Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um
12 Thriller
Zwölf weihnachtliche Thriller als perfektes Schmökerfutter für Ihren Winterurlaub! Wenn diese renommierten Krimi-Autoren zur Feder greifen, geht es sogar dem Weihnachtsmann an den Kragen!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um “
Zwölf weihnachtliche Thriller als perfektes Schmökerfutter für Ihren Winterurlaub! Wenn diese renommierten Krimi-Autoren zur Feder greifen, geht es sogar dem Weihnachtsmann an den Kragen!
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Klappentext zu „Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um “
Weihnachtszeit ist Gruselzeit. Wenn die renommiertesten Thrillerautoren zur Feder greifen, ist niemand sicher - nicht einmal der Weihnachtsmann! Während draußen klirrende Kälte herrscht und drinnen die Stuben gut aufgeheizt sind, freut sich ein jeder auf Ruhe und Einkehr. Doch unsere Winterthriller räumen auf mit der friedvollen Adventszeit und kennen keine Gnade für Glöckchen, Glühwein, Gänsebraten. Da heißt es Mord und Totschlag statt Glanz und Gloria! Wenn Sie den kühlen Thrill zur Weihnachtszeit suchen, sind Sie bei uns blutrichtig! Mit Geschichten von Karen Rose, Markus Heitz, Daniel Holbe, Petra Busch, Sven Koch, Alex Berg, Simone Buchholz, Heinrich Steinfest, Zoë Beck, Markus Stromiedel, Frank Göhre und Claudio M. Mancini.
Lese-Probe zu „Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um “
Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um von Johannes Engelke Nur ein Schneehase
Um sechzehn Uhr setzte der Schneefall ein. Überraschend. In schweren, dichten Flocken. Eine halbe Stunde später war der Himmel schwarz und die Stadt in Finsternis gehüllt. Der Ballsaal glänzte im Licht der Kronleuchter und Weihnachtskerzen. Die Menge hörte die Pflichtreden an, plauderte, trank Champagner, tanzte. Auf der Rückfahrt lächelte er und sah kurz zu ihr hinüber. »Ich kann's nicht glauben.« Dann richtete er seinen Blick wieder nach vorn. Noch immer tanzten Schneeflocken im Licht der Scheinwerfer auf die Straße hinab. Es war der sechste Dezember, kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Die Räder des schwarzen BMWs gruben sich knirschend aus der Stadt hinaus in Richtung eines der Nobelvororte. »Ich hasse diesen hochgestochenen Smalltalk.« Sie gähnte und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. »Die Hormone.« Seine Hand wanderte nach rechts, suchte ihren Bauch unter dem Wintermantel. »Dieses Mal werden es Zwillinge. Ich spüre es. Dann haben wir ein echtes Kleeblatt.« Sie lachte, nahm seine Hand und schob sie auf das Lenkrad zurück. »Blödmann. Es wird ein Junge. Nur einer. Das spüre ich. Und du schau auf die Straße.« »Warum? Gibt's da was Spannendes?« Sie lachten.
... mehr
Jakob Faber fädelte sich auf die Schnellstraße nach Norden ein. Es war ein Umweg gewesen von seiner Schwägerin aus. Aber Max wollte so gern die Schneehasen sehen, die hier im Wald lebten, neben den vier Fahrbahnen, an die sie sich oft gefährlich nahe heranwagten. Sein kleines Gesicht hatte Max dicht an die Fensterscheibe gepresst. Er sollte nicht vorn sitzen, aber wenn Jakob den Jungen hinten anschnallte, artete jede Autofahrt in ein lautes Toben und Schreien aus. Vorn war Max friedlich. »Da, fahr langsam, langsam«, rief der Vierjährige, und seine Nase wurde platt an der Scheibe. »Du siehst doch gar nichts«, sagte sein Vater und spähte durch das Schneetreiben dorthin, wo der Waldrand sein musste. Dann sah er sie, ganz nah, im Lichtkegel seiner Scheinwerfer. Wie kleine Bälle hüpften die weißen Tiere umher, perfekt getarnt im Schnee. Max jauchzte. »Du bist echt gut, Großer! Und weißt du was, du findest sicher auch heraus, warum in unseren Breiten Schneehasen leben.« Jakob, der Biologe, freute sich jedes Mal, wenn Max mehr über die heimische Fauna lernte. »Wegen mir.« Max nickte eifrig. Jakob lachte. Gern hätte er seinen Sohn jetzt in den Arm genommen. »Schneehasen haben im Winter ganz viele und dichte Haare an den Pfoten. Dann sinken sie nicht in den Schnee ein.« Max schrie, als ein Hase auf die Fahrbahn sprang. Sofort drosselte Jakob Faber das ohnehin langsame Tempo, der Hase schlug einen Haken und verschwand im Dunkeln. »Er hoppelt zu seiner Mama«, rief Max. »Genau! Schneehasen sind Gruppentiere. Sie sind nicht gern allein.« »Wo ist meine Mama?«
Augenblicklich setzte sich der vertraute Kloß in Jakobs Hals fest. »Hast du Durst?« »Ja, ja, ja«, kreischte Max begeistert, gerade so, als habe er die Frage nach seiner Mutter nie gestellt. »Ein Hase saß im tiefen Tal, singing holly polly doodle all the day«, stimmte Jakob eines von Max' Lieblingsliedern an, und sofort fiel der Junge mit ein und warf sich im Takt im Sitz hin und her. »Farewell, farewell«, kreischte er, »farewell my fairy fay.« »Kakao?«, unterbrach Jakob ihr Duett, als zwischen den Bäumen ein helles Rechteck und bunte Leuchtreklamen auftauchten, dazwischen eine riesige Tanne mit blau, rot und gelb blinkenden Lichtern. Die Tankstelle mit dem kleinen Bistro. Er parkte hinter den Zapfsäulen. Ein ganzer Pulk Hasen saß etwas abseits der Parkbuchten und Mülleimer. Der Hunger trieb sie zu den Menschen. Faber stieg aus. Die Kälte schlug ihm wie eine Ohrfeige ins Gesicht, und der Schnee schob sich in seine Hosenbeine. Es roch nach Abgasen und Benzin. »Bleib im Wagen, Großer «, sagte er, »und pass schön auf die Hasen auf. Ich bin gleich zurück.«
Wieder drehte er sich zu ihr. Unter dem Kronleuchter links vor der kleinen Bühne hatte sie es ihm zugeflüstert. Auf der Jahresfeier der Neuen Gesellschaft für humane Psychiatrie, während der letzten Worte von Professor Dr. Engelke: »Ich bin schwanger.« Der Applaus der Gäste, der Dank von Dr. Steinmetz an den Professor, das Klirren der Champagnergläser an den geschmückten Stehtischen - alles versank bedeutungslos in dem vertrauten Glück des Vaterwerdens. Eine kleine Ewigkeit hatte er Wiebke angesehen, ihre dunklen Augen, ihr kinnlanges, helles Haar, das winzige Muttermal auf der linken Wange, das er so gern küsste. Dann hatte er eine neue Flasche Champagner entkorkt, seinen Smoking damit bespritzt und auf die begehrenswerteste Frau der Welt getrunken. »Abbiegen!« Wiebke stupste ihn zärtlich in die Seite. »Nicht träumen, Schatz.« »Ich könnte die Welt umarmen!«, rief er, hob die Hände und fuhr beim Schild Ausfahrt Nord auf die vierspurige Schnellstraße ab. »Umarme lieber das Lenkrad. Und fahr langsamer, du hast getrunken.« »Nur ein Glas. Auf unser Glück.« Vom Rücksitz kam ein leises Rascheln. »Oh, Mist, wir wecken die Kinder«, flüsterte sie. Er ließ seine Hand wieder Richtung Beifahrersitz wandern und setzte seine Fingerspitzen auf ihren Bauch. »Psssst, schön schlafen«, feixte er. »Hör auf, du Kindskopf!« »Ich bin so süchtig nach dir.« Er blickte kurz in den Innenspiegel. Seine Tochter und sein Sohn schliefen Schulter an Schulter. »Süchtig nach euch!« Die Lichtkegel der BMW-Scheinwerfer glitten über die Straßenpfosten, die Reflektoren warfen winzige weiße Blitze zurück. Dahinter lag der Stadtwald. »Schau mal, da sind wieder die Hasen«, sagte er und schob seine Finger zwischen die Knöpfe ihres Mantels, bis er ihren flauschigen Pullover ertastete. Wiebke schob seine Hand erneut auf das Lenkrad zurück. »Das Benzin ist teurer geworden«, sagte sie, als die Tankstelle mit dem hässlichen Christbaum vor ihnen auftauchte. »Lenk nicht ab.« Er beugte sich zu ihr. Seine Lippen suchten das Muttermal.
Das Bierglas war warm, bauchig und nass. Seine Hände, die das Glas unablässig in dieselbe Richtung drehten, kalt. Jakob Faber starrte in die goldene Flüssigkeit, während die Tür zu den Toiletten, neben der er an dem verklebten Tisch saß, alle paar Minuten auf und zu ging und den Geruch nach Urin und Desinfektionsmittel in die Gaststube trug. Zu Hause hatte er bereits eine Flasche Wein getrunken und war nach dem ersten Glas bis zur Tür von Max' Kinderzimmer gegangen. Er hatte die Hand auf die Klinke gelegt, gezögert, und war wieder in die Küche geschlurft. Nach dem zweiten Glas Wein hatte er die Tür geöffnet, das dritte hatte ihn bis vor das Bett geführt. Er hatte die zerwühlte Decke, von deren Bezug ihn ein Hasenkind anblickte, aufgeschüttelt und glatt gestrichen. Als die Flasche leer war, hatte er die Stille nicht mehr ertragen und war durch die Straßen gewandert. Ohne Jacke, in den Hüttenschuhen aus Filz. Irgendjemand hatte ihn schließlich am Arm genommen und hier hereingeführt. »Sie holen sich ja den Tod, Mann!« Kurz darauf hatte das Bier vor ihm gestanden. Aus der Toilettentür trat ein Mann und blieb neben Faber stehen. »Keinen Durst?«
Der Bierschaum hatte sich längst in nichts aufgelöst. Faber blickte hoch. Der Mann war nicht groß, leicht untersetzt, hatte dunkelbraunes, gewelltes Haar. Hinter einer schwarzen, rechteckigen Brille musterten ihn graublaue Augen. »Haben Sie mich hier reingeführt und das da bestellt?« Er klopfte auf das Glas, als könne das Klirren seine Erinnerung an die letzten Stunden aus dem Nebel in seinem Kopf holen. Der Mann hob die Schultern, die in einem feinen Jackett steckten, leicht an. »Sie tragen Hausschuhe. Sie haben keinen Anorak an, keinen Mantel, nichts. Sie sind von zu Hause abgehauen.« Er lächelte. »Hab ich recht, oder hab ich recht?« Faber nickte. »Ihre Frau?« »Die Leere.« Er trank. Das Bier schmeckte schal. »Willkommen unter den einsamen Wölfen. Mertens mein Name.« Er streckte ihm die Hand hin, doch Faber nahm sie nicht, wozu auch, er wollte sich nicht unterhalten. Der Mann ging. Doch nach wenigen Minuten kehrte er zurück, setzte sich zu Faber und stellte einen Pappbecher auf den Tisch.
Kaffeearoma stieg auf. Sofort hielt Jakob die Luft an. Der Becher! Der Geruch! Alles war genauso wie in der Tankstelle. Dort, wo er sich selbst einen Espresso und für Max den Kakao gekauft hatte. »Haben die keine Tassen hier?«, fragte er sarkastisch, nur, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. »Ich mag Pappbecher. Sie geben mir das Gefühl von Freiheit und Unterwegssein.« Jakob musterte die Hände des Mannes. Sie waren glatt und gepflegt, die Nägel kurz. Am rechten Ringfinger steckte ein breiter goldener Ring. Faber deutete mit dem Kinn dar auf. »Einsamer Wolf. Aha.« In Mertens' Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Ich lüge nicht.« »Krach zu Hause?« Jedes Thema war besser, als an die Nacht des sechsten Dezembers zu denken. Und an Max' Beerdigung gestern. Als immer und immer wieder diesen Film zu sehen. Mertens schüttelte den Kopf. »Meinungsverschiedenheiten. « Die Bilder dieses Films würden ihn nie wieder loslassen. Er, Jakob, der mit der Schulter die Tür des Tankstellen- Bistros aufdrückt, in jeder Hand einen dampfenden Pappbecher. Wie er die randvollen Becher an den Zapfsäulen vorbei zu den Parkbuchten balanciert, zu dem Honda Civic, der Anne gehört hatte und dessen Dach orange im Licht der Parkplatzbeleuchtung schimmert. Wie er den röhrenden Motor hört, draußen auf der Schnellstraße, immer lauter, wie er in den leeren Honda blickt, das Röhren gleichzeitig in ein Quietschen übergeht und er sich mit einem Ruck zur Straße umdreht. Es ist der Moment, ab dem sich alles in Zeitlupe bewegt, grausam träge.
Die Pappbecher schweben unendlich langsam zu Boden, dunkle Tropfen graben sich in den Schnee, Jakob muss zur Straße, läuft in riesigen federnden Schritten, er sieht Max, streckt ihm die Arme entgegen, hört seinen eigenen gedehnten Schrei, und Max dreht sich im grellen Scheinwerferlicht des nahenden Wagens zu Jakob um, sein Sohn lacht, und dann der dumpfe Schlag, das leise Knacken, als habe jemand ein paar Äste zerbrochen, und der kleine Körper wirbelt in einem weiten Bogen durch das Schneetreiben, leicht wie eine einzelne Flocke, und fällt auf der anderen Seite fast lautlos an den Straßenrand. Dorthin, wo die Hasen gelaufen sind, zu denen Max das zurückgebliebene Tier hatte treiben wollen. Quer über alle vier Fahrbahnen, über die Mittelleitplanke hinweg. So jedenfalls hatte es die Frau ausgesagt, die gerade getankt und Max beobachtet hatte. »Alles okay?« Jakob schreckte auf. »Der Typ ist einfach weitergefahren.« Er trank das Glas in einem Zug halb aus. Würgte und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Arschloch.« »Wie bitte?« »Nicht Sie.« Faber bemerkte die kleinen Schweißtropfen auf Mertens' Stirn. »Dirk. Ich bin Dirk. Ich hol dir ein frisches Bier.«
Jakob Faber ließ sich neben den aufgedruckten Hasen auf die Bettdecke sinken. Sein Körper fühlte sich weich wie ein Embryo an, und die Meerschweinchen, Kaninchen und Hamster auf den Postern schienen ihn zu umkreisen. Jakob starrte ein Rotkaninchen an, den Pronolagus crassicaudatus, der Männchen machte und ihn mit seinen langen Zähnen zu verspotten schien. Jakob wandte sich ab. Er hatte zu viel getrunken. Zu lange mit diesem Mertens gequatscht. Als er ihm von Max' Bastelarbeit mit den Schneckenhäusern und dem Lob der Erzieherin erzählt hatte, hatte sich herausgestellt, dass Dirk Mertens' Tochter in denselben Kindergarten ging, den Max besucht hatte. Die Familie Mertens wohnte nur wenige Minuten Fußweg von Jakob entfernt. »Wenn du willst«, hatte Dirk gesagt, »komm vorbei. Ich bin Psychiater. Vielleicht kann ich dir helfen wegen Max.« Max. Das Bettzeug roch noch immer nach seinem Jungen, etwas süßlich mit einem Hauch von Zimt. Max hatte immer nach Zimt geduftet. Nur in den Monaten im Krankenhaus nicht. Damals, im Spätsommer vor eineinhalb Jahren, nachdem Anne das Kind von ihrer Schwester Kerstin abgeholt hatte und der Lkw auf der Gegenfahrbahn die Kontrolle über den 40-Tonner verloren hatte.
Anne hatte den ersten Kindergartentag ihres Sohnes nicht mehr erlebt. Sie war sofort tot gewesen. Max kämpfte viele Wochen um sein Leben, und Jakob kündigte seine Arbeit im Zoologischen Museum. Tag für Tag saß er an dem Bett in der Kinderklinik, lauschte dem Piepsen der Geräte und dem Zischen der Beatmungsmaschine und sang Max Lieder vor. »Ein Hase saß im tiefen Tal, singing holly polly doodle all the day.« In der Reha begann es dann. »Die Gehirnverletzung«, hatte ihm eine Ärztin erklärt und die Lippen aufeinandergepresst. Jakob hatte genickt und aus dem Ärztezimmer zu Max hinuntergesehen, der im Innenhof neben einem Rotkreuzwagen stand und mit hängenden Schultern die weißgekleideten Männer beobachtete, die eine Frau im Rollstuhl ausluden. Armes Kind, die personifizierte Trauer - würde ein Fremder denken. »Farewell, farewell, farewell my fairy fay«, summte Jakob und stand auf. Er musste sich am Türrahmen abstützen, so schwankte er. »Ich wollte dir zum fünften Geburtstag zwei Hasen schenken. Sie hätten dir gutgetan, Großer. Jetzt hast du dein Leben für sie gelassen. Und ich ... bin schuld!« Eine säuerliche Flüssigkeit stieg ihm hinauf bis in die Kehle. Er wusste nicht, ob wegen des Alkohols, vor Schmerz um seinen Jungen, wegen der Selbstvorwürfe oder allem gleichzeitig. In der Küche drehte er den Wasserhahn auf, spritzte sich das kalte Nass ins Gesicht und trank dann gierig. Warum nur hatte er Max in dieser Nacht erzählt, dass Schneehasen in Gruppen leben? Immer zusammen sein wollen? Dass er auf sie aufpassen sollte, während er den Kakao holte?
Warum musste dieses verdammte Hasenvieh allein am Straßenrand sitzen bleiben, während seine Familie auf die andere Seite hoppelte? Warum? Er schlug mit der Stirn gegen einen Hängeschrank, immer wieder. Schmerz spürte er keinen. »Frag nicht nach dem Warum. Es gibt keine Antwort.« Das hatte Kerstin gesagt, seine kluge Schwägerin, als sie neben dem Berg duftender Kränze und Blumen an Annes Grab gestanden hatten. Kerstin hatte ihre Worte wiederholt, als sie gestern Max begraben hatten. »Es ist, wie es ist«, murmelte Jakob jetzt. Er käme schon zurecht. Er war immer zurechtgekommen. Das Leben ging weiter. Bis zum Morgengrauen trug er die Stapel ungelesener Zeitungen, Pizzaschachteln und die durchnässten Hausschuhe zum Müll, stellte schmutzige Tassen in die Spülmaschine, saugte den hellen Teppich, den Anne trotz seiner Bedenken wegen der Schmutzempfindlichkeit gekauft hatte. Noch am Tag, als er geliefert worden war, hatten sie sich hier geliebt. Weich war er gewesen und hatte noch nach Wollfett gerochen. Zehn Monate später hatte die Wiege mit Max darauf gestanden. Im Fenster des Nachbarbungalows leuchtete ein Schwibbogen. In wenigen Tagen war Heiligabend. Und Jakob Faber war allein. Er setzte sich an den Computer.
Das Schrillen der Haustürklingel weckte ihn. Durch den Vorhang fiel ein Streifen helles Licht ins Zimmer, und das monotone Rauschen der Autobahn brummte in seinem Kopf. Nordwind, dachte er und richtete sich auf. Sonst würde man die Autos nicht hören. Jakobs Nacken schmerzte vom Schlaf auf dem Sofa. Er streckte sich und bemerkte den dunklen Fleck auf seiner Cordhose. Sein Hemd war zerknittert. Es klingelte erneut. Jakob öffnete. Dirk Mertens strahlte. »Guten Morgen. Oder besser: Guten Mittag.« Jakob ließ die Schultern sinken. »Was wollen Sie?« »Was willst du! Wir duzen uns doch!« Er hob ein Päckchen Aspirin hoch. »Kannst du gebrauchen, oder? Ich wollte mich entschuldigen.« Er blickte auf den Fleck auf Jakobs Oberschenkel. »Tut mir leid, dass ich dein Glas runtergeworfen habe. Ich kann sie waschen.« »Lass gut sein.« Jakob wollte den Mann nicht sehen. Aus einer Laune heraus hatte er mit ihm getrunken. Vielleicht aus Einsamkeit. Heute wollte er seine Ruhe haben. Eine große Tasse Espresso trinken. Einen Toast mit Honig essen. Und auf Reaktionen seiner nächtlichen Arbeit warten.
»Nein, echt. Komm, gib mir die Hose.« Mertens streckte die Hand aus, diese gepflegte Hand, die aus dem Ärmel eines eleganten grauen Wintermantels ragte. Er trat einen Schritt näher. Faber wich zurück. »Lass!« »Sorry.« Mertens hob beide Hände. »Ich wollte nur nett sein.« »Dirk, ich möchte duschen und frühstücken. Grüße Alina von mir. Die Kinder im Hort sollen Max in guter Erinnerung behalten. Dann ist alles gut.« »Gut? Willst du denn überhaupt nicht wissen, wer dein Kind überfahren hat?« »Wozu?« »Es hilft beim Trauerprozess, Jakob! Stell dich! Dann kannst du es besser loslassen und dem Unfallfahrer vielleicht verzeihen. Verzeihen hilft. Verzeihen befreit, es ka- « »Ich möchte nicht verzeihen.« Filmfetzen tauchten in Jakobs Erinnerung auf. Der schwarze Wagen. Max in der Mitte der Fahrbahn.
Die roten Rücklichter, die immer kleiner und schließlich zu einem anonymen Nichts zwischen wirbelnden Flocken werden. Dann Annes Unfall: das Gesicht des Lkw-Fahrers. Verweinte Augen mit Ringen darunter. Bartstoppeln. Ein Ohrring links. Der Mann hatte gelitten wie Jakob selbst. Er war kein schlechter Mensch. Der Mörder von Max dagegen, dieser namenlose Jemand, war feige. Unwürdig. »Du brauchst einen Vertrauten, Jakob! Ein intaktes Netz von Beziehungen! Sonst wirst du depressiv! Du solltest dir wirklich überlegen, ob du eine Therap- « »Dirk, ich will keine Therapie!« Er schlang die Arme um seine Schultern, die Kälte kroch durch sein dünnes Hemd. »Und die Polizei?« »Die will auch keine Therapie.« Mertens strich sich über das wellige Haar und lächelte. »So gefällst du mir schon besser.« Dann wurde er ernst. »Weiß die Polizei denn überhaupt nichts? Es muss doch irgendeine Spur geben. Du musst Frieden finden!« Jakob dachte an den unnatürlich verkrümmten Körper seines Kindes, neben dem er auf die Knie in den Schnee gefallen war. Glaubte, noch jetzt die Wärme in Max' Wangen zu spüren, als er sie mit zitternder Hand gestreichelt hatte. Und meinte fast, sein eigenes Schluchzen zu hören, als er Max später die Augen geschlossen und »Mach's gut, Großer« geflüstert hatte. »Frieden, du sagst es, Dirk. Und den finde ich unter der Dusche. Und beim ungestörten Kaffee.« Demonstrativ legte er eine Hand auf die Türklinke. Mertens biss sich auf die Unterlippe. Nickte. Wortlos wandte er sich ab und ging den kurzen Gartenweg entlang, vorbei an den beiden Weißtannen, deren untere Zweige unter der Schneelast den Boden berührten. Dirks Stiefel knirschten und drückten ein grobes Sohlenprofil in den Schnee. An dem Holztörchen drehte er sich noch einmal um. »Ruf an, wenn du mich brauchst!«
»Daddy, malst du ein Bild mit mir?« Alina legte einen Zeichenblock mitten auf seine Laptop-Tastatur. Dirk Mertens strich ihr über das Haar. »Was möchtest du denn malen?« »Einen Engel mit goldenen Flügeln und tausend Geschenken. « »Sag mal ... hat Max eigentlich auch so schön gemalt wie du?« Alina kicherte. »Der hat nur bunte Flecken gemalt.« »Und was sollte das sein?« Er presste seine Nase gegen ihre. Sie kicherte noch mehr. »Hasen. Der Max war total komisch. Er hat sich immer allein ins Eck gesetzt zum Malen, und wenn wir ihm nicht geglaubt haben, dass die Flecken Hasen sind, hat er rumgeschrien und alle Flecken mit Schwarz zugemalt.« »Weißt du, warum er so komisch war?« »Nee. Aber der Dennis hat ihn immer ausgelacht und der Berni auch. Und dann ist er noch wütender geworden.« »Und du? Hast du ihn auch ausgelacht?« Sie steckte den Zeigefinger in den Mund. Ihre großen blauen Augen blitzten unter ihrem dunklen, gewellten Haar. Alina kam ganz nach ihm. Genauso wie Leon. »Weiß nicht«, presste Alina verschämt hervor. »Kennst du Max' Eltern?« »Max hatte keine Eltern.« »Jeder hat Eltern, Alina. Max' Vater ist ein großer, schlanker Mann mit einem ganz coolen Dreitagebart.« »Kann sein.« Sie zog die Nase hoch. »Der arbeitet in so einem Museum, den sieht man nie.« »Ein Museum?« Jakob hatte nichts davon erwähnt. Aber seine etwas altbackene Cordhose und das karierte Hemd passten dazu. »Er erforscht da irgendwas mit Tieren. Das hat Max gesagt. Du, Papa, ist Max im gleichen Grab wie seine Mama?« Der Boden unter Dirks Füßen wankte leicht. »Grab seiner Mama?« »Menno, Daddy, du kriegst echt überhaupt nichts mit. Immer bist du nur in deiner blöden Praxis.« Er packte sie an den schmalen Schultern. »Wieso Grab?«, fuhr er seine Tochter an und schämte sich im selben Augenblick dafür. »Ein Lastwagen ist doch in sie reingefahren.« »Wann?« »Du tust mir weh!« Sie entwand sich seinem Griff und zog einen Schmollmund.
© 2013 Droemer Verlag
Jakob Faber fädelte sich auf die Schnellstraße nach Norden ein. Es war ein Umweg gewesen von seiner Schwägerin aus. Aber Max wollte so gern die Schneehasen sehen, die hier im Wald lebten, neben den vier Fahrbahnen, an die sie sich oft gefährlich nahe heranwagten. Sein kleines Gesicht hatte Max dicht an die Fensterscheibe gepresst. Er sollte nicht vorn sitzen, aber wenn Jakob den Jungen hinten anschnallte, artete jede Autofahrt in ein lautes Toben und Schreien aus. Vorn war Max friedlich. »Da, fahr langsam, langsam«, rief der Vierjährige, und seine Nase wurde platt an der Scheibe. »Du siehst doch gar nichts«, sagte sein Vater und spähte durch das Schneetreiben dorthin, wo der Waldrand sein musste. Dann sah er sie, ganz nah, im Lichtkegel seiner Scheinwerfer. Wie kleine Bälle hüpften die weißen Tiere umher, perfekt getarnt im Schnee. Max jauchzte. »Du bist echt gut, Großer! Und weißt du was, du findest sicher auch heraus, warum in unseren Breiten Schneehasen leben.« Jakob, der Biologe, freute sich jedes Mal, wenn Max mehr über die heimische Fauna lernte. »Wegen mir.« Max nickte eifrig. Jakob lachte. Gern hätte er seinen Sohn jetzt in den Arm genommen. »Schneehasen haben im Winter ganz viele und dichte Haare an den Pfoten. Dann sinken sie nicht in den Schnee ein.« Max schrie, als ein Hase auf die Fahrbahn sprang. Sofort drosselte Jakob Faber das ohnehin langsame Tempo, der Hase schlug einen Haken und verschwand im Dunkeln. »Er hoppelt zu seiner Mama«, rief Max. »Genau! Schneehasen sind Gruppentiere. Sie sind nicht gern allein.« »Wo ist meine Mama?«
Augenblicklich setzte sich der vertraute Kloß in Jakobs Hals fest. »Hast du Durst?« »Ja, ja, ja«, kreischte Max begeistert, gerade so, als habe er die Frage nach seiner Mutter nie gestellt. »Ein Hase saß im tiefen Tal, singing holly polly doodle all the day«, stimmte Jakob eines von Max' Lieblingsliedern an, und sofort fiel der Junge mit ein und warf sich im Takt im Sitz hin und her. »Farewell, farewell«, kreischte er, »farewell my fairy fay.« »Kakao?«, unterbrach Jakob ihr Duett, als zwischen den Bäumen ein helles Rechteck und bunte Leuchtreklamen auftauchten, dazwischen eine riesige Tanne mit blau, rot und gelb blinkenden Lichtern. Die Tankstelle mit dem kleinen Bistro. Er parkte hinter den Zapfsäulen. Ein ganzer Pulk Hasen saß etwas abseits der Parkbuchten und Mülleimer. Der Hunger trieb sie zu den Menschen. Faber stieg aus. Die Kälte schlug ihm wie eine Ohrfeige ins Gesicht, und der Schnee schob sich in seine Hosenbeine. Es roch nach Abgasen und Benzin. »Bleib im Wagen, Großer «, sagte er, »und pass schön auf die Hasen auf. Ich bin gleich zurück.«
Wieder drehte er sich zu ihr. Unter dem Kronleuchter links vor der kleinen Bühne hatte sie es ihm zugeflüstert. Auf der Jahresfeier der Neuen Gesellschaft für humane Psychiatrie, während der letzten Worte von Professor Dr. Engelke: »Ich bin schwanger.« Der Applaus der Gäste, der Dank von Dr. Steinmetz an den Professor, das Klirren der Champagnergläser an den geschmückten Stehtischen - alles versank bedeutungslos in dem vertrauten Glück des Vaterwerdens. Eine kleine Ewigkeit hatte er Wiebke angesehen, ihre dunklen Augen, ihr kinnlanges, helles Haar, das winzige Muttermal auf der linken Wange, das er so gern küsste. Dann hatte er eine neue Flasche Champagner entkorkt, seinen Smoking damit bespritzt und auf die begehrenswerteste Frau der Welt getrunken. »Abbiegen!« Wiebke stupste ihn zärtlich in die Seite. »Nicht träumen, Schatz.« »Ich könnte die Welt umarmen!«, rief er, hob die Hände und fuhr beim Schild Ausfahrt Nord auf die vierspurige Schnellstraße ab. »Umarme lieber das Lenkrad. Und fahr langsamer, du hast getrunken.« »Nur ein Glas. Auf unser Glück.« Vom Rücksitz kam ein leises Rascheln. »Oh, Mist, wir wecken die Kinder«, flüsterte sie. Er ließ seine Hand wieder Richtung Beifahrersitz wandern und setzte seine Fingerspitzen auf ihren Bauch. »Psssst, schön schlafen«, feixte er. »Hör auf, du Kindskopf!« »Ich bin so süchtig nach dir.« Er blickte kurz in den Innenspiegel. Seine Tochter und sein Sohn schliefen Schulter an Schulter. »Süchtig nach euch!« Die Lichtkegel der BMW-Scheinwerfer glitten über die Straßenpfosten, die Reflektoren warfen winzige weiße Blitze zurück. Dahinter lag der Stadtwald. »Schau mal, da sind wieder die Hasen«, sagte er und schob seine Finger zwischen die Knöpfe ihres Mantels, bis er ihren flauschigen Pullover ertastete. Wiebke schob seine Hand erneut auf das Lenkrad zurück. »Das Benzin ist teurer geworden«, sagte sie, als die Tankstelle mit dem hässlichen Christbaum vor ihnen auftauchte. »Lenk nicht ab.« Er beugte sich zu ihr. Seine Lippen suchten das Muttermal.
Das Bierglas war warm, bauchig und nass. Seine Hände, die das Glas unablässig in dieselbe Richtung drehten, kalt. Jakob Faber starrte in die goldene Flüssigkeit, während die Tür zu den Toiletten, neben der er an dem verklebten Tisch saß, alle paar Minuten auf und zu ging und den Geruch nach Urin und Desinfektionsmittel in die Gaststube trug. Zu Hause hatte er bereits eine Flasche Wein getrunken und war nach dem ersten Glas bis zur Tür von Max' Kinderzimmer gegangen. Er hatte die Hand auf die Klinke gelegt, gezögert, und war wieder in die Küche geschlurft. Nach dem zweiten Glas Wein hatte er die Tür geöffnet, das dritte hatte ihn bis vor das Bett geführt. Er hatte die zerwühlte Decke, von deren Bezug ihn ein Hasenkind anblickte, aufgeschüttelt und glatt gestrichen. Als die Flasche leer war, hatte er die Stille nicht mehr ertragen und war durch die Straßen gewandert. Ohne Jacke, in den Hüttenschuhen aus Filz. Irgendjemand hatte ihn schließlich am Arm genommen und hier hereingeführt. »Sie holen sich ja den Tod, Mann!« Kurz darauf hatte das Bier vor ihm gestanden. Aus der Toilettentür trat ein Mann und blieb neben Faber stehen. »Keinen Durst?«
Der Bierschaum hatte sich längst in nichts aufgelöst. Faber blickte hoch. Der Mann war nicht groß, leicht untersetzt, hatte dunkelbraunes, gewelltes Haar. Hinter einer schwarzen, rechteckigen Brille musterten ihn graublaue Augen. »Haben Sie mich hier reingeführt und das da bestellt?« Er klopfte auf das Glas, als könne das Klirren seine Erinnerung an die letzten Stunden aus dem Nebel in seinem Kopf holen. Der Mann hob die Schultern, die in einem feinen Jackett steckten, leicht an. »Sie tragen Hausschuhe. Sie haben keinen Anorak an, keinen Mantel, nichts. Sie sind von zu Hause abgehauen.« Er lächelte. »Hab ich recht, oder hab ich recht?« Faber nickte. »Ihre Frau?« »Die Leere.« Er trank. Das Bier schmeckte schal. »Willkommen unter den einsamen Wölfen. Mertens mein Name.« Er streckte ihm die Hand hin, doch Faber nahm sie nicht, wozu auch, er wollte sich nicht unterhalten. Der Mann ging. Doch nach wenigen Minuten kehrte er zurück, setzte sich zu Faber und stellte einen Pappbecher auf den Tisch.
Kaffeearoma stieg auf. Sofort hielt Jakob die Luft an. Der Becher! Der Geruch! Alles war genauso wie in der Tankstelle. Dort, wo er sich selbst einen Espresso und für Max den Kakao gekauft hatte. »Haben die keine Tassen hier?«, fragte er sarkastisch, nur, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. »Ich mag Pappbecher. Sie geben mir das Gefühl von Freiheit und Unterwegssein.« Jakob musterte die Hände des Mannes. Sie waren glatt und gepflegt, die Nägel kurz. Am rechten Ringfinger steckte ein breiter goldener Ring. Faber deutete mit dem Kinn dar auf. »Einsamer Wolf. Aha.« In Mertens' Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Ich lüge nicht.« »Krach zu Hause?« Jedes Thema war besser, als an die Nacht des sechsten Dezembers zu denken. Und an Max' Beerdigung gestern. Als immer und immer wieder diesen Film zu sehen. Mertens schüttelte den Kopf. »Meinungsverschiedenheiten. « Die Bilder dieses Films würden ihn nie wieder loslassen. Er, Jakob, der mit der Schulter die Tür des Tankstellen- Bistros aufdrückt, in jeder Hand einen dampfenden Pappbecher. Wie er die randvollen Becher an den Zapfsäulen vorbei zu den Parkbuchten balanciert, zu dem Honda Civic, der Anne gehört hatte und dessen Dach orange im Licht der Parkplatzbeleuchtung schimmert. Wie er den röhrenden Motor hört, draußen auf der Schnellstraße, immer lauter, wie er in den leeren Honda blickt, das Röhren gleichzeitig in ein Quietschen übergeht und er sich mit einem Ruck zur Straße umdreht. Es ist der Moment, ab dem sich alles in Zeitlupe bewegt, grausam träge.
Die Pappbecher schweben unendlich langsam zu Boden, dunkle Tropfen graben sich in den Schnee, Jakob muss zur Straße, läuft in riesigen federnden Schritten, er sieht Max, streckt ihm die Arme entgegen, hört seinen eigenen gedehnten Schrei, und Max dreht sich im grellen Scheinwerferlicht des nahenden Wagens zu Jakob um, sein Sohn lacht, und dann der dumpfe Schlag, das leise Knacken, als habe jemand ein paar Äste zerbrochen, und der kleine Körper wirbelt in einem weiten Bogen durch das Schneetreiben, leicht wie eine einzelne Flocke, und fällt auf der anderen Seite fast lautlos an den Straßenrand. Dorthin, wo die Hasen gelaufen sind, zu denen Max das zurückgebliebene Tier hatte treiben wollen. Quer über alle vier Fahrbahnen, über die Mittelleitplanke hinweg. So jedenfalls hatte es die Frau ausgesagt, die gerade getankt und Max beobachtet hatte. »Alles okay?« Jakob schreckte auf. »Der Typ ist einfach weitergefahren.« Er trank das Glas in einem Zug halb aus. Würgte und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Arschloch.« »Wie bitte?« »Nicht Sie.« Faber bemerkte die kleinen Schweißtropfen auf Mertens' Stirn. »Dirk. Ich bin Dirk. Ich hol dir ein frisches Bier.«
Jakob Faber ließ sich neben den aufgedruckten Hasen auf die Bettdecke sinken. Sein Körper fühlte sich weich wie ein Embryo an, und die Meerschweinchen, Kaninchen und Hamster auf den Postern schienen ihn zu umkreisen. Jakob starrte ein Rotkaninchen an, den Pronolagus crassicaudatus, der Männchen machte und ihn mit seinen langen Zähnen zu verspotten schien. Jakob wandte sich ab. Er hatte zu viel getrunken. Zu lange mit diesem Mertens gequatscht. Als er ihm von Max' Bastelarbeit mit den Schneckenhäusern und dem Lob der Erzieherin erzählt hatte, hatte sich herausgestellt, dass Dirk Mertens' Tochter in denselben Kindergarten ging, den Max besucht hatte. Die Familie Mertens wohnte nur wenige Minuten Fußweg von Jakob entfernt. »Wenn du willst«, hatte Dirk gesagt, »komm vorbei. Ich bin Psychiater. Vielleicht kann ich dir helfen wegen Max.« Max. Das Bettzeug roch noch immer nach seinem Jungen, etwas süßlich mit einem Hauch von Zimt. Max hatte immer nach Zimt geduftet. Nur in den Monaten im Krankenhaus nicht. Damals, im Spätsommer vor eineinhalb Jahren, nachdem Anne das Kind von ihrer Schwester Kerstin abgeholt hatte und der Lkw auf der Gegenfahrbahn die Kontrolle über den 40-Tonner verloren hatte.
Anne hatte den ersten Kindergartentag ihres Sohnes nicht mehr erlebt. Sie war sofort tot gewesen. Max kämpfte viele Wochen um sein Leben, und Jakob kündigte seine Arbeit im Zoologischen Museum. Tag für Tag saß er an dem Bett in der Kinderklinik, lauschte dem Piepsen der Geräte und dem Zischen der Beatmungsmaschine und sang Max Lieder vor. »Ein Hase saß im tiefen Tal, singing holly polly doodle all the day.« In der Reha begann es dann. »Die Gehirnverletzung«, hatte ihm eine Ärztin erklärt und die Lippen aufeinandergepresst. Jakob hatte genickt und aus dem Ärztezimmer zu Max hinuntergesehen, der im Innenhof neben einem Rotkreuzwagen stand und mit hängenden Schultern die weißgekleideten Männer beobachtete, die eine Frau im Rollstuhl ausluden. Armes Kind, die personifizierte Trauer - würde ein Fremder denken. »Farewell, farewell, farewell my fairy fay«, summte Jakob und stand auf. Er musste sich am Türrahmen abstützen, so schwankte er. »Ich wollte dir zum fünften Geburtstag zwei Hasen schenken. Sie hätten dir gutgetan, Großer. Jetzt hast du dein Leben für sie gelassen. Und ich ... bin schuld!« Eine säuerliche Flüssigkeit stieg ihm hinauf bis in die Kehle. Er wusste nicht, ob wegen des Alkohols, vor Schmerz um seinen Jungen, wegen der Selbstvorwürfe oder allem gleichzeitig. In der Küche drehte er den Wasserhahn auf, spritzte sich das kalte Nass ins Gesicht und trank dann gierig. Warum nur hatte er Max in dieser Nacht erzählt, dass Schneehasen in Gruppen leben? Immer zusammen sein wollen? Dass er auf sie aufpassen sollte, während er den Kakao holte?
Warum musste dieses verdammte Hasenvieh allein am Straßenrand sitzen bleiben, während seine Familie auf die andere Seite hoppelte? Warum? Er schlug mit der Stirn gegen einen Hängeschrank, immer wieder. Schmerz spürte er keinen. »Frag nicht nach dem Warum. Es gibt keine Antwort.« Das hatte Kerstin gesagt, seine kluge Schwägerin, als sie neben dem Berg duftender Kränze und Blumen an Annes Grab gestanden hatten. Kerstin hatte ihre Worte wiederholt, als sie gestern Max begraben hatten. »Es ist, wie es ist«, murmelte Jakob jetzt. Er käme schon zurecht. Er war immer zurechtgekommen. Das Leben ging weiter. Bis zum Morgengrauen trug er die Stapel ungelesener Zeitungen, Pizzaschachteln und die durchnässten Hausschuhe zum Müll, stellte schmutzige Tassen in die Spülmaschine, saugte den hellen Teppich, den Anne trotz seiner Bedenken wegen der Schmutzempfindlichkeit gekauft hatte. Noch am Tag, als er geliefert worden war, hatten sie sich hier geliebt. Weich war er gewesen und hatte noch nach Wollfett gerochen. Zehn Monate später hatte die Wiege mit Max darauf gestanden. Im Fenster des Nachbarbungalows leuchtete ein Schwibbogen. In wenigen Tagen war Heiligabend. Und Jakob Faber war allein. Er setzte sich an den Computer.
Das Schrillen der Haustürklingel weckte ihn. Durch den Vorhang fiel ein Streifen helles Licht ins Zimmer, und das monotone Rauschen der Autobahn brummte in seinem Kopf. Nordwind, dachte er und richtete sich auf. Sonst würde man die Autos nicht hören. Jakobs Nacken schmerzte vom Schlaf auf dem Sofa. Er streckte sich und bemerkte den dunklen Fleck auf seiner Cordhose. Sein Hemd war zerknittert. Es klingelte erneut. Jakob öffnete. Dirk Mertens strahlte. »Guten Morgen. Oder besser: Guten Mittag.« Jakob ließ die Schultern sinken. »Was wollen Sie?« »Was willst du! Wir duzen uns doch!« Er hob ein Päckchen Aspirin hoch. »Kannst du gebrauchen, oder? Ich wollte mich entschuldigen.« Er blickte auf den Fleck auf Jakobs Oberschenkel. »Tut mir leid, dass ich dein Glas runtergeworfen habe. Ich kann sie waschen.« »Lass gut sein.« Jakob wollte den Mann nicht sehen. Aus einer Laune heraus hatte er mit ihm getrunken. Vielleicht aus Einsamkeit. Heute wollte er seine Ruhe haben. Eine große Tasse Espresso trinken. Einen Toast mit Honig essen. Und auf Reaktionen seiner nächtlichen Arbeit warten.
»Nein, echt. Komm, gib mir die Hose.« Mertens streckte die Hand aus, diese gepflegte Hand, die aus dem Ärmel eines eleganten grauen Wintermantels ragte. Er trat einen Schritt näher. Faber wich zurück. »Lass!« »Sorry.« Mertens hob beide Hände. »Ich wollte nur nett sein.« »Dirk, ich möchte duschen und frühstücken. Grüße Alina von mir. Die Kinder im Hort sollen Max in guter Erinnerung behalten. Dann ist alles gut.« »Gut? Willst du denn überhaupt nicht wissen, wer dein Kind überfahren hat?« »Wozu?« »Es hilft beim Trauerprozess, Jakob! Stell dich! Dann kannst du es besser loslassen und dem Unfallfahrer vielleicht verzeihen. Verzeihen hilft. Verzeihen befreit, es ka- « »Ich möchte nicht verzeihen.« Filmfetzen tauchten in Jakobs Erinnerung auf. Der schwarze Wagen. Max in der Mitte der Fahrbahn.
Die roten Rücklichter, die immer kleiner und schließlich zu einem anonymen Nichts zwischen wirbelnden Flocken werden. Dann Annes Unfall: das Gesicht des Lkw-Fahrers. Verweinte Augen mit Ringen darunter. Bartstoppeln. Ein Ohrring links. Der Mann hatte gelitten wie Jakob selbst. Er war kein schlechter Mensch. Der Mörder von Max dagegen, dieser namenlose Jemand, war feige. Unwürdig. »Du brauchst einen Vertrauten, Jakob! Ein intaktes Netz von Beziehungen! Sonst wirst du depressiv! Du solltest dir wirklich überlegen, ob du eine Therap- « »Dirk, ich will keine Therapie!« Er schlang die Arme um seine Schultern, die Kälte kroch durch sein dünnes Hemd. »Und die Polizei?« »Die will auch keine Therapie.« Mertens strich sich über das wellige Haar und lächelte. »So gefällst du mir schon besser.« Dann wurde er ernst. »Weiß die Polizei denn überhaupt nichts? Es muss doch irgendeine Spur geben. Du musst Frieden finden!« Jakob dachte an den unnatürlich verkrümmten Körper seines Kindes, neben dem er auf die Knie in den Schnee gefallen war. Glaubte, noch jetzt die Wärme in Max' Wangen zu spüren, als er sie mit zitternder Hand gestreichelt hatte. Und meinte fast, sein eigenes Schluchzen zu hören, als er Max später die Augen geschlossen und »Mach's gut, Großer« geflüstert hatte. »Frieden, du sagst es, Dirk. Und den finde ich unter der Dusche. Und beim ungestörten Kaffee.« Demonstrativ legte er eine Hand auf die Türklinke. Mertens biss sich auf die Unterlippe. Nickte. Wortlos wandte er sich ab und ging den kurzen Gartenweg entlang, vorbei an den beiden Weißtannen, deren untere Zweige unter der Schneelast den Boden berührten. Dirks Stiefel knirschten und drückten ein grobes Sohlenprofil in den Schnee. An dem Holztörchen drehte er sich noch einmal um. »Ruf an, wenn du mich brauchst!«
»Daddy, malst du ein Bild mit mir?« Alina legte einen Zeichenblock mitten auf seine Laptop-Tastatur. Dirk Mertens strich ihr über das Haar. »Was möchtest du denn malen?« »Einen Engel mit goldenen Flügeln und tausend Geschenken. « »Sag mal ... hat Max eigentlich auch so schön gemalt wie du?« Alina kicherte. »Der hat nur bunte Flecken gemalt.« »Und was sollte das sein?« Er presste seine Nase gegen ihre. Sie kicherte noch mehr. »Hasen. Der Max war total komisch. Er hat sich immer allein ins Eck gesetzt zum Malen, und wenn wir ihm nicht geglaubt haben, dass die Flecken Hasen sind, hat er rumgeschrien und alle Flecken mit Schwarz zugemalt.« »Weißt du, warum er so komisch war?« »Nee. Aber der Dennis hat ihn immer ausgelacht und der Berni auch. Und dann ist er noch wütender geworden.« »Und du? Hast du ihn auch ausgelacht?« Sie steckte den Zeigefinger in den Mund. Ihre großen blauen Augen blitzten unter ihrem dunklen, gewellten Haar. Alina kam ganz nach ihm. Genauso wie Leon. »Weiß nicht«, presste Alina verschämt hervor. »Kennst du Max' Eltern?« »Max hatte keine Eltern.« »Jeder hat Eltern, Alina. Max' Vater ist ein großer, schlanker Mann mit einem ganz coolen Dreitagebart.« »Kann sein.« Sie zog die Nase hoch. »Der arbeitet in so einem Museum, den sieht man nie.« »Ein Museum?« Jakob hatte nichts davon erwähnt. Aber seine etwas altbackene Cordhose und das karierte Hemd passten dazu. »Er erforscht da irgendwas mit Tieren. Das hat Max gesagt. Du, Papa, ist Max im gleichen Grab wie seine Mama?« Der Boden unter Dirks Füßen wankte leicht. »Grab seiner Mama?« »Menno, Daddy, du kriegst echt überhaupt nichts mit. Immer bist du nur in deiner blöden Praxis.« Er packte sie an den schmalen Schultern. »Wieso Grab?«, fuhr er seine Tochter an und schämte sich im selben Augenblick dafür. »Ein Lastwagen ist doch in sie reingefahren.« »Wann?« »Du tust mir weh!« Sie entwand sich seinem Griff und zog einen Schmollmund.
© 2013 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Markus Heitz, Karen Rose, Daniel Holbe
Johannes Engelke, geboren 1985 in Bückeburg, studierte Kulturwissenschaften in Lüneburg und Marseille und arbeitet seit 2011 in der Verlagsbranche. Er hat Krimi-Anthologien herausgegeben, freiberuflich Romangutachten geschrieben und Manuskripte redigiert, eigene Bücher veröffentlicht, sich an Übersetzungen versucht und arbeitet heute als Programmleiter des Goldmann und Mosaik Verlages in München.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Markus Heitz , Karen Rose , Daniel Holbe
- 2013, 1. Auflage, 400 Seiten, Masse: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Johannes Engelke
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199866
- ISBN-13: 9783426199862
- Erscheinungsdatum: 25.09.2013
Kommentar zu "Den Nächsten, der FROHE WEIHNACHTEN zu mir sagt, bringe ich um"
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