sterne Gesellschaft leisteten. Manchmal sah ich ihre erhabene Schönheit in solcher Klarheit, dass mir auf eindringliche Weise bewusst wurde, wie recht meine Mutter hatte. Ja, ich würde ihr eines Tages dankbar sein, und ich war ihr jetzt schon dankbar, denn ich fühlte etwas in mir wachsen, das stark und real war.
Auf das, was da in mir wuchs, sollte ich mich Jahre später besinnen, als Trauer mein Leben aus der Bahn warf. Es gab mir den Glauben, dass mich eine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail wieder zu dem Menschen machen konnte, der ich einmal gewesen war.
An Halloween zogen wir in das Haus, das wir aus Baumstämmen und Abfallholz gebaut hatten. Es hatte weder elektrischen Strom noch fließend Wasser, weder Telefon noch Innentoilette, noch nicht einmal ein Zimmer mit Tür. Meine ganze Teenagerzeit hindurch bauten Eddie und meine Mutter daran weiter, vergrößerten und verbesserten es. Meine Mutter legte einen Garten an, und im Herbst wurde das Gemüse von ihr eingemacht oder eingefroren. Sie zapfte Bäume an und kochte Ahornsirup, backte Brot, kämmte Wolle und stellte aus Löwenzahn und Brokkoliblättern ihre eigenen Textilfarbstoffe her.
Ich wurde älter und wechselte auf das St. Thomas College in Saint Paul, der Zwillingsstadt von Minneapolis, aber nicht ohne meine Mutter. In der Aufnahmebestätigung, die ich erhielt, wurde erwähnt, dass Eltern von Studenten gebührenfrei am St. Thomas studieren konnten. Sosehr meine Mutter ihr Leben als moderne Pionierin auch liebte, so hatte sie doch immer von einem Studium geträumt. Wir lachten beide darüber und dachten dann gemeinsam darüber nach. Sie sei jetzt vierzig, zu alt fürs College, sagte meine Mutter, und ich konnte ihr nicht widersprechen. Außerdem lag St. Thomas drei Autostunden entfernt. Wir redeten und redeten und trafen schließlich eine Abmachung: Sie würde aufs College gehen, aber wir würden getrennte Leben führen, diktiert von mir. Ich würde mir ein Zimmer im Studentenwohnheim nehmen, und sie würde hin und her fahren. Wenn sich unsere Wege auf dem Campus kreuzten, würde sie mich nur grüßen, wenn ich sie zuerst grüßte.
»Wahrscheinlich ist das alles für die Katz«, sagte sie, als die Sache beschlossen war. »Wahrscheinlich fliege ich eh wegen schlechter Noten.« Zur Vorbereitung und Einarbeitung machte sie alle Hausaufgaben, die ich in den letzten Monaten meines letzten Highschool-Jahres aufhatte, und erweiterte ihre Kenntnisse. Sie kopierte mein Unterrichtsmaterial, schrieb Referate über dieselben Themen wie ich, las jedes einzelne Buch. Ich benotete ihre Arbeiten, wobei ich die Korrekturen meiner Lehrer als Maßstab nahm. Nach meiner Beurteilung war sie bestenfalls eine Wackelkandidatin.
Sie ging aufs College und bekam glatte Einsen.
Manchmal umarmte ich sie überschwänglich, wenn ich ihr auf dem Campus begegnete, dann wieder rauschte ich an ihr vorbei, als wäre sie eine völlig Fremde.
Wir waren beide im letzten College-Jahr, als wir erfuhren, dass sie Krebs hatte. Zu dem Zeitpunkt gingen wir nicht mehr aufs St. Thomas. Nach dem ersten Jahr waren wir an die University of Minnesota gewechselt - sie an den Campus in Duluth, ich nach Minneapolis -, und zu unserer großen Erheiterung hatten wir ein Hauptfach gemeinsam. Sie studierte im Hauptfach Women's Studies und Geschichte, ich Women's Studies und Englisch. Abends telefonierten wir oft eine Stunde lang miteinander. Ich war inzwischen verheiratet, mit einem wunderbaren Mann namens Paul. Wir waren im Wald auf unserem Grundstück getraut worden, ich in einem weißen Satinkleid mit Spitzen, das meine Mutter genäht hatte.
Nach ihrer Erkrankung erfuhr mein Leben einen Bruch. Ich sagte zu Paul, dass er nicht mehr auf mich zählen könne. Ich würde kommen und gehen müssen, wie es der Zustand meiner Mutter erforderte. Ich wollte das Studium abbrechen, aber meine Mutter verbot es mir und flehte mich an, auf jeden Fall meinen Abschluss zu machen, egal was passierte. Sie selbst nahm eine Auszeit, wie sie es nannte. Ihr fehlten nur noch zwei Scheine zum Bachelor, und die werde sie auch machen, sagte sie, und wenn es sie das Leben koste. Wir lachten, und dann sahen wir einander traurig an. Sie werde im Bett arbeiten. Sie werde mir sagen, was ich zu tippen hätte, und ich würde es tippen. Sie würde stark genug sein, diese beiden Kurse bald in Angriff zu nehmen, davon sei sie überzeugt. Ich blieb auf dem College, rang aber meinen Dozenten die Erlaubnis ab, nur noch an zwei Tagen in der Woche am Vorlesungsbetrieb teilzunehmen. Sobald diese zwei Tage vorbei waren, raste ich nach Hause zu meiner Mutter. Im Unterschied zu Leif und Karen, die es kaum ertrugen, auch nur eine Stunde mit unserer Mutter zusammen zu sein, seit sie krank war, konnte ich es nicht ertragen, von ihr getrennt zu sein. Außerdem wurde ich gebraucht. Eddie war bei ihr, wann immer er konnte, aber er musste arbeiten. Jemand musste die Rechnungen bezahlen.
Ich kochte für meine Mutter, und sie versuchte zu essen, brachte aber selten etwas herunter. Erst hatte sie Hunger, dann saß sie wie ein Sträfling vor ihrem Teller und starrte auf das Essen. »Es sieht gut aus«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde es später essen können.«
Ich schrubbte die Böden. Ich räumte die Schränke aus und legte sie mit frischem Papier aus. Meine Mutter schlief und stöhnte und zählte und schluckte ihre Tabletten. An guten Tagen saß sie in ihrem Sessel und sprach mit mir.
Es gab nicht viel zu sagen. Sie war so mitteilsam und auskunftsfreudig und ich so wissbegierig gewesen, dass wir alles schon beackert hatten. Ich wusste, dass ihre Liebe zu mir größer war als die zehntausend Dinge und auch die zehntausend Dinge darüber hinaus. Ich kannte die Namen der Pferde, die sie als Mädchen geliebt hatte: Pal, Buddy und Bacchus. Ich wusste, dass sie ihre Jungfräulichkeit mit siebzehn an einen Jungen namens Mike verloren hatte. Ich wusste, wie sie im Jahr darauf meinen Vater kennengelernt und welchen Eindruck sie bei ihren ersten Dates von ihm gehabt hatte. Ich wusste, dass ihrem Vater der Löffel aus der Hand gefallen war, als sie zu Hause verkündete, dass sie schwanger sei. Dass sie es verabscheut hatte, zur Beichte zu gehen, und auch die Dinge, die sie gebeichtet hatte. Dass sie geflucht hatte und zu ihrer Mutter frech gewesen war, dass sie gemeckert hatte, wenn sie den Tisch decken musste, während ihre viel jüngere Schwester spielte. Dass sie an Schultagen morgens in einem Kleid aus dem Haus gegangen und unterwegs in eine Jeans geschlüpft war, die sie heimlich in ihrer Tasche mitnahm. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch löcherte ich sie mit Fragen, ließ mir diese und andere Szenen schildern, wollte wissen, wer was und wie gesagt hatte, was sie dabei empfunden hatte, wo dieser und jener gestanden hatte und wie spät es gewesen war. Und sie hatte es mir erzählt, mal widerstrebend, mal genüsslich, lachend und mich fragend, warum um alles in der Welt ich das wissen wolle. Ich wollte es einfach wissen. Ich konnte es nicht erklären.
Aber jetzt, wo sie todkrank war, wusste ich alles. Meine Mutter war bereits in mir. Nicht nur das von ihr, was ich kannte, sondern auch das, was vor mir gewesen war.
Ich musste nicht lange zwischen Minneapolis und zu Hause pendeln. Etwas mehr als einen Monat. Dass meine Mutter noch ein Jahr zu leben hätte, erwies sich rasch als traurige Illusion. Am
12. Februar waren wir in der Mayo Clinic gewesen. Am 3. März musste sie ins Krankenhaus im hundertzehn Kilometer entfernten Duluth, da sie unter starken Schmerzen litt. Beim Ankleiden zu Hause gelang es ihr nicht, ihre Socken allein anzuziehen. Sie rief mich ins Zimmer und bat mich, ihr zu helfen. Sie saß auf dem Bett, und ich kniete mich vor sie hin. Ich hatte noch nie einem anderen Menschen Socken angezogen, und es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Sie wollten einfach nicht über ihre Haut rutschen. Und wenn, dann saßen sie schief. Ich wurde wütend auf meine Mutter, als halte sie ihren Fuß absichtlich so, dass es mir unmöglich war. Sie saß zurückgelehnt da, mit den Händen auf dem Bett abgestützt, die Augen zu. Ich hörte, wie sie tief und langsam atmete.
»Verdammt noch mal«, schimpfte ich. »Hilf mir!«
Sie schlug die Augen auf und sagte eine Weile kein Wort.
»Schatz«, seufzte sie schließlich, sah mich fest an und strich mir über den Kopf. So hatte sie mich oft genannt, als ich noch ein Kind war, immer in einem ganz speziellen Ton. Das passt dir nicht, hatte dieses »Schatz« zu bedeuten, aber so sind die Dinge nun mal. Es war dieses Sichabfinden mit dem Leiden, was mich am meisten an meiner Mutter ärgerte, ihr ewiger Optimismus und Lebensmut.
»Lass uns gehen«, sagte ich, nachdem ich ihr mühsam die Schuhe angezogen hatte.
Mit schwerfälligen Bewegungen zog sie ihren Mantel an. Beim Gang durchs Haus stützte sie sich an den Wänden ab. Ihre beiden geliebten Hunde folgten ihr, rieben ihre Schnauzen an ihren Händen und Oberschenkeln. Ich sah zu, wie sie ihnen den Kopf tätschelte. Ich hatte kein Gebet mehr. Die Worte Zum Teufel mit ihnen waren trockene Pillen in meinem Mund.
»Wiedersehen, meine Lieblinge«, sagte sie zu den Hunden. »Wiedersehen, Haus«, sagte sie, als sie mir zur Tür hinaus folgte.
Ich hätte nie gedacht, dass meine Mutter sterben könnte. Bis sie tatsächlich starb, war mir diese Möglichkeit nie in den Sinn gekommen. Sie war ein unüberwindlicher Fels, die Hüterin meines Lebens. Sie würde alt werden und immer noch im Garten arbeiten. Dieses Bild war fest in meinem Kopf verankert wie eine ihrer Kindheitserinnerungen, die ich mir so haarklein von ihr hatte schildern lassen, dass ich mich an sie erinnerte, als wäre es meine eigene. Sie würde alt werden und schön bleiben wie Georgia O'Keeffe auf dem Schwarzweißfoto, das ich ihr einmal geschickt hatte. In den ersten Wochen nach dem Besuch in der Mayo Clinic klammerte ich mich an dieses Bild. Doch als sie in das Hospiz des Krankenhauses in Duluth aufgenommen wurde, verblasste dieses Bild, machte anderen Platz, bescheideneren und realistischeren. Ich stellte mir meine Mutter im Oktober vor, speicherte das Bild in meinem Kopf. Und dann im August und schließlich im Mai. Mit jedem Tag, der verging, fiel ein weiterer Monat weg.
An ihrem ersten Tag im Krankenhaus bot ihr eine Schwester Morphium an, doch sie lehnte ab. »Morphium geben sie Leuten, die sterben«, sagte sie. »Morphium bedeutet, dass keine Hoffnung mehr besteht.«
Aber sie hielt es nur einen Tag durch. Sie schlief und wachte, redete und lachte. Sie schrie vor Schmerzen. Tagsüber blieb ich bei ihr, nachts Eddie. Leif und Karen blieben weg, machten Ausflüchte, die ich nicht nachvollziehen konnte und die mich erbosten, obwohl es meiner Mutter offenbar nichts ausmachte, dass sie nicht kamen. Sie war nur damit beschäftigt, die Schmerzen niederzuhalten, was in der Zeit zwischen den Morphiumgaben ein aussichtsloser Kampf war. Wir schafften es nie, die Kissen richtig hinzulegen. Eines Nachmittags trat ein Arzt, den ich noch nie gesehen hatte, ins Zimmer und erklärte, dass meine Mutter im Sterben liege.
»Aber es ist erst ein Monat vorbei«, protestierte ich empört. »Der andere Arzt hat von einem Jahr gesprochen.«
Er gab keine Antwort. Er war jung, vielleicht dreißig. Er stand neben dem Bett meiner Mutter und sah, eine zarte, behaarte Hand in der Tasche, auf sie hinab. »Von jetzt an ist unsere einzige Sorge, dass sie sich wohlfühlt.«
Dass sie sich wohlfühlt - und dennoch gab man ihr so wenig Morphium wie möglich. Unter dem Pflegepersonal war auch ein Mann. Einmal, als er da war, konnte ich die Umrisse seines Penis durch seine enge weiße Hose sehen. Am liebsten hätte ich ihn in das kleine Badezimmer am Fußendes des Bettes gezerrt und mich ihm dargeboten, mich überhaupt zu allem bereit erklärt, wenn er uns nur half. Aber ich wollte auch selbst meinen Spaß dabei haben, das Gewicht seines Körpers auf meinem spüren, seinen Mund in meinem Haar spüren, ihn meinen Namen sagen hören, immer und immer wieder, ihn zwingen, von mir Notiz zu nehmen, unsere Sache zu seiner zu machen, seinem Herzen Mitleid mit uns abzuringen.
Wenn meine Mutter ihn um mehr Morphium bat, dann in einer Weise, wie ich nie jemanden um etwas bitten gehört hatte. Aber der Kerl sah sie dabei nie an, sondern immer nur auf seine Armbanduhr. Er verzog keine Miene, egal wie seine Antwort lautete. Manchmal gab er ihr das Morphium ohne ein Wort, und manchmal sagte er Nein mit einer Stimme, die so weich war wie der Penis in seiner Hose. Dann flehte und wimmerte meine Mutter. Sie weinte, und ihre Tränen rollten in die falsche Richtung. Nicht über ihre Wangen hinunter zu den Mundwinkeln, sondern weg von den Augenrändern zu den Ohren und in das Knäuel ihrer Haare auf dem Kissen.
Sie lebte kein Jahr mehr. Sie lebte auch nicht bis Oktober, August oder Mai. Sie lebte noch neunundvierzig Tage, nachdem ihr der erste Arzt in Duluth eröffnet hatte, dass sie Krebs habe. Noch vierunddreißig Tage, nachdem der andere in der Mayo Clinic die Diagnose bestätigt hatte. Tag folgte auf Tag, aber jeder war eine Ewigkeit, ein kaltes Licht im dichten Nebel.
Leif besuchte sie nie. Karen kam ein einziges Mal, nachdem ich darauf bestanden hatte. Ich war untröstlich, wütend, fassungslos. »Ich möchte sie nicht in diesem Zustand sehen«, führte meine Schwester immer wenig überzeugend als Grund an, wenn wir miteinander sprachen, und brach dann in Tränen aus. Mit meinem Bruder konnte ich nicht sprechen - Eddie und ich hatten keine Ahnung, wo er steckte. Nach Auskunft eines Freundes wohnte er in St. Cloud bei einem Mädchen namens Sue. Ein anderer hatte ihn beim Eisfischen am Sheriff Lake gesehen. Ich hatte keine Zeit, den Hinweisen nachzugehen, da ich jeden Tag von meiner Mutter in Anspruch genommen war, ihr Plastikschüsseln hinhielt, wenn sie sich übergeben musste, immer wieder die Kissen, die einfach nicht richtig liegen wollten, aufschüttelte und zurechtrückte, sie hochhob und auf den Topfstuhl setzte, den das Pflegepersonal neben das Bett gestellt hatte, sie drängte, einen Happen zu essen, den sie zehn Minuten später wieder erbrach. Die meiste Zeit sah ich ihr beim Schlafen zu, und das war von allem das Schlimmste. Zu sehen, wie ihr Gesicht selbst im Schlaf vor Schmerzen zuckte. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, gerieten die Infusionsschläuche, die überall um sie herumbaumelten, ins Schwingen, und mein Herz raste vor Angst, sie könnte die Nadeln, mit denen die Schläuche an ihren geschwollenen Händen und Handgelenken befestigt waren, herausreißen.
»Wie fühlst du dich?«, gurrte ich immer hoffnungsvoll, wenn sie aufwachte, fasste durch die Schläuche und wuschelte durch ihre platt gedrückten Haare.
»Ach, Schatz«, war meistens alles, was sie sagen konnte. Und dann sah sie weg.
Ich wanderte durch die Krankenhausflure, während meine Mutter schlief, spähte in anderer Leute Zimmer, wenn ich an offenen Türen vorbeikam, erhaschte Blicke auf alte Männer mit schlimmem Husten und lila verfärbter Haut, auf Frauen mit Verbänden um ihre dicken Knie.
»Wie geht es Ihnen?«, fragten mich die Schwestern immer in melancholischem Ton.
»Wir lassen uns nicht unterkriegen«, antwortete ich dann, als wäre ich ein Wir.
Aber ich war nur ich. Mein Mann, Paul, tat alles, was er konnte, damit ich mich nicht so allein fühlte. Er war noch derselbe freundliche, liebevolle Mann, in den ich mich vor ein paar Jahren verguckt und so heftig verliebt hatte, dass ich zum Entsetzen aller mit knapp zwanzig heiratete, aber seit meine Mutter im Sterben lag, war etwas in mir für ihn abgestorben, ganz gleich, was er sagte oder tat. Trotzdem rief ich ihn an den langen Nachmittagen täglich vom Münztelefon im Krankenhaus an oder am Abend, wenn ich wieder im Haus meiner Mutter und Eddies war. Wir führten lange Gespräche, bei denen ich weinte und ihm mein Herz ausschüttete. Er weinte mit mir und versuchte, mir alles ein klein wenig erträglicher zu machen, aber seine Worte klangen hohl. Es war fast so, als könnte ich sie gar nicht hören. Was wusste er schon, wie es war, alles zu verlieren? Seine Eltern lebten noch und führten eine glückliche Ehe. Meine Beziehung zu ihm und seinem unverschämt ungebrochenen Leben schien meinen Schmerz nur zu verstärken. Er konnte nichts dafür. Das Zusammensein mit ihm war mir unerträglich, aber mit jedem anderen auch. Der einzige Mensch, mit dem ich zusammen sein konnte, war der unerträglichste von allen: meine Mutter.
Morgens saß ich an ihrem Bett und versuchte, ihr vorzulesen. Ich hatte zwei Bücher: Das Erwachen von Kate Chopin und Die Tochter des Optimisten von Eudora Welty. Wir hatten beide am College gelesen und liebten sie. Also fing ich an, aber ich konnte nicht weiterlesen. Jedes Wort, das ich aussprach, löschte sich selbst in der Luft.
Dasselbe geschah, wenn ich zu beten versuchte. Ich betete inbrünstig, fanatisch, zu Gott, zu jedem Gott, zu einem Gott, den ich weder benennen noch finden konnte. Ich verwünschte meine Mutter, weil sie mich nicht religiös erzogen hatte. Aus Verbitterung über ihre repressive katholische Erziehung hatte sie als Erwachsene nichts mehr mit der Kirche zu tun haben wollen, und jetzt lag sie im Sterben und hatte nicht einmal einen Gott. Ich betete zu dem ganzen weiten Universum und hoffte, dass Gott irgendwo da draußen war und mich hörte. Ich betete und betete, und dann stockte ich. Nicht weil ich Gott nicht fand, sondern weil ich ihn plötzlich gefunden hatte: Gott war da, begriff ich, aber er dachte gar nicht daran, ins Geschehen einzugreifen, das Leben meiner Mutter zu retten. Gott erfüllte keine Wünsche. Gott war ein mitleidloser Schuft.
In den letzten Tagen ihres Lebens war meine Mutter mehr weggetreten als high. Sie hing mittlerweile an einem Morphiumtropf, aus einem Klarsichtbeutel sickerte Flüssigkeit einen Schlauch herunter, der an ihr Handgelenk geklebt war. Wenn sie aufwachte, sagte sie: »Oh, oh.« Oder sie stieß einen traurigen Seufzer aus. Sie sah mich an, und Liebe blitzte in ihren Augen auf. Oder sie sank wieder in den Schlaf, als wäre ich gar nicht vorhanden. Manchmal wenn sie aufwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Sie verlangte eine Enchilada und dann Apfelmus dazu. Sie glaubte, dass alle Tiere, die sie jemals geliebt hatte, bei ihr im Zimmer wären - und es hatte viele gegeben. »Das verflixte Pferd hätte mich beinahe getreten«, sagte sie und sah sich vorwurfsvoll nach ihm um, oder ihre Hände streichelten eine Katze, die unsichtbar auf ihrem Bauch lag. In dieser Zeit wollte ich, dass sie mir sagte, ich sei die beste Tochter auf der Welt gewesen. Ich wollte das nicht wollen, und trotzdem tat ich es aus mir unerfindlichen Gründen, als hätte ich hohes Fieber, das nur durch diese Worte gelindert werden konnte. Ich ging sogar so weit, sie direkt zu fragen: »Bin ich die beste Tochter auf der Welt gewesen?«
Sie sagte: Ja, natürlich.
Aber das genügte mir nicht. Ich wollte, dass sich diese Worte im Kopf meiner Mutter von selbst zusammenfügten und mir frei Haus geliefert wurden.
Ich hungerte nach Liebe.
Meine Mutter starb schnell, aber nicht plötzlich. Ein langsam verglimmendes Feuer, wenn die Flammen in Rauch aufgehen und der Rauch sich in Luft auflöst. Sie kam nicht dazu abzumagern. Sie war verändert, aber nicht ausgezehrt, als sie starb. Der Körper einer Frau, die noch unter den Lebenden weilte. Sie hatte auch noch ihre Haare, braun, brüchig und ausgefranst vom wochenlangen Liegen.
Durch das Fenster des Zimmers, in dem sie starb, konnte ich auf den Lake Superior sehen, den größten Süßwassersee der Welt und den kältesten. Allerdings war das nicht ganz leicht. Ich musste das Gesicht seitlich gegen die Scheibe drücken, dann konnte ich ein Stück von ihm sehen, das sich bis zum Horizont hinzog.
»Ein Zimmer mit Ausblick!«, rief meine Mutter, obwohl sie zu schwach war, um aufzustehen und sich den See selbst anzusehen. Und dann, leiser: »Mein ganzes Leben lang habe ich auf ein Zimmer mit Ausblick gewartet.«
Sie wollte im Sitzen sterben, also nahm ich alle Kissen, die ich kriegen konnte, und stopfte sie ihr hinter den Rücken. Am liebsten hätte ich sie aus dem Krankenhaus herausgeholt und zum Sterben auf eine Wiese mit Schafgarben gesetzt. Ich deckte sie mit einem Quilt zu, den ich von zu Hause mitgebracht und den sie selbst aus alten Kleiderresten zusammengenäht hatte.
»Schaff das Ding fort!«, knurrte sie böse und strampelte wie ein Schwimmer mit den Beinen, um die Decke abzuwerfen.
Ich beobachtete meine Mutter. Draußen glitzerten die Gehwege und die verharschten Schneehaufen in der Sonne. Heute war Saint Patrick's Day, und die Schwestern brachten ihr einen Wackelpeter, der, viereckig und grün, auf dem Tisch neben ihr wabbelte. Wie sich herausstellen sollte, war es der letzte ganze Tag in ihrem Leben, und die meiste Zeit davon lag sie ruhig mit offenen Augen da, weder schlafend noch wachend, zeitweise bei klarem Bewusstsein, zeitweise halluzinierend.
An diesem Abend verließ ich sie, obwohl ich eigentlich nicht wollte. Die Schwestern und Ärzte hatten Eddie und mir gesagt, dass es so weit sei. Ich hatte das so verstanden, dass sie in ein paar Wochen sterben würde. Ich dachte, dass Krebskranke dahinsiechten. Karen und Paul wollten am nächsten Morgen mit dem Auto zusammen aus Minneapolis kommen, und die Eltern meiner Mutter wurden in ein paar Tagen aus Alabama erwartet, aber Leif war immer noch unauffindbar. Eddie und ich hatten seine Freunde und deren Eltern angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen mit der Bitte, sich zu melden, aber er hatte sich nicht gemeldet. Ich beschloss, das Krankenhaus für eine Nacht zu verlassen, um ihn zu suchen und ihn eigenhändig ins Krankenhaus zu schleppen.
»Morgen früh bin ich wieder da«, sagte ich zu meiner Mutter und blickte zu Eddie hinüber, der, halb liegend, auf der kleinen Vinylcouch saß. »Und zwar mit Leif.«
Als sie seinen Namen hörte, schlug sie die Augen auf: blau und leuchtend, genau so, wie sie immer gewesen waren. Trotz allem hatten sie sich nicht verändert.
»Wie ist es möglich, dass du nicht böse auf ihn bist?«, fragte ich sie verbittert wohl zum zehnten Mal.
»Man kann einen Hund nicht zum Jagen tragen«, antwortete sie darauf gewöhnlich. Oder: »Cheryl, er ist erst achtzehn.« Aber diesmal sah sie mich nur an und sagte: »Schatz.« Genauso hatte sie reagiert, als ich mich wegen ihrer Socken aufregte. Wie überhaupt immer, wenn sie sah, dass ich litt, weil etwas nicht so war, wie ich es gern hätte. Dann versuchte sie mich mit diesem einen Wort davon zu überzeugen, dass ich die Dinge so nehmen musste, wie sie waren.
»Morgen sind wir alle vereint«, sagte ich. »Und dann bleiben wir alle hier bei dir, einverstanden? Keiner wird gehen.« Ich fasste durch die überall um sie herumhängenden Schläuche und streichelte ihr die Schulter. »Ich liebe dich«, sagte ich und beugte mich vor, um sie zu küssen, doch sie wehrte mich ab, denn ihre Schmerzen waren zu groß, um auch nur einen Kuss auszuhalten.
»Liebe«, hauchte sie, zu schwach, um »ich« und »dich« zu sagen. »Liebe«, wiederholte sie, als ich das Zimmer verließ.
Ich fuhr mit dem Aufzug nach unten, trat auf die kalte Straße hinaus und ging den Gehweg entlang. Ich kam an einer Bar vorbei.
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe Kailash Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Cheryl Strayed
Cheryl Strayed, geboren 1968, veröffentlichte nach ihrem Studium der Literatur neben einem Roman zahlreiche Beiträge in der New York Times, Washington Post, Vogue und anderen Medien. Ihre regelmässige Internet-Kolumne mit dem Titel "Dear Sugar" machte sie zur nationalen Berühmtheit. Cheryl Strayed lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Brian Lindstrom, und ihren beiden Kindern in Portland, Oregon.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cheryl Strayed
- 2013, 444 Seiten, Masse: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pfleiderer, Reiner
- Übersetzer: Reiner Pfleiderer
- Verlag: KAILASH
- ISBN-10: 3424630241
- ISBN-13: 9783424630244
Rezension zu „Der grosse Trip “
"Ein witziges, berührendes Buch, das mit üblichen Selbstfindungs-Schmökern erfreulich wenig zu tun hat."
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