Das war ich nicht
Roman
»Bestimmt gibt es auch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen dreissig und vierzig muss man brennen.«Ein junger Banker, auf dem Sprung zur grossen Karriere. Eine Literaturübersetzerin, auf der Flucht vor dem schön...
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Produktinformationen zu „Das war ich nicht “
Klappentext zu „Das war ich nicht “
»Bestimmt gibt es auch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen dreissig und vierzig muss man brennen.«Ein junger Banker, auf dem Sprung zur grossen Karriere. Eine Literaturübersetzerin, auf der Flucht vor dem schön eingerichteten Leben mit Weinklimaschrank und Salzmühle mit Peugeotmahlwerk. Ein international gefeierter Schriftsteller mit Schreibblockade und Altersangst. Drei Menschen, die sich unversehens in abenteuerlicher Abhängigkeit befinden. Wie konnte es dazu kommen?Eine Bank, ein Leben ist schnell ruiniert. Das ist das Erschreckende, aber auch das Komische an diesem Roman, der mit grosser Leichtigkeit von unheimlichen Zeiten erzählt.
Lese-Probe zu „Das war ich nicht “
Das war ich nicht von Kristof MagnussonJASPER
»Guten Morgen, Sir. Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, sagte ich. Was sogar der Wahrheit entsprach. Es ging
mir gut, obwohl ich die ganze Nacht mit den Kollegen durch irgendwelche
Londoner Bars gezogen war. Das erzählte ich der
Stewardess natürlich nicht. So genau wollte sie es nicht wissen.
Dabei hätte ich eigentlich gern jemandem erzählt, was in den
letzten Tagen passiert war. Hätte gern erzählt, dass ich erfolgreich
eine Software-Schulung absolviert hatte und nun unser
Order-Management-System Equinox komplett beherrschte.
Die Schlüsselqualifikation, um bei uns im Händlersaal aufzusteigen.
Hätte gern erzählt, dass nun für mich die Zeit gekommen
war, um karrieretechnisch die Handbremse zu lösen.
Die Equinox-Schulung war bis gestern Abend gegangen.
Mein Teamleiter hatte mir einen Tag Urlaub gegeben, damit ich
noch mit den Londoner Kollegen einen trinken konnte oder,
wie er sich ausdrückte, »mit den Jungs ein paar Guinness kippen
«. Wahrscheinlich, weil ich in den knapp zwei Jahren in seiner
Unit nicht ein einziges Mal Urlaub genommen hatte. Miss traue
jedem Händler, der seine Bücher nie allein lässt, sagt man.
Dabei hätte ich kaum etwas Verbotenes tun können. Stand als
Junior Trader viel zu weit unten in der Hierarchie. Ich nahm keinen
Urlaub, weil auf der Arbeit die Zeit so schnell verging. Weil
ich vergaß, daran zu denken, was mich abends erwarten würde.
Oder eben nicht.
... mehr
Also ›kippte‹ ich mit den Jungs ein paar Guinness. Sie redeten
über Handys, Heimkinos und Sportwagen, denen sie das
Recht auf einen komplizierten Charakter zubilligten. Im Gegensatz
zu Frauen. Ich interessierte mich zwar auch für Handys und
Frauen, wusste aber nicht, was ich dazu sagen sollte. Hörte eh
kaum zu. Konnte an nichts anderes denken als an Equinox, wäre
am liebsten jetzt schon im Händlersaal gewesen und hätte mein
Wissen angewendet.
Stattdessen saß ich in dieser Londoner Kneipe und trank viel
zu kaltes Bier. Und musste mir auch noch Gerede über englischen
Fußball anhören. Ich fragte die anderen, was sie davon
hielten, dass Felix Magath jetzt Trainer von Schalke wurde. Alle
kannten nur Bayern. Natürlich wusste ich, dass es sinnvoll war,
wenn man mit den Kollegen einen trinken ging, Networking
und so. War auch Arbeit, aber nicht so produktiv, dass man damit
eine ganze Nacht verdaddeln sollte. Warum trank man nicht
zwei Bier, hakte dabei diese Tottenhams und Arsenals, Audi
TTs, Range Rovers und Kolleginnen ab, und dann gute Nacht?
Endlich machte die Kneipe zu. Ich ging ins Hotel und hatte
den Fahrstuhlknopf schon gedrückt, da fasste Vikram, der in
Bombay geborene Arsenal-Fan, mich am Ärmel und zog mich
in die Hotelbar, wo sie alle saßen. »Wir trinken Jägermeister,
Mann«, hatte er gesagt, als könnte ich als Deutscher da nicht
Nein sagen. Also trank ich. Sorgte für betretenes Schweigen, als
ich sagte, dass ich kein Auto hatte. Um drei tat ich so, als müsste
ich aufs Klo, ging auf mein Zimmer, kotzte, duschte, trank
zwei Liter Wasser, nahm zwei Magnesiumtabletten, drei Paracetamol,
eine Pantozol, packte, nahm ein Taxi nach Heathrow
und stieg um 5:03 in dieses Flugzeug zurück nach Chicago.
Die Stewardess nahm mir die Jacke ab und hängte sie auf
einen Bügel, an dem sie meine Bordkarte festmachte wie eine
Garderobennummer. Dann kam sie mit einem Glas Champagner.
Ich musste mich zusammenreißen, damit niemand merkte,
wie sehr ich mich darüber freute, in der Business-Class zu sitzen.
Schließlich war dieser Flug kein Geschenk von Rutherford &
Gold, sondern eine notwendige Ausgabe. Sie hielten mich jetzt
für einen Leistungsträger und mussten mich gut behandeln.
Schließlich konnte ich jederzeit zu Dresdner Kleinwort gehen
oder zur UBS. So musste ich es sehen. Dieser breite Sessel war
der Lohn für meine Fünfzehn-Stunden-Tage. Dieses Kissen aus
Memory-Schaumstoff, das sich meine Kopfform merkte, das
war offenbar mein Marktwert. Ich hatte gar keine Lust auf
Champagner. Schon von dem Geruch wurde mir schlecht.
Ich stellte das Glas ab und sah aus dem Fenster. Es war noch
dunkel. Blinkende Lichter, Menschen mit Ohrenschützern, die
durch Schneeregen liefen. Mein Gesicht spiegelte sich in der
Fensterscheibe. Ich. In der Business-Class. Dann nahm ich doch
einen Schluck.
Ab jetzt würden sie mich in der Bank in Chicago ernst nehmen.
Ich war nicht mehr der Anfänger, den die Kollegen Kaffee
holen schickten, auch wenn sie gar keinen Kaffee wollten. Diese
Schulung bewies, dass Rutherford & Gold an mich glaubte.
Nun wurde alles besser. Beruflich. Gab bestimmt auch eine Zeit
für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen
30 und 40 muss man brennen.
Ich schlief ziemlich lange, dann ließ ich mir eine Spielkonsole
bringen und schloss sie an den Bildschirm vor mir an. Obwohl
das Unterhaltungsprogramm alle möglichen neuen Spiele anbot,
entschied ich mich für Tetris. Wie damals, mit fünfzehn, in der
computertechnischen Steinzeit. In unserem Hobbykeller in Bochum,
wo ich mit meinen Freunden so lange spielte, bis ich beim
Einschlafen rotierende Blöcke sah. Damals hatte ich Freunde.
Jetzt ist die Karriere dran. Man kann nicht ewig jung sein. Und
wenn ich nun bald Erfolg habe, gehe ich bestimmt auch mal mit
den Kollegen in Chicago nach Feierabend ein Bier trinken. Dann
gehöre ich dazu.
Plötzlich Druck auf meinen Ohren. War das schon der Sink-
flug? Ich hatte doch gerade Level 15 erreicht. Musste es bis Level
18 schaffen. Steine prasselten auf mich ein, ich ließ sie zur
Seite gleiten, rotieren. Alle erreichten den Platz, den ich für sie
vorgesehen hatte. Level 16. Meine Daumen schossen auf dem
Joypad hin und her, rechts, drehen, drehen, rechts, drehen, links,
ich musste schneller sein, noch schneller, da wurde der Monitor
plötzlich blau. Himmel mit ein paar Wolken. Das Logo von
American Airlines erschien, dann machte eine Stewardess die
üblichen Ansagen vor der Landung. Ich hämmerte auf sämtliche
Knöpfe des Joypads, um das Spiel wieder in Gang zu bringen,
doch auf dem Monitor stand nur: Bitte achten Sie auf die Ansage.
Unter mir die Vorortsiedlungen von Chicago. Große Häuser,
Grundstücke, die immer kleiner wurden, je näher wir der Stadt
kamen. Vor einem Einkaufszentrum zeichnete ein Fischgrätmuster
Parkplätze vor. Alle Konsumenten schliefen noch. Europa
war wieder sechs Zeitzonen weit weg, dort, wo es hingehörte,
in der Vergangenheit.
Auf dem Bildschirm vor mir blinkte ein Flugzeug über der
Karte von Nordamerika, verbleibende Flugzeit: 0:11 Minuten.
Nach meiner Uhr hätten es 14 sein sollen. Die nächsten drei Minuten
zeigte der Bildschirm an, dass elf Minuten verblieben.
Doch was soll's, ich war eh einen Tag zu früh zurück in Chicago.
Eigentlich sollte ich erst morgen wieder zur Arbeit gehen, in die
Zentrale von Rutherford & Gold an der LaSalle Street, Händlersaal,
Desk 3, Futures und Optionen, an meinen Platz in der 29.
Reihe mit den vier Monitoren, zwei unten, zwei oben und darüber
ein weißes Schild: Jasper Ludemann; das mit dem ü hatten
sie nicht hingekriegt, auf ganz normalem Papier. In eine Plastikhalterung
geschoben und jederzeit austauschbar.
In Chicago machte ich meinen BlackBerry wieder an, und eine
Erinnerungsnachricht poppte auf: Heute: Todestag Papi. Ich
klickte sie weg. Sentimentalitäten konnte ich mir jetzt nicht leisten.
Mein Gepäck schickte ich per Kurier in meine Wohnung
und nahm die blaue Linie der Hochbahn Richtung Loop, wie sie
hier das Zentrum nannten. Die werden Augen machen: Gestern
noch Schulung in London, Networking-Trinken die ganze
Nacht, in der Business-Class geschlafen und am nächsten Morgen
wieder am Start. Damit bewies ich ein für alle Mal: Es war
kein Fehler, dass sie mich vor zwei Jahren aus dem Back-Office
in den Händlersaal geholt hatten. Nach vorne. An die Front.
Für meinen Mitarbeiterausweis hatte ich eine Plastikhülle gekauft.
Es war 9:33, als ich ihn an den Sensor legte und sich die
Speed-Gates öffneten. Im Fahrstuhl behielt ich ihn gleich in der
Hand. Hielt ihn oben an den zweiten Sensor am Eingang zur
Drehtür. Das grüne Signal blinkte, ich stellte mich auf die vorgezeichneten
Fußumrisse am Boden und wartete auf die halbe
Rotation, mit der die Drehtür mich in den Händlersaal brachte.
40 Reihen, ein Organismus aus 600 Menschen, 1.200 Telefonen
und Tausenden von Bildschirmen. Bald kam Fixed Income in
Sicht, dahinter lag unser Desk, den ich so fest im Blick hatte,
dass ich fast mit einer Frau zusammenstieß. Wollte ihr eine Entschuldigung
hinterherrufen, da war sie schon bei den japanischen
Staatsanleihen verschwunden. Ich war zu langsam! Ich
dachte doch, ich hätte ihn endlich abgestellt, diesen schlendernden
Back-Office-Gang.
Mein Teamleiter Alex stand neben unserem Trainee, dem
schüchternen Jeff, und rückte mit einer seiner riesigen Hände die
randlose Brille zurecht. Er sprach sehr schnell, wobei sich nur
sein Mund zu bewegen schien, der Rest seines Gesichts wirkte
wie immer seltsam gelähmt. Meinen Platz erkannte ich an der
Schalke-Fahne, die ich zwischen die beiden oberen Monitore gesteckt
hatte, zwischen den Reuters-Monitor und den Bloomberg-
Monitor. Dann merkte ich, dass Alex nicht bei Jeff stand,
sondern direkt an meinem Platz. Er sah jemandem über die
Schulter. Der an meinem Computer saß. War das etwa nicht
mein Platz? Hatte ich mich in der Reihe geirrt? Nein, die königsblaue
Schalke-Fahne war ja da. Ich hielt auf sie zu, nahm mir
vor, ruhig, aber doch überrascht Guten Morgen zu sagen. Da
drehte der Typ an meinem Computer sich um. Ganz langsam,
als hätte er auf einem meiner Monitore etwas entdeckt. Erst
hatte ich nur seinen Hinterkopf gesehen, nun sah ich seine Nase,
seine Brille, sein Kinn, das er hob, um Alex anzusehen, meinen
Teamleiter, der darauf bestanden hatte, dass ich mir diesen Tag
freinahm. Als ich sah, dass der Typ eine Krawatte trug, krampfte
mein Magen sich zusammen, und ich dachte nur ein einziges
Wort: gefeuert. Niemand im Händlersaal trug eine Krawatte.
Das war jemand von der Verwaltung. Einer von denen, die uns
kontrollierten. Ich war gefeuert. Wusste zwar nicht warum,
doch es war eindeutig. Der Krawattenmann richtete meinen
Computer für den Neuen ein. Er zeigte auf einen der Monitore.
Schüttelte den Kopf.
Nun war ich es, der schneller ging als alle anderen. Richtung
Drehtür, Richtung raus.
MEIKE
Jetzt musste ich mich nur noch daran gewöhnen, dass es hier
richtig schön war. Ich musste mich daran gewöhnen, dass diese
Haustür meine Haustür war, und dahinter kein nach Putzmittel
riechender Hausflur, keine Kinderwagen, kein von weggeschmissener
Werbepost überquellender Plastikeimer, sondern nur meine
blauen Schuhe auf den braunen Natursteinfliesen im Vorflur.
Dies war ich in meinem neuen Leben.
Ich hängte meine Jacke zum Trocknen an die Türklinke und
betrat mein neues Wohnzimmer, durch dessen Fenster sich mir
ein Blick auf das bot, was das örtliche Fremdenverkehrsamt euphorisch
Reizklima nannte: ein von heftigem Wind getriebener
Regen, der auf eine grüne Wiese fiel. Vorgestern waren darauf
noch Schafe gewesen.
Ich ging an der Stereoanlage vorbei und drückte ohne hinzusehen
auf den Knopf, von dem ich wusste, dass Power darauf
stand; in der Küche schaltete ich den Wasserkocher an, ohne ihn
vorher anzuheben. Ich wusste, dass sich darin von heute Morgen
noch genug Wasser für eine Tasse Kaffee befand - so war
das, wenn man plötzlich alleine wohnte. Ich öffnete die Dose, an
der ich mir schon manchen Fingernagel abgebrochen hatte und
tat zwei gehäufte Löffel löslichen Kaffee in die Tasse. Die Anlage
klapperte mit den CDs in ihrem Dreifachwechsler, der Wasserkocher
machte bing, ich goss das heiße Wasser in die Tasse,
rührte um, nahm die Milchpackung aus dem Kühlschrank und
schüttelte sie heftig, bis der darin verbliebene Rest zu Schaum geworden
war, Milchschaum, den ich in die Kaffeetasse schüttete.
Das sah fast aus wie in einem Café. In Hamburg, in meinem früheren
Leben. Doch ich hatte mich nun hierfür entschieden.
Ich stellte Tasse und Aschenbecher auf die mit Büchern gefüllte
Umzugskiste, die mir als Wohnzimmertisch diente, lief zur
Anlage, drückte die Wiedergabetaste und setzte mich genau in
dem Moment auf das Sofa, in dem Wagners Tannhäuser mit verschnupft
klingenden Blechbläsern begann. Dann sah ich hinaus
und dachte darüber nach, wie mechanisch dieser Ablauf geworden
war, obwohl ich erst seit vier Tagen hier wohnte.
Langsam drangen die Farben des Sonnenuntergangs durch
das Wolkengrau. Orange, Dunkelblau und Rot. Das war nun
wirklich schön. Sofa, Kaffee und Abendlicht - so sollten meine
Freunde aus Hamburg mich sehen, während sie in stickigen,
überfüllten U-Bahnen auf dem Weg in ihre Wohnungen waren,
mit ihren kleinen Küchen, wo die einzige Abendröte aus dem
Toaster kam. So sollte Arthur mich sehen.
Als ich mir gerade eine Zigarette anzünden wollte, fiel mir
der Kachelofen ein. Ich hatte seit Stunden kein Holz nachgelegt,
musste aber auf jeden Fall vermeiden, dass er ausging, da ich
nicht richtig zugehört hatte, als der Vorbesitzer mir erklärte, wie
man ihn anfeuert. Ich ging hin, öffnete die gusseiserne Klappe
und kniff die Augen zusammen, als mir eine Rauchwolke entgegenschlug.
Dann griff ich in den Korb neben dem Ofen und
stellte fest, dass das klein gehackte Brennholz, das ich zusammen
mit dem Haus übernommen hatte, endgültig aufgebraucht
war. Es gab noch jede Menge Holz, doch das lagerte in großen
Scheiten hinter dem Haus, unter einer LKW-Plane, auf die der
Regen pladderte.
Natürlich gab es in meinem Haus auch eine richtige Heizung,
eine ganz fortschrittliche sogar: eine mit Erdwärme aus eigenem
Bohrloch betriebene Fußbodenheizung, die der Vorbesitzer
selbst eingebaut hatte. Dann war er plötzlich ausgezogen und
ließ neben der Heizung, die aus irgendeinem Grund nie funk-
tioniert hatte, drei neu eingebaute Isolierfenster mit Löchern in
den Fugen und ein zu drei Vierteln mit Schwammwischtechnik
ockerfarben bemaltes Wohnzimmer zurück. Warum er ausgezogen
war, hatte er mir nicht gesagt, obwohl er sonst eher viel redete.
Ich nahm an, dass seine Frau ihn verlassen hatte, enerviert
von dieser dilettantischen Hobbyheimwerkerei.
Also blieb mir nur der Kachelofen, der eigentlich nur aus
Stylinggründen die letzte Renovierung überlebt hatte, aber das
Haus leidlich warm hielt. »So ein Kachelofen macht natürlich
eine viel schönere Wärme«, hatte mein Vorbesitzer gesagt, was
einer seiner blöderen Sprüche gewesen war, denn Wärme war
eine Strahlung mit einer gewissen Energie, und es war völlig
egal, ob in diesem Kachelofen nun eine Heizspirale steckte oder
dort Holz verbrannte oder eben, wie im Moment, nicht mehr
verbrannte.
Ich griff die Axt, die im Flur an der Wand lehnte, zog die
nasse Jacke wieder an, verließ das Haus, sah kurz, und nicht zum
ersten Mal an diesem Tag, in den Briefkasten und ging dann um
das Haus herum. Als ich die Lkw-Plane anfasste, um eines der
großen Buchenholzscheite hervorzuholen, fiel mir ein, dass fast
alle meiner Hamburger Freunde eine Umhängetasche aus diesem
Material hatten, Arthur hatte sogar zwei. Ich hob die Plane
vorsichtig an, damit das Wasser zur Seite abfloss, und fasste den
verspäteten Neujahrsvorsatz, ab jetzt rechtzeitig und bei trockenem
Wetter Holz zu hacken. Denn so viel erinnerte ich von den
Ratschlägen meines Vorbesitzers: Bei Regen Holz zu hacken,
war nicht gut. Was hatte er noch gesagt? Ich wusste es nicht
mehr, legte eines der Scheite auf den Hauklotz und holte aus.
Das Gewicht der Axt überraschte mich und zog meine Arme
weiter nach hinten als geplant, woraufhin meine Kapuze vom
Kopf rutschte und Regen in meinen Nacken fiel. Durch diesen
Kälteschauer zur Eile getrieben, ließ ich die Axt nach vorne fallen,
als mir einfiel, zu spät einfiel, was mein Vorbesitzer noch gesagt
hatte: Ich müsste mich breitbeinig hinstellen, damit die Axt,
sollte sie den Hauklotz verfehlen, nicht mein Bein spaltete. Ich
rutschte mit den Beinen auf dem matschigen Boden auseinander
und versuchte gleichzeitig, die Axt in ihrem Fall zu bremsen.
Zu spät. Die Axt sauste hinab, ich versuchte eine hilflose Drehung
zur Seite, die Axt verfehlte das Scheit, meine Beine rutschten,
rutschten, ich fiel, schloss die Augen und wartete auf
irgendeinen Schmerz. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich
im Matsch, und die Axt steckte in dem Hauklotz fest. Instinktiv
sah ich mich um - hatte mich jemand bei dieser pein lichen
Aktion beobachtet? Doch da war natürlich niemand. Noch
nicht einmal das Haus eines Nachbarn. Nur Wiesen und Reizklima.
Zumindest das Badezimmer war gemütlich warm zu bekommen,
man musste nur eine Viertelstunde heiß duschen, möglichst
noch länger. Am Morgen nach meinem missglückten
Holzhackversuch war das umso wichtiger, denn in der Nacht
war der Ofen endgültig ausgegangen.
Der Briefkasten war leer. Wer hätte auch etwas einwerfen
sollen, seit ich gestern vor dem Schlafengehen das letzte Mal
nachgesehen hatte? Ich überprüfte, ob meine Visitenkarte noch
über dem Briefkasten klebte, wo ich sie in Ermangelung eines
Türschildes befestigt hatte: Meike Urbanski lit. Übersetzerin und
darunter meine alte Hamburger Adresse, die ich durchgestrichen
hatte.
Der Briefkasten war eines von diesen amerikanischen Modellen,
die aussahen wie übergroße Weißbrotlaibe. Das passte zu
dem Vorbesitzer meines Hauses, seinem Traum vom autarken
Siedlerleben in der nordfriesischen Prärie, mit eigener Erdwärme.
Bestimmt hatte seine Frau das lächerlich gefunden, jede
Frau musste das lächerlich finden, diesen Briefkasten aus dem
nächstbesten Baumarkt, der doch so etwas sagen sollte wie:
Hier ist Amerika, das Land der Selbstverwirklichung, land of the
free, verkörpert durch eine schmutzigweiße Röhre mit einer
roten Blechfahne, die der Postbote hochstellen konnte, nachdem
er etwas hineingetan hatte; die nach unten zeigte, seit ich
einge zogen war.
Ich musste Holz hacken. Holz bedeutete Wärme, und ohne
Wärme konnte ich das alles gleich vergessen mit meinem neuen
Leben. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Die von meinem Vorbesitzer
mit dem Schwamm aufgetragene Ockerfarbe gab dem
Raum etwas von einer uterusartigen Wohlfühlhöhle, was
schlecht dazu passte, dass ich vor lauter Kälte inzwischen meinen
Atem sehen konnte.
Da ich nicht noch einmal Tannhäuser hören wollte, suchte
ich nach der Umzugskiste mit den CDs, und nachdem ich sie
nicht auf Anhieb fand, wurde mir bald klar, wo sie war: im Flur
unserer Hamburger Wohnung, unter der Gastherme, rechts von
Arthurs Schuhen, dort, wo meine Schuhe gestanden hatten. Was
für ein Umzugsklassiker! Alles war gut gelaufen, nur das Wichtigste
hatte ich vergessen, sodass meine Musikauswahl nun auf
das beschränkt war, was sich im Dreifach-CD-Wechsler meiner
Anlage befand: Zweimal Tannhäuser und einmal Rufus Wainwright,
der die Worte alcoholic homosexual so singen konnte,
dass ich gerne beides gewesen wäre.
Arthur und ich hatten als Paar immer gut funktioniert. Wir lebten
jene Art Leben, das Stoff für Fernsehserien war, hatten genug
Geld, interessante Freunde, eine interessante Arbeit. Zehn
Jahre war es her, dass wir uns in der Haushaltswarenabteilung
von Karstadt kennengelernt hatten. Arthur hatte mich gefragt,
ob ich eher eine Waschmaschine kaufen würde, die man von
oben befüllte, oder eine, die die Luke ganz normal vorne hatte,
einen »klassischen Frontloader«, wie es der Verkäufer ausdrück-
te, der sich in unser Gespräch einklinkte und uns natürlich für
ein Paar hielt. Na gut, hatte ich gedacht, wenn es den Karstadtverkäufer
überzeugt ... Damit war Schritt eins gemacht. Es folg te
Schritt zwei: gemeinsame Pärchenfreunde, Schritt drei: zusammenziehen
und Schritt vier: über Kinder nachdenken. Dann
tat ich Schritt fünf und zog aus.
Da ich unsere gemeinsamen Pärchenfreunde nicht um Hilfe
fragen wollte, erledigte ich den Umzug allein, heimlich und morgens
um vier. Das war die Zeit, zu der ich bestimmt niemanden
auf der Straße traf, denn die Jahre der langen Kneipennächte waren
vorbei für Gösta und Regine, Sabine und Lars. Es war, als
hätte ich schon bei der Auswahl meiner Möbel darauf geachtet,
dass sie weder besonders sperrig noch schwer waren: Das Bett
gehörte Arthur, doch ich besaß ein Schlafsofa, ein Designerstück
aus gepresstem Styropor, das weniger als 25 Kilo wog und sich
mühelos die Treppen hinuntertragen ließ. Die Beine meines
Schreibtisches hatte ich bereits am Vorabend abgeschraubt, und
der Rest kam in Umzugskisten. Nach kaum einer Stunde war
alles in dem Renault-Rapid-Transporter verstaut, den ich mir vor
einigen Wochen gekauft hatte. Ich nahm mir sogar die Zeit,
Arthurs Möbel zu verrücken und die Bücher in den Regalen umzustellen,
sodass ihm meine Abwesenheit vielleicht nicht sofort
auffallen würde, wenn er von seiner Ausstellungseröffnung in
München zurückkam.
Es war noch nicht sechs Uhr, als ich die Türen zur Ladefläche
meines Transporters endgültig schloss. Beim Abbiegen von der
Bellealliancestraße auf die ausgestorbene Fruchtallee blink te ich
nicht und bremste kaum. Als ich wenig später auf die A 23 fuhr
und in Richtung Husum/Heide Gas gab, war ich mir sicher,
dass ich diese Stadt nie wiedersehen würde.
Zehn Jahre hatte ich hier gewohnt, im Schanzenviertel, war
ganz klassisch zum Studieren hierhergezogen und hatte dann
miterlebt, wie alles langsam sauberer wurde, ruhebedürftiger,
kurz: bürgerlicher; wenngleich sich in den ersten Jahren niemand
traute, das so zu nennen, bis dann alle plötzlich dauernd dieses
Wort benutzten, wie um sich zu beweisen, dass das nichts
Schlimmes sei.
Auf die Rehabilitierung des Wortes bürgerlich folgte Nachwuchs.
Eines der mit uns befreundeten Paare, Gösta und Regine,
hatte vor einigen Jahren mit einem Hund angefangen, den sie
Leander nannten, woraufhin Lars und Sabine mit einem Kind
konterten, das sie Friedrich nannten. Als Lars und Sabine dann
ein zweites Kind bekamen, von dem ich mir nie merken konnte,
ob es Sophia-Marie oder Maria-Sophie hieß, blieb Gösta und
Regine nichts anderes übrig, als mit dem kleinen Maximilian,
wenn schon nicht gleichzuziehen, so doch einen Anschlusstreffer
zu erzielen.
Mit den Kindern, dem Hund und den mit ihnen unternommenen
Landausflügen griff eine Begeisterung für Produkte aus
der Region um sich. Das Alte Land zum Beispiel, aus dem man
mit Äpfeln oder Kirschen wiederkehrte, die allein deswegen besser
schmeckten, weil man das Alte Land fast sehen konnte,
wenn man an der Elbe flussabwärts blickte und sich vorstellte,
dass da hinter der Airbuswerft Dinge auf Bäumen wuchsen.
Einen Hund wollten wir trotzdem nie. Ich hatte Angst vor Hunden,
Arthur Angst um seine Gemälde, die er »Arbeiten« nannte.
Seit einigen Jahren malte Arthur nur noch monochrom.
Warum ich zehn Jahre hier gelebt und mich dann heimlich
aus dem Staub gemacht hatte, mag schwer zu erklären sein -
un üblich ist es hingegen nicht. Menschen tun so was. Viele.
Jeden Tag. Worüber ich mir Gedanken machte, war vielmehr die
Frage, warum es ausgerechnet jetzt passiert war, und einer der
Gründe war sicherlich der Heilige Abend, den wir im letzten
Jahr bei Regine und Gösta verbracht hatten, zusammen mit Sabine
und Lars. Seit Regine und Gösta den kleinen Maximilian
hatten, waren sie sehr traditionsbewusst geworden. Sie hatten
uns aus dem Wohnzimmer ausgesperrt, in das wir erst hinein durften,
nachdem Gösta die echten Kerzen an dem Baum entzündet
und eine Glocke geläutet hatte. Dabei war ihre Wohnung
für solche Zugangsbeschränkungen eigentlich zu klein, sodass
wir uns mit den immer unruhiger werdenden Friedrich, Maximilian
und Maria-Sophie in der Küche drängelten und Gebäck
aßen, das schmeckte wie anderes Gebäck auch, aber nach irgendwelchen
speziellen Oma-Rezepten gebacken war. Hund
Leander lag so apathisch unter dem Küchentisch, dass ich mir
vorstellte, sie hätten ihm etwas Beruhigendes ins Futter getan -
und mir dasselbe wünschte. Noch enger wurde es dadurch, dass
Gösta sich einen Weinkühlschrank mit stoßgedämpften Regalen
und fünf individuell regelbaren Klimazonen gekauft hatte. Gerade
als ich fragen wollte, ob wenigstens ich in das Weihnachtszimmer
hinein- oder eigentlich nur hindurchdürfte, um auf dem
Balkon eine Zigarette zu rauchen, bimmelte es. Gösta las die
Weihnachtsgeschichte, schien nicht zu wissen, wo er aufhören
sollte und las viel zu lang, bis er verwirrt an der Stelle abbrach,
wo der alte Simeon das Jesuskind im Tempel von Jerusalem auf
die Arme nimmt, während ich auf die Balkontür starrte. Dann
wurden die Geschenke verteilt, und Gösta bekam etwas von
Regine.
»Oh, eine Salzmühle, ist die etwa mit ...«
»... mit Peugeot-Mahlwerk, Edelstahl. Alle anderen taugen ja
nichts«, sagte Regine. Das Wort Peugeot-Mahlwerk löste bei Sabine
und Lars emphatisches Nicken aus, ich hingegen wunderte
mich darüber, wie klein die Salzmühle war, wo Gösta doch in
den letzten Jahren, wenn er für uns gekocht hatte, nach dem Servieren
für jeden aus einer Mühle von der Größe und dem Aussehen
einer Gartenschach-Figur Pfeffer auf den Teller geknarzt
hatte. Ich überlegte, ob er ab jetzt zwei Mal die abendliche
Tischgesellschaft umrunden würde, ein Mal mit Pfeffer, ein Mal
mit Salz, und musste dabei so abwesend ausgesehen haben, dass
Regine einen Versuch unternahm, mich in das Gespräch einzu-
binden, indem sie sagte:
»Da kann Gösta sein Himalaja-Salz reinfüllen.«
»Himalaja-Salz?«
»Salz ist nicht gleich Salz, da gibt es große Unterschiede. Unser
normales Salz ist doch total industriell verunreinigt.«
»Und Himalaja-Salz?«
»Das ist Ur-Salz. Das kommt direkt aus der Natur.«
»Und in der Natur ist alles immer so sauber?«
»Im Himalaja gibt es keine Umweltgifte. Deswegen löst das
keine Allergien aus. Bei den Kindern. Und außerdem schmeckt
es besser, deswegen braucht man weniger davon.«
»Salz besteht zu 98 % aus Natriumchlorid, egal, ob es aus
dem Himalaja oder aus Bad Reichenhall kommt. Und das
schmeckt immer gleich«, sagte ich, denn ich wusste das, ich
hatte das recherchiert für eine meiner letzten Übersetzungen.
»Dann ist das halt mein subjektiver Geschmack«, sagte Regine
in einer Weise lächelnd, als wüsste sie, dass ich darauf
nichts antworten konnte. Gegen Geschmack, hier sogar subjektiven
Geschmack, gefühlten Geschmack sozusagen, kam niemand
an.
»Was ist Himalaja?«, fragte Friedrich und konnte nicht ahnen,
wie dankbar ich ihm dafür war, dass er dieses Gespräch auf den
gedanklichen Horizont eines Dreijährigen zurückholte. Regine
erklärte ihm engagiert nickend, dass das Berge seien, Hi-ma-laja,
gaanz weit weg und soooo hoch, hmhmm!, während ich auf
den Balkon ging und gleich zwei Zigaretten rauchte.
Es überraschte mich, dass Lars, als er zu mir herauskam, um
noch eine Flasche Sekt zu holen, von meiner Zigarette ziehen
wollte.
»Warum hat Gösta den Sekt nicht in seinem Weinkühlschrank
kalt gestellt?«, fragte ich.
»Ich glaub, der ist voll«, sagte Lars.
»Alle fünf Klimazonen?«
»Alle fünf individuell regelbaren Klimazonen«, sagte er und
zog noch einmal. »Wein-Klima-Schrank übrigens, nicht Wein-
Kühl-Schrank, schließlich muss nicht jeder Wein gekühlt werden.
« Dann zog er ein drittes Mal und ging wieder hinein, bevor
ich in der Halbdunkelheit erkennen konnte, ob er bei dem letzten
Satz gegrinst hatte oder nicht.
Als ich wieder hineingegangen war, hatte Regine gerade ihre
»Ich mag den Winter, weil man im Sommer wegen der ganzen
Straßencafés nirgendwo durchkommt«-Suada begonnen. Ich erinnerte
mich daran, dass ich im letzten Sommer im Café unter
den Linden beobachtet hatte, wie Regine mit ihrem dreirädrigen
Rennkinderwagen die Reihen der Cafétische und Stühle sprengte
wie ein Streitwagen des Pharao eine Kompanie feindlicher
Soldaten. Ich sagte, dass ich den Winter mochte, weil ich bis
neun schlafen könne, ohne vom Licht geweckt zu werden, und
Regine sagte: »Das würde ich auch gern mal wieder, aber das ist
mit dem kleinen Süßen halt nicht drin.«
»Ich kann mir eben selbst einteilen, wann ich arbeite, was ist
daran so schlimm?«, sagte ich, denn mich ärgerte der mitleidige
Ton in ihrer Stimme.
»So hab ich das doch gar nicht gemeint. Im Gegenteil, ich
wünschte mir manchmal, ich wäre so literaturverrückt wie du.«
»So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Ich hab das ja auch nicht so gemeint, habe ich doch gerade
schon gesagt«, sagte Regine dann. »Ich bewundere das.«
An diesem Weihnachtsabend hatte ich zum ersten Mal das
Gefühl, dass ich von diesen Menschen nicht einfach nur genervt
war. Ich hatte Heimweh, obwohl ich seit zehn Jahren hier zu
Hause war, Heimweh nach einem Ort, von dem ich nicht wusste,
wo er war.
Roman
© Verlag Antje Kunstmann
Also ›kippte‹ ich mit den Jungs ein paar Guinness. Sie redeten
über Handys, Heimkinos und Sportwagen, denen sie das
Recht auf einen komplizierten Charakter zubilligten. Im Gegensatz
zu Frauen. Ich interessierte mich zwar auch für Handys und
Frauen, wusste aber nicht, was ich dazu sagen sollte. Hörte eh
kaum zu. Konnte an nichts anderes denken als an Equinox, wäre
am liebsten jetzt schon im Händlersaal gewesen und hätte mein
Wissen angewendet.
Stattdessen saß ich in dieser Londoner Kneipe und trank viel
zu kaltes Bier. Und musste mir auch noch Gerede über englischen
Fußball anhören. Ich fragte die anderen, was sie davon
hielten, dass Felix Magath jetzt Trainer von Schalke wurde. Alle
kannten nur Bayern. Natürlich wusste ich, dass es sinnvoll war,
wenn man mit den Kollegen einen trinken ging, Networking
und so. War auch Arbeit, aber nicht so produktiv, dass man damit
eine ganze Nacht verdaddeln sollte. Warum trank man nicht
zwei Bier, hakte dabei diese Tottenhams und Arsenals, Audi
TTs, Range Rovers und Kolleginnen ab, und dann gute Nacht?
Endlich machte die Kneipe zu. Ich ging ins Hotel und hatte
den Fahrstuhlknopf schon gedrückt, da fasste Vikram, der in
Bombay geborene Arsenal-Fan, mich am Ärmel und zog mich
in die Hotelbar, wo sie alle saßen. »Wir trinken Jägermeister,
Mann«, hatte er gesagt, als könnte ich als Deutscher da nicht
Nein sagen. Also trank ich. Sorgte für betretenes Schweigen, als
ich sagte, dass ich kein Auto hatte. Um drei tat ich so, als müsste
ich aufs Klo, ging auf mein Zimmer, kotzte, duschte, trank
zwei Liter Wasser, nahm zwei Magnesiumtabletten, drei Paracetamol,
eine Pantozol, packte, nahm ein Taxi nach Heathrow
und stieg um 5:03 in dieses Flugzeug zurück nach Chicago.
Die Stewardess nahm mir die Jacke ab und hängte sie auf
einen Bügel, an dem sie meine Bordkarte festmachte wie eine
Garderobennummer. Dann kam sie mit einem Glas Champagner.
Ich musste mich zusammenreißen, damit niemand merkte,
wie sehr ich mich darüber freute, in der Business-Class zu sitzen.
Schließlich war dieser Flug kein Geschenk von Rutherford &
Gold, sondern eine notwendige Ausgabe. Sie hielten mich jetzt
für einen Leistungsträger und mussten mich gut behandeln.
Schließlich konnte ich jederzeit zu Dresdner Kleinwort gehen
oder zur UBS. So musste ich es sehen. Dieser breite Sessel war
der Lohn für meine Fünfzehn-Stunden-Tage. Dieses Kissen aus
Memory-Schaumstoff, das sich meine Kopfform merkte, das
war offenbar mein Marktwert. Ich hatte gar keine Lust auf
Champagner. Schon von dem Geruch wurde mir schlecht.
Ich stellte das Glas ab und sah aus dem Fenster. Es war noch
dunkel. Blinkende Lichter, Menschen mit Ohrenschützern, die
durch Schneeregen liefen. Mein Gesicht spiegelte sich in der
Fensterscheibe. Ich. In der Business-Class. Dann nahm ich doch
einen Schluck.
Ab jetzt würden sie mich in der Bank in Chicago ernst nehmen.
Ich war nicht mehr der Anfänger, den die Kollegen Kaffee
holen schickten, auch wenn sie gar keinen Kaffee wollten. Diese
Schulung bewies, dass Rutherford & Gold an mich glaubte.
Nun wurde alles besser. Beruflich. Gab bestimmt auch eine Zeit
für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen
30 und 40 muss man brennen.
Ich schlief ziemlich lange, dann ließ ich mir eine Spielkonsole
bringen und schloss sie an den Bildschirm vor mir an. Obwohl
das Unterhaltungsprogramm alle möglichen neuen Spiele anbot,
entschied ich mich für Tetris. Wie damals, mit fünfzehn, in der
computertechnischen Steinzeit. In unserem Hobbykeller in Bochum,
wo ich mit meinen Freunden so lange spielte, bis ich beim
Einschlafen rotierende Blöcke sah. Damals hatte ich Freunde.
Jetzt ist die Karriere dran. Man kann nicht ewig jung sein. Und
wenn ich nun bald Erfolg habe, gehe ich bestimmt auch mal mit
den Kollegen in Chicago nach Feierabend ein Bier trinken. Dann
gehöre ich dazu.
Plötzlich Druck auf meinen Ohren. War das schon der Sink-
flug? Ich hatte doch gerade Level 15 erreicht. Musste es bis Level
18 schaffen. Steine prasselten auf mich ein, ich ließ sie zur
Seite gleiten, rotieren. Alle erreichten den Platz, den ich für sie
vorgesehen hatte. Level 16. Meine Daumen schossen auf dem
Joypad hin und her, rechts, drehen, drehen, rechts, drehen, links,
ich musste schneller sein, noch schneller, da wurde der Monitor
plötzlich blau. Himmel mit ein paar Wolken. Das Logo von
American Airlines erschien, dann machte eine Stewardess die
üblichen Ansagen vor der Landung. Ich hämmerte auf sämtliche
Knöpfe des Joypads, um das Spiel wieder in Gang zu bringen,
doch auf dem Monitor stand nur: Bitte achten Sie auf die Ansage.
Unter mir die Vorortsiedlungen von Chicago. Große Häuser,
Grundstücke, die immer kleiner wurden, je näher wir der Stadt
kamen. Vor einem Einkaufszentrum zeichnete ein Fischgrätmuster
Parkplätze vor. Alle Konsumenten schliefen noch. Europa
war wieder sechs Zeitzonen weit weg, dort, wo es hingehörte,
in der Vergangenheit.
Auf dem Bildschirm vor mir blinkte ein Flugzeug über der
Karte von Nordamerika, verbleibende Flugzeit: 0:11 Minuten.
Nach meiner Uhr hätten es 14 sein sollen. Die nächsten drei Minuten
zeigte der Bildschirm an, dass elf Minuten verblieben.
Doch was soll's, ich war eh einen Tag zu früh zurück in Chicago.
Eigentlich sollte ich erst morgen wieder zur Arbeit gehen, in die
Zentrale von Rutherford & Gold an der LaSalle Street, Händlersaal,
Desk 3, Futures und Optionen, an meinen Platz in der 29.
Reihe mit den vier Monitoren, zwei unten, zwei oben und darüber
ein weißes Schild: Jasper Ludemann; das mit dem ü hatten
sie nicht hingekriegt, auf ganz normalem Papier. In eine Plastikhalterung
geschoben und jederzeit austauschbar.
In Chicago machte ich meinen BlackBerry wieder an, und eine
Erinnerungsnachricht poppte auf: Heute: Todestag Papi. Ich
klickte sie weg. Sentimentalitäten konnte ich mir jetzt nicht leisten.
Mein Gepäck schickte ich per Kurier in meine Wohnung
und nahm die blaue Linie der Hochbahn Richtung Loop, wie sie
hier das Zentrum nannten. Die werden Augen machen: Gestern
noch Schulung in London, Networking-Trinken die ganze
Nacht, in der Business-Class geschlafen und am nächsten Morgen
wieder am Start. Damit bewies ich ein für alle Mal: Es war
kein Fehler, dass sie mich vor zwei Jahren aus dem Back-Office
in den Händlersaal geholt hatten. Nach vorne. An die Front.
Für meinen Mitarbeiterausweis hatte ich eine Plastikhülle gekauft.
Es war 9:33, als ich ihn an den Sensor legte und sich die
Speed-Gates öffneten. Im Fahrstuhl behielt ich ihn gleich in der
Hand. Hielt ihn oben an den zweiten Sensor am Eingang zur
Drehtür. Das grüne Signal blinkte, ich stellte mich auf die vorgezeichneten
Fußumrisse am Boden und wartete auf die halbe
Rotation, mit der die Drehtür mich in den Händlersaal brachte.
40 Reihen, ein Organismus aus 600 Menschen, 1.200 Telefonen
und Tausenden von Bildschirmen. Bald kam Fixed Income in
Sicht, dahinter lag unser Desk, den ich so fest im Blick hatte,
dass ich fast mit einer Frau zusammenstieß. Wollte ihr eine Entschuldigung
hinterherrufen, da war sie schon bei den japanischen
Staatsanleihen verschwunden. Ich war zu langsam! Ich
dachte doch, ich hätte ihn endlich abgestellt, diesen schlendernden
Back-Office-Gang.
Mein Teamleiter Alex stand neben unserem Trainee, dem
schüchternen Jeff, und rückte mit einer seiner riesigen Hände die
randlose Brille zurecht. Er sprach sehr schnell, wobei sich nur
sein Mund zu bewegen schien, der Rest seines Gesichts wirkte
wie immer seltsam gelähmt. Meinen Platz erkannte ich an der
Schalke-Fahne, die ich zwischen die beiden oberen Monitore gesteckt
hatte, zwischen den Reuters-Monitor und den Bloomberg-
Monitor. Dann merkte ich, dass Alex nicht bei Jeff stand,
sondern direkt an meinem Platz. Er sah jemandem über die
Schulter. Der an meinem Computer saß. War das etwa nicht
mein Platz? Hatte ich mich in der Reihe geirrt? Nein, die königsblaue
Schalke-Fahne war ja da. Ich hielt auf sie zu, nahm mir
vor, ruhig, aber doch überrascht Guten Morgen zu sagen. Da
drehte der Typ an meinem Computer sich um. Ganz langsam,
als hätte er auf einem meiner Monitore etwas entdeckt. Erst
hatte ich nur seinen Hinterkopf gesehen, nun sah ich seine Nase,
seine Brille, sein Kinn, das er hob, um Alex anzusehen, meinen
Teamleiter, der darauf bestanden hatte, dass ich mir diesen Tag
freinahm. Als ich sah, dass der Typ eine Krawatte trug, krampfte
mein Magen sich zusammen, und ich dachte nur ein einziges
Wort: gefeuert. Niemand im Händlersaal trug eine Krawatte.
Das war jemand von der Verwaltung. Einer von denen, die uns
kontrollierten. Ich war gefeuert. Wusste zwar nicht warum,
doch es war eindeutig. Der Krawattenmann richtete meinen
Computer für den Neuen ein. Er zeigte auf einen der Monitore.
Schüttelte den Kopf.
Nun war ich es, der schneller ging als alle anderen. Richtung
Drehtür, Richtung raus.
MEIKE
Jetzt musste ich mich nur noch daran gewöhnen, dass es hier
richtig schön war. Ich musste mich daran gewöhnen, dass diese
Haustür meine Haustür war, und dahinter kein nach Putzmittel
riechender Hausflur, keine Kinderwagen, kein von weggeschmissener
Werbepost überquellender Plastikeimer, sondern nur meine
blauen Schuhe auf den braunen Natursteinfliesen im Vorflur.
Dies war ich in meinem neuen Leben.
Ich hängte meine Jacke zum Trocknen an die Türklinke und
betrat mein neues Wohnzimmer, durch dessen Fenster sich mir
ein Blick auf das bot, was das örtliche Fremdenverkehrsamt euphorisch
Reizklima nannte: ein von heftigem Wind getriebener
Regen, der auf eine grüne Wiese fiel. Vorgestern waren darauf
noch Schafe gewesen.
Ich ging an der Stereoanlage vorbei und drückte ohne hinzusehen
auf den Knopf, von dem ich wusste, dass Power darauf
stand; in der Küche schaltete ich den Wasserkocher an, ohne ihn
vorher anzuheben. Ich wusste, dass sich darin von heute Morgen
noch genug Wasser für eine Tasse Kaffee befand - so war
das, wenn man plötzlich alleine wohnte. Ich öffnete die Dose, an
der ich mir schon manchen Fingernagel abgebrochen hatte und
tat zwei gehäufte Löffel löslichen Kaffee in die Tasse. Die Anlage
klapperte mit den CDs in ihrem Dreifachwechsler, der Wasserkocher
machte bing, ich goss das heiße Wasser in die Tasse,
rührte um, nahm die Milchpackung aus dem Kühlschrank und
schüttelte sie heftig, bis der darin verbliebene Rest zu Schaum geworden
war, Milchschaum, den ich in die Kaffeetasse schüttete.
Das sah fast aus wie in einem Café. In Hamburg, in meinem früheren
Leben. Doch ich hatte mich nun hierfür entschieden.
Ich stellte Tasse und Aschenbecher auf die mit Büchern gefüllte
Umzugskiste, die mir als Wohnzimmertisch diente, lief zur
Anlage, drückte die Wiedergabetaste und setzte mich genau in
dem Moment auf das Sofa, in dem Wagners Tannhäuser mit verschnupft
klingenden Blechbläsern begann. Dann sah ich hinaus
und dachte darüber nach, wie mechanisch dieser Ablauf geworden
war, obwohl ich erst seit vier Tagen hier wohnte.
Langsam drangen die Farben des Sonnenuntergangs durch
das Wolkengrau. Orange, Dunkelblau und Rot. Das war nun
wirklich schön. Sofa, Kaffee und Abendlicht - so sollten meine
Freunde aus Hamburg mich sehen, während sie in stickigen,
überfüllten U-Bahnen auf dem Weg in ihre Wohnungen waren,
mit ihren kleinen Küchen, wo die einzige Abendröte aus dem
Toaster kam. So sollte Arthur mich sehen.
Als ich mir gerade eine Zigarette anzünden wollte, fiel mir
der Kachelofen ein. Ich hatte seit Stunden kein Holz nachgelegt,
musste aber auf jeden Fall vermeiden, dass er ausging, da ich
nicht richtig zugehört hatte, als der Vorbesitzer mir erklärte, wie
man ihn anfeuert. Ich ging hin, öffnete die gusseiserne Klappe
und kniff die Augen zusammen, als mir eine Rauchwolke entgegenschlug.
Dann griff ich in den Korb neben dem Ofen und
stellte fest, dass das klein gehackte Brennholz, das ich zusammen
mit dem Haus übernommen hatte, endgültig aufgebraucht
war. Es gab noch jede Menge Holz, doch das lagerte in großen
Scheiten hinter dem Haus, unter einer LKW-Plane, auf die der
Regen pladderte.
Natürlich gab es in meinem Haus auch eine richtige Heizung,
eine ganz fortschrittliche sogar: eine mit Erdwärme aus eigenem
Bohrloch betriebene Fußbodenheizung, die der Vorbesitzer
selbst eingebaut hatte. Dann war er plötzlich ausgezogen und
ließ neben der Heizung, die aus irgendeinem Grund nie funk-
tioniert hatte, drei neu eingebaute Isolierfenster mit Löchern in
den Fugen und ein zu drei Vierteln mit Schwammwischtechnik
ockerfarben bemaltes Wohnzimmer zurück. Warum er ausgezogen
war, hatte er mir nicht gesagt, obwohl er sonst eher viel redete.
Ich nahm an, dass seine Frau ihn verlassen hatte, enerviert
von dieser dilettantischen Hobbyheimwerkerei.
Also blieb mir nur der Kachelofen, der eigentlich nur aus
Stylinggründen die letzte Renovierung überlebt hatte, aber das
Haus leidlich warm hielt. »So ein Kachelofen macht natürlich
eine viel schönere Wärme«, hatte mein Vorbesitzer gesagt, was
einer seiner blöderen Sprüche gewesen war, denn Wärme war
eine Strahlung mit einer gewissen Energie, und es war völlig
egal, ob in diesem Kachelofen nun eine Heizspirale steckte oder
dort Holz verbrannte oder eben, wie im Moment, nicht mehr
verbrannte.
Ich griff die Axt, die im Flur an der Wand lehnte, zog die
nasse Jacke wieder an, verließ das Haus, sah kurz, und nicht zum
ersten Mal an diesem Tag, in den Briefkasten und ging dann um
das Haus herum. Als ich die Lkw-Plane anfasste, um eines der
großen Buchenholzscheite hervorzuholen, fiel mir ein, dass fast
alle meiner Hamburger Freunde eine Umhängetasche aus diesem
Material hatten, Arthur hatte sogar zwei. Ich hob die Plane
vorsichtig an, damit das Wasser zur Seite abfloss, und fasste den
verspäteten Neujahrsvorsatz, ab jetzt rechtzeitig und bei trockenem
Wetter Holz zu hacken. Denn so viel erinnerte ich von den
Ratschlägen meines Vorbesitzers: Bei Regen Holz zu hacken,
war nicht gut. Was hatte er noch gesagt? Ich wusste es nicht
mehr, legte eines der Scheite auf den Hauklotz und holte aus.
Das Gewicht der Axt überraschte mich und zog meine Arme
weiter nach hinten als geplant, woraufhin meine Kapuze vom
Kopf rutschte und Regen in meinen Nacken fiel. Durch diesen
Kälteschauer zur Eile getrieben, ließ ich die Axt nach vorne fallen,
als mir einfiel, zu spät einfiel, was mein Vorbesitzer noch gesagt
hatte: Ich müsste mich breitbeinig hinstellen, damit die Axt,
sollte sie den Hauklotz verfehlen, nicht mein Bein spaltete. Ich
rutschte mit den Beinen auf dem matschigen Boden auseinander
und versuchte gleichzeitig, die Axt in ihrem Fall zu bremsen.
Zu spät. Die Axt sauste hinab, ich versuchte eine hilflose Drehung
zur Seite, die Axt verfehlte das Scheit, meine Beine rutschten,
rutschten, ich fiel, schloss die Augen und wartete auf
irgendeinen Schmerz. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich
im Matsch, und die Axt steckte in dem Hauklotz fest. Instinktiv
sah ich mich um - hatte mich jemand bei dieser pein lichen
Aktion beobachtet? Doch da war natürlich niemand. Noch
nicht einmal das Haus eines Nachbarn. Nur Wiesen und Reizklima.
Zumindest das Badezimmer war gemütlich warm zu bekommen,
man musste nur eine Viertelstunde heiß duschen, möglichst
noch länger. Am Morgen nach meinem missglückten
Holzhackversuch war das umso wichtiger, denn in der Nacht
war der Ofen endgültig ausgegangen.
Der Briefkasten war leer. Wer hätte auch etwas einwerfen
sollen, seit ich gestern vor dem Schlafengehen das letzte Mal
nachgesehen hatte? Ich überprüfte, ob meine Visitenkarte noch
über dem Briefkasten klebte, wo ich sie in Ermangelung eines
Türschildes befestigt hatte: Meike Urbanski lit. Übersetzerin und
darunter meine alte Hamburger Adresse, die ich durchgestrichen
hatte.
Der Briefkasten war eines von diesen amerikanischen Modellen,
die aussahen wie übergroße Weißbrotlaibe. Das passte zu
dem Vorbesitzer meines Hauses, seinem Traum vom autarken
Siedlerleben in der nordfriesischen Prärie, mit eigener Erdwärme.
Bestimmt hatte seine Frau das lächerlich gefunden, jede
Frau musste das lächerlich finden, diesen Briefkasten aus dem
nächstbesten Baumarkt, der doch so etwas sagen sollte wie:
Hier ist Amerika, das Land der Selbstverwirklichung, land of the
free, verkörpert durch eine schmutzigweiße Röhre mit einer
roten Blechfahne, die der Postbote hochstellen konnte, nachdem
er etwas hineingetan hatte; die nach unten zeigte, seit ich
einge zogen war.
Ich musste Holz hacken. Holz bedeutete Wärme, und ohne
Wärme konnte ich das alles gleich vergessen mit meinem neuen
Leben. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Die von meinem Vorbesitzer
mit dem Schwamm aufgetragene Ockerfarbe gab dem
Raum etwas von einer uterusartigen Wohlfühlhöhle, was
schlecht dazu passte, dass ich vor lauter Kälte inzwischen meinen
Atem sehen konnte.
Da ich nicht noch einmal Tannhäuser hören wollte, suchte
ich nach der Umzugskiste mit den CDs, und nachdem ich sie
nicht auf Anhieb fand, wurde mir bald klar, wo sie war: im Flur
unserer Hamburger Wohnung, unter der Gastherme, rechts von
Arthurs Schuhen, dort, wo meine Schuhe gestanden hatten. Was
für ein Umzugsklassiker! Alles war gut gelaufen, nur das Wichtigste
hatte ich vergessen, sodass meine Musikauswahl nun auf
das beschränkt war, was sich im Dreifach-CD-Wechsler meiner
Anlage befand: Zweimal Tannhäuser und einmal Rufus Wainwright,
der die Worte alcoholic homosexual so singen konnte,
dass ich gerne beides gewesen wäre.
Arthur und ich hatten als Paar immer gut funktioniert. Wir lebten
jene Art Leben, das Stoff für Fernsehserien war, hatten genug
Geld, interessante Freunde, eine interessante Arbeit. Zehn
Jahre war es her, dass wir uns in der Haushaltswarenabteilung
von Karstadt kennengelernt hatten. Arthur hatte mich gefragt,
ob ich eher eine Waschmaschine kaufen würde, die man von
oben befüllte, oder eine, die die Luke ganz normal vorne hatte,
einen »klassischen Frontloader«, wie es der Verkäufer ausdrück-
te, der sich in unser Gespräch einklinkte und uns natürlich für
ein Paar hielt. Na gut, hatte ich gedacht, wenn es den Karstadtverkäufer
überzeugt ... Damit war Schritt eins gemacht. Es folg te
Schritt zwei: gemeinsame Pärchenfreunde, Schritt drei: zusammenziehen
und Schritt vier: über Kinder nachdenken. Dann
tat ich Schritt fünf und zog aus.
Da ich unsere gemeinsamen Pärchenfreunde nicht um Hilfe
fragen wollte, erledigte ich den Umzug allein, heimlich und morgens
um vier. Das war die Zeit, zu der ich bestimmt niemanden
auf der Straße traf, denn die Jahre der langen Kneipennächte waren
vorbei für Gösta und Regine, Sabine und Lars. Es war, als
hätte ich schon bei der Auswahl meiner Möbel darauf geachtet,
dass sie weder besonders sperrig noch schwer waren: Das Bett
gehörte Arthur, doch ich besaß ein Schlafsofa, ein Designerstück
aus gepresstem Styropor, das weniger als 25 Kilo wog und sich
mühelos die Treppen hinuntertragen ließ. Die Beine meines
Schreibtisches hatte ich bereits am Vorabend abgeschraubt, und
der Rest kam in Umzugskisten. Nach kaum einer Stunde war
alles in dem Renault-Rapid-Transporter verstaut, den ich mir vor
einigen Wochen gekauft hatte. Ich nahm mir sogar die Zeit,
Arthurs Möbel zu verrücken und die Bücher in den Regalen umzustellen,
sodass ihm meine Abwesenheit vielleicht nicht sofort
auffallen würde, wenn er von seiner Ausstellungseröffnung in
München zurückkam.
Es war noch nicht sechs Uhr, als ich die Türen zur Ladefläche
meines Transporters endgültig schloss. Beim Abbiegen von der
Bellealliancestraße auf die ausgestorbene Fruchtallee blink te ich
nicht und bremste kaum. Als ich wenig später auf die A 23 fuhr
und in Richtung Husum/Heide Gas gab, war ich mir sicher,
dass ich diese Stadt nie wiedersehen würde.
Zehn Jahre hatte ich hier gewohnt, im Schanzenviertel, war
ganz klassisch zum Studieren hierhergezogen und hatte dann
miterlebt, wie alles langsam sauberer wurde, ruhebedürftiger,
kurz: bürgerlicher; wenngleich sich in den ersten Jahren niemand
traute, das so zu nennen, bis dann alle plötzlich dauernd dieses
Wort benutzten, wie um sich zu beweisen, dass das nichts
Schlimmes sei.
Auf die Rehabilitierung des Wortes bürgerlich folgte Nachwuchs.
Eines der mit uns befreundeten Paare, Gösta und Regine,
hatte vor einigen Jahren mit einem Hund angefangen, den sie
Leander nannten, woraufhin Lars und Sabine mit einem Kind
konterten, das sie Friedrich nannten. Als Lars und Sabine dann
ein zweites Kind bekamen, von dem ich mir nie merken konnte,
ob es Sophia-Marie oder Maria-Sophie hieß, blieb Gösta und
Regine nichts anderes übrig, als mit dem kleinen Maximilian,
wenn schon nicht gleichzuziehen, so doch einen Anschlusstreffer
zu erzielen.
Mit den Kindern, dem Hund und den mit ihnen unternommenen
Landausflügen griff eine Begeisterung für Produkte aus
der Region um sich. Das Alte Land zum Beispiel, aus dem man
mit Äpfeln oder Kirschen wiederkehrte, die allein deswegen besser
schmeckten, weil man das Alte Land fast sehen konnte,
wenn man an der Elbe flussabwärts blickte und sich vorstellte,
dass da hinter der Airbuswerft Dinge auf Bäumen wuchsen.
Einen Hund wollten wir trotzdem nie. Ich hatte Angst vor Hunden,
Arthur Angst um seine Gemälde, die er »Arbeiten« nannte.
Seit einigen Jahren malte Arthur nur noch monochrom.
Warum ich zehn Jahre hier gelebt und mich dann heimlich
aus dem Staub gemacht hatte, mag schwer zu erklären sein -
un üblich ist es hingegen nicht. Menschen tun so was. Viele.
Jeden Tag. Worüber ich mir Gedanken machte, war vielmehr die
Frage, warum es ausgerechnet jetzt passiert war, und einer der
Gründe war sicherlich der Heilige Abend, den wir im letzten
Jahr bei Regine und Gösta verbracht hatten, zusammen mit Sabine
und Lars. Seit Regine und Gösta den kleinen Maximilian
hatten, waren sie sehr traditionsbewusst geworden. Sie hatten
uns aus dem Wohnzimmer ausgesperrt, in das wir erst hinein durften,
nachdem Gösta die echten Kerzen an dem Baum entzündet
und eine Glocke geläutet hatte. Dabei war ihre Wohnung
für solche Zugangsbeschränkungen eigentlich zu klein, sodass
wir uns mit den immer unruhiger werdenden Friedrich, Maximilian
und Maria-Sophie in der Küche drängelten und Gebäck
aßen, das schmeckte wie anderes Gebäck auch, aber nach irgendwelchen
speziellen Oma-Rezepten gebacken war. Hund
Leander lag so apathisch unter dem Küchentisch, dass ich mir
vorstellte, sie hätten ihm etwas Beruhigendes ins Futter getan -
und mir dasselbe wünschte. Noch enger wurde es dadurch, dass
Gösta sich einen Weinkühlschrank mit stoßgedämpften Regalen
und fünf individuell regelbaren Klimazonen gekauft hatte. Gerade
als ich fragen wollte, ob wenigstens ich in das Weihnachtszimmer
hinein- oder eigentlich nur hindurchdürfte, um auf dem
Balkon eine Zigarette zu rauchen, bimmelte es. Gösta las die
Weihnachtsgeschichte, schien nicht zu wissen, wo er aufhören
sollte und las viel zu lang, bis er verwirrt an der Stelle abbrach,
wo der alte Simeon das Jesuskind im Tempel von Jerusalem auf
die Arme nimmt, während ich auf die Balkontür starrte. Dann
wurden die Geschenke verteilt, und Gösta bekam etwas von
Regine.
»Oh, eine Salzmühle, ist die etwa mit ...«
»... mit Peugeot-Mahlwerk, Edelstahl. Alle anderen taugen ja
nichts«, sagte Regine. Das Wort Peugeot-Mahlwerk löste bei Sabine
und Lars emphatisches Nicken aus, ich hingegen wunderte
mich darüber, wie klein die Salzmühle war, wo Gösta doch in
den letzten Jahren, wenn er für uns gekocht hatte, nach dem Servieren
für jeden aus einer Mühle von der Größe und dem Aussehen
einer Gartenschach-Figur Pfeffer auf den Teller geknarzt
hatte. Ich überlegte, ob er ab jetzt zwei Mal die abendliche
Tischgesellschaft umrunden würde, ein Mal mit Pfeffer, ein Mal
mit Salz, und musste dabei so abwesend ausgesehen haben, dass
Regine einen Versuch unternahm, mich in das Gespräch einzu-
binden, indem sie sagte:
»Da kann Gösta sein Himalaja-Salz reinfüllen.«
»Himalaja-Salz?«
»Salz ist nicht gleich Salz, da gibt es große Unterschiede. Unser
normales Salz ist doch total industriell verunreinigt.«
»Und Himalaja-Salz?«
»Das ist Ur-Salz. Das kommt direkt aus der Natur.«
»Und in der Natur ist alles immer so sauber?«
»Im Himalaja gibt es keine Umweltgifte. Deswegen löst das
keine Allergien aus. Bei den Kindern. Und außerdem schmeckt
es besser, deswegen braucht man weniger davon.«
»Salz besteht zu 98 % aus Natriumchlorid, egal, ob es aus
dem Himalaja oder aus Bad Reichenhall kommt. Und das
schmeckt immer gleich«, sagte ich, denn ich wusste das, ich
hatte das recherchiert für eine meiner letzten Übersetzungen.
»Dann ist das halt mein subjektiver Geschmack«, sagte Regine
in einer Weise lächelnd, als wüsste sie, dass ich darauf
nichts antworten konnte. Gegen Geschmack, hier sogar subjektiven
Geschmack, gefühlten Geschmack sozusagen, kam niemand
an.
»Was ist Himalaja?«, fragte Friedrich und konnte nicht ahnen,
wie dankbar ich ihm dafür war, dass er dieses Gespräch auf den
gedanklichen Horizont eines Dreijährigen zurückholte. Regine
erklärte ihm engagiert nickend, dass das Berge seien, Hi-ma-laja,
gaanz weit weg und soooo hoch, hmhmm!, während ich auf
den Balkon ging und gleich zwei Zigaretten rauchte.
Es überraschte mich, dass Lars, als er zu mir herauskam, um
noch eine Flasche Sekt zu holen, von meiner Zigarette ziehen
wollte.
»Warum hat Gösta den Sekt nicht in seinem Weinkühlschrank
kalt gestellt?«, fragte ich.
»Ich glaub, der ist voll«, sagte Lars.
»Alle fünf Klimazonen?«
»Alle fünf individuell regelbaren Klimazonen«, sagte er und
zog noch einmal. »Wein-Klima-Schrank übrigens, nicht Wein-
Kühl-Schrank, schließlich muss nicht jeder Wein gekühlt werden.
« Dann zog er ein drittes Mal und ging wieder hinein, bevor
ich in der Halbdunkelheit erkennen konnte, ob er bei dem letzten
Satz gegrinst hatte oder nicht.
Als ich wieder hineingegangen war, hatte Regine gerade ihre
»Ich mag den Winter, weil man im Sommer wegen der ganzen
Straßencafés nirgendwo durchkommt«-Suada begonnen. Ich erinnerte
mich daran, dass ich im letzten Sommer im Café unter
den Linden beobachtet hatte, wie Regine mit ihrem dreirädrigen
Rennkinderwagen die Reihen der Cafétische und Stühle sprengte
wie ein Streitwagen des Pharao eine Kompanie feindlicher
Soldaten. Ich sagte, dass ich den Winter mochte, weil ich bis
neun schlafen könne, ohne vom Licht geweckt zu werden, und
Regine sagte: »Das würde ich auch gern mal wieder, aber das ist
mit dem kleinen Süßen halt nicht drin.«
»Ich kann mir eben selbst einteilen, wann ich arbeite, was ist
daran so schlimm?«, sagte ich, denn mich ärgerte der mitleidige
Ton in ihrer Stimme.
»So hab ich das doch gar nicht gemeint. Im Gegenteil, ich
wünschte mir manchmal, ich wäre so literaturverrückt wie du.«
»So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Ich hab das ja auch nicht so gemeint, habe ich doch gerade
schon gesagt«, sagte Regine dann. »Ich bewundere das.«
An diesem Weihnachtsabend hatte ich zum ersten Mal das
Gefühl, dass ich von diesen Menschen nicht einfach nur genervt
war. Ich hatte Heimweh, obwohl ich seit zehn Jahren hier zu
Hause war, Heimweh nach einem Ort, von dem ich nicht wusste,
wo er war.
Roman
© Verlag Antje Kunstmann
... weniger
Autoren-Porträt von Kristof Magnusson
Kristof Magnusson, geboren 1976 in Hamburg, machte eine Ausbildung zum Kirchenmusiker, arbeitete in der Obdachlosenhilfe in New York, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schreibt Romane, Theaterstücke und übersetzt aus dem Isländischen. Er lebt in Berlin. Bei Kunstmann sind von Kristof Magnusson erschienen "Das war ich nicht" und "Arztroman".
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristof Magnusson
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2010, 5. Aufl., 288 Seiten, Masse: 14,5 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Verlag Antje Kunstmann
- ISBN-10: 3888975824
- ISBN-13: 9783888975820
- Erscheinungsdatum: 07.01.2010
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