Das Paradies war meine Hölle
Als Kind von Missionaren missbraucht
Christina Krüsi wächst als Kind von Missionaren im Urwald Boliviens auf. Doch dann muss die Familie ins Basiscamp umziehen, wo das Mädchen an geheimen Ritualen teilnehmen muss. Kollegen ihres Vaters bestimmen Christina zur...
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Produktinformationen zu „Das Paradies war meine Hölle “
Christina Krüsi wächst als Kind von Missionaren im Urwald Boliviens auf. Doch dann muss die Familie ins Basiscamp umziehen, wo das Mädchen an geheimen Ritualen teilnehmen muss. Kollegen ihres Vaters bestimmen Christina zur "Auserwählten" - von nun an ist sie Freiwild und wird über Jahre hinweg missbraucht.
Klappentext zu „Das Paradies war meine Hölle “
Christina Krüsi verbringt die ersten Jahre ihrer Kindheit wie im Paradies. Ihre Eltern sind Missionare mitten im Urwald Boliviens. Doch die Welt verdüstert sich schlagartig, als ihre Familie ins Basiscamp umzieht, wo das Mädchen an geheimen Ritualen teilnehmen muss. Kollegen ihres Vaters bestimmen Christina Krüsi und einige ihrer Mitschüler zu »Auserwählten«, erkennbar an einem Schnitt an der Innenseite des Knies. So wird sie zum Freiwild und über Jahre hinweg missbraucht. Erst als sie erwachsen ist, kann Christina Krüsi die traumatischen Erlebnisse aufarbeiten. Heute setzt sie sich dafür ein, dass ihre Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt, um so anderen zu helfen, denen es ähnlich erging.
Christina Krüsi verbringt die ersten Jahre ihrer Kindheit wie im Paradies. Ihre Eltern sind Missionare mitten im Urwald Boliviens. Doch die Welt verdüstert sich schlagartig, als ihre Familie ins Basiscamp umzieht, wo das Mädchen an geheimen Ritualen teilnehmen muss. Kollegen ihres Vaters bestimmen Christina Krüsi und einige ihrer Mitschüler zu "Auserwählten", erkennbar an einem Schnitt an der Innenseite des Knies. So wird sie zum Freiwild und über Jahre hinweg missbraucht. Erst als sie erwachsen ist, kann Christina Krüsi die traumatischen Erlebnisse aufarbeiten. Heute setzt sie sich dafür ein, dass ihre Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt, um so anderen zu helfen, denen es ähnlich erging.
Lese-Probe zu „Das Paradies war meine Hölle “
Das Paradies war meine Hölle von Christina Krüsi mit Gudrun Ruttkowski Vorwort
Sprich, Christina, sprich!«, so tönte es durch Christinas Kopf, Jahre nachdem sie ihre Vergangenheit ans Licht geholt und aufgearbeitet hatte. Sie sträubte sich vehement dagegen und wollte ihr neues, glückliches Leben einfach nur genießen. Doch es war richtig, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, denn egal wie das eigene Leben verlaufen ist, beim Lesen denkt man unwillkürlich: »Wenn sie das geschafft hat, schaffe ich es auch!«
Wo man im Leben auch steht, welche Probleme einem über den Kopf wachsen, es gibt Lösungen. Immer. Christina beweist es. Sie ist heute gesund, lebt in einer glücklichen Partnerschaft, weiß ihre Familie hinter sich, ist finanziell frei, beruflich erfolgreich und strahlt inneren Frieden aus. Ein großes Anliegen, für das sie sich engagiert, ist der Schutz aller Kinder vor Gewalt und Missbrauch.
Viele der in diesem Buch erwähnten Personen brauchen ebenfalls besonderen Schutz. Deshalb werden sie unter Pseudonymen geführt. Einige Situationen wurden leicht abgewandelt, Ort und Zeit angepasst. Die Organisation Wycliffe arbeitet Hand in Hand mit der Sprachforschungsorganisation SIL zusammen, beide wurden von der gleichen Gruppe gegründet. Der Einfachheit halber unterscheiden wir nicht und nennen nur Wycliffe. Es lohnt sich, seine Ängste zu überwinden und zu reden: Aufgrund der Aussagen einiger Opfer hat Wycliffe inzwischen ein vorbildliches Kinderschutz-Programm innerhalb der Organisation aufgebaut. Möge dieses Buch jedem Mut machen, sein Leben zum Positiven zu verändern.
Gudrun Ruttkowski
Xaume - Hallo!
... mehr
Es blieb mir keine Zeit, die Sonne zu begrüßen, denn ich musste dringend aufs Klo. Barfuß hüpfte ich von Stein zu Stein - nur nicht wieder rote Füße kriegen! Ich war noch müde und wollte so schnell wie möglich in meiner Hängematte weiterträumen. Die Tür des kleinen WC-Häuschens stand einen Spaltbreit offen. Ich blinzelte hinein, um sicherzugehen, dass sich dort kein wildes Tier versteckt hielt. Schlangen, Fledermäuse oder kleine Wildschweine waren hier häufige Besucher. Meine Mutter hatte mir schon von klein an eingetrichtert, das WC nie ohne Kontrollblick zu benutzen. Alles okay da drin. Ekelhafte Duftschwaden stiegen mir aus dem tiefen Loch entgegen.
Der Gang aufs Klo war immer ein kleines Abenteuer, vor allem am Morgen mit leerem Magen. Furcht und Ekel begleiteten mich, aber auch eine klein wenig Neugier, welches Tier mir heute begegnen würde. Wie konnten die Tiere bei diesem bestialischen Gestank nur friedlich schlafen?
Erleichtert schloss ich die Tür wieder hinter mir. Der frische Morgenwind blies durch den kleinen Bananenhain in unserem Garten. »Wann werden diese grünen Bananen endlich gelb? Ich muss unbedingt bei der Ernte dabei sein!«
Energisch warf ich meine zerzausten Haare aus dem Gesicht und blickte zum Himmel. Goldgelbe und zartrosafarbene kleine Wolken spielten ihr tägliches Spiel zum Sonnenaufgang. Für einige Augenblicke konnten sie mich ablenken, bis es auf einmal laut hinter mir krähte. Aufgeregt scharten sich unsere braunen Hühner um ihren stolzen Hahn; er warf seinen blutroten Hahnenkamm in Position und starrte mich her ausfordernd an.
Ich begrüßte ihn und seine Meute und schlich zu unserem Haus zurück. Ein großes Wäschebündel lag neben der Tür, ein Bettlaken prall gefüllt mit unseren schmutzigen Kleidern. Ich machte einen Freudensprung und klatschte in die Hände.
Waschtag!
Im Haus war alles ruhig, nur aus dem Patio hörte ich ein Rascheln. Wie jeden Morgen las Papa bereits in der Bibel. Leise schlüpfte ich aus meinen Flipflops, hob das Moskitonetz leicht an und kroch in die Hängematte. Ehe ich zwei Gedanken aneinanderreihen konnte, schlummerte ich wieder ein.
Der Geruch von frischem Brot stieg mir in die Nase. Ich liebte diesen Duft und konnte es kaum erwarten, bis Papa das warme Brot anschnitt. Die Scheiben saugten den goldgelben Honig auf wie ein Schwamm. Die getränkte Brotschnitte zerschmolz geradezu auf meiner Zunge. Frisches Brot mit Honig hätte ich am liebsten zu jeder Mahlzeit gegessen.
Bis wir für unseren Gang zum Fluss bereit waren, stand die Sonne schon hoch am wolkenlosen Himmel. Ich hielt meine kleine Schwester Eva an der Hand, doch mein Bruder Philip weigerte sich mitzukommen.
»Ich will mit Hernando spielen und mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen«, sagte er und stampfte trotzig auf den Boden. »Wäsche ist was für kleine Mädchen!«
Vater willigte ein und nahm Philip mit ins nahe gelegene San Lorenzo, ins Dorf der Indianer. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, was Papa dort arbeitete. Ich spürte aber, dass er von den Indianern hoch geachtet, ja geradezu verehrt wurde. Mama hievte das schwere Wäschebündel auf den Kopf und machte sich auf den Weg, meine Schwester und ich trabten ihr auf dem schmalen Dschungelpfad hinterher. Die Indianerfrauen aus dem Dorf waren schon fleißig beim Waschen. Sie schlugen die nassen Kleider über die großen flachen Steine, kneteten sie mit ihren kräftigen Händen und plauderten angeregt. Während die jüngeren Frauen kreischten und kicherten, badeten ihre kleinen Kinder nackt im knietiefen Wasser und vergnügten sich lautstark.
»Xaume - Hallo!«, begrüßte uns die Gruppe freudig. Mama konnte sich mittlerweile gut auf Chiquitano unterhalten. Damit hatte sie sich Respekt unter den Frauen verschafft. Meine beste Freundin Juanita rannte mir entgegen und zog mich zum Ufer. »Christina, komm spiel mit uns im Wasser!«
Maria, ein etwa zehnjähriges Mädchen, schnappte sich meine kleine Schwester und hob sie auf ihren Arm. Immer wieder strich sie über ihren Kopf. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass ihr blondgelocktes Haar echt war. »Bitte darf ich auf sie aufpassen?«, bettelte sie. Unsere Mutter freute sich, dass Maria mit Eva spielte und sie in Ruhe die Wäsche waschen konnte. Der glasklare, seichte Fluss war ideal zum Baden.
Das dichte Blätterdach des Dschungels schirmte die brütende Sonne ab. Wir sprangen laut kreischend von den großen Steinen ins Wasser und ließen uns von der leichten Strömung treiben. Mit meinen fünf Jahren konnte ich recht passabel schwimmen, denn wir badeten täglich im Fluss. Juanita begann, mit bloßen Händen im weichen Sandboden eine Mulde zum Planschen zu schaufeln. Ich half ihr, bald suhlten wir uns im warmen Wasser, bewarfen uns mit Sand und tollten herum. Die Zeit verflog im Nu, und ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser, flink und leicht.
Mama rief uns zu sich, sie hatte die Wäsche eingeweicht, und wir durften sie nun mit Kernseife bearbeiten. Wild stampften wir mit den Füßen auf den Kleidungsstücken herum, bis sie schäumten. Der herrlich luftige Seifenschaum lockte uns, lachend wälzten wir uns ausgelassen darin. Wir rissen große weiße Wolken heraus und warfen sie in den blauen Himmel. Ich liebte den Waschtag über alles.
Die sauberen Kleider breiteten wir zum Trocknen auf den glühend heißen schwarzen und roten Felsen aus. Mama hatte eine große orangerote Papaya aus unserem Garten dabei, die wir mit Heißhunger verschlangen, um gleich wieder weiterzuplanschen, bis meine Mutter uns rief. Dutzende grüne Papageien flogen über unsere Köpfe hinweg. Ich steckte mir eine Feder ins Haar.
»Ist die Wäsche wirklich trocken, Mama? Ich will keine Würmer im Bein haben!«, drängte ich meine Mutter. Denn wenn die Kleider nicht ganz trocken waren, legten Fliegen ihre Eier auf der feuchten Wäsche ab. Wurde auch nur eine kleine feuchte Stelle übersehen, konnten die winzigen Eier überleben und sich unbemerkt in unserer Haut einnisten, um sich darin zu einer hässlichen Made zu entwickeln.
Nur wenige Tage zuvor hatte ich bei einer kleinen Operation zugeschaut, weil sich eine Made unter der Haut eines Chiquitano- Mädchens zu schaffen gemacht hatte. Es begann mit einer Rötung auf ihrem Bein, dann schwoll es an und juckte fürchterlich. Auf der Beule, die sich nun entwickelte, war ein kleines Loch zu erkennen gewesen, wo der schwarze Kopf der Made immer wieder Luft holte. Das Mädchen musste sich einige Tage gedulden, bis das Ungetier entfernt werden konnte.
Mein Vater legte ein Tuch unter ihr Bein, wischte die Stelle mit Alkohol ab und strich Öl auf die gerötete Beule. Nach kurzer Zeit kam der Kopf des fetten Boro zum Vorschein, mein Vater drückte an der Beule - und schwupps, schoss das Tier heraus.
Nun hielt Mama mir die Wäsche hin, damit ich fühlen konnte, dass alles bestens trocken war. Müde, aber glücklich machten wir uns mit der frischen Wäsche auf den Heimweg. Papa wartete bereits in der Küche auf uns. Er hatte Reiseintopf mit Hähnchenfleisch und Kochbananen zubereitet. Wir setzten uns gleich an den gedeckten Tisch, und Papa betete: »Lieber Vater im Himmel, danke, dass wir immer genug zu essen haben, und hilf allen, die hungern müssen. Danke, dass wir gesund sind, und segne dieses Essen. Amen.«
Beim Essen erzählten wir von unseren Erlebnissen. Meine Augen fielen schon bald zu, doch erst musste das dreckige Geschirr mit Seife und abgekochtem Wasser aus dem Fass gewaschen werden. Mein Bruder und ich halfen Mama, damit wir die Fortsetzung von Papas selbst erfundener Gutenachtgeschichte hören durften.
Jeden Abend saß er mit uns in der Hängematte und erfand eine weitere spannende Folge. Die Geschichte endete auch diesmal wie immer: »Und dann ging Hermann Kralle, der große braune Bär, in seine warme Höhle, wo er friedlich und zufrieden bis zum nächsten Morgen schlief.«
Und wie so oft sagte er zum Schluss: »Wenn ihr wollt, dürft ihr ins Bett gehen, wenn ihr nicht wollt, müsst ihr ins Bett gehen!«
Wir stöhnten und gehorchten widerwillig.
Mein Bruder Philip teilte mit mir ein kleines, fast leeres Zimmer. Das einzige Fenster war stets mit einem Holzladen verschlossen. So blieb es kühl. Ein grünrosafarbenes Plastikflugzeug, der ganze Stolz meines Bruders, thronte auf dem Regalbrett, daneben einige Bücher, sonst nichts. Es war bereits stockdunkel, und wir fielen bald in tiefen Schlaf.
Eines Tages mussten wir unsere Siebensachen zusammenpacken. Philips Einschulung in der großen Missionsbasis Tumi Chucua stand bevor. Wir würden von nun an sehr viel weniger Zeit in unserem Chiquitano-Dörfchen San Lorenzo verbringen. Ich wollte nicht weg und ging mit meinen fünf Jahren in den Tagen vor dem Umzug nicht von Mamas Seite. Als hätte ich geahnt, was auf mich zukommen würde.
Doch bald landete die kleine Cessna auf der Piste, wo das ganze Dorf versammelt war. Die Chiquitanos ließen sich diese Abwechslung nicht entgehen und schauten alle zu, wie die Maschine über die holprige Landebahn ratterte. Als sich Mama von den Einheimischen verabschiedete, mahnte eine alte Frau, sie solle gut auf Manuca aufpassen. »Sie heißt nicht mehr Manuca, wir nennen sie schon lange Christina.«
Guten Tag, ich bin die Wahrheit
Guten Tag, ich bin die Wahrheit.«
»Verschwinde, Wahrheit, geh woandershin! Ich kann dich nicht ertragen. Du bist mir zu schwer, zu hässlich, abscheulich, ekelhaft und dunkel. Verschwinde!«
Trotz aller Gegenwehr wusste ich intuitiv, dass mir eine Entscheidung bevorstand. Mein Körper war nicht mehr bereit, mein bisheriges Schweigen zu akzeptieren. Das Maß war übervoll. Die Wahrheit ließ nicht locker. Höllische Angst stieg in mir auf. Angst, die mich jahrelang gelähmt hatte, tobte auf einmal in meinem Kopf.
»Ich kann nicht sprechen! Ich kann die Verbrecher nicht verraten. Ich kann nicht gegen sie aussagen. Sie werden sich rächen! « Da war ich mir sicher. Packte ich aus, brachte ich meine Familie damit in Gefahr - meine Kinder, das Liebste, das ich hatte. Niemals dürfte ich diese Gewalt provozieren. Ich musste sie schützen, das war meine wichtigste Pflicht.
Doch ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht länger schweigen.
Im Schlafzimmer war es dunkel, ich lag alleine mit der Wahrheit auf dem Bett und ließ die vergangenen Stunden wieder und wieder an mir vorbeiziehen: Nach einer Joggingrunde war ich im Garten meiner Trainingskollegin ohnmächtig zusammengebrochen. Als ich wieder zu mir kam, war sofort klar, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich hatte meinen Mund geöffnet, um zu sprechen. Doch kein Wort war über meine Lippen gekommen. Panik hatte mich erfasst - dieses Gefühl war mir nur allzu gut bekannt. Meinen Körper konnte ich kaum mehr spüren, es war, als schwebte ich nach Hause. Meine Zunge begann sich in meinem Mund hin und her zu bewegen. Wie früher, als ich als Mädchen in meiner Geheimsprache mit mir selbst gesprochen hatte, ohne dabei einen Laut von mir zu geben. Damals, als ich es nicht gewagt hatte, laut zu sprechen.
»Guten Tag, ich bin die Wahrheit.«
Erschöpft drehte ich mich auf dem Bett zur Seite und machte mich klein. Leise schlich sich nun das schlechte Gewissen ein und gesellte sich zur Wahrheit und zur Angst. Die eingeimpften Schuldgefühle machten sich in meinen Gedanken breit. Über all die Jahre hatte ich sie nie abschütteln können. War ich vielleicht doch selbst schuld am Elend in meiner Kindheit? Was sollte ich nun tun? Was meinem Mann sagen? Und wie?
Tränen rannen unaufhaltsam über meine glühenden Wangen. Würde ich der Belastung standhalten, den Kampf überstehen? Ich traute der Wahrheit nicht - niemandem traute ich. Aber ich war nicht alleine. Ich hatte Verantwortung für meine Kinder zu tragen. Als Vorbild wollte ich ihnen eine wahrhaft gute Mutter sein. Wie konnte ich von ihnen Wahrheit verlangen und gleichzeitig meine eigene verschweigen? »Christina, du musst die Wahrheit aussprechen, für deine Kinder. Du darfst ihnen dieses Erbe nicht hinterlassen. Es ist deine Pflicht, dein Leben zu ordnen!«, ermahnte ich mich selbst.
Ich war Mutter von zwei Söhnen und lebte mit meiner Familie in einem schönen alten Haus in der Schweiz. Mit meiner Arbeit als Lehrerin und Künstlerin trug ich zum Unterhalt unserer vierköpfigen Familiengemeinschaft bei. Ich hatte es geschafft, mich im Alltag zu befreien. Meine Familie war mein zweites Leben, meine Kunst mein Ventil. Ein Leben, das ich nicht aufs Spiel setzen wollte. Doch jetzt, in diesem wunderschönen Sommer 2002, saß ich in der Falle und wusste, dass ich keine Wahl hatte. Die Wahrheit musste endlich aus mir heraus. Ich würde für meine Kinder kämpfen, sie beschützen und ihnen ein Vorbild sein, das schwor ich mir. Mit dieser Entscheidung schlief ich ein.
Beim Erwachen kehrte meine Stimme zurück. Zuerst nur stotternd und brüchig, dann immer klarer und kräftiger. Nun wusste ich endgültig, was ich zu tun hatte: »Guten Tag, Wahrheit, komm in mein Leben!«
Diesem inneren Marathon folgte ein heftiger Migräneanfall, was mir als gutes Alibi für meinen Zusammenbruch diente.
Ich wagte es nicht, meinem Mann die Wahrheit zu sagen. Wir waren seit 13 Jahren verheiratet, und ich hatte die ganze Zeit über die Wahrheit geschickt vertuscht und verheimlicht. Es würde ihn zutiefst kränken und verletzen, dass ich in dieser Hinsicht kein Vertrauen zu ihm hatte aufbauen können. Früher oder später würde er es erfahren. Aber nicht als Erster. Verzweifelt suchte ich nach der richtigen Person, der ich ein kleines bisschen Vertrauen schenken konnte. »Vielleicht Gudrun«, schoss es mir durch den Kopf.
Ich kannte sie erst seit einigen Monaten vom Tischtennisklub. Doch vor wenigen Tagen war sie bei mir zu Besuch gewesen. In meinem Atelier hatte sie beim Anblick meines Porträtfotos in einem Zeitungsartikel laut aufgelacht: »Das bist nicht du! Du bist eine andere!«
Ich verstand ihre Reaktion nicht und fühlte mich sogar beleidigt. Aber ich hatte nicht gewagt, sie zu fragen, was sie damit meinte. Nun fragte ich mich, ob sie etwas ahnte? Lange wog ich ab, überlegte hin und her und entschied mich dann, ihr mein so gut gehütetes Geheimnis anzuvertrauen. Vielleicht weil sie nicht viel mit Religion zu tun hatte - denn diese war ein Teil meines Geheimnisses. Trotzdem fiel es mir unendlich schwer. Wie sollte ich beginnen?
Die Angst, dass sie mir nicht glauben würde, wollte die Oberhand gewinnen. Doch ich hatte mich entschieden. Ich nahm allen Mut zusammen und lud sie zum Kaffee ein. Ich würde die ganze Geschichte bagatellisieren, um zu sehen, ob Gudrun der Sache gewachsen war. Ich würde ihr nur in kleinen Portionen einzelne Sequenzen erzählen. Mit wachem Auge würde ich jede ihrer Bewegungen beobachten und genau analysieren. Es war mir bewusst, dass ich sonst niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen könnte. Sie war meine einzige Hoffnung - es musste klappen!
Mir wurde fast schwarz vor Augen, und mein ganzer Körper war angespannt, als ich schüchtern zu reden begann. »Gudrun, ich muss dir etwas erzählen. Etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.« Innerlich zitterte ich. Mit aller Gewalt versuchte ich die Kontrolle über meinen Körper und meine Gefühle nicht zu verlieren.
Als ich mich wieder im Griff hatte, rückte ich vorsichtig mit einem Teil der Wahrheit heraus. »Ich bin doch in Bolivien im Urwald aufgewachsen. Als Missionarstochter. Wir lebten im Amazonasgebiet bei einem Indianerstamm, den Chiquitanos, und dann auf einer Missionsstation. Auf der Basis - nicht im Stamm - sind schreckliche Dinge mit uns Kindern gemacht worden. Es waren drei Täter, manchmal auch mehr. Sie waren so brutal zu uns. Und keiner hat's gemerkt.«
Gudrun sah mich prüfend an.
»Nun ja, ich hab's überlebt, und mir geht es gut, das siehst du ja. Aber wenn ich diese Dinge meinen Eltern erzählen würde, würden sie mir niemals glauben.«
Keine Reaktion.
Mir stockte der Atem, glaubte sie mir etwa nicht? Schockartig erinnerte ich mich, wie ich als 16-Jährige meiner Mutter die Wahrheit erzählen wollte. Damals hatte ich versucht, mich an sie heranzutasten. Der Druck, alleine mit der Wahrheit zu sein, hatte mir über Wochen hinweg den Appetit geraubt. Ich hatte damals versucht, mich ihr gegenüber zu öffnen, vergeblich.
Und nun? Würde Gudrun mir jetzt glauben?
Lange sagte sie nichts, sondern betrachtete mich mit ihren wunderschönen hellblauen Augen. Dann stand sie auf. Ruhig und gelassen nahm sie mich in die Arme. »Christina, deine Bilder sprechen für sich. Wenn du mir vertrauen willst, dann erzähl mir alles der Reihe nach.«
Das Eis war gebrochen. Aus mir sprudelten die Worte nur so heraus. Ich versuchte mich klar auszudrücken, schweifte immer wieder ab, Tränen quollen aus meinen eingefrorenen Augen, bis ich nur noch schreien und schluchzen konnte. Gudrun schwieg und hielt mich fest in den Armen, und irgendwann beruhigte sich mein Atem. Eine Welle der Erleichterung und gleichzeitig unendlicher Schmerz überkamen mich.
Ankunft in Bolivien
Tumi Chucua lag etwa zwanzig Meter erhöht an einem idyllischen See mit Blick auf eine langgezogene grüne Insel. Es war der ideale Ort für ein Dorf, denn im Dschungel waren in der Regenzeit Überschwemmungen an der Tagesordnung. Von dieser Basis aus hatten mein Vater und andere Missionarspioniere Erkundungsreisen in den Urwald Boliviens unternommen auf der Suche nach Indianerstämmen, die noch keine Übersetzung der Bibel in ihrer Muttersprache kannten. Meine Eltern fühlten sich von Gott berufen, dies für das große Volk der Chiquitanos zu tun. In einer ihrer Siedlungen, in San Lorenzo, wollte mein Vater seine Sprachforschungen und seine Missionarstätigkeit beginnen.
Die Dorfbewohner hatten, wie man mir später erzählte, vor der Ankunft meiner Eltern nur Kontakt zu bolivianischen Händlern, den spanisch sprechenden Mestizen, mit denen sie hin und wieder einfache Dinge tauschten, sowie mit missionierenden Jesuitenpriestern. Doch eine komplette weiße Familie war für sie völlig neu. Einige Dorfbewohner vermuteten, dass diese Besucher nur Geister seien. Aus Angst hatten sie sich geweigert, meinen Vater aufzunehmen. Er hatte es nicht leicht gehabt mit seinen noch spärlichen Kenntnissen ihrer Sprache, bei ihnen Gehör zu finden. Erst nach langwierigen Verhandlungen hatten sie eingewilligt, außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flusses, eine Hütte für ihn, seine Frau und seinen neun Monate alten Sohn Philip zu bauen. Sie glaubten, dass diese Weißen nicht lange bleiben würden, und waren überzeugt, die Wassergeister würden sie auffressen. Mein Vater musste als Erstes eine Landebahn roden lassen, um die Reise in den Urwald für die Familie zu erleichtern. Das war den Chiquitanos recht, so konnten sie etwas Geld verdienen.
Kaum hatten sich meine Eltern etwas eingelebt, kam meine Mutter erneut in andere Umstände. Als sie hochschwanger war, erfuhr sie aus ihrer Heimat, dass ihre Mutter schwer erkrankt war. Außerdem hatte sie wegen der Komplikationen bei Philips Geburt große Angst. Deshalb reiste sie kurz vor meiner Geburt in die Schweiz. So kam ich 1968 in Zürich auf die Welt. Bereits fünf Wochen später kehrte sie mit mir und Philip nach San Lorenzo zurück.
Dort verbrachte ich als Kleinkind mit meiner Familie viel Zeit im tiefsten Dschungel im Stammesgebiet der Chiquitanos. Unser Haus stand in der Nähe der Dorfgemeinschaft von dreizehn Familien in San Lorenzo. Dort fühlte ich mich geborgen und geschützt. Meine Eltern nahmen uns auf Reisen durch das Indianergebiet mit. Wir erlebten Abenteuer und wuchsen im Einklang mit der Natur auf; der Tod war wie das Leben jederzeit präsent. Kinder und kranke Menschen starben. Es gehörte zum Leben dazu.
Manuca
Mein Leben schien von Anfang an gekennzeichnet zu sein. Meine Eltern hatten mir den Namen Manuela Christina Krüsi gegeben. »Manuela« bedeutet »Gott ist mit uns«. Doch die Chiquitanos lachten und kicherten jedes Mal über meinen Namen, wenn sie meine helle Haut bewunderten. Anfangs dachten meine Eltern kaum darüber nach, aber nach ein paar Wochen begann sich mein Vater über das Gelächter zu ärgern. Immer wieder versuchte er mit seinem schmalen Chiquitano-Wortschatz herauszufinden, worüber sie sich amüsierten. Er bemühte sich vergeblich. Erst nach einiger Zeit konnte er die Indianer dazu bringen, ihre unhöfliche Reaktion zu erklären.
Der Wortführer meinte, dass die Mestizos - die spanisch sprechenden Bolivianer - den ähnlich klingenden Übernamen »Manuca« für junge Frauen benutzten, wenn sie hinter ihnen her waren. Sprach also ein Mann eine Frau mit »Manuca« an, so war das eine Einladung, mit ihm zu schlafen. Und das taten die Mestizos mit den Indianermädchen oft.
Daraufhin entschlossen sich meine Eltern, mich bei meinem zweiten Vornamen zu nennen. Allen Verwandten und Freunden erzählten und schrieben sie, dass sie mich von nun an Christina, aber ohne »h«, nennen würden. Dieses spanische »Cristina« gefiel ihnen besser. Es dauerte lange, bis alle vollends begriffen hatten, dass es ihnen ernst damit war.
Tumi Chucua
Nun war es also so weit: Der Umzug in die Basis, nach Tumi Chucua, stand an, weil mein Bruder eingeschult werden sollte. Obwohl ich noch sehr klein war, erlebte ich San Lorenzo als sicheren Ort - als meine Heimat. Es war mir bewusst, dass wir in diesem Dorf Fremde waren, anders als die anderen Kinder.
Meine Eltern behielten uns im Auge und waren immer für uns da. Meine Mutter wollte nicht nur für die Familie sorgen, sondern auch meinem Vater bei der Übersetzung helfen. Sie teilten sich so manche Aufgabe und erforschten gemeinsam die Chiquitano-Sprache. Gleichzeitig hatten sie den Alltag mit uns mitten im Amazonasgebiet Südamerikas zu bewältigten. Ohne Strom, fließend Wasser oder Luxusgüter. Stoffwindeln mussten am Fluss gewaschen werden, Hühner selbst geschlachtet und die Maiskörner von Hand gemahlen werden. Es gab kaum Infrastruktur, und nur mit dem Nötigsten zum Überleben aus gestattet, gestaltete sich das Leben aufwendig und ungewohnt. Für mich war es Normalität, und ich fühlte mich geborgen in meiner Heimat San Lorenzo, die ich nie verlassen wollte. Doch als ich fünf Jahre alt war, verlegten meine Eltern ihren Arbeitsort in die Basis, nach Tumi Chucua; wir Kinder sollten dort eingeschult werden. Meine Eltern freuten sich sehr auf den Umzug nach Tumi Chucua, denn es bedeutete für sie enorme Erleichterungen.
Das Leben auf der Basis war ganz anders als im Stamm. Es herrschte eine gemeinschaftliche, vertrauensvolle und hilfsbereite Atmosphäre, wie in einer großen Familie. Viele tatkräftige Menschen aus etlichen Nationen lebten für ein gemeinsames Ziel an diesem Ort: Sie folgten dem Ruf ihres Gottes.
Sie waren Mitglieder der Missonsgesellschaft Wycliffe. Egal, ob sie auf der Basis als Sprachwissenschaftler, Lehrer, Flugzeugmechaniker, Krankenschwester oder Pilot arbeiteten, alle waren sie als Missionare nach Tumi Chucua gekommen. Es waren Alleinstehende unter ihnen, aber auch ganze Familien. Sie stammten aus den USA und aus Europa - ein bunt gemischtes Volk. Ihre Vision war und ist es, den Menschen aus allen Völkern die Möglichkeit zu geben, die Bibel in der Sprache zu lesen, in der sie träumen.
Die Arbeit auf der Mission war nicht an eine bestimmte Kirche gebunden, die Wycliffe-Missionare gehörten weiterhin ihrer jeweiligen Landeskirche in ihrer Heimat an. Auch heute sind weltweit viele Freiwillige im Einsatz. Die Alphabetisierung durch sie ist manchmal das einzige verfügbare Bildungsprogramm für die Einheimischen und kann beispielsweise auch die Übersetzung der Deklaration der Menschenrechte beinhalten.
Mit der Vision, allen Menschen dieser Erde das Wort Gottes nahezubringen, arbeiteten Missionare wie meine Eltern mitten im tiefen Urwald Boliviens an der Erforschung von schriftlosen Indianersprachen. Sie brachten jenen, wie mir schien, in vielem benachteiligten Menschen ihre eigene Sprache näher, lehrten sie Lesen, Schreiben und einfache Mathematik und gaben ihnen dadurch eine neue Würde im eigenen Land. Sie bildeten unter den Einheimischen Lehrer und Krankenpfleger aus und halfen beim Aufbau von Schulen und Krankenhäusern. Spenden aus dem persönlichen Freundeskreis und von den Kirchen in der Heimat finanzierten diese angesehenen Christen. Jahrelang hatten sie sich auf diese hochgeschätzte Arbeit vorbereitet. Ich spürte ihren Stolz auf ihre Berufung und darauf, wissenschaftlich zu arbeiten und neue technische Errungenschaften erfolgreich einzusetzen. Es waren kreative Pioniere, die mit Kopf, Herz und Hand Wissen vermittelten und so ihrem persönlichen Ruf Gottes folgten.
Meine Eltern waren sehr pflichtbewusst. Sie arbeiteten Hand in Hand, jeder seinen Begabungen entsprechend. In den siebziger Jahren, ohne Computer und unter den erschwerten Bedingungen im Dschungel, war es eine große Leistung, in welcher Zeit sie ihr Ziel erreichten. Sie waren konsequent und bereit, Opfer zu bringen. Sie nahmen wenig Urlaub, arbeiteten zielstrebig und intensiv an ihrer Übersetzung.
Trotz des Arbeitsdrucks wollten sie uns auf keinen Fall in ein Kinderheim oder eine Pflegefamilie stecken, wie es einige andere Missionarsfamilien praktizierten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter viel strenger mit uns umging, als es in anderen Familien üblich war. Es war ihr enorm wichtig, als Familie eine Einheit zu bilden und uns darin Halt zu geben. Ich war stolz, dass meine Eltern in der Basis als fleißige Missionare wahrgenommen wurden.
Wir Kinder fühlten uns wie in einer großen Familie und nannten alle in der Basis »Onkel« und »Tante«. Wenn unsere Eltern für ihre Übersetzung auf Reisen waren, wurden wir in anderen Familien betreut. Es galten die eigenen Werte und Richtlinien der Organisation. Alles innerhalb der Missionsstation wurde von den Missionaren selbst geregelt. Durch die abgeschiedene Lage mitten im Urwald gab es keine Einmischung von außen. Man unterstützte sich gegenseitig, pflegte den persönlichen Kontakt in den Bibelgruppen, in der Schule, auf dem Sportplatz, in der eigenen Kirche. Ihr Glauben vereinte diese Menschen aus der ganzen Welt, aus verschiedenen Kulturen. Dennoch ergaben sich immer wieder Konflikte, die gemeinsam bearbeitet und gelöst wurden.
Man konnte diesen paradiesischen Ort damals nur mit dem Flugzeug oder auf dem Fluss erreichen. Auch der Präsident von Bolivien, Hugo Banzer, nutzte das Flugzeug als Verkehrsmittel für seine gelegentlichen Besuche in der Mission. Die Infrastruktur der Basis war gut durchdacht. Der Hangar lag am unteren Ende des kleinen Dorfes; ein Stück Dschungel, auf dem ein Friedhof angelegt war, trennte die Piste vom Dorf. Die meisten Familien wohnten am Hauptweg, der sich parallel entlang dem Seeufer zog. Die Schule, der Schlachtplatz und die Kirche waren in der Dorfmitte. Von dort führte ein kleiner Weg auf dem sandigen Abhang hinab zum See. Der Badeplatz war für uns Kinder ein herrlicher Spielplatz, wo wir uns täglich aufhielten.
Am oberen Ende der Siedlung standen die Bürogebäude der Verwaltung. Einige Minuten zu Fuß entfernt lag ein kleines Bolivianerdorf, doch es war mir verboten, dort hinzugehen. Von außen gesehen, war es das Paradies schlechthin. Der Blick über das glitzernde Wasser auf die langgestreckte Insel mit der untergehenden Sonne, wenn Himmel und Wasser sich rot, gelb und blau färbten, prägte sich unvergesslich in meine Erinnerung ein. Die unendliche Pflanzen- und Tiervielfalt des Dschungels gehörte zum Alltag, und wir Kinder spielten am liebsten draußen. Die amerikanisch geführte Schule ließ unserer Kreativität viel Raum; Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern lernten gemeinsam und spielerisch.
Unser Haus befand sich auf dem Hauptweg im unteren Teil der Basis. Es war auf Backsteinstelzen gebaut, damit unsere Wohnräume bei Überschwemmung nicht unter Wasser standen. In der Regenzeit musste ich oft durch den knietief überfluteten Garten waten, um in die Schule zu kommen. Mein Vater hatte das Haus nach dem Vorbild der Bolivianer bauen lassen. Es war mit Kuhmist verputzt und stank noch wochenlang. Ich liebte es, wenn es regnete. Das Prasseln auf dem Blechdach war so laut, dass man sich kaum noch unterhalten konnte.
Die Mücken plagten uns besonders in der Regenzeit Tag und Nacht; Krankheiten wie Malaria und allerlei Parasiten waren an der Tagesordnung. Wir mussten mit gefährlichen Tieren wie Rochen, Piranhas, giftigen Schlangen, Vogelspinnen und Wildkatzen leben lernen.
Aber es gab noch etwas, das wie ein Krebsgeschwür im Innern dieser Organisation zu wuchern begann. Das Gemeinschaftsgefühl, als wären wir eine große Familie, ließ eine gewisse Unbekümmertheit auf der Basis entstehen. Doch gerade dieses familiäre Vertrauen diente einigen Missionaren als Grundlage für ihre heimlichen Machenschaften. Die Leidtragenden waren die schwächsten Mitglieder der Organisation: wir Kinder.
Copyright © 2013 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Es blieb mir keine Zeit, die Sonne zu begrüßen, denn ich musste dringend aufs Klo. Barfuß hüpfte ich von Stein zu Stein - nur nicht wieder rote Füße kriegen! Ich war noch müde und wollte so schnell wie möglich in meiner Hängematte weiterträumen. Die Tür des kleinen WC-Häuschens stand einen Spaltbreit offen. Ich blinzelte hinein, um sicherzugehen, dass sich dort kein wildes Tier versteckt hielt. Schlangen, Fledermäuse oder kleine Wildschweine waren hier häufige Besucher. Meine Mutter hatte mir schon von klein an eingetrichtert, das WC nie ohne Kontrollblick zu benutzen. Alles okay da drin. Ekelhafte Duftschwaden stiegen mir aus dem tiefen Loch entgegen.
Der Gang aufs Klo war immer ein kleines Abenteuer, vor allem am Morgen mit leerem Magen. Furcht und Ekel begleiteten mich, aber auch eine klein wenig Neugier, welches Tier mir heute begegnen würde. Wie konnten die Tiere bei diesem bestialischen Gestank nur friedlich schlafen?
Erleichtert schloss ich die Tür wieder hinter mir. Der frische Morgenwind blies durch den kleinen Bananenhain in unserem Garten. »Wann werden diese grünen Bananen endlich gelb? Ich muss unbedingt bei der Ernte dabei sein!«
Energisch warf ich meine zerzausten Haare aus dem Gesicht und blickte zum Himmel. Goldgelbe und zartrosafarbene kleine Wolken spielten ihr tägliches Spiel zum Sonnenaufgang. Für einige Augenblicke konnten sie mich ablenken, bis es auf einmal laut hinter mir krähte. Aufgeregt scharten sich unsere braunen Hühner um ihren stolzen Hahn; er warf seinen blutroten Hahnenkamm in Position und starrte mich her ausfordernd an.
Ich begrüßte ihn und seine Meute und schlich zu unserem Haus zurück. Ein großes Wäschebündel lag neben der Tür, ein Bettlaken prall gefüllt mit unseren schmutzigen Kleidern. Ich machte einen Freudensprung und klatschte in die Hände.
Waschtag!
Im Haus war alles ruhig, nur aus dem Patio hörte ich ein Rascheln. Wie jeden Morgen las Papa bereits in der Bibel. Leise schlüpfte ich aus meinen Flipflops, hob das Moskitonetz leicht an und kroch in die Hängematte. Ehe ich zwei Gedanken aneinanderreihen konnte, schlummerte ich wieder ein.
Der Geruch von frischem Brot stieg mir in die Nase. Ich liebte diesen Duft und konnte es kaum erwarten, bis Papa das warme Brot anschnitt. Die Scheiben saugten den goldgelben Honig auf wie ein Schwamm. Die getränkte Brotschnitte zerschmolz geradezu auf meiner Zunge. Frisches Brot mit Honig hätte ich am liebsten zu jeder Mahlzeit gegessen.
Bis wir für unseren Gang zum Fluss bereit waren, stand die Sonne schon hoch am wolkenlosen Himmel. Ich hielt meine kleine Schwester Eva an der Hand, doch mein Bruder Philip weigerte sich mitzukommen.
»Ich will mit Hernando spielen und mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen«, sagte er und stampfte trotzig auf den Boden. »Wäsche ist was für kleine Mädchen!«
Vater willigte ein und nahm Philip mit ins nahe gelegene San Lorenzo, ins Dorf der Indianer. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, was Papa dort arbeitete. Ich spürte aber, dass er von den Indianern hoch geachtet, ja geradezu verehrt wurde. Mama hievte das schwere Wäschebündel auf den Kopf und machte sich auf den Weg, meine Schwester und ich trabten ihr auf dem schmalen Dschungelpfad hinterher. Die Indianerfrauen aus dem Dorf waren schon fleißig beim Waschen. Sie schlugen die nassen Kleider über die großen flachen Steine, kneteten sie mit ihren kräftigen Händen und plauderten angeregt. Während die jüngeren Frauen kreischten und kicherten, badeten ihre kleinen Kinder nackt im knietiefen Wasser und vergnügten sich lautstark.
»Xaume - Hallo!«, begrüßte uns die Gruppe freudig. Mama konnte sich mittlerweile gut auf Chiquitano unterhalten. Damit hatte sie sich Respekt unter den Frauen verschafft. Meine beste Freundin Juanita rannte mir entgegen und zog mich zum Ufer. »Christina, komm spiel mit uns im Wasser!«
Maria, ein etwa zehnjähriges Mädchen, schnappte sich meine kleine Schwester und hob sie auf ihren Arm. Immer wieder strich sie über ihren Kopf. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass ihr blondgelocktes Haar echt war. »Bitte darf ich auf sie aufpassen?«, bettelte sie. Unsere Mutter freute sich, dass Maria mit Eva spielte und sie in Ruhe die Wäsche waschen konnte. Der glasklare, seichte Fluss war ideal zum Baden.
Das dichte Blätterdach des Dschungels schirmte die brütende Sonne ab. Wir sprangen laut kreischend von den großen Steinen ins Wasser und ließen uns von der leichten Strömung treiben. Mit meinen fünf Jahren konnte ich recht passabel schwimmen, denn wir badeten täglich im Fluss. Juanita begann, mit bloßen Händen im weichen Sandboden eine Mulde zum Planschen zu schaufeln. Ich half ihr, bald suhlten wir uns im warmen Wasser, bewarfen uns mit Sand und tollten herum. Die Zeit verflog im Nu, und ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser, flink und leicht.
Mama rief uns zu sich, sie hatte die Wäsche eingeweicht, und wir durften sie nun mit Kernseife bearbeiten. Wild stampften wir mit den Füßen auf den Kleidungsstücken herum, bis sie schäumten. Der herrlich luftige Seifenschaum lockte uns, lachend wälzten wir uns ausgelassen darin. Wir rissen große weiße Wolken heraus und warfen sie in den blauen Himmel. Ich liebte den Waschtag über alles.
Die sauberen Kleider breiteten wir zum Trocknen auf den glühend heißen schwarzen und roten Felsen aus. Mama hatte eine große orangerote Papaya aus unserem Garten dabei, die wir mit Heißhunger verschlangen, um gleich wieder weiterzuplanschen, bis meine Mutter uns rief. Dutzende grüne Papageien flogen über unsere Köpfe hinweg. Ich steckte mir eine Feder ins Haar.
»Ist die Wäsche wirklich trocken, Mama? Ich will keine Würmer im Bein haben!«, drängte ich meine Mutter. Denn wenn die Kleider nicht ganz trocken waren, legten Fliegen ihre Eier auf der feuchten Wäsche ab. Wurde auch nur eine kleine feuchte Stelle übersehen, konnten die winzigen Eier überleben und sich unbemerkt in unserer Haut einnisten, um sich darin zu einer hässlichen Made zu entwickeln.
Nur wenige Tage zuvor hatte ich bei einer kleinen Operation zugeschaut, weil sich eine Made unter der Haut eines Chiquitano- Mädchens zu schaffen gemacht hatte. Es begann mit einer Rötung auf ihrem Bein, dann schwoll es an und juckte fürchterlich. Auf der Beule, die sich nun entwickelte, war ein kleines Loch zu erkennen gewesen, wo der schwarze Kopf der Made immer wieder Luft holte. Das Mädchen musste sich einige Tage gedulden, bis das Ungetier entfernt werden konnte.
Mein Vater legte ein Tuch unter ihr Bein, wischte die Stelle mit Alkohol ab und strich Öl auf die gerötete Beule. Nach kurzer Zeit kam der Kopf des fetten Boro zum Vorschein, mein Vater drückte an der Beule - und schwupps, schoss das Tier heraus.
Nun hielt Mama mir die Wäsche hin, damit ich fühlen konnte, dass alles bestens trocken war. Müde, aber glücklich machten wir uns mit der frischen Wäsche auf den Heimweg. Papa wartete bereits in der Küche auf uns. Er hatte Reiseintopf mit Hähnchenfleisch und Kochbananen zubereitet. Wir setzten uns gleich an den gedeckten Tisch, und Papa betete: »Lieber Vater im Himmel, danke, dass wir immer genug zu essen haben, und hilf allen, die hungern müssen. Danke, dass wir gesund sind, und segne dieses Essen. Amen.«
Beim Essen erzählten wir von unseren Erlebnissen. Meine Augen fielen schon bald zu, doch erst musste das dreckige Geschirr mit Seife und abgekochtem Wasser aus dem Fass gewaschen werden. Mein Bruder und ich halfen Mama, damit wir die Fortsetzung von Papas selbst erfundener Gutenachtgeschichte hören durften.
Jeden Abend saß er mit uns in der Hängematte und erfand eine weitere spannende Folge. Die Geschichte endete auch diesmal wie immer: »Und dann ging Hermann Kralle, der große braune Bär, in seine warme Höhle, wo er friedlich und zufrieden bis zum nächsten Morgen schlief.«
Und wie so oft sagte er zum Schluss: »Wenn ihr wollt, dürft ihr ins Bett gehen, wenn ihr nicht wollt, müsst ihr ins Bett gehen!«
Wir stöhnten und gehorchten widerwillig.
Mein Bruder Philip teilte mit mir ein kleines, fast leeres Zimmer. Das einzige Fenster war stets mit einem Holzladen verschlossen. So blieb es kühl. Ein grünrosafarbenes Plastikflugzeug, der ganze Stolz meines Bruders, thronte auf dem Regalbrett, daneben einige Bücher, sonst nichts. Es war bereits stockdunkel, und wir fielen bald in tiefen Schlaf.
Eines Tages mussten wir unsere Siebensachen zusammenpacken. Philips Einschulung in der großen Missionsbasis Tumi Chucua stand bevor. Wir würden von nun an sehr viel weniger Zeit in unserem Chiquitano-Dörfchen San Lorenzo verbringen. Ich wollte nicht weg und ging mit meinen fünf Jahren in den Tagen vor dem Umzug nicht von Mamas Seite. Als hätte ich geahnt, was auf mich zukommen würde.
Doch bald landete die kleine Cessna auf der Piste, wo das ganze Dorf versammelt war. Die Chiquitanos ließen sich diese Abwechslung nicht entgehen und schauten alle zu, wie die Maschine über die holprige Landebahn ratterte. Als sich Mama von den Einheimischen verabschiedete, mahnte eine alte Frau, sie solle gut auf Manuca aufpassen. »Sie heißt nicht mehr Manuca, wir nennen sie schon lange Christina.«
Guten Tag, ich bin die Wahrheit
Guten Tag, ich bin die Wahrheit.«
»Verschwinde, Wahrheit, geh woandershin! Ich kann dich nicht ertragen. Du bist mir zu schwer, zu hässlich, abscheulich, ekelhaft und dunkel. Verschwinde!«
Trotz aller Gegenwehr wusste ich intuitiv, dass mir eine Entscheidung bevorstand. Mein Körper war nicht mehr bereit, mein bisheriges Schweigen zu akzeptieren. Das Maß war übervoll. Die Wahrheit ließ nicht locker. Höllische Angst stieg in mir auf. Angst, die mich jahrelang gelähmt hatte, tobte auf einmal in meinem Kopf.
»Ich kann nicht sprechen! Ich kann die Verbrecher nicht verraten. Ich kann nicht gegen sie aussagen. Sie werden sich rächen! « Da war ich mir sicher. Packte ich aus, brachte ich meine Familie damit in Gefahr - meine Kinder, das Liebste, das ich hatte. Niemals dürfte ich diese Gewalt provozieren. Ich musste sie schützen, das war meine wichtigste Pflicht.
Doch ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht länger schweigen.
Im Schlafzimmer war es dunkel, ich lag alleine mit der Wahrheit auf dem Bett und ließ die vergangenen Stunden wieder und wieder an mir vorbeiziehen: Nach einer Joggingrunde war ich im Garten meiner Trainingskollegin ohnmächtig zusammengebrochen. Als ich wieder zu mir kam, war sofort klar, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich hatte meinen Mund geöffnet, um zu sprechen. Doch kein Wort war über meine Lippen gekommen. Panik hatte mich erfasst - dieses Gefühl war mir nur allzu gut bekannt. Meinen Körper konnte ich kaum mehr spüren, es war, als schwebte ich nach Hause. Meine Zunge begann sich in meinem Mund hin und her zu bewegen. Wie früher, als ich als Mädchen in meiner Geheimsprache mit mir selbst gesprochen hatte, ohne dabei einen Laut von mir zu geben. Damals, als ich es nicht gewagt hatte, laut zu sprechen.
»Guten Tag, ich bin die Wahrheit.«
Erschöpft drehte ich mich auf dem Bett zur Seite und machte mich klein. Leise schlich sich nun das schlechte Gewissen ein und gesellte sich zur Wahrheit und zur Angst. Die eingeimpften Schuldgefühle machten sich in meinen Gedanken breit. Über all die Jahre hatte ich sie nie abschütteln können. War ich vielleicht doch selbst schuld am Elend in meiner Kindheit? Was sollte ich nun tun? Was meinem Mann sagen? Und wie?
Tränen rannen unaufhaltsam über meine glühenden Wangen. Würde ich der Belastung standhalten, den Kampf überstehen? Ich traute der Wahrheit nicht - niemandem traute ich. Aber ich war nicht alleine. Ich hatte Verantwortung für meine Kinder zu tragen. Als Vorbild wollte ich ihnen eine wahrhaft gute Mutter sein. Wie konnte ich von ihnen Wahrheit verlangen und gleichzeitig meine eigene verschweigen? »Christina, du musst die Wahrheit aussprechen, für deine Kinder. Du darfst ihnen dieses Erbe nicht hinterlassen. Es ist deine Pflicht, dein Leben zu ordnen!«, ermahnte ich mich selbst.
Ich war Mutter von zwei Söhnen und lebte mit meiner Familie in einem schönen alten Haus in der Schweiz. Mit meiner Arbeit als Lehrerin und Künstlerin trug ich zum Unterhalt unserer vierköpfigen Familiengemeinschaft bei. Ich hatte es geschafft, mich im Alltag zu befreien. Meine Familie war mein zweites Leben, meine Kunst mein Ventil. Ein Leben, das ich nicht aufs Spiel setzen wollte. Doch jetzt, in diesem wunderschönen Sommer 2002, saß ich in der Falle und wusste, dass ich keine Wahl hatte. Die Wahrheit musste endlich aus mir heraus. Ich würde für meine Kinder kämpfen, sie beschützen und ihnen ein Vorbild sein, das schwor ich mir. Mit dieser Entscheidung schlief ich ein.
Beim Erwachen kehrte meine Stimme zurück. Zuerst nur stotternd und brüchig, dann immer klarer und kräftiger. Nun wusste ich endgültig, was ich zu tun hatte: »Guten Tag, Wahrheit, komm in mein Leben!«
Diesem inneren Marathon folgte ein heftiger Migräneanfall, was mir als gutes Alibi für meinen Zusammenbruch diente.
Ich wagte es nicht, meinem Mann die Wahrheit zu sagen. Wir waren seit 13 Jahren verheiratet, und ich hatte die ganze Zeit über die Wahrheit geschickt vertuscht und verheimlicht. Es würde ihn zutiefst kränken und verletzen, dass ich in dieser Hinsicht kein Vertrauen zu ihm hatte aufbauen können. Früher oder später würde er es erfahren. Aber nicht als Erster. Verzweifelt suchte ich nach der richtigen Person, der ich ein kleines bisschen Vertrauen schenken konnte. »Vielleicht Gudrun«, schoss es mir durch den Kopf.
Ich kannte sie erst seit einigen Monaten vom Tischtennisklub. Doch vor wenigen Tagen war sie bei mir zu Besuch gewesen. In meinem Atelier hatte sie beim Anblick meines Porträtfotos in einem Zeitungsartikel laut aufgelacht: »Das bist nicht du! Du bist eine andere!«
Ich verstand ihre Reaktion nicht und fühlte mich sogar beleidigt. Aber ich hatte nicht gewagt, sie zu fragen, was sie damit meinte. Nun fragte ich mich, ob sie etwas ahnte? Lange wog ich ab, überlegte hin und her und entschied mich dann, ihr mein so gut gehütetes Geheimnis anzuvertrauen. Vielleicht weil sie nicht viel mit Religion zu tun hatte - denn diese war ein Teil meines Geheimnisses. Trotzdem fiel es mir unendlich schwer. Wie sollte ich beginnen?
Die Angst, dass sie mir nicht glauben würde, wollte die Oberhand gewinnen. Doch ich hatte mich entschieden. Ich nahm allen Mut zusammen und lud sie zum Kaffee ein. Ich würde die ganze Geschichte bagatellisieren, um zu sehen, ob Gudrun der Sache gewachsen war. Ich würde ihr nur in kleinen Portionen einzelne Sequenzen erzählen. Mit wachem Auge würde ich jede ihrer Bewegungen beobachten und genau analysieren. Es war mir bewusst, dass ich sonst niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen könnte. Sie war meine einzige Hoffnung - es musste klappen!
Mir wurde fast schwarz vor Augen, und mein ganzer Körper war angespannt, als ich schüchtern zu reden begann. »Gudrun, ich muss dir etwas erzählen. Etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.« Innerlich zitterte ich. Mit aller Gewalt versuchte ich die Kontrolle über meinen Körper und meine Gefühle nicht zu verlieren.
Als ich mich wieder im Griff hatte, rückte ich vorsichtig mit einem Teil der Wahrheit heraus. »Ich bin doch in Bolivien im Urwald aufgewachsen. Als Missionarstochter. Wir lebten im Amazonasgebiet bei einem Indianerstamm, den Chiquitanos, und dann auf einer Missionsstation. Auf der Basis - nicht im Stamm - sind schreckliche Dinge mit uns Kindern gemacht worden. Es waren drei Täter, manchmal auch mehr. Sie waren so brutal zu uns. Und keiner hat's gemerkt.«
Gudrun sah mich prüfend an.
»Nun ja, ich hab's überlebt, und mir geht es gut, das siehst du ja. Aber wenn ich diese Dinge meinen Eltern erzählen würde, würden sie mir niemals glauben.«
Keine Reaktion.
Mir stockte der Atem, glaubte sie mir etwa nicht? Schockartig erinnerte ich mich, wie ich als 16-Jährige meiner Mutter die Wahrheit erzählen wollte. Damals hatte ich versucht, mich an sie heranzutasten. Der Druck, alleine mit der Wahrheit zu sein, hatte mir über Wochen hinweg den Appetit geraubt. Ich hatte damals versucht, mich ihr gegenüber zu öffnen, vergeblich.
Und nun? Würde Gudrun mir jetzt glauben?
Lange sagte sie nichts, sondern betrachtete mich mit ihren wunderschönen hellblauen Augen. Dann stand sie auf. Ruhig und gelassen nahm sie mich in die Arme. »Christina, deine Bilder sprechen für sich. Wenn du mir vertrauen willst, dann erzähl mir alles der Reihe nach.«
Das Eis war gebrochen. Aus mir sprudelten die Worte nur so heraus. Ich versuchte mich klar auszudrücken, schweifte immer wieder ab, Tränen quollen aus meinen eingefrorenen Augen, bis ich nur noch schreien und schluchzen konnte. Gudrun schwieg und hielt mich fest in den Armen, und irgendwann beruhigte sich mein Atem. Eine Welle der Erleichterung und gleichzeitig unendlicher Schmerz überkamen mich.
Ankunft in Bolivien
Tumi Chucua lag etwa zwanzig Meter erhöht an einem idyllischen See mit Blick auf eine langgezogene grüne Insel. Es war der ideale Ort für ein Dorf, denn im Dschungel waren in der Regenzeit Überschwemmungen an der Tagesordnung. Von dieser Basis aus hatten mein Vater und andere Missionarspioniere Erkundungsreisen in den Urwald Boliviens unternommen auf der Suche nach Indianerstämmen, die noch keine Übersetzung der Bibel in ihrer Muttersprache kannten. Meine Eltern fühlten sich von Gott berufen, dies für das große Volk der Chiquitanos zu tun. In einer ihrer Siedlungen, in San Lorenzo, wollte mein Vater seine Sprachforschungen und seine Missionarstätigkeit beginnen.
Die Dorfbewohner hatten, wie man mir später erzählte, vor der Ankunft meiner Eltern nur Kontakt zu bolivianischen Händlern, den spanisch sprechenden Mestizen, mit denen sie hin und wieder einfache Dinge tauschten, sowie mit missionierenden Jesuitenpriestern. Doch eine komplette weiße Familie war für sie völlig neu. Einige Dorfbewohner vermuteten, dass diese Besucher nur Geister seien. Aus Angst hatten sie sich geweigert, meinen Vater aufzunehmen. Er hatte es nicht leicht gehabt mit seinen noch spärlichen Kenntnissen ihrer Sprache, bei ihnen Gehör zu finden. Erst nach langwierigen Verhandlungen hatten sie eingewilligt, außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flusses, eine Hütte für ihn, seine Frau und seinen neun Monate alten Sohn Philip zu bauen. Sie glaubten, dass diese Weißen nicht lange bleiben würden, und waren überzeugt, die Wassergeister würden sie auffressen. Mein Vater musste als Erstes eine Landebahn roden lassen, um die Reise in den Urwald für die Familie zu erleichtern. Das war den Chiquitanos recht, so konnten sie etwas Geld verdienen.
Kaum hatten sich meine Eltern etwas eingelebt, kam meine Mutter erneut in andere Umstände. Als sie hochschwanger war, erfuhr sie aus ihrer Heimat, dass ihre Mutter schwer erkrankt war. Außerdem hatte sie wegen der Komplikationen bei Philips Geburt große Angst. Deshalb reiste sie kurz vor meiner Geburt in die Schweiz. So kam ich 1968 in Zürich auf die Welt. Bereits fünf Wochen später kehrte sie mit mir und Philip nach San Lorenzo zurück.
Dort verbrachte ich als Kleinkind mit meiner Familie viel Zeit im tiefsten Dschungel im Stammesgebiet der Chiquitanos. Unser Haus stand in der Nähe der Dorfgemeinschaft von dreizehn Familien in San Lorenzo. Dort fühlte ich mich geborgen und geschützt. Meine Eltern nahmen uns auf Reisen durch das Indianergebiet mit. Wir erlebten Abenteuer und wuchsen im Einklang mit der Natur auf; der Tod war wie das Leben jederzeit präsent. Kinder und kranke Menschen starben. Es gehörte zum Leben dazu.
Manuca
Mein Leben schien von Anfang an gekennzeichnet zu sein. Meine Eltern hatten mir den Namen Manuela Christina Krüsi gegeben. »Manuela« bedeutet »Gott ist mit uns«. Doch die Chiquitanos lachten und kicherten jedes Mal über meinen Namen, wenn sie meine helle Haut bewunderten. Anfangs dachten meine Eltern kaum darüber nach, aber nach ein paar Wochen begann sich mein Vater über das Gelächter zu ärgern. Immer wieder versuchte er mit seinem schmalen Chiquitano-Wortschatz herauszufinden, worüber sie sich amüsierten. Er bemühte sich vergeblich. Erst nach einiger Zeit konnte er die Indianer dazu bringen, ihre unhöfliche Reaktion zu erklären.
Der Wortführer meinte, dass die Mestizos - die spanisch sprechenden Bolivianer - den ähnlich klingenden Übernamen »Manuca« für junge Frauen benutzten, wenn sie hinter ihnen her waren. Sprach also ein Mann eine Frau mit »Manuca« an, so war das eine Einladung, mit ihm zu schlafen. Und das taten die Mestizos mit den Indianermädchen oft.
Daraufhin entschlossen sich meine Eltern, mich bei meinem zweiten Vornamen zu nennen. Allen Verwandten und Freunden erzählten und schrieben sie, dass sie mich von nun an Christina, aber ohne »h«, nennen würden. Dieses spanische »Cristina« gefiel ihnen besser. Es dauerte lange, bis alle vollends begriffen hatten, dass es ihnen ernst damit war.
Tumi Chucua
Nun war es also so weit: Der Umzug in die Basis, nach Tumi Chucua, stand an, weil mein Bruder eingeschult werden sollte. Obwohl ich noch sehr klein war, erlebte ich San Lorenzo als sicheren Ort - als meine Heimat. Es war mir bewusst, dass wir in diesem Dorf Fremde waren, anders als die anderen Kinder.
Meine Eltern behielten uns im Auge und waren immer für uns da. Meine Mutter wollte nicht nur für die Familie sorgen, sondern auch meinem Vater bei der Übersetzung helfen. Sie teilten sich so manche Aufgabe und erforschten gemeinsam die Chiquitano-Sprache. Gleichzeitig hatten sie den Alltag mit uns mitten im Amazonasgebiet Südamerikas zu bewältigten. Ohne Strom, fließend Wasser oder Luxusgüter. Stoffwindeln mussten am Fluss gewaschen werden, Hühner selbst geschlachtet und die Maiskörner von Hand gemahlen werden. Es gab kaum Infrastruktur, und nur mit dem Nötigsten zum Überleben aus gestattet, gestaltete sich das Leben aufwendig und ungewohnt. Für mich war es Normalität, und ich fühlte mich geborgen in meiner Heimat San Lorenzo, die ich nie verlassen wollte. Doch als ich fünf Jahre alt war, verlegten meine Eltern ihren Arbeitsort in die Basis, nach Tumi Chucua; wir Kinder sollten dort eingeschult werden. Meine Eltern freuten sich sehr auf den Umzug nach Tumi Chucua, denn es bedeutete für sie enorme Erleichterungen.
Das Leben auf der Basis war ganz anders als im Stamm. Es herrschte eine gemeinschaftliche, vertrauensvolle und hilfsbereite Atmosphäre, wie in einer großen Familie. Viele tatkräftige Menschen aus etlichen Nationen lebten für ein gemeinsames Ziel an diesem Ort: Sie folgten dem Ruf ihres Gottes.
Sie waren Mitglieder der Missonsgesellschaft Wycliffe. Egal, ob sie auf der Basis als Sprachwissenschaftler, Lehrer, Flugzeugmechaniker, Krankenschwester oder Pilot arbeiteten, alle waren sie als Missionare nach Tumi Chucua gekommen. Es waren Alleinstehende unter ihnen, aber auch ganze Familien. Sie stammten aus den USA und aus Europa - ein bunt gemischtes Volk. Ihre Vision war und ist es, den Menschen aus allen Völkern die Möglichkeit zu geben, die Bibel in der Sprache zu lesen, in der sie träumen.
Die Arbeit auf der Mission war nicht an eine bestimmte Kirche gebunden, die Wycliffe-Missionare gehörten weiterhin ihrer jeweiligen Landeskirche in ihrer Heimat an. Auch heute sind weltweit viele Freiwillige im Einsatz. Die Alphabetisierung durch sie ist manchmal das einzige verfügbare Bildungsprogramm für die Einheimischen und kann beispielsweise auch die Übersetzung der Deklaration der Menschenrechte beinhalten.
Mit der Vision, allen Menschen dieser Erde das Wort Gottes nahezubringen, arbeiteten Missionare wie meine Eltern mitten im tiefen Urwald Boliviens an der Erforschung von schriftlosen Indianersprachen. Sie brachten jenen, wie mir schien, in vielem benachteiligten Menschen ihre eigene Sprache näher, lehrten sie Lesen, Schreiben und einfache Mathematik und gaben ihnen dadurch eine neue Würde im eigenen Land. Sie bildeten unter den Einheimischen Lehrer und Krankenpfleger aus und halfen beim Aufbau von Schulen und Krankenhäusern. Spenden aus dem persönlichen Freundeskreis und von den Kirchen in der Heimat finanzierten diese angesehenen Christen. Jahrelang hatten sie sich auf diese hochgeschätzte Arbeit vorbereitet. Ich spürte ihren Stolz auf ihre Berufung und darauf, wissenschaftlich zu arbeiten und neue technische Errungenschaften erfolgreich einzusetzen. Es waren kreative Pioniere, die mit Kopf, Herz und Hand Wissen vermittelten und so ihrem persönlichen Ruf Gottes folgten.
Meine Eltern waren sehr pflichtbewusst. Sie arbeiteten Hand in Hand, jeder seinen Begabungen entsprechend. In den siebziger Jahren, ohne Computer und unter den erschwerten Bedingungen im Dschungel, war es eine große Leistung, in welcher Zeit sie ihr Ziel erreichten. Sie waren konsequent und bereit, Opfer zu bringen. Sie nahmen wenig Urlaub, arbeiteten zielstrebig und intensiv an ihrer Übersetzung.
Trotz des Arbeitsdrucks wollten sie uns auf keinen Fall in ein Kinderheim oder eine Pflegefamilie stecken, wie es einige andere Missionarsfamilien praktizierten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter viel strenger mit uns umging, als es in anderen Familien üblich war. Es war ihr enorm wichtig, als Familie eine Einheit zu bilden und uns darin Halt zu geben. Ich war stolz, dass meine Eltern in der Basis als fleißige Missionare wahrgenommen wurden.
Wir Kinder fühlten uns wie in einer großen Familie und nannten alle in der Basis »Onkel« und »Tante«. Wenn unsere Eltern für ihre Übersetzung auf Reisen waren, wurden wir in anderen Familien betreut. Es galten die eigenen Werte und Richtlinien der Organisation. Alles innerhalb der Missionsstation wurde von den Missionaren selbst geregelt. Durch die abgeschiedene Lage mitten im Urwald gab es keine Einmischung von außen. Man unterstützte sich gegenseitig, pflegte den persönlichen Kontakt in den Bibelgruppen, in der Schule, auf dem Sportplatz, in der eigenen Kirche. Ihr Glauben vereinte diese Menschen aus der ganzen Welt, aus verschiedenen Kulturen. Dennoch ergaben sich immer wieder Konflikte, die gemeinsam bearbeitet und gelöst wurden.
Man konnte diesen paradiesischen Ort damals nur mit dem Flugzeug oder auf dem Fluss erreichen. Auch der Präsident von Bolivien, Hugo Banzer, nutzte das Flugzeug als Verkehrsmittel für seine gelegentlichen Besuche in der Mission. Die Infrastruktur der Basis war gut durchdacht. Der Hangar lag am unteren Ende des kleinen Dorfes; ein Stück Dschungel, auf dem ein Friedhof angelegt war, trennte die Piste vom Dorf. Die meisten Familien wohnten am Hauptweg, der sich parallel entlang dem Seeufer zog. Die Schule, der Schlachtplatz und die Kirche waren in der Dorfmitte. Von dort führte ein kleiner Weg auf dem sandigen Abhang hinab zum See. Der Badeplatz war für uns Kinder ein herrlicher Spielplatz, wo wir uns täglich aufhielten.
Am oberen Ende der Siedlung standen die Bürogebäude der Verwaltung. Einige Minuten zu Fuß entfernt lag ein kleines Bolivianerdorf, doch es war mir verboten, dort hinzugehen. Von außen gesehen, war es das Paradies schlechthin. Der Blick über das glitzernde Wasser auf die langgestreckte Insel mit der untergehenden Sonne, wenn Himmel und Wasser sich rot, gelb und blau färbten, prägte sich unvergesslich in meine Erinnerung ein. Die unendliche Pflanzen- und Tiervielfalt des Dschungels gehörte zum Alltag, und wir Kinder spielten am liebsten draußen. Die amerikanisch geführte Schule ließ unserer Kreativität viel Raum; Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern lernten gemeinsam und spielerisch.
Unser Haus befand sich auf dem Hauptweg im unteren Teil der Basis. Es war auf Backsteinstelzen gebaut, damit unsere Wohnräume bei Überschwemmung nicht unter Wasser standen. In der Regenzeit musste ich oft durch den knietief überfluteten Garten waten, um in die Schule zu kommen. Mein Vater hatte das Haus nach dem Vorbild der Bolivianer bauen lassen. Es war mit Kuhmist verputzt und stank noch wochenlang. Ich liebte es, wenn es regnete. Das Prasseln auf dem Blechdach war so laut, dass man sich kaum noch unterhalten konnte.
Die Mücken plagten uns besonders in der Regenzeit Tag und Nacht; Krankheiten wie Malaria und allerlei Parasiten waren an der Tagesordnung. Wir mussten mit gefährlichen Tieren wie Rochen, Piranhas, giftigen Schlangen, Vogelspinnen und Wildkatzen leben lernen.
Aber es gab noch etwas, das wie ein Krebsgeschwür im Innern dieser Organisation zu wuchern begann. Das Gemeinschaftsgefühl, als wären wir eine große Familie, ließ eine gewisse Unbekümmertheit auf der Basis entstehen. Doch gerade dieses familiäre Vertrauen diente einigen Missionaren als Grundlage für ihre heimlichen Machenschaften. Die Leidtragenden waren die schwächsten Mitglieder der Organisation: wir Kinder.
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Autoren-Porträt von Christina Krüsi
Christina Krüsi, geboren 1968 in der Schweiz, verbrachte ihre Kindheit im bolivianischen Urwald, wo ihre Eltern für die Organisation Wycliffe als Bibelübersetzer tätig waren. Als 11-jährige kehrte sie mit ihrer Familie in die Schweiz zurück.Später studierte Krüsi Bildungsmanagement. Heute ist sie hauptberuflich als Künstlerin und Konfliktmanagerin tätig. Die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen lebt in Zürich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christina Krüsi
- 2013, 7. Aufl., 296 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342678565X
- ISBN-13: 9783426785652
- Erscheinungsdatum: 25.06.2013
Rezension zu „Das Paradies war meine Hölle “
"Die Geschichte einer Kinderseele, die Höllenqualen erdulden musste." Brigitte (CH) 20130814
Pressezitat
"Die Geschichte einer Kinderseele, die Höllenqualen erdulden musste." Brigitte (CH) 20130814
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