Das Orakel vom Berge
Roman. Ausgezeichnet mit dem Hugo Award 1963
Was wäre, wenn die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Und sich Hitler mit Japan die USA geteilt hätte? Die Grenze durch die Rocky Mountains verliefe, wo es neutrale Pufferstaaten gäbe? Und dort ein 'Orakel vom Berge'?
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Produktinformationen zu „Das Orakel vom Berge “
Klappentext zu „Das Orakel vom Berge “
Was wäre, wenn die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Und sich Hitler mit Japan die USA geteilt hätte? Die Grenze durch die Rocky Mountains verliefe, wo es neutrale Pufferstaaten gäbe? Und dort ein 'Orakel vom Berge'?Vor dieser Unwirklichkeit flüchten die Menschen in ein Buch über die 'Heuschrecken', in der die Welt so dargestellt wird, wie sie eher unserer Wirklichkeit gleicht - aber nur fast, oder ist es wirklich ganz anders herum? Das 'Orakel vom Berge' (1962) ist gegen den Strich erzählte Historie und ein legendärer Klassiker der amerikanischen Literatur.
Das Buch zur US-Kultserie »The Man in the High Castle«!
Lese-Probe zu „Das Orakel vom Berge “
Das Orakel vom Berge von Philip K. DickEins
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Seit einer Woche wartete Mr. Robert Childan nun schon mit Spannung auf die Post. Aber die wertvolle Sendung aus den Rocky-Mountain- Staaten war wieder nicht eingetroffen. Als er am Freitagmorgen seinen Laden aufschloss und auf dem Boden unter dem Postschlitz nur Briefe vorfand, dachte er: Da werde ich wohl Ärger mit meinem Kunden bekommen.
Er zapfte sich eine Tasse Instant-Tee aus dem Fünf-Cent-Automaten an der Wand, nahm einen Besen und begann sauberzumachen; bald darauf war das American Artistic Handcrafts Inc. blitzsauber und bereit für den Tag. Die Registrierkasse war voll Wechselgeld, in der Vase waren frische Ringelblumen, aus dem Radio tönte Hintergrundmusik. Draußen hasteten die Geschäftsleute zu ihren Büros in der Montgomery Street. In der Ferne fuhr eine Straßenbahn vorbei; Childan hielt mit der Arbeit inne und sah ihr mit Behagen nach. Frauen in langen, farbenfrohen Seidenkleidern ... auch denen sah er nach. Dann läutete das Telefon. Er nahm ab.
»Ja«, sagte eine wohlbekannte Stimme, als er sich gemeldet hatte. »Hier ist Mr. Tagomi. Ist das Rekrutierungsplakat aus dem Bürgerkrieg eingetroffen, Sir? Bitte erinnern Sie sich, Sie haben es mir schon für letzte Woche versprochen.« Die pedantische, scharfe Stimme, kaum noch höflich, kaum noch auf Manieren achtend. »Habe ich Ihnen nicht eine Anzahlung gemacht, Mr. Childan? Es soll ein Geschenk sein, wissen Sie. Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Für einen Geschäftspartner.«
»Umfangreiche Nachforschungen«, setzte Childan an, »für die ich selbst aufkommen musste, Mr. Tagomi, Sir. Wie Sie wissen, kommt das erwartete Paket von außerhalb, und daher ...«
Tagomi ließ ihn jedoch nicht ausreden. »Dann ist es also noch nicht eingetroffen.«
»Nein, Mr. Tagomi, Sir.«
Eisiges Schweigen.
»Ich kann nicht länger warten«, sagte Tagomi dann.
»Nein, Sir.« Childan blickte verdrießlich durch das Ladenfenster in den warmen Sonnentag und zu den Bürogebäuden von San Francisco hinaus.
»Dann etwas anderes. Ihre Empfehlung, Mr. Childan?« Tagomi sprach den Namen absichtlich falsch aus; eine wohldosierte Beleidigung, die Childan das Blut zu Kopf steigen ließ. Eine demütigendeZurechtweisung. Robert Childans Hoffnungen, Ängste und Qualen überwältigten ihn, lähmten ihm die Zunge. Er stammelte, seine Hand, die den Telefonhörer hielt, fühlte sich klebrig an. Im Laden roch es nach Ringelblumen; die Musik spielte weiter, doch ihm war, als stürze er in irgendein fernes Meer.
»Also ...«, brachte er mühsam hervor. »Ein Butterfass. Ein Speiseeisbereiter, circa 1900.« Er konnte nicht mehr nachdenken. Gerade dann, wenn man es vergisst; wenn man sich etwas vormacht. Er war achtunddreißig Jahre alt und erinnerte sich noch gut an die Zeit vor dem Krieg, als alles anders war.
An Franklin D. Roosevelt und die Weltausstellung; an die bessere Welt, die nun Vergangenheit war. »Könnte ich Ihnen vielleicht ein paar interessante Gegenstände ins Büro bringen?«, murmelte er.
Sie verabredeten sich für zwei Uhr. Ich muss den Laden schließen, dachte Childan, als er auflegte. Keine andere Wahl. Solche Kunden muss ich mir gewogen halten; das Geschäft hängt davon ab.
Er zitterte, und auf einmal merkte er, dass jemand den Laden betreten hatte - ein Pärchen. Ein junger Mann und ein Mädchen, beide gutaussehend, gut gekleidet. Perfekt. Er beruhigte sich und trat ihnen mit einem geschäftsmäßigen Lächeln entgegen. Sie beugten sich gerade über eine Auslage, hatten einen hübschen Aschenbecher hochgehoben. Vermutlich verheiratet. Wohnten wohl außerhalb in der Nebelstadt, in den neuen, exklusiven Hochhausappartements oberhalb von Belmont.
»Hallo«, sagte er und fühlte sich gleich besser. Ihr Lächeln war ohne Herablassung, pure Freundlichkeit. Seine Exponate - tatsächlich die besten ihrer Art an der ganzen Küste - hatten sie wohl beeindruckt; das sah er und war dankbar dafür. Sie zeigten Verständnis.
»Wirklich ausgezeichnete Stücke, Sir«, sagte der junge Mann.
Childan verneigte sich spontan.
Ihre Augen leuchteten warm. Verliebtheit zeigte sich darin, aber auch das Vergnügen, das sie bei der Betrachtung der Kunstgegenstände miteinander teilten; sie dankten ihm dafür, dass er all dies für sie bereithielt, Dinge, die sie in die Hand nehmen und betrachten konnten, auch ohne sie kaufen zu müssen. Ja, dachte er, sie wissen, in was für einem Laden sie sind; das sind keine Ramschwaren für Touristen, keine billigen Rotholzspangen mit der Aufschrift Muir Woods, Marin County, PSA, keine komischen Anstecker, Plastikringe, Postkarten oder Ansichten von der Brücke. Besonders die Augen des Mädchens, groß und dunkel. Wie leicht, dachte Childan, könnte ich mich in ein solches Mädchen verlieben. Wie tragisch mein Leben dann wäre - als wäre es nicht schon schlimm genug. Das modisch frisierte schwarze Haar, die lackierten Fingernägel, die für die herabbaumelnden handgefertigten Messingohrringe durchbohrten Ohren.
»Ihre Ohrringe«, murmelte er. »Hier gekauft?«
»Nein«, sagte sie. »Zu Hause.«
Childan nickte. Keine zeitgenössische amerikanische Kunst; in einem Laden wie seinem hatte nur die Vergangenheit Platz. »Bleiben Sie länger hier?«, fragte er. »In San Francisco?«
»Ich wurde auf unbestimmte Zeit hierher versetzt«, erwiderte der Mann. »Zur Kommission zur Verbesserung des Lebensstandards benachteiligter Regionen.« Stolz spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Kein Militär. Keiner dieser Kaugummi kauenden ungehobelten Rekruten mit den gierigen Bauerngesichtern, die über die Market Street schlenderten und die Pornoläden begafften, die Sexfilme, die Schießbuden, die billigen Nachtclubs mit den Fotos grinsender, gealterter Blondinen, die mit schrumpligen Fingern ihre Brustwarzen rubbelten ... die Jazzschuppen, die sich in der flachen Gegend San Franciscos drängten, aus Wellblech und Dachpappe errichtete Kaschemmen, die aus den Ruinen entstanden waren, noch ehe die letzte Bombe gefallen war. Nein - dieser Mann gehörte zur Elite. Kultiviert, gebildet, vielleicht sogar in höherem Maße als Mr. Tagomi, der immerhin ein hoher Beamter bei der Handelsmission für die Pazifikküste war. Tagomi war ein alter Mann. Seine ganze Haltung war zu Zeiten des Kriegskabinetts geprägt worden.
»Suchen Sie traditionelle amerikanische Volkskunst als Geschenk? «, fragte Childan. »Oder wollen Sie eine Wohnung für die Dauer Ihres Aufenthalts ausstatten?« Sollte er mit der zweiten Vermutung recht haben ... Sein Herz schlug unwillkürlich schneller.
»Gut geraten«, sagte das Mädchen. »Wir fangen gerade an, uns einzurichten. Sind noch ein bisschen unentschlossen. Könnten Sie uns vielleicht beraten?«
»Ja, ich könnte in Ihre Wohnung kommen. Ich bringe ein paar Musterkoffer mit, dann können Sie in aller Ruhe aussuchen. Das ist nämlich unsere Spezialität.« Childan senkte die Augen, um seine Hoffnung zu verbergen. Hier waren womöglich Tausende zu holen. »Ich bekomme demnächst einen Tisch aus Neuengland, Ahorn, alles mit Holzteilen gefertigt, keine Nägel. Wunderschön und wertvoll. Und einen Spiegel aus der Zeit des Krieges von 1812. Und Eingeborenenkunst: einen Satz Ziegenhaarteppiche, gefärbt mit Pflanzenfarben.«
»Ich persönlich«, sagte der Mann, »ziehe die städtische Kunst vor.«
»Ja«, erwiderte Childan eifrig. »Hören Sie, Sir. Ich habe da ein Wandgemälde aus der Zeit von Roosevelts Arbeitsbeschaffungsprogramm für Künstler, auf dem Horace Greeley abgebildet ist. Ein Original, ausgeführt auf Holz, in vier Teilen. Für Sammler von unschätzbarem Wert.«
»Oh«, machte der Mann, und seine Augen funkelten.
»Und einen Grammophonschrank von 1920, umgebaut zu einer Hausbar.«
»Oh.«
»Und jetzt kommt das Beste, Sir: ein gerahmtes, signiertes Foto von
Jean Harlow.« Der Mann riss staunend die Augen auf.
»Wollen wir eine Verabredung treffen?«, fragte Childan, den psychologisch günstigen Moment beim Schopf ergreifend. Er zückte Kugelschreiber und Notizbuch. »Ich werde mir Ihren Namen und Ihre Adresse notieren, Sir.«
Anschließend ging das Pärchen hinaus. Childan blickte auf die Straße, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Freude. Wenn das Geschäft immer so liefe ... Doch es ging nicht bloß ums Geschäft, um den Erfolg seines Ladens. Dies war eine Gelegenheit, ein junges japanisches Paar privat kennenzulernen, auf der Basis, dass sie ihn als Menschen akzeptierten und nicht bloß als Yank oder bestenfalls als Kunsthändler. Ja, diese jungen Leute der heranwachsenden Generation, die sich nicht mehr an die Vorkriegszeit oder den Krieg erinnerten - sie waren die Hoffnung der Welt. Standesunterschiede bedeuteten ihnen nicht mehr viel.
Irgendwann wird Schluss sein, dachte er. Eines Tages. Kein Standesdünkel mehr. Keine Regierten und Regierenden mehr. Nur noch Menschen.
Gleichwohl zitterte er vor Angst bei der Vorstellung, wie er an ihre Tür klopfte. Er zog seine Notizen zu Rate. Die Kasouras. Man würde ihn einlassen und ihm bestimmt Tee anbieten. Würde er sich richtig verhalten? Würde er in jedem Moment das Richtige tun und das Richtige sagen? Oder würde er sich Schande bereiten, wie ein Tier, durch irgendeinen dummen Fauxpas?
Das Mädchen hieß Betty. So viel Verständnis in ihrem Gesicht, dachte er. Dieser sanfte, mitfühlende Blick. Zweifellos hatte sie schon in der kurzen Zeit im Laden seine Hoffnungen und Niederlagen durchschaut.
Seine Hoffnungen - auf einmal fühlte er sich benommen. Welche Ambitionen, die an Wahnsinn, wenn nicht an Selbstmord grenzten, hatte er denn? Doch es gab Beziehungen zwischen Japanern und Yanks, obwohl der Mann zumeist ein Japaner und die Frau eine Yank war. Diese ... Bei der Vorstellung verzagte er. Und sie war verheiratet. Er verbannte die auf ihn einstürzenden Gedanken aus seinem Bewusstsein und machte sich stattdessen daran, die Morgenpost zu öffnen.
Seine Hände zitterten noch immer. Dann erinnerte er sich an die Verabredung, die er um zwei Uhr mit Mr. Tagomi hatte; auf einmal hörten seine Hände zu zittern auf, und seine Nervosität verwandelte sich in Entschlossenheit. Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen, dachte er. Wo? Wie? Was? Ein Anruf. Quellen auftun. Geschäftstüchtig sein. Vielleicht sollte ich einen restaurierten Ford Baujahr 1929 mit Stoffdach (schwarz) auftreiben - nach einem solchen Coup würde er mir auf ewige Zeiten als Kunde sicher sein. Oder ein in Kisten verpacktes dreimotoriges Postflugzeug, entdeckt in einer Scheune in Alabama. Oder der mumifizierte Kopf von Mr. N. Bill, weißer Haarschopf inklusive; ein sensationelles amerikanisches Artefakt. Damit würde ich mir im ganzen Pazifikraum, die Heimatinseln nicht ausgeschlossen, einen Ruf in Top-Kennerkreisen erwerben.
Um sich zu inspirieren, steckte er sich eine Marihuanazigarette an, Marke Land des Lächelns.
Frank Frink lag in seinem Zimmer in der Hayes Street im Bett und überlegte, wie er aufstehen sollte. Die Sonne schien am Rollo vorbei auf einen Haufen Kleider, die auf den Boden gefallen waren. Auch seine Brille lag da. Ob er darauftreten würde? Ich muss irgendwie anders ins Bad kommen, dachte er. Entweder kriechend oder mich wälzend. Er hatte Kopfschmerzen, doch er fühlte sich nicht niedergeschlagen. Schau niemals zurück, sagte er sich. Wie spät? Die Uhr stand auf der Kommode. Elf Uhr dreißig! Du liebe Güte. Trotzdem blieb er liegen.
Ich bin gefeuert, dachte er.
Gestern hatte er in der Fabrik einen Fehler gemacht. Hatte Mr. Wyndam-Matson gegenüber die falschen Reden geschwungen, Wyndam-Matson mit dem eingebeulten Gesicht, der Sokratesnase, dem Diamantring und dem goldenen Reißverschluss. Mit anderen Worten, eine Macht. Eine Institution ... Frink ließ die Gedanken müde schweifen.
Ja, dachte er, und jetzt komme ich auf die schwarze Liste; meine Kenntnisse sind wertlos, ich bin meinen Job los. Fünfzehn Jahre Erfahrung. Alles umsonst.
Jetzt musste er bei der Arbeitskommission vorstellig werden und seine Arbeitskategorie neu festlegen lassen. Da er nie dahintergekommen war, in welcher Beziehung Wyndam-Matson zu den Pinocs stand - der weißen Marionettenregierung in Sacramento -, konnte er auch nicht sagen, wie groß der Einfluss seines Ex-Chefs auf die wahren Autoritäten, die Japaner, war. Die AK wurde von den Pinocs geleitet. Er würde vier oder fünf plumpen Weißen mittleren Alters vom Typ Wyndam-Matson gegenübersitzen. Wenn er dort keine Zusage bekam, würde er sich an eine der Import-Export-Handelsmissionen wenden müssen, die von Tokio aus operierten und in ganz Kalifornien, Oregon, Washington und dem den Pazifischen Staaten von Amerika angehörenden Teil Nevadas Niederlassungen hatten. Und wenn er es dort auch nicht schaffte ...
Er lag im Bett und betrachtete versonnen den alten Beleuchtungskörper an der Decke. Er könnte zum Beispiel in die Rocky-Mountain- Staaten gehen. Die aber standen in loser Verbindung mit den PSA und würden ihn möglicherweise ausliefern. Und der Süden? Er schauderte. Nein, nicht das. Als Weißer würde er dort mehr Spielraum haben als in den PSA. Aber ... mit einem solchen Land wollte er nichts zu tun haben.
Und schlimmer noch, der Süden war eng mit dem Reich verflochten, wirtschaftlich, ideologisch, auf allen möglichen Ebenen. Und Frank Frink war Jude.
Eigentlich hieß er Frank Fink. Aufgewachsen war er an der Ostküste, in New York, bis er unmittelbar nach dem Zusammenbruch Russlands in die Armee der Vereinigten Staaten von Amerika eingezogen worden war. Nachdem die Japse Hawaii erobert hatten, schickte man ihn an die Westküste. Bei Kriegsende befand er sich auf der japanischen Seite der Demarkationslinie. Und das tat er heute, fünfzehn Jahre später, immer noch.
Im Jahre 1947, am Tag der Kapitulation, war er mehr oder minder durchgedreht. In seinem Hass auf die Japse schwor er Rache; er versteckte seine Dienstwaffen gut verpackt und geölt drei Meter unter der Erde in einem Keller, für den Tag, da er und seine Kameraden sich erheben würden ... Die Zeit aber heilt alle Wunden, was er nicht berücksichtigt hatte. Wenn er sich heute an sein ursprüngliches Vorhaben erinnerte, an das geplante große Blutbad, die Vertreibung der Pinocs und ihrer Herren, dann war ihm, als blättere er in einem der zerfledderten Jahrbücher aus Highschool-Zeiten. Frank »Goldfisch« Fink möchte Paläontologe werden und gelobt, Norma Prout zu heiraten. Norma Prout war die Klassenschönheit gewesen, und er hatte wirklich gelobt, sie zu heiraten. Das alles lag so verflucht weit zurück, so weit wie die Songs von Fred Allen oder die Filme von W. C. Fields. Seit dem Jahr 1947 hatte er bestimmt schon sechshunderttausend Japaner gesehen oder mit ihnen geredet, und der Wunsch, einem von ihnen oder ihnen allen Gewalt zuzufügen, war nach den ersten Monaten einfach nicht mehr aufgetaucht. Es war einfach nicht mehr wichtig.
Aber halt! Einen gab es, einen gewissen Mr. Omuro, der in der Innenstadt von San Francisco eine Anzahl von Mietshäusern erworben hatte und eine Zeitlang Frinks Vermieter gewesen war. Der war ein faules Ei, dachte Frink. Ein Blutsauger, der keine Reparaturen ausführen ließ, die Zimmer immer kleiner und kleiner abteilte und ständig die Miete erhöhte ... Omuro hatte die Armen ausgenommen, besonders die nahezu mittellosen ehemaligen Soldaten in den Jahren der Depression Anfang der Fünfziger. Doch dann hatte eine der japanischen Handelsmissionen dafür gesorgt, dass Omuro wegen seiner Habgier geköpft wurde. Und heutzutage war ein solcher Verstoß gegen die harten, aber gerechten japanischen Gesetze einfach undenkbar. Dies war den unbestechlichen japanischen Besatzungsbeamten zuzuschreiben, zumal denen, die nach dem Sturz des Kriegskabinetts ins Land gekommen waren.
Der Gedanke an die ruppige, unerschütterliche Ehrlichkeit der Handelsmissionen war beruhigend. Selbst Wyndam-Matson würden sie abwimmeln wie eine lästige Fliege. Ob ihm nun die W-M Corporation gehörte oder nicht. Zumindest hoffte Frink das. Ich glaube, ich habe wirklich Vertrauen in dieses Gerede von wegen Pazifischer Allianz Gemeinsamen Wohlstands, dachte er. Seltsam. Damals, als alles anfing, sah es nach leeren Versprechungen aus. Nach bloßer Propaganda. Aber jetzt ...
Er stand auf und wankte ins Bad. Während er sich wusch und rasierte, hörte er sich die Mittagsnachrichten im Radio an.
»Wir wollen diese Leistung nicht geringschätzen«, hieß es, als er gerade das Warmwasser abstellte.
Nein, das wollen wir nicht, dachte Frink verbittert. Er wusste, um welche spezielle Leistung es im Radio ging. Gleichwohl hatte die Vorstellung, dass sture, mürrische Deutsche auf dem Mars herumliefen, auf dem roten Sand, den vor ihnen noch kein Mensch betreten hatte, etwas Komisches an sich. Als er sich die Wangen einschäumte, begann Frink vor sich hin zu singen. Gott, Herr Kreisleiter. Eignet sich dieser Ort vielleicht für ein Konzentrationslager? Das Wetter ist so schön. Heiß, aber schön ...
Der Radiosprecher sagte: »Die Gesellschaft des Gemeinsamen Wohlstands muss innehalten und sich überlegen, ob wir in unserem Streben nach einem gerechten Gleichgewicht wechselseitiger Pflichten und Verantwortlichkeiten in Verbindung mit Belohnungen ...« - der typische Jargon der herrschenden Hierarchie, dachte Frink - »... haben wir die zukünftige Arena nicht verkannt, in der sich die Geschicke der Menschen erfüllen werden, seien sie nun nordisch, japanisch oder negroid ...« Und so weiter und so fort.
Beim Ankleiden spann Frink seine Satire mit Behagen weiter. Das Wetter ist schön, so schön. Aber es fehlt an der Luft zum Atmen ...
Eines ließ sich jedenfalls nicht abstreiten: Der Pazifik hatte nichts zur Kolonisierung der Planeten beigetragen. Er hatte sich in Südamerika engagiert - festgerannt, sollte man besser sagen. Während die Deutschen gewaltige Roboterkonstruktionen durchs Weltall jagten, brannten die Japaner noch immer den brasilianischen Regenwald nieder und errichteten achtstöckige Lehmbauten für ehemalige Kopfjäger. Wenn die Japse ihre erste Rakete vom Erdboden hochbekamen, würden die Deutschen bereits das ganze Sonnensystem eingesackt haben. In der guten alten Zeit hatten die Deutschen abseits gestanden, als das übrige Europa seine Kolonialreiche ausbaute - diesmal würden sie nicht leer ausgehen, dachte Frink; sie haben dazugelernt.
Und dann fiel ihm Afrika ein und das Experiment, das die Nazis dort durchführten. Einen Moment lang stockte ihm das Blut in den Adern.
Diese riesige, menschenleere Ruine.
Der Radiosprecher sagte: »... voller Stolz sollten wir uns vergegenwärtigen, welch großen Wert wir auf die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen gelegt haben, auf ihr subspirituelles Trachten, das ...«
Frink schaltete das Radio aus. Dann, als er sich ein wenig beruhigt hatte, schaltete er es wieder ein.
Heilige Scheiße, dachte er. Afrika. Die Gespenster getöteter Stämme. Ausgelöscht, um ein Land zu schaffen, das - ja, wie sollte es eigentlich aussehen, dieses Land? Vielleicht wussten das nicht einmal die Meisterarchitekten in Berlin. Ein Haufen Automaten, die aufbauten und schufteten. Aufbauten? Niederrissen! Monster aus irgendeinem paläontologischen Museum, im Begriff, Trinkgefäße aus den Schädeln ihrer Feinde zu fertigen, nachdem sie sie zuvor säuberlich ausgekratzt und einträchtig das rohe Hirn verzehrt hatten. Sodann nützliche Gerätschaften aus menschlichen Beinknochen. Ganz schön umsichtig, daran zu denken, nicht nur die Menschen zu essen, die man nicht mochte, sondern sie obendrein aus ihren eigenen Schädeln zu verspeisen. Die ersten Techniker! Prähistorische Menschen in sterilen weißen Laborkitteln, in irgendeinem Universitätslabor in Berlin, damit beschäftigt, sich neue Verwendungsmöglichkeiten für Schädel, Haut, Ohren und Fett anderer Menschen auszudenken. Jawohl, Herr Doktor. Eine neue Einsatzmöglichkeit für einen großen Zeh; sehen Sie, man kann das Gelenk für einen Zigarettenanzünder verwenden. Wenn jetzt nur noch Herr Krupp damit in die Massenfertigung gehen kann ...
Die Vorstellung, dass der uralte, riesenhafte, halbmenschliche Kannibale jetzt gedieh und abermals die Welt regierte, entsetzte ihn. Eine Million Jahre waren wir vor ihm auf der Flucht, dachte er, und nun ist er wieder da. Und das nicht bloß als Gegner - sondern als Herrscher.
»... können wir nur bedauern«, tönte die Stimme des kleinen
Gelbbauchs aus Tokio. Mein Gott, dachte Frink, und wir haben sie für Affen gehalten, diese zivilisierten krummbeinigen Zwerge, die eher ihre Frauen zu Siegelwachs einschmelzen als Gaskammern errichten würden. »... und in der Vergangenheit haben wir häufig die mit diesem fanatischen Ehrgeiz einhergehende furchtbare Verschwendung von Menschenleben bedauert, welche die breite Masse der Menschen gänzlich außerhalb der gesetzlichen Gemeinschaft stellt.« Ja, die Japse verstanden sich auf Recht und Gesetz. »... um einen wohlbekannten westlichen Heiligen zu zitieren: ›Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?‹« Der Sprecher legte eine Pause ein. Frink, der sich gerade die Krawatte band, hielt ebenfalls inne. Die morgendliche Minute der Besinnung.
Ich muss hier meinen Pakt mit ihnen schließen, dachte er. Schwarze Liste hin oder her; es wäre mein Tod, wenn ich das japanisch kontrollierte Gebiet verlassen und in den Süden oder nach Europa gehen würde - an einen Ort innerhalb des Reiches.
Ich werde mich mit dem alten Wyndam-Matson arrangieren müssen.
Auf der Bettkante sitzend, neben sich eine Tasse lauwarmen Tee, schlug Frink das I Ging auf. Er nahm die neunundvierzig Schafgarbenstängel aus dem Lederköcher und wartete, bis er sich gesammelt und seine Fragen formuliert hatte.
Laut sagte er: »Wie soll ich mich Wyndam-Matson gegenüber verhalten, um zu einer vernünftigen Regelung zu gelangen?« Er schrieb die Frage auf die Tafel, dann wechselte er die Schafgarbenstängel von Hand zu Hand, bis er die erste Linie, den Anfang, hatte. Eine Acht. Die Hälfte der vierundsechzig Hexagramme fiel damit bereits weg. Er teilte die Stängel und erhielt die zweite Linie. Geschickt, wie er war, hatte er bald alle sechs Linien beisammen; das Hexagramm lag vor ihm, und er brauchte gar nicht erst nachzuschlagen. Er hatte das Hexagramm fünfzehn gleich erkannt: Kiën - die Bescheidenheit. Aha. Die Niederen werden erhoben, die Hohen erniedrigt, mächtige Familien gedemütigt werden; er kannte den Text auswendig. Ein gutes Zeichen. Das Orakel war günstig.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Seit einer Woche wartete Mr. Robert Childan nun schon mit Spannung auf die Post. Aber die wertvolle Sendung aus den Rocky-Mountain- Staaten war wieder nicht eingetroffen. Als er am Freitagmorgen seinen Laden aufschloss und auf dem Boden unter dem Postschlitz nur Briefe vorfand, dachte er: Da werde ich wohl Ärger mit meinem Kunden bekommen.
Er zapfte sich eine Tasse Instant-Tee aus dem Fünf-Cent-Automaten an der Wand, nahm einen Besen und begann sauberzumachen; bald darauf war das American Artistic Handcrafts Inc. blitzsauber und bereit für den Tag. Die Registrierkasse war voll Wechselgeld, in der Vase waren frische Ringelblumen, aus dem Radio tönte Hintergrundmusik. Draußen hasteten die Geschäftsleute zu ihren Büros in der Montgomery Street. In der Ferne fuhr eine Straßenbahn vorbei; Childan hielt mit der Arbeit inne und sah ihr mit Behagen nach. Frauen in langen, farbenfrohen Seidenkleidern ... auch denen sah er nach. Dann läutete das Telefon. Er nahm ab.
»Ja«, sagte eine wohlbekannte Stimme, als er sich gemeldet hatte. »Hier ist Mr. Tagomi. Ist das Rekrutierungsplakat aus dem Bürgerkrieg eingetroffen, Sir? Bitte erinnern Sie sich, Sie haben es mir schon für letzte Woche versprochen.« Die pedantische, scharfe Stimme, kaum noch höflich, kaum noch auf Manieren achtend. »Habe ich Ihnen nicht eine Anzahlung gemacht, Mr. Childan? Es soll ein Geschenk sein, wissen Sie. Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Für einen Geschäftspartner.«
»Umfangreiche Nachforschungen«, setzte Childan an, »für die ich selbst aufkommen musste, Mr. Tagomi, Sir. Wie Sie wissen, kommt das erwartete Paket von außerhalb, und daher ...«
Tagomi ließ ihn jedoch nicht ausreden. »Dann ist es also noch nicht eingetroffen.«
»Nein, Mr. Tagomi, Sir.«
Eisiges Schweigen.
»Ich kann nicht länger warten«, sagte Tagomi dann.
»Nein, Sir.« Childan blickte verdrießlich durch das Ladenfenster in den warmen Sonnentag und zu den Bürogebäuden von San Francisco hinaus.
»Dann etwas anderes. Ihre Empfehlung, Mr. Childan?« Tagomi sprach den Namen absichtlich falsch aus; eine wohldosierte Beleidigung, die Childan das Blut zu Kopf steigen ließ. Eine demütigendeZurechtweisung. Robert Childans Hoffnungen, Ängste und Qualen überwältigten ihn, lähmten ihm die Zunge. Er stammelte, seine Hand, die den Telefonhörer hielt, fühlte sich klebrig an. Im Laden roch es nach Ringelblumen; die Musik spielte weiter, doch ihm war, als stürze er in irgendein fernes Meer.
»Also ...«, brachte er mühsam hervor. »Ein Butterfass. Ein Speiseeisbereiter, circa 1900.« Er konnte nicht mehr nachdenken. Gerade dann, wenn man es vergisst; wenn man sich etwas vormacht. Er war achtunddreißig Jahre alt und erinnerte sich noch gut an die Zeit vor dem Krieg, als alles anders war.
An Franklin D. Roosevelt und die Weltausstellung; an die bessere Welt, die nun Vergangenheit war. »Könnte ich Ihnen vielleicht ein paar interessante Gegenstände ins Büro bringen?«, murmelte er.
Sie verabredeten sich für zwei Uhr. Ich muss den Laden schließen, dachte Childan, als er auflegte. Keine andere Wahl. Solche Kunden muss ich mir gewogen halten; das Geschäft hängt davon ab.
Er zitterte, und auf einmal merkte er, dass jemand den Laden betreten hatte - ein Pärchen. Ein junger Mann und ein Mädchen, beide gutaussehend, gut gekleidet. Perfekt. Er beruhigte sich und trat ihnen mit einem geschäftsmäßigen Lächeln entgegen. Sie beugten sich gerade über eine Auslage, hatten einen hübschen Aschenbecher hochgehoben. Vermutlich verheiratet. Wohnten wohl außerhalb in der Nebelstadt, in den neuen, exklusiven Hochhausappartements oberhalb von Belmont.
»Hallo«, sagte er und fühlte sich gleich besser. Ihr Lächeln war ohne Herablassung, pure Freundlichkeit. Seine Exponate - tatsächlich die besten ihrer Art an der ganzen Küste - hatten sie wohl beeindruckt; das sah er und war dankbar dafür. Sie zeigten Verständnis.
»Wirklich ausgezeichnete Stücke, Sir«, sagte der junge Mann.
Childan verneigte sich spontan.
Ihre Augen leuchteten warm. Verliebtheit zeigte sich darin, aber auch das Vergnügen, das sie bei der Betrachtung der Kunstgegenstände miteinander teilten; sie dankten ihm dafür, dass er all dies für sie bereithielt, Dinge, die sie in die Hand nehmen und betrachten konnten, auch ohne sie kaufen zu müssen. Ja, dachte er, sie wissen, in was für einem Laden sie sind; das sind keine Ramschwaren für Touristen, keine billigen Rotholzspangen mit der Aufschrift Muir Woods, Marin County, PSA, keine komischen Anstecker, Plastikringe, Postkarten oder Ansichten von der Brücke. Besonders die Augen des Mädchens, groß und dunkel. Wie leicht, dachte Childan, könnte ich mich in ein solches Mädchen verlieben. Wie tragisch mein Leben dann wäre - als wäre es nicht schon schlimm genug. Das modisch frisierte schwarze Haar, die lackierten Fingernägel, die für die herabbaumelnden handgefertigten Messingohrringe durchbohrten Ohren.
»Ihre Ohrringe«, murmelte er. »Hier gekauft?«
»Nein«, sagte sie. »Zu Hause.«
Childan nickte. Keine zeitgenössische amerikanische Kunst; in einem Laden wie seinem hatte nur die Vergangenheit Platz. »Bleiben Sie länger hier?«, fragte er. »In San Francisco?«
»Ich wurde auf unbestimmte Zeit hierher versetzt«, erwiderte der Mann. »Zur Kommission zur Verbesserung des Lebensstandards benachteiligter Regionen.« Stolz spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Kein Militär. Keiner dieser Kaugummi kauenden ungehobelten Rekruten mit den gierigen Bauerngesichtern, die über die Market Street schlenderten und die Pornoläden begafften, die Sexfilme, die Schießbuden, die billigen Nachtclubs mit den Fotos grinsender, gealterter Blondinen, die mit schrumpligen Fingern ihre Brustwarzen rubbelten ... die Jazzschuppen, die sich in der flachen Gegend San Franciscos drängten, aus Wellblech und Dachpappe errichtete Kaschemmen, die aus den Ruinen entstanden waren, noch ehe die letzte Bombe gefallen war. Nein - dieser Mann gehörte zur Elite. Kultiviert, gebildet, vielleicht sogar in höherem Maße als Mr. Tagomi, der immerhin ein hoher Beamter bei der Handelsmission für die Pazifikküste war. Tagomi war ein alter Mann. Seine ganze Haltung war zu Zeiten des Kriegskabinetts geprägt worden.
»Suchen Sie traditionelle amerikanische Volkskunst als Geschenk? «, fragte Childan. »Oder wollen Sie eine Wohnung für die Dauer Ihres Aufenthalts ausstatten?« Sollte er mit der zweiten Vermutung recht haben ... Sein Herz schlug unwillkürlich schneller.
»Gut geraten«, sagte das Mädchen. »Wir fangen gerade an, uns einzurichten. Sind noch ein bisschen unentschlossen. Könnten Sie uns vielleicht beraten?«
»Ja, ich könnte in Ihre Wohnung kommen. Ich bringe ein paar Musterkoffer mit, dann können Sie in aller Ruhe aussuchen. Das ist nämlich unsere Spezialität.« Childan senkte die Augen, um seine Hoffnung zu verbergen. Hier waren womöglich Tausende zu holen. »Ich bekomme demnächst einen Tisch aus Neuengland, Ahorn, alles mit Holzteilen gefertigt, keine Nägel. Wunderschön und wertvoll. Und einen Spiegel aus der Zeit des Krieges von 1812. Und Eingeborenenkunst: einen Satz Ziegenhaarteppiche, gefärbt mit Pflanzenfarben.«
»Ich persönlich«, sagte der Mann, »ziehe die städtische Kunst vor.«
»Ja«, erwiderte Childan eifrig. »Hören Sie, Sir. Ich habe da ein Wandgemälde aus der Zeit von Roosevelts Arbeitsbeschaffungsprogramm für Künstler, auf dem Horace Greeley abgebildet ist. Ein Original, ausgeführt auf Holz, in vier Teilen. Für Sammler von unschätzbarem Wert.«
»Oh«, machte der Mann, und seine Augen funkelten.
»Und einen Grammophonschrank von 1920, umgebaut zu einer Hausbar.«
»Oh.«
»Und jetzt kommt das Beste, Sir: ein gerahmtes, signiertes Foto von
Jean Harlow.« Der Mann riss staunend die Augen auf.
»Wollen wir eine Verabredung treffen?«, fragte Childan, den psychologisch günstigen Moment beim Schopf ergreifend. Er zückte Kugelschreiber und Notizbuch. »Ich werde mir Ihren Namen und Ihre Adresse notieren, Sir.«
Anschließend ging das Pärchen hinaus. Childan blickte auf die Straße, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Freude. Wenn das Geschäft immer so liefe ... Doch es ging nicht bloß ums Geschäft, um den Erfolg seines Ladens. Dies war eine Gelegenheit, ein junges japanisches Paar privat kennenzulernen, auf der Basis, dass sie ihn als Menschen akzeptierten und nicht bloß als Yank oder bestenfalls als Kunsthändler. Ja, diese jungen Leute der heranwachsenden Generation, die sich nicht mehr an die Vorkriegszeit oder den Krieg erinnerten - sie waren die Hoffnung der Welt. Standesunterschiede bedeuteten ihnen nicht mehr viel.
Irgendwann wird Schluss sein, dachte er. Eines Tages. Kein Standesdünkel mehr. Keine Regierten und Regierenden mehr. Nur noch Menschen.
Gleichwohl zitterte er vor Angst bei der Vorstellung, wie er an ihre Tür klopfte. Er zog seine Notizen zu Rate. Die Kasouras. Man würde ihn einlassen und ihm bestimmt Tee anbieten. Würde er sich richtig verhalten? Würde er in jedem Moment das Richtige tun und das Richtige sagen? Oder würde er sich Schande bereiten, wie ein Tier, durch irgendeinen dummen Fauxpas?
Das Mädchen hieß Betty. So viel Verständnis in ihrem Gesicht, dachte er. Dieser sanfte, mitfühlende Blick. Zweifellos hatte sie schon in der kurzen Zeit im Laden seine Hoffnungen und Niederlagen durchschaut.
Seine Hoffnungen - auf einmal fühlte er sich benommen. Welche Ambitionen, die an Wahnsinn, wenn nicht an Selbstmord grenzten, hatte er denn? Doch es gab Beziehungen zwischen Japanern und Yanks, obwohl der Mann zumeist ein Japaner und die Frau eine Yank war. Diese ... Bei der Vorstellung verzagte er. Und sie war verheiratet. Er verbannte die auf ihn einstürzenden Gedanken aus seinem Bewusstsein und machte sich stattdessen daran, die Morgenpost zu öffnen.
Seine Hände zitterten noch immer. Dann erinnerte er sich an die Verabredung, die er um zwei Uhr mit Mr. Tagomi hatte; auf einmal hörten seine Hände zu zittern auf, und seine Nervosität verwandelte sich in Entschlossenheit. Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen, dachte er. Wo? Wie? Was? Ein Anruf. Quellen auftun. Geschäftstüchtig sein. Vielleicht sollte ich einen restaurierten Ford Baujahr 1929 mit Stoffdach (schwarz) auftreiben - nach einem solchen Coup würde er mir auf ewige Zeiten als Kunde sicher sein. Oder ein in Kisten verpacktes dreimotoriges Postflugzeug, entdeckt in einer Scheune in Alabama. Oder der mumifizierte Kopf von Mr. N. Bill, weißer Haarschopf inklusive; ein sensationelles amerikanisches Artefakt. Damit würde ich mir im ganzen Pazifikraum, die Heimatinseln nicht ausgeschlossen, einen Ruf in Top-Kennerkreisen erwerben.
Um sich zu inspirieren, steckte er sich eine Marihuanazigarette an, Marke Land des Lächelns.
Frank Frink lag in seinem Zimmer in der Hayes Street im Bett und überlegte, wie er aufstehen sollte. Die Sonne schien am Rollo vorbei auf einen Haufen Kleider, die auf den Boden gefallen waren. Auch seine Brille lag da. Ob er darauftreten würde? Ich muss irgendwie anders ins Bad kommen, dachte er. Entweder kriechend oder mich wälzend. Er hatte Kopfschmerzen, doch er fühlte sich nicht niedergeschlagen. Schau niemals zurück, sagte er sich. Wie spät? Die Uhr stand auf der Kommode. Elf Uhr dreißig! Du liebe Güte. Trotzdem blieb er liegen.
Ich bin gefeuert, dachte er.
Gestern hatte er in der Fabrik einen Fehler gemacht. Hatte Mr. Wyndam-Matson gegenüber die falschen Reden geschwungen, Wyndam-Matson mit dem eingebeulten Gesicht, der Sokratesnase, dem Diamantring und dem goldenen Reißverschluss. Mit anderen Worten, eine Macht. Eine Institution ... Frink ließ die Gedanken müde schweifen.
Ja, dachte er, und jetzt komme ich auf die schwarze Liste; meine Kenntnisse sind wertlos, ich bin meinen Job los. Fünfzehn Jahre Erfahrung. Alles umsonst.
Jetzt musste er bei der Arbeitskommission vorstellig werden und seine Arbeitskategorie neu festlegen lassen. Da er nie dahintergekommen war, in welcher Beziehung Wyndam-Matson zu den Pinocs stand - der weißen Marionettenregierung in Sacramento -, konnte er auch nicht sagen, wie groß der Einfluss seines Ex-Chefs auf die wahren Autoritäten, die Japaner, war. Die AK wurde von den Pinocs geleitet. Er würde vier oder fünf plumpen Weißen mittleren Alters vom Typ Wyndam-Matson gegenübersitzen. Wenn er dort keine Zusage bekam, würde er sich an eine der Import-Export-Handelsmissionen wenden müssen, die von Tokio aus operierten und in ganz Kalifornien, Oregon, Washington und dem den Pazifischen Staaten von Amerika angehörenden Teil Nevadas Niederlassungen hatten. Und wenn er es dort auch nicht schaffte ...
Er lag im Bett und betrachtete versonnen den alten Beleuchtungskörper an der Decke. Er könnte zum Beispiel in die Rocky-Mountain- Staaten gehen. Die aber standen in loser Verbindung mit den PSA und würden ihn möglicherweise ausliefern. Und der Süden? Er schauderte. Nein, nicht das. Als Weißer würde er dort mehr Spielraum haben als in den PSA. Aber ... mit einem solchen Land wollte er nichts zu tun haben.
Und schlimmer noch, der Süden war eng mit dem Reich verflochten, wirtschaftlich, ideologisch, auf allen möglichen Ebenen. Und Frank Frink war Jude.
Eigentlich hieß er Frank Fink. Aufgewachsen war er an der Ostküste, in New York, bis er unmittelbar nach dem Zusammenbruch Russlands in die Armee der Vereinigten Staaten von Amerika eingezogen worden war. Nachdem die Japse Hawaii erobert hatten, schickte man ihn an die Westküste. Bei Kriegsende befand er sich auf der japanischen Seite der Demarkationslinie. Und das tat er heute, fünfzehn Jahre später, immer noch.
Im Jahre 1947, am Tag der Kapitulation, war er mehr oder minder durchgedreht. In seinem Hass auf die Japse schwor er Rache; er versteckte seine Dienstwaffen gut verpackt und geölt drei Meter unter der Erde in einem Keller, für den Tag, da er und seine Kameraden sich erheben würden ... Die Zeit aber heilt alle Wunden, was er nicht berücksichtigt hatte. Wenn er sich heute an sein ursprüngliches Vorhaben erinnerte, an das geplante große Blutbad, die Vertreibung der Pinocs und ihrer Herren, dann war ihm, als blättere er in einem der zerfledderten Jahrbücher aus Highschool-Zeiten. Frank »Goldfisch« Fink möchte Paläontologe werden und gelobt, Norma Prout zu heiraten. Norma Prout war die Klassenschönheit gewesen, und er hatte wirklich gelobt, sie zu heiraten. Das alles lag so verflucht weit zurück, so weit wie die Songs von Fred Allen oder die Filme von W. C. Fields. Seit dem Jahr 1947 hatte er bestimmt schon sechshunderttausend Japaner gesehen oder mit ihnen geredet, und der Wunsch, einem von ihnen oder ihnen allen Gewalt zuzufügen, war nach den ersten Monaten einfach nicht mehr aufgetaucht. Es war einfach nicht mehr wichtig.
Aber halt! Einen gab es, einen gewissen Mr. Omuro, der in der Innenstadt von San Francisco eine Anzahl von Mietshäusern erworben hatte und eine Zeitlang Frinks Vermieter gewesen war. Der war ein faules Ei, dachte Frink. Ein Blutsauger, der keine Reparaturen ausführen ließ, die Zimmer immer kleiner und kleiner abteilte und ständig die Miete erhöhte ... Omuro hatte die Armen ausgenommen, besonders die nahezu mittellosen ehemaligen Soldaten in den Jahren der Depression Anfang der Fünfziger. Doch dann hatte eine der japanischen Handelsmissionen dafür gesorgt, dass Omuro wegen seiner Habgier geköpft wurde. Und heutzutage war ein solcher Verstoß gegen die harten, aber gerechten japanischen Gesetze einfach undenkbar. Dies war den unbestechlichen japanischen Besatzungsbeamten zuzuschreiben, zumal denen, die nach dem Sturz des Kriegskabinetts ins Land gekommen waren.
Der Gedanke an die ruppige, unerschütterliche Ehrlichkeit der Handelsmissionen war beruhigend. Selbst Wyndam-Matson würden sie abwimmeln wie eine lästige Fliege. Ob ihm nun die W-M Corporation gehörte oder nicht. Zumindest hoffte Frink das. Ich glaube, ich habe wirklich Vertrauen in dieses Gerede von wegen Pazifischer Allianz Gemeinsamen Wohlstands, dachte er. Seltsam. Damals, als alles anfing, sah es nach leeren Versprechungen aus. Nach bloßer Propaganda. Aber jetzt ...
Er stand auf und wankte ins Bad. Während er sich wusch und rasierte, hörte er sich die Mittagsnachrichten im Radio an.
»Wir wollen diese Leistung nicht geringschätzen«, hieß es, als er gerade das Warmwasser abstellte.
Nein, das wollen wir nicht, dachte Frink verbittert. Er wusste, um welche spezielle Leistung es im Radio ging. Gleichwohl hatte die Vorstellung, dass sture, mürrische Deutsche auf dem Mars herumliefen, auf dem roten Sand, den vor ihnen noch kein Mensch betreten hatte, etwas Komisches an sich. Als er sich die Wangen einschäumte, begann Frink vor sich hin zu singen. Gott, Herr Kreisleiter. Eignet sich dieser Ort vielleicht für ein Konzentrationslager? Das Wetter ist so schön. Heiß, aber schön ...
Der Radiosprecher sagte: »Die Gesellschaft des Gemeinsamen Wohlstands muss innehalten und sich überlegen, ob wir in unserem Streben nach einem gerechten Gleichgewicht wechselseitiger Pflichten und Verantwortlichkeiten in Verbindung mit Belohnungen ...« - der typische Jargon der herrschenden Hierarchie, dachte Frink - »... haben wir die zukünftige Arena nicht verkannt, in der sich die Geschicke der Menschen erfüllen werden, seien sie nun nordisch, japanisch oder negroid ...« Und so weiter und so fort.
Beim Ankleiden spann Frink seine Satire mit Behagen weiter. Das Wetter ist schön, so schön. Aber es fehlt an der Luft zum Atmen ...
Eines ließ sich jedenfalls nicht abstreiten: Der Pazifik hatte nichts zur Kolonisierung der Planeten beigetragen. Er hatte sich in Südamerika engagiert - festgerannt, sollte man besser sagen. Während die Deutschen gewaltige Roboterkonstruktionen durchs Weltall jagten, brannten die Japaner noch immer den brasilianischen Regenwald nieder und errichteten achtstöckige Lehmbauten für ehemalige Kopfjäger. Wenn die Japse ihre erste Rakete vom Erdboden hochbekamen, würden die Deutschen bereits das ganze Sonnensystem eingesackt haben. In der guten alten Zeit hatten die Deutschen abseits gestanden, als das übrige Europa seine Kolonialreiche ausbaute - diesmal würden sie nicht leer ausgehen, dachte Frink; sie haben dazugelernt.
Und dann fiel ihm Afrika ein und das Experiment, das die Nazis dort durchführten. Einen Moment lang stockte ihm das Blut in den Adern.
Diese riesige, menschenleere Ruine.
Der Radiosprecher sagte: »... voller Stolz sollten wir uns vergegenwärtigen, welch großen Wert wir auf die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen gelegt haben, auf ihr subspirituelles Trachten, das ...«
Frink schaltete das Radio aus. Dann, als er sich ein wenig beruhigt hatte, schaltete er es wieder ein.
Heilige Scheiße, dachte er. Afrika. Die Gespenster getöteter Stämme. Ausgelöscht, um ein Land zu schaffen, das - ja, wie sollte es eigentlich aussehen, dieses Land? Vielleicht wussten das nicht einmal die Meisterarchitekten in Berlin. Ein Haufen Automaten, die aufbauten und schufteten. Aufbauten? Niederrissen! Monster aus irgendeinem paläontologischen Museum, im Begriff, Trinkgefäße aus den Schädeln ihrer Feinde zu fertigen, nachdem sie sie zuvor säuberlich ausgekratzt und einträchtig das rohe Hirn verzehrt hatten. Sodann nützliche Gerätschaften aus menschlichen Beinknochen. Ganz schön umsichtig, daran zu denken, nicht nur die Menschen zu essen, die man nicht mochte, sondern sie obendrein aus ihren eigenen Schädeln zu verspeisen. Die ersten Techniker! Prähistorische Menschen in sterilen weißen Laborkitteln, in irgendeinem Universitätslabor in Berlin, damit beschäftigt, sich neue Verwendungsmöglichkeiten für Schädel, Haut, Ohren und Fett anderer Menschen auszudenken. Jawohl, Herr Doktor. Eine neue Einsatzmöglichkeit für einen großen Zeh; sehen Sie, man kann das Gelenk für einen Zigarettenanzünder verwenden. Wenn jetzt nur noch Herr Krupp damit in die Massenfertigung gehen kann ...
Die Vorstellung, dass der uralte, riesenhafte, halbmenschliche Kannibale jetzt gedieh und abermals die Welt regierte, entsetzte ihn. Eine Million Jahre waren wir vor ihm auf der Flucht, dachte er, und nun ist er wieder da. Und das nicht bloß als Gegner - sondern als Herrscher.
»... können wir nur bedauern«, tönte die Stimme des kleinen
Gelbbauchs aus Tokio. Mein Gott, dachte Frink, und wir haben sie für Affen gehalten, diese zivilisierten krummbeinigen Zwerge, die eher ihre Frauen zu Siegelwachs einschmelzen als Gaskammern errichten würden. »... und in der Vergangenheit haben wir häufig die mit diesem fanatischen Ehrgeiz einhergehende furchtbare Verschwendung von Menschenleben bedauert, welche die breite Masse der Menschen gänzlich außerhalb der gesetzlichen Gemeinschaft stellt.« Ja, die Japse verstanden sich auf Recht und Gesetz. »... um einen wohlbekannten westlichen Heiligen zu zitieren: ›Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?‹« Der Sprecher legte eine Pause ein. Frink, der sich gerade die Krawatte band, hielt ebenfalls inne. Die morgendliche Minute der Besinnung.
Ich muss hier meinen Pakt mit ihnen schließen, dachte er. Schwarze Liste hin oder her; es wäre mein Tod, wenn ich das japanisch kontrollierte Gebiet verlassen und in den Süden oder nach Europa gehen würde - an einen Ort innerhalb des Reiches.
Ich werde mich mit dem alten Wyndam-Matson arrangieren müssen.
Auf der Bettkante sitzend, neben sich eine Tasse lauwarmen Tee, schlug Frink das I Ging auf. Er nahm die neunundvierzig Schafgarbenstängel aus dem Lederköcher und wartete, bis er sich gesammelt und seine Fragen formuliert hatte.
Laut sagte er: »Wie soll ich mich Wyndam-Matson gegenüber verhalten, um zu einer vernünftigen Regelung zu gelangen?« Er schrieb die Frage auf die Tafel, dann wechselte er die Schafgarbenstängel von Hand zu Hand, bis er die erste Linie, den Anfang, hatte. Eine Acht. Die Hälfte der vierundsechzig Hexagramme fiel damit bereits weg. Er teilte die Stängel und erhielt die zweite Linie. Geschickt, wie er war, hatte er bald alle sechs Linien beisammen; das Hexagramm lag vor ihm, und er brauchte gar nicht erst nachzuschlagen. Er hatte das Hexagramm fünfzehn gleich erkannt: Kiën - die Bescheidenheit. Aha. Die Niederen werden erhoben, die Hohen erniedrigt, mächtige Familien gedemütigt werden; er kannte den Text auswendig. Ein gutes Zeichen. Das Orakel war günstig.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Philip K. Dick
Philip K. Dick hat die Science-Fiction nicht erfunden, aber aus ihr eine Kunst gemacht. Mit prophetischem Blick und genialischer Phantasie sah er Szenarien voraus, in denen unsere Gegenwart zum Albtraum wird: »Blade Runner«, »Minority Report«, »Total Recall«, »Impostor«, »Paycheck«, »Der dunkle Schirm« - all diese Filme basieren auf seinen Büchern. 1928 in Chicago geboren, rettete er sich aus seiner psychotischen Jugend nach Berkeley. Er nahm so ziemlich alle Aufputschmittel und Drogen, die es gab, hatte Visionen und göttliche Erscheinungen, schrieb bis zu 60 Seiten am Tag und fühlte sich von FBI und KGB verfolgt. 1982 starb er wenige Wochen vor der Filmpremiere von »Blade Runner«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Philip K. Dick
- 2014, 5. Aufl., 272 Seiten, Masse: 12,3 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Norbert Stöbe
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905621
- ISBN-13: 9783596905621
- Erscheinungsdatum: 25.06.2014
Pressezitat
Das Orakel sagt: Dick lesen! Philipp Haibach Die Welt kompakt 20151125
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