Der Augenblick der Liebe
Gottlieb Zürn, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer jungen Doktorandin. Sie könnte beinahe seine Enkelin sein, doch er fühlt sich zu ihr hingezogen.
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Gottlieb Zürn, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer jungen Doktorandin. Sie könnte beinahe seine Enkelin sein, doch er fühlt sich zu ihr hingezogen.
Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im selben Wortschatz untergeht, folgt er ihr nach Kalifornien zu einem Kongress über LaMettrie. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung - auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt. Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äusseren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv.
Der Augenblick der Liebe von Martin Walser
LESEPROBE
I.
Herr Zürn oder Herr Krall, wiehätten Sie's gern? So fing sie an, so eröffnete sie.
Gottlieb sagte: In welche Sauce wirden Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht? Undsie: Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann. Und er: Aber dieMöglichkeiten klirren. Und sie: Wenn Sie so wollen. Und er: Ich will. Gottliebhatte das Gefühl, er sei begeistert. Wenn das Leben auf sich aufmerksammachte, fühlte er sich als Dichter, sogar als Komponist. Er war weder das einenoch das andere. Er war mit der Besucherin in ein Duett geraten. Sie hättenihre Sätze gleichzeitig sagen können, das hätte die Wirkung nicht gemindert.
Anna blieb nichts anderes übrig, alszwischen der Besucherin und Gottlieb hin und her zu schauen wie beim Tennis.Also schaute sie, nach Gottliebs Ich will, die Besucherin an, weil die jetztdran war. Aber die wollte oder konnte offenbar nicht weitermachen im Duett.
Dann starrten alle drei auf dieSonnenblume, die die Besucherin mitgebracht hatte, für die Gottlieb keine Vasegefunden hatte, die er dann in den grössten Glaskrug gestellt und mitten aufdem Terrassentisch platziert hatte. Noch nie hatte jemand eine Sonnenblumemitgebracht. Anna hatte die gewaltige Blume entgegengenommen und hatte gesagt:Unglaublich. Und das stimmte ganz genau. So eine Prachtblume zu überreichen,die sofort die Szene beherrscht, und nichts dazu zu sagen, das warunglaublich. Das war eigentlich die Eröffnung des Duetts gewesen.
Anna schaute die Besucherin an, alsmüsse die ihr noch erklären, wie es überhaupt zu dieser Frage, ob Zürn oder Krall,komme. Gottlieb wusste, dassAnna, hätte sie sich äussern können, jetzt gleich noch einmal ihr Lieblingswort,ihr Passepartoutwort, gesagt hätte: Unglaublich. Das brauchte sie so oft, dass es auf Gottlieb überging. Und wenn es ihm unwillkürlichunterkam, merkte er, dass er wieder Annas Wortbenutzte. Sollten Ehepaare einander im Lauf der Zeit ähnlicher werden - was erbei sich und Anna bestritt -, dann dürfen sie auch im selben Wortschatzuntergehen. Hätte die Besucherin ihre Eröffnungsfrage eine Stunde spätergestellt, nachdem Anna ihren Kaffee und die drei oder vier Gläschen Calvadosschon getrunken gehabt hätte, dann hätte Anna höchstens noch ein wenig denKopf geschüttelt, so langsam, dass es aussähe, alssuche sie für ihren Kopf eine Lage, in der er bleiben könne. Jetzt aber, beider ersten Tasse Kaffee und beim ersten Calvados, reagierte sie doch so neugierig,als sollte Gottlieb ihr in Gegenwart der Besucherin etwas erklären, was er ihrverschwiegen habe. Ach nein, doch nicht verschwiegen, einfach nicht gesagthatte er ihr, dass vor Wochen ein Brief aus NorthCarolina eingetroffen war, geschrieben von einer Beate Gutbrod,die fragte, ob sie kommen dürfe, es handle sich um La Mettrie.
La Mettrie,das war einmal ein Thema gewesen. Eines der vielen Themen, mit denen Gottliebsich die Zeit vertrieb, die er hatte, seit Anna das Geld verdiente. Er besorgteden Haushalt und das Schriftliche, Anna den Handel, den Immobilienhandel. Alser dieser Beate Gutbrod geschrieben hatte, siekönne, wenn sie nichts Besonderes von ihm erwarte, gern zu einem Kaffee auf derTerrasse kommen, hatte er es nicht für nötig gehalten, Anna zu sagen, da kommeeine von einer Uni aus North Carolina, die in Langenargen eine Grosstantebesuche und ihn bei dieser Gelegenheit auch besuchen wolle, da sie eineDoktorarbeit darüber schreibe, wie La Mettrie inDeutschland aufgenommen worden sei. Wann aufgenommen, warum so spät und wiedann. Im Internet hatte diese Beate Gutbrod offenbarentdeckt, dass Gottlieb vor fünfzehn Jahren in einemAnfall von Begeisterung zwei Aufsätze über La Mettriegeschrieben hatte.
Hier heisse ich Zürn, sagte Gottliebjetzt. Er tat, als bemerke er Annas kritische Neugier nicht. Die Besucherin sollteden Eindruck haben, seine Frau sei informiert darüber, dasser unter dem Namen Wendelin Krall über La Mettrieveröffentlicht hatte. Gewusst hatte sie es einmal. Vorfünfzehn oder sechzehn Jahren. Verwitterte Inschriften im Ehegestein.Vielleicht wusste Anna wirklich nicht mehr, dass ihr Mann jedes seiner wenigen Themen unter einemanderen Namen bearbeitet hatte. Und für La Mettriewar eben Wendelin Krall zuständig gewesen. Den Satz, dasser hier Zürn heisse, begleitete Gottlieb mit Gesten, die der Besucherin sagen mussten, hier am Tisch, hier beim Tee heisse ich Zürn. Warumsollte er dieser Besucherin die Innenansichten seiner Ehe präsentieren. Auch wennGottlieb nur sogenannte Tatsachen mitteilen würde, wüsste so eine Besucherin nichts über diese Ehe, sondern nurdas, was er ihr über diese Ehe mitteilen wollte. Was verstünde denn eineBesucherin, wenn er jetzt Annas deutliches Informationsdefizit mit den Sprech-und Sprachgepflogenheiten dieser Ehe erklärte! Dasssie, wenn nicht gerade Kinder da sind, nach einander frühstücken, ist derAusdruck einer Übereinstimmung, die eine Besucherin nicht begreifen kann.Überhaupt vollzieht sich das Gespräch zwischen ihm und Anna auf einer für eineBesucherin vor Höhe unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die feinsten.Nur dass Sie's wissen. Je weniger sie mit einandersprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklärmal einer Besucherin. Je länger sie nicht mit einander sprechen, desto näherkommen sie einander. Also wegen einer Besucherin, die zum Kaffee kommt, weilsich das mit dem Besuch der Grosstante namens Mimi verbinden lässt, wegen einer solchen exemplarischen Unwichtigkeit dassich geradezu samtig anfühlende Einvernehmen des Schweigens dem Missverständnis einer Touristin auszuliefern - nein, danke.
Andererseits hatte die so eröffnet, dass er hoch eingestiegen war. Das war ein Duett. DiesemDuett nachhörend sassen sie dann. Zu wissen, woran jetzt jeder an diesem Tischdenkt, brächte einen weiter. In der Menschenkenntnis. Die es nicht gibt. Weilkeiner in den anderen hineinsieht. Wenn er der Besucherin sein und Annaseinvernehmliches Nichtssagen erklären könnte, wüsstesie immer noch nicht, wie wichtig Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht. Er sitzt, sie räumt auf, er kann nursitzen, starren, sie aber redet, und das tut sie für ihn. Zustimmend schweigen,das kann er noch. Sie plappert bewusst, machtdeutlich, dass sie jetzt nur plappert, damit demonstriertsie, man könne doch immer noch plappern, Quatsch reden. Es kann sein, sieversackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er an. Er schafftnicht halb soviel Stimmung oder wenigstens Akustik wie sie. Und gibt auchgleich auf. Dann ist die Stille, die folgt, ein Ausdruck vollkommener Harmonie.Näher kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren Wüste gemeinsamerworbenen Schweigens.
Es war die Besucherin, die verfügte,dass er jetzt und wie er jetzt über Anna nachdachte.Wäre doch Anna ein wenig weniger lieb. Er merkte, dasser, wenn er, was vom Liebsein handelte, hochkommen liess, schnell bei einemGeneralverdacht landen würde. Wollte er etwas gegen Anna empfinden,intonierte er diesen Generalverdacht: Anna will nichts von dir, sie will nur, dass du etwas von ihr willst. Wurde aber in vorstellbarerNähe ein Kind ermordet, durfte Geschlechtliches eine Schonzeit lang überhauptnicht mehr vorkommen. Das war seine auf Klage oder Anklage getrimmteVorwurfsroutine, gegen die Anna sich nicht verteidigen konnte, weil er ihrdiese öfter in ihm ablaufende Vorwurfsplatte niemals vorgespielt hatte undwahrscheinlich niemals vorspielen würde. Die Platte lief. Und es war dieBesucherin, die die Platte zum Laufen gebracht hatte.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Anna es neben einem aushielte, ohne einen zu berühren.Und wenn sie's dann tut, dann vielleicht nur, weil sie glaubt, der andere wollees. Sie will einem etwas zuliebe tun. Sie will einem alles zuliebe tun. Sie istunerschöpflich unermüdlich im Einemetwaszuliebetun.Manchmal zöge man es vor, sie dächte mehr an sich. Fuhr er achtlos in eineParklücke hinein, sagte, sobald er ausgestiegen war, Anna: Wenn du deutlicher linkseinparkst, hat noch einer Platz. Sie war andauernd humaner als er. Sie fühltesich ihm wahrscheinlich überlegen. Das kann in ihr die Stimmung erzeugt haben,er müsse ihr für das lebenslängliche Bei-ihm-Bleibendankbar sein. Es tat sicher gut zu wissen, dass er ihrimmer ein bisschen oder mehr als ein bisschen schuldig blieb und für das, was er ihr schuldigblieb, dankbar zu sein hatte.
Gottlieb hatte serviert: Kaffee undCalvados für Anna, für die Besucherin und für ihn Tee. Und Apfelkuchen füralle. Dass er den Apfelkuchen heute vormittag selber gebacken hatte,sagte er mit dem gespielten Stolz, mit dem Männer auf ihre Küchenverdienstehinzuweisen haben. Und da sie ja aus dem Apple-Pie-Countrykam, also vielleicht nicht wusste, was sie auf demTeller hatte, sagte er, ganz ohne Nachdruck, noch dazu, dasses sich um eine Tarte Tatinhandle, er serviere die aber heute, ohne sie gestürzt zu haben. Und warumheute nicht gestürzt, fragte sie. Genau so musste siereagieren, fand er, spürte er. Er wies auf die wellige, ganz glatte, kahle,hellfahle Oberfläche in der weissen Form, sagte aber nichts. Sie sagte: Wie einefreundliche Mondlandschaft. Ja, sagte er und nickte bedeutungsvoll, gestürzt,sähen wir jetzt die nassen Apfelinnereien. Und fing an auszuteilen.
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© RowohltVerlag
Autoren-Porträt vonMartin Walser
MartinWalser, 1927 in Wasserburg (Bodensee) geboren, lebt heute in Nussdorf(Bodensee). 1957 erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, 1962 denGerhart-Hauptmann-Preis und 1965 den Schiller-Gedächtnis-Förderpreis. 1981wurde Martin Walser mit dem Georg-Büchner-Preis und 1998 mit dem Friedenspreisdes Buchhandels ausgezeichnet.
DerAugenblick der Liebevon Martin Walser
Seitbeinah 50 Jahren veröffentlicht Martin Walser (77) Romane, Essays,Hörspiele, Reden und Theaterstücke und zählt zu denbedeutendsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. In Deutschland ist erjedoch nicht nur eine schriftstellerische, sondern auch eine intellektuelleInstanz. Nach seinem umstrittenen letzten Buch „Tod einesKritikers“, in dem Walser Literaturpapst Reich-Ranicki karikierte,erscheint nun sein neuer Roman „Der Augenblick der Liebe“.
Schonvor Erscheinen des neuen Buches haben Sie Schlagzeilen gemacht. Vor kurzemhaben Sie mit Ihrem kompletten literarischen Werk vom Suhrkamp zum RowohltVerlag gewechselt. Ein Kritiker hat behauptet, Sie hätten Lust anliterarischen Skandalen. Was sagen Sie dazu?
Verdrehterkann es nicht mehr formuliert werden. Das ist so falsch als überhauptvorstellbar. Denn ich habe ja auch dazu gesagt, mehr als einmal, warum ich vomSuhrkamp Verlag weggehen musste. Weil der Verlag 2002 bei „Tod einesKritikers“ in die Knie gegangen ist. Ein FZ-Gewaltiger hat doch das Buchbeschuldigt und obwohl die vom Verlag das nicht akzeptiert haben, sind sietrotzdem vor dieser Machtausübung eines mächtigen Journalisten in dieKnie gegangen, haben Kompromisse gemacht und gezögert und so weiter. Dannhabe ich gemerkt, dass ich nicht mehr in diesem Verlag sein kann, wenn vonaußen bestimmt wird, wie man mit einem Buch umgeht. Gut, ich bin dannnicht gleich davongerannt, aber im Laufe der Monate habe ich halt gesehen, esbleibt mir nichts anderes übrig als zu gehen. Und das ist auch nicht soschlimm, das ist trotzdem ein wunderbarer Verlag gewesen für mich. Manmuss das jetzt nicht dramatisieren und schon gar nicht skandalisieren. Ichglaube, das lesende Publikum nimmt das kaum zur Kenntnis, wenn da auf demUmschlag ein anderer Verlag steht. Und ich habe auch bei der Produktion diesesRomans gemerkt, dass es mir beim Rowohlt Verlag sehr gut geht.
Washaben Sie an Gottlieb Zürn so gerne, dass Sie ihn wieder, wie schon in„Das Schwanenhaus“ und „Die Jagd“, die Hauptrollespielen lassen?
Das kannman verstandesmäßig wahrscheinlich gar nicht ganz erklären. Ichmag alle meine Figuren gleich gern. Gottlieb setzte sich von selber bei mirdurch. Erst beim Schreiben hab ich mich wieder genauer erinnert, dass Gottliebim letzten Roman eine erotische Biographie hatte. Damals wurde er von einerjungen Frau namens Gisi erotisch provoziert. Und da ist er auch weg von seinerHeimatstadt, nach München und hat dort für seine Verhältnisseungeheuer erotische Situationen erlebt. Und trotzdem ist er damals geflohen.Als ich jetzt Gottlieb wieder auf dem Papier hatte, da fiel mir ein, dass ichihm noch etwas schuldig war. Das wurde deutlicher, je länger ich mit ihmzu tun hatte. Und da habe ich gemerkt, dass ich den richtigen Helden untermeiner Heldensammlung gewählt habe. Der passt für so eineLiebesgeschichte. Ich muss noch dazu sagen, meine Helden notiere ich im Kopfauch wie Tonarten und der Gottlieb ist eine Dur-Tonart. Ein anderer Held, derauch schon öfters da war, Helmut Halm, den könnte ich dafür niegebrauchen! Das ist ein Moll-Mensch. Aber Gottlieb ist Dur, wenn auch einverrücktes Dur. Ein von Schmerzen geplagtes Dur. Ein Trotzdem-Dur.
Es gibtnicht nur die Liebesgeschichte zwischen der jungen Beate und Gottlieb, sondernauch zwischen Gottlieb und seiner Frau Anna. Ist das ein Buch über dasÄlterwerden in der Ehe?
Es ist jaklar, dass eine Liebesgeschichte fast immer auch die Ehefrau mit meint. Im 19.Jahrhundert hat man das Ehebruch genannt. Die großen Erzähler desEhebruchs, das waren Tolstoi, bei uns Goethe mit den Wahlverwandtschaften, inFrankreich Flaubert. Wir sagen heute nicht mehr Ehebruch, aber wir haben denEhekonflikt. Wenn es Anna nicht gäbe, gäbe es Beate nicht. Ich nenne dasvollmundig Dialektik. Anna und Gottlieb sind im Zustand desAlles-hinter-sich-habens und einer halbwegs ausgeruhten Lebenssituation unddann kommt dieses Mädchen mit der Sonnenblume, schlägt ein und esbricht diese große Unruhe aus. Er schafft es auch nach Amerika zu ihrhinüber. Und dann muss er aber wieder zurück. Verlegt den Flug vor,verlegt ihn noch mal vor, dass er noch früher zurückkommt zu Anna.Wenn er aber wieder da ist, will er wieder zurück zu Beate. Das geht hinund her und her und hin. Und dann kann er offenbar nicht anders und bietetseiner Frau das „Sie“ an, damit da noch einmal etwas beginnen kann.
KennenSie die Probleme des Gemeinsamälterwerdens aus eigener Erfahrung?
Eigentlichgibt es ja keine Fiktion ohne Anlass. Ich schreibe mir die Wirklichkeit um, bissie erträglich wird. Was tatsächlich in einem Roman passiert, daskann man nicht gleichsetzen mit der Autobiographie des Autors. Aber der ganzeRoman, das Weltverhältnis, das Annaverhältnis, dasBeateverhältnis, das Ganze, das ist natürlich der Autor. Dadrückt sich der Autor aus. Aber nicht in einzelnen Begegnungen. Wenn manso was anfängt, dann weiß man ja noch nicht alles, was in dem Romanpassieren wird, aber man hat viel Anlass, diesen Roman zu schreiben, man hatviel Erfahrung, schmerzliche Erfahrung und deswegen muss man oder will man danndagegen schreiben. Solange man nämlich schreibt, ist man von allenwirklichen Miseren befreit. Das ist ja auch das Schöne, das geht, glaubeich, jedem Menschen so, wenn er etwas erzählt, das ihm durch den Kopf gehtund das ihm weht tut. Wenn er’s erzählt, dann erzählter’s so, wie er gerne hätte, dass es sei. Er macht eserträglich. Kein Mensch kann das schlechthin Unerträglicheerzählen. Das tut man nicht. Sondern dafür haben wir Sprache, dasswir nicht wortlos leiden müssen.
InAmerika hält Gottlieb eine lange Rede über den französischenPhilosophen LaMettrie. Welche Beziehung haben Sie zu LaMettrie?
LaMettriemacht nicht wie unsere deutschen idealistischen und sonstigen Philosophen ewigweiter mit diesem Unterschied zwischen Körper und Geist. Er sagt vielmehr„meine Sinne sind meine Philosophen“, er will, dass die Menschheitglücklich wird und er schreibt gegen Schuldgefühle und über dieSchönheit des Lebens, discours sur le bonheur. Eine ganz andere Art vonPhilosophie als sie bei uns üblich war. Und auch ein glänzenderSchriftsteller, also ein begeisternder Schriftsteller und Philosoph. Den habenGottlieb und Beate von Anfang an im Dialog und wenn sie sich treffen oderBriefe schreiben oder telefonieren, dann ist das immer der Pate ihrerbeginnenden und zunehmenden Liebe.
Gottliebmuss sich nach dem Vortrag sehr viel Kritik stellen. Es wird ihm vorgeworfen,er wolle sich als Deutscher von Schuld freisprechen. Das erinnert an Ihre Redein der Frankfurter Paulskirche 1998. Damals warnten Sie vor einerInstrumentalisierung von Auschwitz.
LaMettriehat über die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben, also nicht, wieKant, über die Kritik der reinen Vernunft. Er ist gegen Schuldgefühlebeim Menschen und das hat natürlich dem Gottlieb ungeheuer zugesagt. Derhat den LaMettrie als Befreiungsenergie, als Kettenzerbrecher gefeiert. Unddann muss er erleben, daran hat er nicht gedacht, er ist ein Deutscher, derkommt und sagt, Schuldgefühle sind nichts wert, und das nehmen die dortpolitisch. Und sagen: Das hat uns noch gefehlt. Kommt ein Deutscher daher undsagt Schuldgefühle sind nichts wert. Das führt dann bei Gottlieb zuder Erfahrung: Er hat nicht gewusst, dass er im Ausland zuerst ein Deutscher istund dann erst ein Mensch. Das hat er einfach nicht bedacht. Ja gut, das konnteich nicht draußen lassen, das musste ich aufnehmen. DieseMöglichkeit, die gibt es eben. Erst im Ausland merkst du, dass du einDeutscher bist. Ob im guten oder schlechten, das ist völlig egal. Als ich1958 ein viertel Jahr in Harvard war, bei Henry Kissinger im Seminar, da habeich zum ersten Mal gemerkt, dass ich für alle um mich herum ein Deutscherwar. Daheim ist man ja kein Deutscher. In Augsburg, München oderÜberlingen ist man so und so alt, man ist Mann oder Frau, aber man ist jakein Deutscher. Es sei denn, wenn man beim Fußball zuschaut oder so. Dasist ein Nachhilfeunterricht für Gottlieb, dass er diese Erfahrung macht.Das ist natürlich nicht ohne Risiko für dieses Buch, da derLiebesroman dadurch diese irdische, gesellschaftliche, fast politische Notebekommt. Gut, das hab ich halt gemacht. Soll sich die political correctness einweiteres Mal austoben.
Ist IhrBuch auch eine Liebeserklärung an die Sprache?
Das ist dasErste, das ist das A und O. Die Freude am Schreiben ist eine Freude an derSprache. Dass abends etwas auf dem Papier ist, was am Morgen noch gar nicht dawar, das ist das Wichtigste beim Schreiben. In der Liebesgeschichte vonGottlieb und Beate wird man Zeuge vom Geist der deutschen und vom Geist derenglischen Sprache. Und auch das Französische kommt noch ein bisschen mithinein, so dass ich das Gefühl habe, ich habe zumindest ein bisschenEU-Literatur geschrieben. Ich gestehe, dass ich beim letzten Durchgang derFahnen noch einiges vom Englischen oder Französischen ins Deutscheübersetzt habe. Obwohl das Französische viel schöner wäre.Aber wir sind halt noch nicht soweit in der EU. Ich bin überzeugt, wennein Autor in zwanzig Jahren einen solchen Roman schreibt, dann wird er dasnicht mehr ins Deutsche bringen, sondern wird es wirklich nebeneinander stehenlassen.
Sodenken also schon voraus?
Na ja gut,ich meine jetzt in dieser Hinsicht, was die Sprachen betrifft. MeineGeneration, wir sind ja Kriegs- und Nachkriegsgeschädigte. Ich hatte einenwunderbaren Englischlehrer, aber der war ein wilhelminischer Studienrat undeinmal im Jahr gab es Englisch original. Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten,wurde eine Platte gespielt und da hat George Bernhard Shaw auf der Plattegesprochen. Und das ging immer so an: „I am George Bernhard Shaw.“Und dann hat er gesagt, wer er ist. Das war das einzige wirkliche Englisch, daswir gehört haben. Ich war dann ja noch schnell Soldat und bin in einelächerliche, komödienhafte Kriegssituation im Inntal hineingekommen.Von der einen Seite kamen die Franzosen von Innsbruck und von Rosenheim herkamen die Amerikaner. Die Amerikaner haben uns zum Kapitulieren aufgefordert.Und wir hatten einen völlig idiotischen Major, der in jeder Hinsicht einKomiker war. Der konnte aber überhaupt nicht Englisch. Also habe ich denDolmetscher gemacht bei den Übergabeverhandlungen, Ende März, AnfangApril 1945. Der Amerikanische Offizier hat mir gesagt, wo wir die Gewehrehinlegen sollen und wo wir uns aufstellensollen usw. Und das habe ich zum Glück verstanden. Aber der Major wolltevon Kapitulieren nichts hören und das hat sich dann zerschlagen. Aber daswar mein erstes wirkliches Englisch. In Uniform. Damals gab es den Spruch, ausdem Lateinischen, dass wir nicht für die Schule, sondern für dasLeben lernen. Zum Glück folgte dann ein Leben ohne alle Uniform.Die Fragen stellte Nicole Brunner / lorenzspringer medien
- Autor: Martin Walser
- 2004, 3. Aufl., 256 Seiten, Masse: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498073532
- ISBN-13: 9783498073534
- Erscheinungsdatum: 23.07.2004
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