Das Mädchen aus Mantua
Historischer Roman
1601: Celestina will Medizin studieren. Doch Frauen sind zu ihrer Zeit in den Hörsälen unerwünscht. Da verkleidet sich Celestina als Mann. Aber schon bald wird ihr Geheimnis gelüftet und sie gerät in ein gefährliches Abenteuer.
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Produktinformationen zu „Das Mädchen aus Mantua “
1601: Celestina will Medizin studieren. Doch Frauen sind zu ihrer Zeit in den Hörsälen unerwünscht. Da verkleidet sich Celestina als Mann. Aber schon bald wird ihr Geheimnis gelüftet und sie gerät in ein gefährliches Abenteuer.
Klappentext zu „Das Mädchen aus Mantua “
Padua, 1601: Celestina wird der Schicklichkeit halber von ihrer Mutter zu Verwandten nach Padua geschickt. Die eigensinnige junge Witwe, die ihr selbstständiges Leben in Mantua nur ungern aufgibt, macht aus der Not eine Tugend, denn sie hat sich Unmögliches in den Kopf gesetzt: Celestina will an der berühmten Universität von Padua Medizin studieren! Ein ebenso waghalsiges wie aussichtsloses Unterfangen, denn Frauen haben in den Hörsälen nichts verloren. Das Streben nach akademischen Würden ist allein den Herren der Schöpfung vorbehalten. Doch Celestina hat nicht nur stapelweise Anatomiebücher ihres verstorbenen Gatten im Gepäck, sondern auch eine Auswahl an passender Männerkleidung ...
Lese-Probe zu „Das Mädchen aus Mantua “
Das Mädchen aus Mantua von Charlotte ThomasTeil I
Padua, Mai 1601
Streitlustiges Geschrei übertönte das Rumpeln der Räder.
Celestina blickte aus dem Fenster der Kutsche. Ungefähr ein Dutzend Männer hatten sich auf dem großen Platz versammelt. In zwei Gruppen standen sie einander gegenüber, und alles ließ darauf schließen, dass es Ärger geben würde. Wütende Schreie schallten hin und her, Fäuste wurden geschüttelt. Mindestens zwei der Männer hatten ihre Degen gezogen, einer schwang einen Knüppel, ein anderer hatte seinen Dolch gezückt.
Die meisten von ihnen waren jung, aber Celestina sah auch einige, die bereits in die Jahre gekommen waren. Das Gebrüll, mit dem die Männer der beiden feindlichen Lager einander bedachten, verhieß Mord und Totschlag. Anders ließen sich Drohungen wie »Ich spieß dich auf!« oder »Komm nur her, dann wirst du lernen, ohne Eier herumzulaufen!« kaum deuten.
»Gleich wird Blut fließen«, sagte Celestina.
Ihre Stiefschwester Arcangela, die seit mindestens einer Stunde tief und fest neben ihr geschlafen hatte, erwachte nur langsam. »Sind wir schon da?«
»Weit kann es nicht mehr sein, wir sind bereits mitten in Padua. Wir müssen nur noch an dieser Prügelei vorbei.«
»Welche Prügelei?« Arcangela beugte sich vor und schob sich an Celestina vorbei, um aus dem Wagenfenster zu blicken. »Ach, du lieber Gott!«
Von einem Augenblick auf den nächsten hatte sich die Piazza in eine Kampfarena verwandelt, auf der wildes Getümmel herrschte. Zwei der jüngeren Kontrahenten fochten einen Degenkampf aus, einer ging auf seinen Gegner mit dem Knüppel los, weitere hieben mit Fäusten aufeinander ein. Einer hatte gar eine Pistole gezogen und fummelte an der Ladevorrichtung herum,
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was einen anderen dazu veranlasste, eine Handvoll Pferdeäpfel vom Pflaster aufzuklauben und dem Pistolenbesitzer ins Gesicht zu drücken. Der verhinderte Schütze ließ darauf die Waffe fallen und stürzte sich auf den Feind, worauf sich beide im nächsten Augenblick, heftig miteinander ringend, auf dem Boden wälzten.
Gebannt beobachtete Celestina die Kämpfenden, die einander paarweise attackierten. Hier und da floss wirklich bereits Blut. Einer hatte eine Rapierwunde davongetragen, auf seinem Ärmel breitete sich helles Rot aus. Ein anderer blutete aus der Nase, ein Dritter hatte eine große Platzwunde über dem Auge. Man würde sie mit mindestens acht Stichen nähen müssen, wie Celestina mit geschultem Blick erkannte.
Arcangela stieß einen erschreckten Schrei aus und deutete aus dem Fenster auf die Piazza. »Da! Dieser Kerl da mit der Pistole! Er schießt auf uns!«
Der Waffenbesitzer, das Gesicht immer noch voller Pferdemist, hatte die Oberhand gewonnen und sich wieder seiner Pistole bemächtigt, und er schien grimmig entschlossen, sie zu benutzen. Tatsächlich sah es auf den ersten Blick so aus, als würde er auf das offene Wagenfenster zielen. Celestina duckte sich unwillkürlich und dabei sah sie das wirkliche Ziel: einen Mann in den Vierzigern mit goldfarbener Samtweste, an dem die Kutsche soeben vorbeirollte und der damit beschäftigt war, einen anderen Mann mit roten Haaren zu erwürgen.
»Lass ihn los, Bertolucci, oder ich schieße dir den Kopf weg«, schrie der Bursche mit der Pistole. Mit der hochgewachsenen Gestalt, dem wild zerrauften Haar und dem mistverschmierten Gesicht sah er aus wie ein urzeitlicher Krieger, dem jemand versehentlich ein ordentliches Wams und feine Strumpfhosen angezogen hatte. Als er mit großen Schritten auf die beiden Kämpfenden zulief, war zu sehen, dass er ein Bein leicht nachzog. Offenbar war auch er bereits verwundet worden, doch seiner Angriffslust tat das keinen Abbruch. Celestina konnte sehen, wie sich sein Finger um den Abzug der Steinschlosspistole krümmte. Seine Hand zitterte nicht. Er hatte den Mann mit der goldfarbenen Weste genau im Visier.
»Verflixt«, murmelte Celestina. Waren hier alle verrückt geworden? Was um Himmels willen konnte es wert sein, dass diese Männer einander nach dem Leben trachteten?
Doch es kam nicht zum Schuss, denn im selben Moment gingen die Pferde durch und versperrten dem Schützen die Sicht. Durch den Ruck, mit dem die Kutsche sich in Bewegung setzte, wurde Celestina zurück in den Sitz geworfen und dann nach vorn auf die gegenüberliegende Bank geschleudert. Arcangela schrie auf, ebenfalls vom Schwanken der Kutsche hin und her geworfen. Auch der Kutscher schrie, jedoch nicht vor Schreck, sondern im Befehlston, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen. Vergebens, denn die Kutsche wurde noch schneller, und das Rattern der Räder geriet zu einem Donnern, während das Gefährt bedrohlich schwankte und schließlich so stark in Schieflage geriet, dass es umkippte.
Celestina spürte, wie sich die Kutsche unaufhaltsam zur Seite neigte. Dann erfolgte krachend der Aufschlag. Celestina versuchte instinktiv, sich irgendwo festzuhalten, konnte aber nicht verhindern, dass sie schmerzhaft mit ihrem Allerwertesten auf der Kutschenseite, die nun den Boden bildete, aufschlug. Zum Glück blieben ihr ärgere Blessuren erspart, denn unmittelbar darauf kam die Kutsche zum Stillstand. Leider traf dasselbe nicht auf Arcangela zu, die ebenfalls erdwärts purzelte und mit ihrem vollen Gewicht auf Celestina landete. Diese kämpfte sich mit zusammengebissenen Zähnen zwischen strampelnden Gliedmaßen und gebauschten Röcken hervor. Endlich gewann sie in der umgestürzten Kutsche einen aufrechten Stand, der sie in die Lage versetzte, sich zu orientieren.
Arcangela jammerte und schimpfte, war aber allem Anschein nach unverletzt.
Genau wie der Mann mit der goldfarbenen Samtweste, der eben noch versucht hatte, den Rothaarigen zu erwürgen und um ein Haar erschossen worden wäre. Er öffnete die nun zum Himmel weisende Tür der Kutsche und beugte sich ins Wagen-innere.
»Alles in Ordnung da drinnen?«
»Es geht uns gut«, sagte Celestina.
»Davon kann keine Rede sein!«, widersprach Arcangela. »Kommt, ich helfe Euch. Gebt mir die Hand, dann ziehe ich Euch heraus.«
Er streckte die Hand aus, und Celestina, die ihm am nächsten war, ergriff sie, um sich ins Freie hieven zu lassen. Doch dazu kam es nicht, denn unversehens wurde ihr Helfer zurück-gerissen, von dem Rothaarigen, der sich offenbar wieder hoch-gerappelt hatte. Er nutzte nun die Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und schlang erbittert beide Hände um den Hals seines Gegners.
Daraufhin machte sich Celestina ungeachtet der lautstarken Proteste ihrer Stiefschwester daran, aus eigener Kraft aus der Kutsche zu klettern, was ihr nach einigen Mühen gelang. Sie ließ sich von einem der in die Luft ragenden Räder aufs Pflaster gleiten.
Der Kampf auf der Piazza war immer noch in vollem Gange. Überall um sie herum wurde geprügelt, getreten, gefochten und gebrüllt. Celestina sah sich genötigt, mit zwei großen Sätzen einem messerschwingenden Raufbold auszuweichen, dem sie bei der Verfolgung eines flüchtenden Gegners im Weg stand.
Der Kutscher war vom Bock des Wagens geschleudert worden. Er rappelte sich vom Pflaster hoch und kam mit schmerzverzerrter Miene zurück zum Gespann, um die schnaubenden Pferde von einem erneuten Durchgehen abzuhalten.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte Celestina.
»Ich werd's überleben.« Er packte die beiden Kutschgäule beim Zügel und redete beruhigend auf sie ein, bevor er über die Schulter zu Celestina sagte: »Was ist mit Eurer Begleiterin?«
»Es geht ihr gut.«
Das war leicht übertrieben, denn aus dem Wageninnern hörte man Arcangelas empörtes Zetern.
Der Mann mit der goldfarbenen Weste rang immer noch mit seinem rothaarigen Widersacher, wobei es schien, dass diesmal der Jüngere die Oberhand gewann.
»Diesmal kriegst du Saures, Bertolucci«, stieß er hervor.
Bertoluccis Gesicht war rot angelaufen, die Augen quollen hervor, während der Rothaarige ihn aus Leibeskräften würgte. Doch Bertolucci hatte sein Pulver noch nicht verschossen. Er hieb dem anderen den Ellbogen in die Rippen, worauf dieser mit einem Ächzlaut zusammenknickte. Bertolucci, von dem Würgegriff befreit, hob einen Knüppel auf, wurde aber von einem lauten Schrei zurückgehalten. »Versuch es nur, Bertolucci!« Der große junge Mann mit der Pistole hatte wieder die Bildfläche betreten. Aus dem mistverschmierten Gesicht leuchteten seine Augen durchdringend blau. »Diesmal rettet dich kein durchgehendes Pferdegespann!« Mit gezückter Waffe trat er auf Bertolucci zu. Dieser warf sofort den Knüppel weg, der übers Pflaster rollte und vor Celestinas Rocksäumen liegen blieb.
»Ich bin unbewaffnet, Timoteo Caliari. Siehst du?« Der Ältere hob beide Hände. »Du willst doch keinen unbewaffneten Mann erschießen, oder?«
Das Gesicht des Schützen war starr vor Zorn. »Das fragt ausgerechnet ein Bertolucci? Wer von euch hatte denn je Hemmungen, einen hilflosen Gegner zu töten?«
Er hob die Pistole und legte an. Celestina schien es, als zögere er, sie tatsächlich abzufeuern, doch in Anbetracht der Um-stände war es zu riskant, auf die Vernunft dieses jugendlichen Heißsporns zu vertrauen. Sie hob den Knüppel auf und schlug zu. Der Getroffene verlor die Besinnung und fiel zu Boden.
»Seid bedankt, junge Dame!« Bertolucci deutete eine Verbeugung an, eine Hand auf das Vorderteil der Gold-weste gelegt. »Ich bin Euch sehr verbunden! Gentile Bertolucci, immer zu Euren Diensten!«
Sein Lächeln gefiel Celestina nicht, es war eindeutig unangebracht. »Ich tat es nicht für Euch, sondern für Euren Gegner. Es wäre ihm übel bekommen, wegen Mordes belangt zu werden.«
»Da sprecht Ihr weise Worte aus.« Bertolucci blickte den am Boden liegenden Mann nachdenklich an. »Wäre doch den Caliari nur ein winziger Teil Eurer Klugheit gegeben!«
Celestina achtete nicht auf ihn. Sie beugte sich über den Bewusstlosen, um nachzusehen, ob sie etwa zu fest zugeschlagen hatte, doch er kam bereits wieder zur Besinnung. Stöhnend rollte er sich zur Seite und betastete seinen Hinterkopf, wo ihn der Knüppel getroffen hatte.
Bertolucci zog es vor, das Feld zu räumen. Eilig drängte er an Celestina vorbei und verschwand in der Schar der immer noch aufeinander einprügelnden Männer.
»Celestina, was geschieht denn hier?« Arcangela schob den Kopf aus der umgestürzten Kutsche. »Um Himmels willen!« Sie duckte sich vor einem vorbeifliegenden Stein und verschwand wieder im Inneren der Kutsche.
Der Rothaarige, der versucht hatte, Gentile Bertolucci zu erwürgen, kam schwankend auf die Beine. »Wo ist das Schwein?« Sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Caliari. »Timoteo! Meine Güte!« Er wandte sich an Celestina. »Sah es gerade nur so aus, oder wart Ihr das, die meinen Freund niedergeschlagen hat?«
»Es war nur zu seinem Besten«, erklärte Celestina.
Er starrte sie mit offenem Mund an. Wie sein soeben aufwachender Freund Timoteo war er ordentlich gekleidet, mit gefälteltem Seidenkragen und gut geschnittenem Wams. Beide sahen nicht danach aus, als seien sie Raufbrüder aus Leidenschaft.
»Timoteo! Wach auf!« Er tätschelte die Wangen seines Freundes und kniff ihm dann hart in die Nase, was zwar sofort den gewünschten Effekt hatte, aber auch zu unbeabsichtigten Nebenfolgen führte. Timoteo kam schlagartig zu sich und verpasste seinem Freund einen Fausthieb.
»Was zum Teufel sollte das?!«, beschwerte dieser sich, beide Hände ächzend gegen die malträtierten Rippen drückend.
»Ach, du warst das«, sagte Timoteo benommen. »Du hättest mich nicht kneifen sollen.«
Gleichzeitig tauchte Arcangela abermals aus dem sicheren Gehäuse der Kutsche auf und lugte heraus. »Du solltest vielleicht lieber wieder reinkommen«, sagte sie zu Celestina. »Zumindest, bis dieser Aufruhr hier vorüber ist!«
Celestina achtete nicht auf ihre Stiefschwester, sondern streckte die Hand aus, um Timoteo auf die Beine zu helfen. »Seid Ihr wohlauf?«, fragte sie. »Tut es sehr weh? Für den Fall empfehle ich dringend einen kalten Wickel.«
Er starrte sie an und rieb sich den Hinterkopf. »Wo kommt Ihr denn auf einmal her?«
»Aus Mantua«, sagte Celestina. Dann hielt sie inne. »Oh, ich verstehe. Ihr meint, wo ich vorhin herkam. Nun, ich war in der Kutsche. Sie stürzte um, und ich kletterte hinaus.«
Nähere Auskünfte brauchte er offenbar nicht. »Dann müsst Ihr den Mistkerl gesehen haben, der mir diesen Schlag verpasst hat. Wo ist er hin?« Suchend blickte er sich um.
Celestina räusperte sich. »Oh, nun ja, also ...« Sie verstummte und war sich unangenehm der Tatsache bewusst, dass dieser Timoteo zwar vermutlich kaum älter war als sie, aber dafür ziemlich groß und kräftig. Und der Zorn, der von ihm ausging, war fast mit Händen zu greifen.
Sie sann über eine Erklärung nach, die sie weniger gewalttätig dastehen ließ, als sie sich beim Anblick der rasch anschwellenden Beule hinter seinem linken Ohr fühlte, doch ihr fiel nichts ein.
»Wenigstens wissen wir jetzt, dass es wirkt«, sagte er verärgert, während er sich mit dem Ärmel den Pferdemist aus dem Gesicht wischte.
»Das was wirkt?«, fragte sie irritiert.
»Das Kneifen in die Nase«, sagte der Rothaarige.
»Oh, wirklich?«, meinte sie höflich.
»Ja. Es hilft Ohnmächtigen oft rasch ins Leben zurück. Professor Fabrizio erwähnte es erst neulich in der Vorlesung.« Er blickte zu Arcangela hinauf, die abermals den Kopf oben aus der Kutsche streckte und die Umgebung beäugte. »Wir sollten der jungen Dame aus der Kutsche helfen«, schlug er vor.
Das trug ihm ein strahlendes Lächeln von Arcangela ein. »Wie galant Ihr seid!«
Er verbeugte sich. »Galeazzo da Ponte, zu Euren Diensten, Madonna! Und dieser Edelmann dort ist mein bester Freund, Timoteo Caliari. Er sieht sonst manierlicher aus, für gewöhnlich trägt er keinen Pferdemist im Gesicht.«
Timoteo Caliari achtete nicht auf ihn. Seine Miene war unbewegt, als er die Pistole aufhob, die ihm vorhin aus der Hand gefallen war. Mit verengten Augen betrachtete er das Kampfgeschehen. Dieses hatte stark nachgelassen, weil mehrere der Kontrahenten verwundet waren. Einer von ihnen hockte am Rande der Piazza und presste ein Tuch auf eine blutende Kopfverletzung, ein anderer lag reglos im Säulengang des großen Gebäudes, das den Platz zu einer Seite hin begrenzte. Es war nicht zu erkennen, ob er noch lebte, aber die Blutpfütze, die unter seiner Schulter hervorquoll, verhieß nichts Gutes. Ein Dritter saß mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt und hatte sich die Arme um den Leib geschlungen. Einige weitere hatten es vorgezogen, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ein paar Männer hielten jedoch die Stellung und droschen, wenn auch weniger kraftvoll als zu Beginn der Auseinandersetzung, unter Wutgeschrei aufeinander ein. Unter ihnen war auch der Mann mit der goldfarbenen Samtweste, Gentile Bertolucci.
»Da ist der verfluchte Hurensohn!«, rief Timoteo, auf Bertolucci deutend, der soeben mit Fausthieben einem bartlosen Jüngling zu Leibe rückte. »Er schlägt William zusammen!«
Mit gezückter Pistole stürzte Timoteo Caliari auf die Kämpfenden zu. Wieder zog er dabei das rechte Bein nach, doch diese Verwundung hinderte ihn nicht daran, ein verblüffendes Tempo vorzulegen. Den Bruchteil eines Augenblicks überlegte Celestina, ihm ein zweites Mal den Knüppel über den Schädel zu ziehen und ihn so vor einer Dummheit zu bewahren, die zweifellos sein Leben ruinieren würde. Doch dann war der Moment vertan und Timoteo Caliari zu weit entfernt, als dass sie ihn noch hätte aufhalten können.
Unmittelbar darauf krachte der Schuss.
Celestina hielt die Luft an, als sie Bertolucci zusammenzucken sah. Er machte jedoch keine Anstalten, tot zusammenzubrechen, sondern ließ lediglich die Fäuste sinken und trat einen Schritt zurück, ebenso wie sein junger Widersacher. Auch alle anderen Kämpfer hielten inne, wie von Zauberhand berührt. Niemand regte sich mehr.
Das Echo des Pistolenknalls schien immer noch über der Piazza zu schweben, es hallte in den Ohren nach und trug den schwefligen Dunst sich ausbreitenden Pulvergestanks mit sich. Gleich darauf war zu erkennen, dass nicht Timoteo Caliari geschossen hatte, sondern ein anderer. Mehrere Männer waren aus dem großen, von Säulengängen gesäumten Gebäude gekommen und davor stehen geblieben. Einer davon hielt eine noch rauchende Pistole, deren Lauf zum Himmel wies. Bei dem Schützen handelte es sich um einen untersetzten, höchst erzürnt dreinblickenden Mann, dessen Amtstracht ihn als städtischen Würdenträger auswies. Seine ganze Körperhaltung signalisierte Entrüstung. Rechts und links von ihm hatten sich mit Spießen und Harnischen bewehrte Ordnungshüter aufgebaut, die drohend in die Runde blickten und damit die Autorität des Mannes unterstrichen.
»Als hätte ich es geahnt!«, donnerte er. »Sind es doch immer dieselben Schuldigen! Die Bertolucci und die Caliari! Wird Padua jemals ein Jahr erleben, in dem diese beiden Sippen kein Blutvergießen veranstalten?« Seine aufgebrachte Stimme hallte über die Piazza. Die Autorität seines Auftretens wurde nur geringfügig dadurch gemildert, dass sein Gesicht einen ungesunden rötlichen Farbton angenommen hatte. Celestina ging es flüchtig durch den Sinn, dass sein Herz es ihm eines Tages sehr übel nehmen würde, wenn er sich öfters so aufregte.
Wortreich schleuderte er den Männern der Bertolucci und Caliari entgegen, welch unermesslichen Schaden sie der Stadt Padua zufügten. Durch ihre bloße Existenz seien sie zu einer unerträglichen Last für den Frieden und die öffentliche Ordnung geworden. Was überdies nicht nur für die Mitglieder der beiden Sippen gelte, sondern auch für ihre Verbündeten, die sich nicht entblödeten, jenen immer wieder mit Schwert und Faust beizuspringen, gleichviel, wie nichtig der Anlass auch sein möge.
Die geharnischte Ansprache nahm ihren Fortgang, der Redner war zweifellos ein Meister des Wortes. Die Anschuldigungen gingen ihm nicht aus, im Gegenteil, sie wurden immer schwerwiegender, bis zur Überzeugung aller Zuhörer feststehen musste, dass die Bertolucci und die Caliari vor keinem Verbrechen zurückschreckten, sofern es nur dazu taugte, ihre unsägliche Feindschaft zu festigen.
Celestina hörte gebannt zu, versäumte dabei aber nicht, die Umstehenden zu betrachten, um zu sehen, wie die Standpauke aufgenommen wurde. Die meisten der Angesprochenen standen mit demütig gesenktem Haupt da und bemühten sich redlich um einen reuigen Gesichtsausdruck, doch einige hatten den Kopf auch trotzig erhoben und versuchten gar nicht erst, einsichtsvoll zu wirken.
Zu Letzteren gehörte eindeutig Timoteo Caliari. Er schaute unbewegt geradeaus, als ginge ihn das alles nichts an.
Sein Pech war, dass es nicht nur Celestina auffiel.
»Ich rede auch und vor allem mit Euch, Timoteo Caliari!«, donnerte der Amtsträger. »Die Geduld des Rats ist nicht unerschöpflich! Ihr fallt nicht das erste Mal unliebsam auf! Zu viele Raufhändel finden unter Eurer Beteiligung statt! Das Wohlwollen, das ihr mit Eurem kämpferischen Einsatz im Dienste der Republik verdient habt, ist längst aufgezehrt!« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann mit schneidender Stimme fort: »Beim nächsten Zwischenfall, und sei er noch so unbedeutend, ist Euch die Verbannung gewiss, Caliari. Und damit meine ich keineswegs bloß Euch, sondern alle Caliari! Euren Vater, Euren Bruder, Eure Tante - die ganze Sippschaft! Und jeden anderen, der sich öffentlich zu Euch bekennt! Ich schwöre es hier vor allen, beim Grab des heiligen Antonius: Ihr und die Euren werdet bis zum letzten Atemzug vom Boden der Serenissima verbannt werden!«
Absolutes Schweigen senkte sich über das weite Rund der Piazza. Verbannung war unter allen denkbaren Strafen für die Bürger der Dogenrepublik eine der schlimmsten. Für viele war sie sogar schlimmer als der Tod.
Der Amtsträger wartete einige Augenblicke, bis jeder der Umstehenden die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte, und tatsächlich schien sogar Timoteo Caliari zu begreifen, was ihm drohte, denn er war sichtlich erblasst und blickte zu Boden. Die Pistole hatte er längst weggesteckt.
»O je, das klingt gar nicht gut«, hörte Celestina hinter sich Galeazzo murmeln, der sich aus unerfindlichen Gründen immer noch bei der umgestürzten Kutsche aufhielt.
»Wer ist das?«, fragte sie ihn leise.
»Ihr meint den Herrn, der geschossen hat und nun die schrecklichste Strafpredigt aller Zeiten hält? Das ist Messèr Gradenigo, oberster Ratspräsident von Padua. Seine Stimme im Senat hat höchstes Gewicht. Wenn er Verbannung androht, sind das keine leeren Worte.«
»Was ist der Grund für diese Fehde zwischen den beiden Sippen?«
»Das weiß niemand so recht«, behauptete Galeazzo. Sein jungenhaftes Gesicht unter dem rostroten Haarschopf wirkte aufrichtig, doch Celestina glaubte ihm kein Wort.
Abrupt wechselte sie das Thema. »Vorhin fiel der Name Fabrizio. Meintet Ihr damit Girolamo Fabrizio?«
»Girolamo Fabrizio d'Acquapendente, so lautet sein voller Name. Unser Professor. Wir studieren bei ihm, Timoteo und ich. Und William Harvey, das ist der englische Junge, den dieser unselige Bertolucci vorhin niederschlagen wollte.«
Celestina starrte ihn an. »Ihr meint, Ihr studiert Medizin? Ihr und Euer Freund Timoteo Caliari? An der Universität von Padua?«
Galeazzo zuckte die Achseln. »Nun ja, das tun wir. Seit über zwei Jahren bereits. Ganz ehrbar und fleißig. Wenn möglich, wollen wir noch dieses Jahr promovieren. Prügeln tun wir uns nur höchst selten. Jedenfalls bei Weitem nicht so oft, wie wir Vorlesungen besuchen. Warum fragt Ihr danach?«
»Ach, es war nur beiläufiges Interesse, ich meinte bloß, den Namen schon einmal gehört zu haben.«
»Den von Professor Fabrizio? Ja, er ist sehr berühmt, beinahe wie der große Vesalius.«
»Und so befehle ich allen, die sich hier geschlagen haben, augenblicklich diesen Platz zu räumen und mir möglichst lange nicht unter die Augen zu kommen!«, schloss Ratspräsident Gradenigo. Seine Stimme klang kaum weniger zornig als zu Beginn seiner Rede. Die Ordnungshüter schwärmten mit drohend gereckten Spießen aus, worauf alle noch in Reichweite befindlichen Kampfhähne eilends das Weite suchten. Nur die Verwundeten blieben an Ort und Stelle.
Galeazzo warf ein werbendes Lächeln in Arcangelas Richtung, während er sich bereits rückwärtsgehend entfernte. »Ich fürchte, es wird heute nichts mehr daraus, dass ich Euch aus dieser Kutsche helfe, da ich mich nun empfehlen muss. Wobei ich jedoch inständig hoffe, Euch in Bälde wiederzusehen. Schon weil Ihr ebenso rotes Haar habt wie ich. Wir Rothaarigen müssen zusammenhalten! Darf ich Euren Namen erfahren sowie den Ort, wo Ihr Quartier nehmt, schönes Fräulein?«
»Gewiss. Ich heiße Arcangela. Und das ist meine Schwester Celestina. Wir besuchen unsere Verwandten. Sie heißen Bertolucci, falls Euch das etwas sagt. Unser Onkel ist Lodovico Bertolucci, bei ihm werden wir wohnen.«
»Ähm ... Wirklich?« Galeazzo schaute betreten drein. Dann beeilte er sich zu verschwinden, denn ein martialisch dreinblickender und ausgesprochen muskulöser Offizier näherte sich der Kutsche. Im Laufschritt schloss Galeazzo sich Timoteo Caliari und seinem Kommilitonen William Harvey an, die gerade um die Ecke eines Gebäudes verschwanden.
Arcangela blickte ihm nach und wandte sich dann an Celestina. »Da fällt mir ein ... Sprach dieser Amtsherr da drüben nicht eben auch von Leuten, die Bertolucci heißen? Ob die etwas mit unseren Verwandten zu tun haben?«
Der Offizier gab sich den Frauen gegenüber weit freundlicher, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Umsichtig half er Arcangela aus der Kutsche und stellte sich dann formvollendet als Capitano Manzini vor. Seine Hilfsbereitschaft hing erkennbar damit zusammen, dass Arcangelas Bluse verrutscht war, als er ihr aus der Kutsche geholfen hatte, und sie seither keine Anstalten gemacht hatte, sie wieder zurechtzuziehen. Stattdessen ließ sie keine Gelegenheit aus, den Mann bei jeder Gelegenheit strahlend anzulächeln und sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Die Haube war ihr beim Verlassen der Kutsche vom Kopf gefallen, sodass ihre langen kastanienroten Locken in der Nachmittagssonne ihren vollen Schimmer entfal-ten konnten.
Capitano Manzini rief einige Wachen herbei. Mit vereinten Kräften hievten die Männer die Kutsche wieder auf die Räder, von denen allerdings eines gebrochen war. Eine Weiterfahrt kam demnach vorerst nicht infrage. Capitano Manzini erklärte, dass der Radwechsel eine Weile dauern werde, weshalb die Damen die restliche Wegstrecke besser mit einem anderen Wagen fortsetzen sollten.
Der Kutscher half trotz seiner vom Sturz schmerzenden Glieder dabei, die Reisekisten der Frauen abzuladen, bevor er die erschöpften Pferde abschirrte und sie zum nächstgelegenen Stall führte. Die nutzlose Kutsche blieb derweil mitten auf dem Platz stehen, während der gut aussehende Capitano sich erbot, ein anderes Gefährt zu organisieren.
Celestina sah unterdessen nach den Verwundeten. Der Verletzte im Säulengang lag unverändert da, nur die Blutpfütze hatte sich vergrößert. Celestina legte ihm die Fingerspitzen an den Hals und tastete nach dem Puls. Es gab keinen. Der Mann war tot.
»Ich hatte schon nach ihm gesehen«, rief jemand. »Da kommt jede Hilfe zu spät!«
Sie blickte auf. Ein Mönch stand bei dem Verwundeten mit der Bauchverletzung. Er war um die dreißig und von kräftiger Statur, mit kurz gelocktem dunklem Haar, einem schmalen Oberlippenbart und weißen Zähnen. Seine Ordenstracht wies ihn als Franziskaner aus.
Celestina ging zu ihm und betrachtete den Verletzten zu seinen Füßen, der sich nach wie vor stöhnend den Leib hielt. Sein Gesicht war weiß wie Kreide, die Lippen blutig gebissen vor Schmerz.
»Kann ich helfen, Frater?«
Er musterte sie neugierig. »Blut und Tod scheinen Euch nichts auszumachen, Madonna. Befasst Ihr Euch mit der Heilkunde?«
»Mein verstorbener Gatte war Chirurg und ließ mich gelegentlich assistieren.«
»Ein hiesiger Arzt? Ich sah Euch bisher nicht hier in der Stadt.«
»Jacopo praktizierte zuerst in Bologna, später in Venedig
und die letzten Jahre in Mantua. Hier in Padua war er nie.« »Und Ihr habt ihm bei seiner Arbeit geholfen, Monna ...?« »Celestina Ruzzini.«
»Ihr seid die Witwe von Jacopo Ruzzini?«, fragte der Mönch überrascht.
»Ihr kennt ihn?«
»Nicht persönlich. Aber sein Name ist mir ein Begriff. Mit manchen seiner Operationen hat er von sich reden gemacht. Es wurde nur Gutes über ihn gesprochen.«
Das war Celestina nicht neu, dennoch erfüllte es sie mit Stolz, dass man von Jacopo sogar in Städten gehört hatte, in denen er nie gewesen war.
Der Mönch deutete auf den Verwundeten zu seinen Füßen. »Nun, ich fürchte, auch diesem armen Menschen kann nicht mehr geholfen werden. Allenfalls kann man es ihm mit Mohnsaft ein wenig erträglicher machen. Ich werde ihn ins Klosterhospital bringen lassen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Seht mir meine Unhöflichkeit nach, Monna Celestina. Bisher versäumte ich, mich vorzustellen. Ich bin Frater Silvano.«
»Seid Ihr ein Medicus, Frater?«
»Falls Ihr damit meint, ob ich je die Doktorwürde der Medizin erworben habe - nein.« Silvano lächelte. »Die praktischen Kenntnisse der Krankenbehandlung eignete ich mir durch Zusehen und Nachmachen an.«
»Genau wie ich«, entfuhr es Celestina. »Ich wünschte, ich wäre ein Mann, dann könnte ich ...« Gerade noch rechtzeitig brach sie ab und merkte, wie sie errötete. Wenn sie damit fortfuhr, auf diese Weise Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wäre ihr Vorhaben bereits zum Scheitern verurteilt, bevor sie überhaupt begonnen hatte, es in Angriff zu nehmen.
Der verletzte Mann hatte das Bewusstsein verloren und fiel schlaff zurück. Nun war seine klaffende Bauchwunde deutlich zu sehen, mitsamt der hervortretenden aufgeschlitzten Darm-schlinge. Es stank nach Blut und Exkrementen.
Frater Silvano zögerte. »Ich hörte, dass Euer Mann einen Menschen mit so einer Verletzung durch eine Operation retten konnte.«
»Ja, das stimmt.«
»Wie hat er es genau gemacht?«
Celestina erinnerte sich an jeden Handgriff. »Er hat das verletzte Darmstück beidseitig abgeklemmt und es herausgeschnitten. Sodann hat er die beiden Enden über ein passend gestutztes Stück Holunderrohr gestülpt und wieder zusammengenäht. Bauchfell und Haut wurden ebenfalls vernäht.«
»Und der Patient wurde gesund?«
»Völlig gesund«, bestätigte Celestina. »Was mein Mann aber rückblickend als glücklichen Zufall wertete, denn bei den nächsten drei Operationen dieser Art verstarben die Patienten.«
»Das kann kein Grund sein, es nicht immer wieder zu versuchen«, sagte der Mönch. »Und dabei möglichst den Grund für das Misslingen herauszufinden. So lange, bis es irgendwann glückt.«
Dennoch gab es keine Rettung für den Verletzten mit der Bauchwunde. Er atmete nicht mehr.
Der Mönch bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet.
Timoteo befingerte die Beule an seinem Hinterkopf und verzog das Gesicht. Sie fühlte sich so groß an wie das Ei einer Gans. Und sie schmerzte gewaltig.
»Es würde weniger wehtun, wenn du die Finger davon ließest«, sagte William. Er war außer Atem vom schnellen Gehen, und sein englischer Akzent war stärker als sonst. Die Aufregung über den vorangegangen Kampf war ihm deutlich anzumerken, zumal er nicht ungeschoren davongekommen war: Er hatte eine blutig geschlagene Lippe, weil ihn Bertoluccis Faust im Gesicht getroffen hatte.
Galeazzo, der zwischen Timoteo und William ging, stöhnte bei jedem Schritt wegen der Schmerzen in seinem Brustkorb. Er war davon überzeugt, dass Timoteos Hieb ihm mindestens eine Rippe gebrochen habe, was Timoteo bisher nur mit einem unwilligen Brummen kommentiert hatte.
Wenigstens zwei der Bertolucci-Anhänger hatte es wohl übel erwischt. Gefallen waren sie William zufolge durch die Hand einiger bewaffneter Scholaren. Was diese dazu bewogen hatte, auf Seiten der Caliari zu kämpfen, blieb freilich unerfindlich. Timoteo kannte sie nicht einmal. Er wusste lediglich, dass sie der Juristenfakultät angehörten und außerdem Mitglieder einer fremden Natio waren, laut William entweder Ungarn oder Polen. William, der die blutige Attacke aus nächster Nähe mit angesehen hatte, war der Meinung, sie seien nur zufällig vorbeigekommen und hätten einfach nur ihre Degen in einem echten Kampf ausprobieren wollen, und ebenso schnell seien sie auch wieder weg gewesen, noch bevor der Schuss gefallen war.
»Der eine, den sie abstachen, ist mit Sicherheit tot«, sagte der blonde junge Engländer. »Und der andere hat bestimmt auch nicht mehr lange zu leben, ich sah seine Gedärme.«
»Zwei Anhänger der Bertolucci weniger auf der Welt«, meinte Timoteo. Dennoch verspürte er keinerlei Genugtuung, im Gegenteil, es bedrückte ihn, dass Menschen so sinnlos gestorben waren. Dabei hätte er sich freuen sollen, denn jeder Freund der Bertolucci war ein Feind der Caliari und somit überflüssig.
Gesunden Zorn empfand er jedoch über den Schlag auf den Hinterkopf. Kein Gegner hatte ihn je auf so perfide Weise an-gegriffen, noch nicht einmal während der beiden Jahre, in denen er seinen Waffendienst im Heer der Dogenrepublik geleistet hatte. Richtig gekämpft hatte er zwar nur in wenigen kleinen Scharmützeln, doch feige Attacken von hinten hatte es dabei nie gegeben. Aber so waren die Bertolucci eben. Hinterhältigkeit war ihre zweite Natur.
Timoteo platzte mit seinem Ärger heraus. »Verbannung hin oder her - bei der nächsten Gelegenheit zahle ich es Gentile Bertolucci heim!«
Galeazzo warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Weil er mich erwürgen wollte? Sei versichert, das habe ich ihm schon selbst heimgezahlt, und mein Griff war härter als seiner. Sein Kehlkopf wird ihm auch in ein paar Wochen noch das Gefühl geben, eine fette Kröte im Hals sitzen zu haben!«
»Ich habe ihn ebenfalls ziemlich heftig erwischt«, sagte William zufrieden. »Seine Nase hat unter meiner Faust sehr laut geknackt.«
»Das ist ja gut und schön«, sagte Timoteo barsch. »Trotzdem wird er den Schlag auf meinen Kopf noch sehr bereuen.«
»Oh.« Galeazzo grinste. »Das kannst du ja nicht wissen, weil du ohnmächtig warst. Aber ich erzähle es dir mit Freuden. Nicht er hat dich niedergeschlagen. Die junge Dame aus der Kutsche hat den Knüppel gegen dich geschwungen.«
»Das Mädchen aus Mantua?«, fragte Timoteo ungläubig. »Dieses kleine dünne Ding? Bist du sicher?«
Galeazzo nickte und blieb stehen. Sie hatten das Hospizium erreicht, in dem er und William wohnten. »Sie meinte, es sei zu deinem Besten gewesen. Und ich hörte sie zu Gentile Bertolucci sagen, sie habe es nicht seinetwegen getan, sondern um dich davor zu bewahren, zum Mörder zu werden.«
»Das finde ich vernünftig von ihr«, erklärte William.
»Nun ja, eine kleine Einschränkung will ich nicht unerwähnt lassen«, sagte Galeazzo. »Sie und ihre wirklich reizende Stiefschwester Arcangela besuchen ihre Verwandten hier in Padua. Die Bertolucci. Lodovico Bertolucci ist ihr Onkel.«
Timoteo fehlten die Worte. Erst, nachdem Galeazzo und William im Studentenwohnheim verschwunden waren, hatte er sich so weit gesammelt, dass er seinem Zorn auf gebührende Weise Ausdruck verleihen konnte: Er trat hart gegen die nächstbeste Mauer. Dummerweise mit dem falschen Fuß. Das versehrte rechte Bein brannte auf dem ganzen restlichen Nachhauseweg wie Höllenfeuer.
Das Haus der Caliari befand sich nur einen Steinwurf vom Botanischen Garten entfernt. An schönen Tagen ging Timoteo auf dem Weg zur Universität gern auf einen kurzen Abstecher dorthin, um die exotischen Pflanzen zu betrachten. Die meisten davon erschienen ihm wegen ihrer Fremdartigkeit bemerkenswert, und oft fragte er sich beim Anblick eines dieser sonderbar gefärbten oder gefiederten Gewächse, wie es wohl in jenem Teil der Welt aussehen mochte, aus dem es stammte. Manche dieser seltsamen Bäume oder Sträucher waren so empfindlich, dass sie nur in eigens dafür aufgestellten Glashäusern gediehen. Botaniker hatten sie von ihren Reisen aus tropischen Gefilden mitgebracht, oft als kleine Ableger, herangezüchtet in Kisten und sorgsam vor Wind und Wetter geschützt, in der Hoffnung, sie könnten in Europa Wurzeln schlagen. Sofern ein solches Unterfangen überhaupt glückte, dann in Padua, wo sich die fähigsten Gärtner der Republik um die Pflanzen bemühten, in einem Garten, der seinesgleichen noch nicht gefunden hatte. Jedenfalls hörte man das allenthalben, und Timoteo sah keinen Anlass, daran zu zweifeln.
Gelegentlich kam ihm auch in den Sinn, dass zwischen der Universität und dem Botanischen Garten erstaunliche Parallelen bestanden, und das nicht etwa nur, weil über die zahlreichen dort wachsenden Heilkräuter regelmäßig Vorlesungen in ärztlicher Pflanzenkunde gehalten wurden. Die Ähnlichkeit zwischen Garten und Alma Mater lag vielmehr hauptsächlich darin begründet, dass sich in beidem so viel Fremdes fand. In der Botanik die vielen exotischen Pflanzen aus nur teilweise erforschten Gegenden jenseits der großen Ozeane, und in der Universität die Studenten aus aller Herren Länder. Sie kamen von überallher und bildeten innerhalb ihrer Fakultäten eigenständige Nationes, von denen es Dutzende gab. Wer etwas gelten wollte, studierte in Padua. Und versäumte dabei nicht, an den zahlreichen Freizeitvergnügungen teilzunehmen, zu denen unbedingt ein Besuch des Botanischen Gartens gehörte.
Was an diesem Tag selbstverständlich nicht im Entferntesten infrage kam. Timoteos Bemühungen, sich mit bedeutungslosen Gedanken an Gärten und Studenten von seinen Schmerzen und seiner sonstigen Misere abzulenken, endeten jäh, als er die Stimme seines Bruders hörte. Hieronimo stand mit verkniffener Miene vor dem Haus und schaute ihm entgegen. Er hatte an dem Kampf teilgenommen, war aber sofort verschwunden, als Gradenigo in die Luft geschossen hatte. Die Ansprache des Ratspräsidenten hatte er daher nicht mehr mitbekommen und brannte nun sichtlich darauf, Timoteos Bericht zu hören.
Timoteo rieb sich das rechte Bein und folgte Hieronimo ins Haus, während er darüber nachdachte, wie er mit möglichst schonenden Worten seine Familie von der drohenden Verbannung in Kenntnis setzen konnte.
Sein Bruder betrat den Wohnraum, wo der Vater darauf wartete, in allen blutigen Einzelheiten von der Schlägerei zu erfahren. Je härter es die Bertolucci getroffen hätte, desto besser würde es ihm gefallen.
Alberto Caliari saß in dem Rollstuhl, den Hieronimo für ihn hatte zimmern lassen. Er ermöglichte es ihm, sich ohne fremde Hilfe im Erdgeschoss frei zu bewegen und über eine eigens gebaute Rampe auch in den Garten hinauszurollen. Vorher hatte er sich mühsam mit Krücken fortbewegt, von einem Sessel zum anderen, und das hatte in den letzten Jahren häufiger zu Stürzen geführt. Alberto Caliari wurde nicht jünger, dafür aber immer eigensinniger, und jedes Mal, wenn er fiel, erzitterte das Haus von seinem Wutgebrüll.
»Berichte!«, sagte er zu Timoteo. Nur dieses eine Wort.
»Zwei der Bertolucci-Anhänger werden diesen Tag nicht überleben«, sagte Timoteo. »Und Galeazzo gelang es beinahe, Gentile Bertolucci zu erwürgen.«
Er hatte mit Bedacht zuerst die Nachricht erzählt, die seinem Vater gefallen würde. Dann würde ihn der Rest vielleicht nicht so hart treffen, obwohl Timoteo das stark bezweifelte. Präsident Gradenigo war kein Mann der leeren Worte. Was immer er in Aussicht stellte, würde er verwirklichen, daran zweifelte Timoteo keinen Moment. Schon mancher hatte sein Leben gelassen, weil er sich Gradenigos Unmut zugezogen hatte, und von mindestens zwei Edelmännern war bekannt, dass er persönlich für ihre Verbannung gesorgt hatte. Beide führten den Verlautbarungen nach irgendwo auf Sizilien ein unwürdiges Leben in irgendeinem primitiven Dorf, aller Besitztümer und Titel beraubt. Sollten sie je wieder wagen, einen Fuß auf den Boden der Republik zu setzen, würde man sie am nächsten Baum aufknüpfen und dort zur Abschreckung hängen lassen, bis ihnen das Fleisch von den Knochen faulte. Nicht einmal die Ehre des Richtschwerts würde ihnen zuteilwerden.
An einer Verbannung würden sowohl sein Vater als auch sein Bruder zugrunde gehen. Beide hingen mit ganzem Herzen an ihren Ländereien, mochten diese seit etlichen Jahren auch nur noch das Nötigste abwerfen, um der Familie ein standesgemäßes Leben zu ermöglichen. Vor allem Hieronimo war förmlich verwachsen mit der Scholle, es verging kein Tag, an dem er nicht hinausritt und auf den Pachthöfen nach dem Rechten schaute. Wo es nur ging, packte er mit an, reparierte Dächer, schirrte Ochsen vor Pflugscharen, half bei der Olivenernte. Ihm das Land wegzunehmen, das seit Generationen den Caliari gehörte, wäre gleichbedeutend mit vollständiger Vernichtung.
Fraglich war nur, ob diese Einsicht ihm half, seinen Hass auf die Bertolucci zu zügeln. Von diesem Hass hatte er deutlich mehr aufzubieten als Timoteo, was schon einiges heißen wollte, da Timoteo oft meinte, selbst förmlich davon bersten zu können. Im Gegensatz zu Timoteo konnte Hieronimo sich noch sehr gut an ihrer beider Mutter erinnern. Bei ihrem Tod war Timoteo erst drei Jahre alt gewesen, Hieronimo dagegen bereits zehn. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem ihr Vater ihnen nicht klargemacht hatte, wer für den Tod der Mutter verantwortlich war.
»Hast du die Sprache verloren?«, fragte Alberto Caliari ungeduldig mitten in seine Gedanken hinein. »Ich will wissen, wer die Männer der Bertolucci tötete!«
»Keine Ahnung. Irgendwelche Scholaren, die ich nicht kenne.«
»Und kennst du wenigstens die Toten?«
»Das konnte ich in der Eile nicht mehr herausfinden. Gradenigo hat uns alle zusammengestaucht und dann befohlen, dass wir verschwinden. Er hat die Büttel ausschwärmen lassen, also haben wir die Beine in die Hand genommen.«
Alberto Caliari verzog unwillig das Gesicht. »Der alte Schweinehund. Warum muss er sich immer einmischen?«
»Er hat die Macht dazu«, gab Timoteo vorsichtig zu bedenken.
Hieronimo, der an der Wand lehnte, hatte mit unbewegter Miene zugehört. »Und jetzt erzähl den Rest.«
»Ähm ... wie?«
»Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass du dir die schlechte Nachricht bis zum Schluss aufheben willst.«
»Du hättest eben nicht gleich beim Knall des Schusses verschwinden müssen«, begehrte Timoteo auf. »Dann wüsstest du es jetzt selbst!«
»Was wüsste er selbst?« Brodata Caliari kam ins Zimmer und trat neben den Rollstuhl, erpicht darauf, die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Die Nachricht vom Kampf auf der Piazza delle Erbe hatte bereits die Runde gemacht, während er noch im Gange war.
»Verbannung«, platzte Timoteo heraus. »Gradenigo hat es vor allen Leuten geschworen, beim heiligen Antonius. Ein Zwischenfall noch, gleichviel wie unbedeutend, und wir werden alle verbannt. Unsere ganze Familie.«
»Das hat er so nur so dahergesagt«, erklärte Brodata impulsiv. Wütend fügte sie hinzu. »Und warum nur wir? Warum nicht die Bertolucci? Oder sagte er, dass auch die Bertolucci verbannt werden sollen?«
»Von ihnen war nicht die Rede.«
»Was für eine empörende Ungerechtigkeit!«
Timoteo räusperte sich. »Vielleicht hat es damit zu tun, dass nicht sie jedes Mal anfangen, sondern wir. Heute ja auch wieder.« »Wie fing es denn an?«, wollte sie wissen.
»Daran erinnere ich mich nicht mehr so genau«, meinte Timoteo ausweichend.
»Es fing damit an, dass ich Gentile Bertolucci einen schwanzlosen Versager nannte«, mischte sein Bruder sich wütend ein. Er reckte sich. »Er hätte mich eben nicht so frech angrinsen sollen.«
»Oh, das hast du wirklich zu ihm gesagt?«, fragte Brodata. Sie runzelte die Stirn. »Eine veritable Beleidigung, alles was recht ist.«
Brodata Caliari war die Tante von Timoteo und Hieronimo und führte den Haushalt mit harter Hand. Sie war zweiundvierzig und damit zehn Jahre jünger als ihr Bruder Alberto, sah aber nach allgemeiner Ansicht nicht älter aus als fünfunddreißig. Ihr bernsteinfarbenes Haar zeigte keine Spur von Grau, und ihre Figur war füllig und fest und zog immer noch viele Männerblicke auf sich. Allerdings hatte sie nie geheiratet. Das sowie ihre harsche Art hatten ihr mancherorts den Beinamen Eiserne Jungfrau eingetragen.
Alberto sagte nichts. Sein hageres Gesicht war bleich geworden, und seine Kiefer mahlten. Er wusste genau, dass Gradenigo bisher noch immer sein Wort gehalten hatte, im Guten wie im Schlechten.
Timoteo räusperte sich abermals. »Ich muss dann wieder los«, sagte er. »Das Repetitorium fängt gleich an.«
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Gebannt beobachtete Celestina die Kämpfenden, die einander paarweise attackierten. Hier und da floss wirklich bereits Blut. Einer hatte eine Rapierwunde davongetragen, auf seinem Ärmel breitete sich helles Rot aus. Ein anderer blutete aus der Nase, ein Dritter hatte eine große Platzwunde über dem Auge. Man würde sie mit mindestens acht Stichen nähen müssen, wie Celestina mit geschultem Blick erkannte.
Arcangela stieß einen erschreckten Schrei aus und deutete aus dem Fenster auf die Piazza. »Da! Dieser Kerl da mit der Pistole! Er schießt auf uns!«
Der Waffenbesitzer, das Gesicht immer noch voller Pferdemist, hatte die Oberhand gewonnen und sich wieder seiner Pistole bemächtigt, und er schien grimmig entschlossen, sie zu benutzen. Tatsächlich sah es auf den ersten Blick so aus, als würde er auf das offene Wagenfenster zielen. Celestina duckte sich unwillkürlich und dabei sah sie das wirkliche Ziel: einen Mann in den Vierzigern mit goldfarbener Samtweste, an dem die Kutsche soeben vorbeirollte und der damit beschäftigt war, einen anderen Mann mit roten Haaren zu erwürgen.
»Lass ihn los, Bertolucci, oder ich schieße dir den Kopf weg«, schrie der Bursche mit der Pistole. Mit der hochgewachsenen Gestalt, dem wild zerrauften Haar und dem mistverschmierten Gesicht sah er aus wie ein urzeitlicher Krieger, dem jemand versehentlich ein ordentliches Wams und feine Strumpfhosen angezogen hatte. Als er mit großen Schritten auf die beiden Kämpfenden zulief, war zu sehen, dass er ein Bein leicht nachzog. Offenbar war auch er bereits verwundet worden, doch seiner Angriffslust tat das keinen Abbruch. Celestina konnte sehen, wie sich sein Finger um den Abzug der Steinschlosspistole krümmte. Seine Hand zitterte nicht. Er hatte den Mann mit der goldfarbenen Weste genau im Visier.
»Verflixt«, murmelte Celestina. Waren hier alle verrückt geworden? Was um Himmels willen konnte es wert sein, dass diese Männer einander nach dem Leben trachteten?
Doch es kam nicht zum Schuss, denn im selben Moment gingen die Pferde durch und versperrten dem Schützen die Sicht. Durch den Ruck, mit dem die Kutsche sich in Bewegung setzte, wurde Celestina zurück in den Sitz geworfen und dann nach vorn auf die gegenüberliegende Bank geschleudert. Arcangela schrie auf, ebenfalls vom Schwanken der Kutsche hin und her geworfen. Auch der Kutscher schrie, jedoch nicht vor Schreck, sondern im Befehlston, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen. Vergebens, denn die Kutsche wurde noch schneller, und das Rattern der Räder geriet zu einem Donnern, während das Gefährt bedrohlich schwankte und schließlich so stark in Schieflage geriet, dass es umkippte.
Celestina spürte, wie sich die Kutsche unaufhaltsam zur Seite neigte. Dann erfolgte krachend der Aufschlag. Celestina versuchte instinktiv, sich irgendwo festzuhalten, konnte aber nicht verhindern, dass sie schmerzhaft mit ihrem Allerwertesten auf der Kutschenseite, die nun den Boden bildete, aufschlug. Zum Glück blieben ihr ärgere Blessuren erspart, denn unmittelbar darauf kam die Kutsche zum Stillstand. Leider traf dasselbe nicht auf Arcangela zu, die ebenfalls erdwärts purzelte und mit ihrem vollen Gewicht auf Celestina landete. Diese kämpfte sich mit zusammengebissenen Zähnen zwischen strampelnden Gliedmaßen und gebauschten Röcken hervor. Endlich gewann sie in der umgestürzten Kutsche einen aufrechten Stand, der sie in die Lage versetzte, sich zu orientieren.
Arcangela jammerte und schimpfte, war aber allem Anschein nach unverletzt.
Genau wie der Mann mit der goldfarbenen Samtweste, der eben noch versucht hatte, den Rothaarigen zu erwürgen und um ein Haar erschossen worden wäre. Er öffnete die nun zum Himmel weisende Tür der Kutsche und beugte sich ins Wagen-innere.
»Alles in Ordnung da drinnen?«
»Es geht uns gut«, sagte Celestina.
»Davon kann keine Rede sein!«, widersprach Arcangela. »Kommt, ich helfe Euch. Gebt mir die Hand, dann ziehe ich Euch heraus.«
Er streckte die Hand aus, und Celestina, die ihm am nächsten war, ergriff sie, um sich ins Freie hieven zu lassen. Doch dazu kam es nicht, denn unversehens wurde ihr Helfer zurück-gerissen, von dem Rothaarigen, der sich offenbar wieder hoch-gerappelt hatte. Er nutzte nun die Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und schlang erbittert beide Hände um den Hals seines Gegners.
Daraufhin machte sich Celestina ungeachtet der lautstarken Proteste ihrer Stiefschwester daran, aus eigener Kraft aus der Kutsche zu klettern, was ihr nach einigen Mühen gelang. Sie ließ sich von einem der in die Luft ragenden Räder aufs Pflaster gleiten.
Der Kampf auf der Piazza war immer noch in vollem Gange. Überall um sie herum wurde geprügelt, getreten, gefochten und gebrüllt. Celestina sah sich genötigt, mit zwei großen Sätzen einem messerschwingenden Raufbold auszuweichen, dem sie bei der Verfolgung eines flüchtenden Gegners im Weg stand.
Der Kutscher war vom Bock des Wagens geschleudert worden. Er rappelte sich vom Pflaster hoch und kam mit schmerzverzerrter Miene zurück zum Gespann, um die schnaubenden Pferde von einem erneuten Durchgehen abzuhalten.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte Celestina.
»Ich werd's überleben.« Er packte die beiden Kutschgäule beim Zügel und redete beruhigend auf sie ein, bevor er über die Schulter zu Celestina sagte: »Was ist mit Eurer Begleiterin?«
»Es geht ihr gut.«
Das war leicht übertrieben, denn aus dem Wageninnern hörte man Arcangelas empörtes Zetern.
Der Mann mit der goldfarbenen Weste rang immer noch mit seinem rothaarigen Widersacher, wobei es schien, dass diesmal der Jüngere die Oberhand gewann.
»Diesmal kriegst du Saures, Bertolucci«, stieß er hervor.
Bertoluccis Gesicht war rot angelaufen, die Augen quollen hervor, während der Rothaarige ihn aus Leibeskräften würgte. Doch Bertolucci hatte sein Pulver noch nicht verschossen. Er hieb dem anderen den Ellbogen in die Rippen, worauf dieser mit einem Ächzlaut zusammenknickte. Bertolucci, von dem Würgegriff befreit, hob einen Knüppel auf, wurde aber von einem lauten Schrei zurückgehalten. »Versuch es nur, Bertolucci!« Der große junge Mann mit der Pistole hatte wieder die Bildfläche betreten. Aus dem mistverschmierten Gesicht leuchteten seine Augen durchdringend blau. »Diesmal rettet dich kein durchgehendes Pferdegespann!« Mit gezückter Waffe trat er auf Bertolucci zu. Dieser warf sofort den Knüppel weg, der übers Pflaster rollte und vor Celestinas Rocksäumen liegen blieb.
»Ich bin unbewaffnet, Timoteo Caliari. Siehst du?« Der Ältere hob beide Hände. »Du willst doch keinen unbewaffneten Mann erschießen, oder?«
Das Gesicht des Schützen war starr vor Zorn. »Das fragt ausgerechnet ein Bertolucci? Wer von euch hatte denn je Hemmungen, einen hilflosen Gegner zu töten?«
Er hob die Pistole und legte an. Celestina schien es, als zögere er, sie tatsächlich abzufeuern, doch in Anbetracht der Um-stände war es zu riskant, auf die Vernunft dieses jugendlichen Heißsporns zu vertrauen. Sie hob den Knüppel auf und schlug zu. Der Getroffene verlor die Besinnung und fiel zu Boden.
»Seid bedankt, junge Dame!« Bertolucci deutete eine Verbeugung an, eine Hand auf das Vorderteil der Gold-weste gelegt. »Ich bin Euch sehr verbunden! Gentile Bertolucci, immer zu Euren Diensten!«
Sein Lächeln gefiel Celestina nicht, es war eindeutig unangebracht. »Ich tat es nicht für Euch, sondern für Euren Gegner. Es wäre ihm übel bekommen, wegen Mordes belangt zu werden.«
»Da sprecht Ihr weise Worte aus.« Bertolucci blickte den am Boden liegenden Mann nachdenklich an. »Wäre doch den Caliari nur ein winziger Teil Eurer Klugheit gegeben!«
Celestina achtete nicht auf ihn. Sie beugte sich über den Bewusstlosen, um nachzusehen, ob sie etwa zu fest zugeschlagen hatte, doch er kam bereits wieder zur Besinnung. Stöhnend rollte er sich zur Seite und betastete seinen Hinterkopf, wo ihn der Knüppel getroffen hatte.
Bertolucci zog es vor, das Feld zu räumen. Eilig drängte er an Celestina vorbei und verschwand in der Schar der immer noch aufeinander einprügelnden Männer.
»Celestina, was geschieht denn hier?« Arcangela schob den Kopf aus der umgestürzten Kutsche. »Um Himmels willen!« Sie duckte sich vor einem vorbeifliegenden Stein und verschwand wieder im Inneren der Kutsche.
Der Rothaarige, der versucht hatte, Gentile Bertolucci zu erwürgen, kam schwankend auf die Beine. »Wo ist das Schwein?« Sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Caliari. »Timoteo! Meine Güte!« Er wandte sich an Celestina. »Sah es gerade nur so aus, oder wart Ihr das, die meinen Freund niedergeschlagen hat?«
»Es war nur zu seinem Besten«, erklärte Celestina.
Er starrte sie mit offenem Mund an. Wie sein soeben aufwachender Freund Timoteo war er ordentlich gekleidet, mit gefälteltem Seidenkragen und gut geschnittenem Wams. Beide sahen nicht danach aus, als seien sie Raufbrüder aus Leidenschaft.
»Timoteo! Wach auf!« Er tätschelte die Wangen seines Freundes und kniff ihm dann hart in die Nase, was zwar sofort den gewünschten Effekt hatte, aber auch zu unbeabsichtigten Nebenfolgen führte. Timoteo kam schlagartig zu sich und verpasste seinem Freund einen Fausthieb.
»Was zum Teufel sollte das?!«, beschwerte dieser sich, beide Hände ächzend gegen die malträtierten Rippen drückend.
»Ach, du warst das«, sagte Timoteo benommen. »Du hättest mich nicht kneifen sollen.«
Gleichzeitig tauchte Arcangela abermals aus dem sicheren Gehäuse der Kutsche auf und lugte heraus. »Du solltest vielleicht lieber wieder reinkommen«, sagte sie zu Celestina. »Zumindest, bis dieser Aufruhr hier vorüber ist!«
Celestina achtete nicht auf ihre Stiefschwester, sondern streckte die Hand aus, um Timoteo auf die Beine zu helfen. »Seid Ihr wohlauf?«, fragte sie. »Tut es sehr weh? Für den Fall empfehle ich dringend einen kalten Wickel.«
Er starrte sie an und rieb sich den Hinterkopf. »Wo kommt Ihr denn auf einmal her?«
»Aus Mantua«, sagte Celestina. Dann hielt sie inne. »Oh, ich verstehe. Ihr meint, wo ich vorhin herkam. Nun, ich war in der Kutsche. Sie stürzte um, und ich kletterte hinaus.«
Nähere Auskünfte brauchte er offenbar nicht. »Dann müsst Ihr den Mistkerl gesehen haben, der mir diesen Schlag verpasst hat. Wo ist er hin?« Suchend blickte er sich um.
Celestina räusperte sich. »Oh, nun ja, also ...« Sie verstummte und war sich unangenehm der Tatsache bewusst, dass dieser Timoteo zwar vermutlich kaum älter war als sie, aber dafür ziemlich groß und kräftig. Und der Zorn, der von ihm ausging, war fast mit Händen zu greifen.
Sie sann über eine Erklärung nach, die sie weniger gewalttätig dastehen ließ, als sie sich beim Anblick der rasch anschwellenden Beule hinter seinem linken Ohr fühlte, doch ihr fiel nichts ein.
»Wenigstens wissen wir jetzt, dass es wirkt«, sagte er verärgert, während er sich mit dem Ärmel den Pferdemist aus dem Gesicht wischte.
»Das was wirkt?«, fragte sie irritiert.
»Das Kneifen in die Nase«, sagte der Rothaarige.
»Oh, wirklich?«, meinte sie höflich.
»Ja. Es hilft Ohnmächtigen oft rasch ins Leben zurück. Professor Fabrizio erwähnte es erst neulich in der Vorlesung.« Er blickte zu Arcangela hinauf, die abermals den Kopf oben aus der Kutsche streckte und die Umgebung beäugte. »Wir sollten der jungen Dame aus der Kutsche helfen«, schlug er vor.
Das trug ihm ein strahlendes Lächeln von Arcangela ein. »Wie galant Ihr seid!«
Er verbeugte sich. »Galeazzo da Ponte, zu Euren Diensten, Madonna! Und dieser Edelmann dort ist mein bester Freund, Timoteo Caliari. Er sieht sonst manierlicher aus, für gewöhnlich trägt er keinen Pferdemist im Gesicht.«
Timoteo Caliari achtete nicht auf ihn. Seine Miene war unbewegt, als er die Pistole aufhob, die ihm vorhin aus der Hand gefallen war. Mit verengten Augen betrachtete er das Kampfgeschehen. Dieses hatte stark nachgelassen, weil mehrere der Kontrahenten verwundet waren. Einer von ihnen hockte am Rande der Piazza und presste ein Tuch auf eine blutende Kopfverletzung, ein anderer lag reglos im Säulengang des großen Gebäudes, das den Platz zu einer Seite hin begrenzte. Es war nicht zu erkennen, ob er noch lebte, aber die Blutpfütze, die unter seiner Schulter hervorquoll, verhieß nichts Gutes. Ein Dritter saß mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt und hatte sich die Arme um den Leib geschlungen. Einige weitere hatten es vorgezogen, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ein paar Männer hielten jedoch die Stellung und droschen, wenn auch weniger kraftvoll als zu Beginn der Auseinandersetzung, unter Wutgeschrei aufeinander ein. Unter ihnen war auch der Mann mit der goldfarbenen Samtweste, Gentile Bertolucci.
»Da ist der verfluchte Hurensohn!«, rief Timoteo, auf Bertolucci deutend, der soeben mit Fausthieben einem bartlosen Jüngling zu Leibe rückte. »Er schlägt William zusammen!«
Mit gezückter Pistole stürzte Timoteo Caliari auf die Kämpfenden zu. Wieder zog er dabei das rechte Bein nach, doch diese Verwundung hinderte ihn nicht daran, ein verblüffendes Tempo vorzulegen. Den Bruchteil eines Augenblicks überlegte Celestina, ihm ein zweites Mal den Knüppel über den Schädel zu ziehen und ihn so vor einer Dummheit zu bewahren, die zweifellos sein Leben ruinieren würde. Doch dann war der Moment vertan und Timoteo Caliari zu weit entfernt, als dass sie ihn noch hätte aufhalten können.
Unmittelbar darauf krachte der Schuss.
Celestina hielt die Luft an, als sie Bertolucci zusammenzucken sah. Er machte jedoch keine Anstalten, tot zusammenzubrechen, sondern ließ lediglich die Fäuste sinken und trat einen Schritt zurück, ebenso wie sein junger Widersacher. Auch alle anderen Kämpfer hielten inne, wie von Zauberhand berührt. Niemand regte sich mehr.
Das Echo des Pistolenknalls schien immer noch über der Piazza zu schweben, es hallte in den Ohren nach und trug den schwefligen Dunst sich ausbreitenden Pulvergestanks mit sich. Gleich darauf war zu erkennen, dass nicht Timoteo Caliari geschossen hatte, sondern ein anderer. Mehrere Männer waren aus dem großen, von Säulengängen gesäumten Gebäude gekommen und davor stehen geblieben. Einer davon hielt eine noch rauchende Pistole, deren Lauf zum Himmel wies. Bei dem Schützen handelte es sich um einen untersetzten, höchst erzürnt dreinblickenden Mann, dessen Amtstracht ihn als städtischen Würdenträger auswies. Seine ganze Körperhaltung signalisierte Entrüstung. Rechts und links von ihm hatten sich mit Spießen und Harnischen bewehrte Ordnungshüter aufgebaut, die drohend in die Runde blickten und damit die Autorität des Mannes unterstrichen.
»Als hätte ich es geahnt!«, donnerte er. »Sind es doch immer dieselben Schuldigen! Die Bertolucci und die Caliari! Wird Padua jemals ein Jahr erleben, in dem diese beiden Sippen kein Blutvergießen veranstalten?« Seine aufgebrachte Stimme hallte über die Piazza. Die Autorität seines Auftretens wurde nur geringfügig dadurch gemildert, dass sein Gesicht einen ungesunden rötlichen Farbton angenommen hatte. Celestina ging es flüchtig durch den Sinn, dass sein Herz es ihm eines Tages sehr übel nehmen würde, wenn er sich öfters so aufregte.
Wortreich schleuderte er den Männern der Bertolucci und Caliari entgegen, welch unermesslichen Schaden sie der Stadt Padua zufügten. Durch ihre bloße Existenz seien sie zu einer unerträglichen Last für den Frieden und die öffentliche Ordnung geworden. Was überdies nicht nur für die Mitglieder der beiden Sippen gelte, sondern auch für ihre Verbündeten, die sich nicht entblödeten, jenen immer wieder mit Schwert und Faust beizuspringen, gleichviel, wie nichtig der Anlass auch sein möge.
Die geharnischte Ansprache nahm ihren Fortgang, der Redner war zweifellos ein Meister des Wortes. Die Anschuldigungen gingen ihm nicht aus, im Gegenteil, sie wurden immer schwerwiegender, bis zur Überzeugung aller Zuhörer feststehen musste, dass die Bertolucci und die Caliari vor keinem Verbrechen zurückschreckten, sofern es nur dazu taugte, ihre unsägliche Feindschaft zu festigen.
Celestina hörte gebannt zu, versäumte dabei aber nicht, die Umstehenden zu betrachten, um zu sehen, wie die Standpauke aufgenommen wurde. Die meisten der Angesprochenen standen mit demütig gesenktem Haupt da und bemühten sich redlich um einen reuigen Gesichtsausdruck, doch einige hatten den Kopf auch trotzig erhoben und versuchten gar nicht erst, einsichtsvoll zu wirken.
Zu Letzteren gehörte eindeutig Timoteo Caliari. Er schaute unbewegt geradeaus, als ginge ihn das alles nichts an.
Sein Pech war, dass es nicht nur Celestina auffiel.
»Ich rede auch und vor allem mit Euch, Timoteo Caliari!«, donnerte der Amtsträger. »Die Geduld des Rats ist nicht unerschöpflich! Ihr fallt nicht das erste Mal unliebsam auf! Zu viele Raufhändel finden unter Eurer Beteiligung statt! Das Wohlwollen, das ihr mit Eurem kämpferischen Einsatz im Dienste der Republik verdient habt, ist längst aufgezehrt!« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann mit schneidender Stimme fort: »Beim nächsten Zwischenfall, und sei er noch so unbedeutend, ist Euch die Verbannung gewiss, Caliari. Und damit meine ich keineswegs bloß Euch, sondern alle Caliari! Euren Vater, Euren Bruder, Eure Tante - die ganze Sippschaft! Und jeden anderen, der sich öffentlich zu Euch bekennt! Ich schwöre es hier vor allen, beim Grab des heiligen Antonius: Ihr und die Euren werdet bis zum letzten Atemzug vom Boden der Serenissima verbannt werden!«
Absolutes Schweigen senkte sich über das weite Rund der Piazza. Verbannung war unter allen denkbaren Strafen für die Bürger der Dogenrepublik eine der schlimmsten. Für viele war sie sogar schlimmer als der Tod.
Der Amtsträger wartete einige Augenblicke, bis jeder der Umstehenden die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte, und tatsächlich schien sogar Timoteo Caliari zu begreifen, was ihm drohte, denn er war sichtlich erblasst und blickte zu Boden. Die Pistole hatte er längst weggesteckt.
»O je, das klingt gar nicht gut«, hörte Celestina hinter sich Galeazzo murmeln, der sich aus unerfindlichen Gründen immer noch bei der umgestürzten Kutsche aufhielt.
»Wer ist das?«, fragte sie ihn leise.
»Ihr meint den Herrn, der geschossen hat und nun die schrecklichste Strafpredigt aller Zeiten hält? Das ist Messèr Gradenigo, oberster Ratspräsident von Padua. Seine Stimme im Senat hat höchstes Gewicht. Wenn er Verbannung androht, sind das keine leeren Worte.«
»Was ist der Grund für diese Fehde zwischen den beiden Sippen?«
»Das weiß niemand so recht«, behauptete Galeazzo. Sein jungenhaftes Gesicht unter dem rostroten Haarschopf wirkte aufrichtig, doch Celestina glaubte ihm kein Wort.
Abrupt wechselte sie das Thema. »Vorhin fiel der Name Fabrizio. Meintet Ihr damit Girolamo Fabrizio?«
»Girolamo Fabrizio d'Acquapendente, so lautet sein voller Name. Unser Professor. Wir studieren bei ihm, Timoteo und ich. Und William Harvey, das ist der englische Junge, den dieser unselige Bertolucci vorhin niederschlagen wollte.«
Celestina starrte ihn an. »Ihr meint, Ihr studiert Medizin? Ihr und Euer Freund Timoteo Caliari? An der Universität von Padua?«
Galeazzo zuckte die Achseln. »Nun ja, das tun wir. Seit über zwei Jahren bereits. Ganz ehrbar und fleißig. Wenn möglich, wollen wir noch dieses Jahr promovieren. Prügeln tun wir uns nur höchst selten. Jedenfalls bei Weitem nicht so oft, wie wir Vorlesungen besuchen. Warum fragt Ihr danach?«
»Ach, es war nur beiläufiges Interesse, ich meinte bloß, den Namen schon einmal gehört zu haben.«
»Den von Professor Fabrizio? Ja, er ist sehr berühmt, beinahe wie der große Vesalius.«
»Und so befehle ich allen, die sich hier geschlagen haben, augenblicklich diesen Platz zu räumen und mir möglichst lange nicht unter die Augen zu kommen!«, schloss Ratspräsident Gradenigo. Seine Stimme klang kaum weniger zornig als zu Beginn seiner Rede. Die Ordnungshüter schwärmten mit drohend gereckten Spießen aus, worauf alle noch in Reichweite befindlichen Kampfhähne eilends das Weite suchten. Nur die Verwundeten blieben an Ort und Stelle.
Galeazzo warf ein werbendes Lächeln in Arcangelas Richtung, während er sich bereits rückwärtsgehend entfernte. »Ich fürchte, es wird heute nichts mehr daraus, dass ich Euch aus dieser Kutsche helfe, da ich mich nun empfehlen muss. Wobei ich jedoch inständig hoffe, Euch in Bälde wiederzusehen. Schon weil Ihr ebenso rotes Haar habt wie ich. Wir Rothaarigen müssen zusammenhalten! Darf ich Euren Namen erfahren sowie den Ort, wo Ihr Quartier nehmt, schönes Fräulein?«
»Gewiss. Ich heiße Arcangela. Und das ist meine Schwester Celestina. Wir besuchen unsere Verwandten. Sie heißen Bertolucci, falls Euch das etwas sagt. Unser Onkel ist Lodovico Bertolucci, bei ihm werden wir wohnen.«
»Ähm ... Wirklich?« Galeazzo schaute betreten drein. Dann beeilte er sich zu verschwinden, denn ein martialisch dreinblickender und ausgesprochen muskulöser Offizier näherte sich der Kutsche. Im Laufschritt schloss Galeazzo sich Timoteo Caliari und seinem Kommilitonen William Harvey an, die gerade um die Ecke eines Gebäudes verschwanden.
Arcangela blickte ihm nach und wandte sich dann an Celestina. »Da fällt mir ein ... Sprach dieser Amtsherr da drüben nicht eben auch von Leuten, die Bertolucci heißen? Ob die etwas mit unseren Verwandten zu tun haben?«
Der Offizier gab sich den Frauen gegenüber weit freundlicher, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Umsichtig half er Arcangela aus der Kutsche und stellte sich dann formvollendet als Capitano Manzini vor. Seine Hilfsbereitschaft hing erkennbar damit zusammen, dass Arcangelas Bluse verrutscht war, als er ihr aus der Kutsche geholfen hatte, und sie seither keine Anstalten gemacht hatte, sie wieder zurechtzuziehen. Stattdessen ließ sie keine Gelegenheit aus, den Mann bei jeder Gelegenheit strahlend anzulächeln und sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Die Haube war ihr beim Verlassen der Kutsche vom Kopf gefallen, sodass ihre langen kastanienroten Locken in der Nachmittagssonne ihren vollen Schimmer entfal-ten konnten.
Capitano Manzini rief einige Wachen herbei. Mit vereinten Kräften hievten die Männer die Kutsche wieder auf die Räder, von denen allerdings eines gebrochen war. Eine Weiterfahrt kam demnach vorerst nicht infrage. Capitano Manzini erklärte, dass der Radwechsel eine Weile dauern werde, weshalb die Damen die restliche Wegstrecke besser mit einem anderen Wagen fortsetzen sollten.
Der Kutscher half trotz seiner vom Sturz schmerzenden Glieder dabei, die Reisekisten der Frauen abzuladen, bevor er die erschöpften Pferde abschirrte und sie zum nächstgelegenen Stall führte. Die nutzlose Kutsche blieb derweil mitten auf dem Platz stehen, während der gut aussehende Capitano sich erbot, ein anderes Gefährt zu organisieren.
Celestina sah unterdessen nach den Verwundeten. Der Verletzte im Säulengang lag unverändert da, nur die Blutpfütze hatte sich vergrößert. Celestina legte ihm die Fingerspitzen an den Hals und tastete nach dem Puls. Es gab keinen. Der Mann war tot.
»Ich hatte schon nach ihm gesehen«, rief jemand. »Da kommt jede Hilfe zu spät!«
Sie blickte auf. Ein Mönch stand bei dem Verwundeten mit der Bauchverletzung. Er war um die dreißig und von kräftiger Statur, mit kurz gelocktem dunklem Haar, einem schmalen Oberlippenbart und weißen Zähnen. Seine Ordenstracht wies ihn als Franziskaner aus.
Celestina ging zu ihm und betrachtete den Verletzten zu seinen Füßen, der sich nach wie vor stöhnend den Leib hielt. Sein Gesicht war weiß wie Kreide, die Lippen blutig gebissen vor Schmerz.
»Kann ich helfen, Frater?«
Er musterte sie neugierig. »Blut und Tod scheinen Euch nichts auszumachen, Madonna. Befasst Ihr Euch mit der Heilkunde?«
»Mein verstorbener Gatte war Chirurg und ließ mich gelegentlich assistieren.«
»Ein hiesiger Arzt? Ich sah Euch bisher nicht hier in der Stadt.«
»Jacopo praktizierte zuerst in Bologna, später in Venedig
und die letzten Jahre in Mantua. Hier in Padua war er nie.« »Und Ihr habt ihm bei seiner Arbeit geholfen, Monna ...?« »Celestina Ruzzini.«
»Ihr seid die Witwe von Jacopo Ruzzini?«, fragte der Mönch überrascht.
»Ihr kennt ihn?«
»Nicht persönlich. Aber sein Name ist mir ein Begriff. Mit manchen seiner Operationen hat er von sich reden gemacht. Es wurde nur Gutes über ihn gesprochen.«
Das war Celestina nicht neu, dennoch erfüllte es sie mit Stolz, dass man von Jacopo sogar in Städten gehört hatte, in denen er nie gewesen war.
Der Mönch deutete auf den Verwundeten zu seinen Füßen. »Nun, ich fürchte, auch diesem armen Menschen kann nicht mehr geholfen werden. Allenfalls kann man es ihm mit Mohnsaft ein wenig erträglicher machen. Ich werde ihn ins Klosterhospital bringen lassen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Seht mir meine Unhöflichkeit nach, Monna Celestina. Bisher versäumte ich, mich vorzustellen. Ich bin Frater Silvano.«
»Seid Ihr ein Medicus, Frater?«
»Falls Ihr damit meint, ob ich je die Doktorwürde der Medizin erworben habe - nein.« Silvano lächelte. »Die praktischen Kenntnisse der Krankenbehandlung eignete ich mir durch Zusehen und Nachmachen an.«
»Genau wie ich«, entfuhr es Celestina. »Ich wünschte, ich wäre ein Mann, dann könnte ich ...« Gerade noch rechtzeitig brach sie ab und merkte, wie sie errötete. Wenn sie damit fortfuhr, auf diese Weise Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wäre ihr Vorhaben bereits zum Scheitern verurteilt, bevor sie überhaupt begonnen hatte, es in Angriff zu nehmen.
Der verletzte Mann hatte das Bewusstsein verloren und fiel schlaff zurück. Nun war seine klaffende Bauchwunde deutlich zu sehen, mitsamt der hervortretenden aufgeschlitzten Darm-schlinge. Es stank nach Blut und Exkrementen.
Frater Silvano zögerte. »Ich hörte, dass Euer Mann einen Menschen mit so einer Verletzung durch eine Operation retten konnte.«
»Ja, das stimmt.«
»Wie hat er es genau gemacht?«
Celestina erinnerte sich an jeden Handgriff. »Er hat das verletzte Darmstück beidseitig abgeklemmt und es herausgeschnitten. Sodann hat er die beiden Enden über ein passend gestutztes Stück Holunderrohr gestülpt und wieder zusammengenäht. Bauchfell und Haut wurden ebenfalls vernäht.«
»Und der Patient wurde gesund?«
»Völlig gesund«, bestätigte Celestina. »Was mein Mann aber rückblickend als glücklichen Zufall wertete, denn bei den nächsten drei Operationen dieser Art verstarben die Patienten.«
»Das kann kein Grund sein, es nicht immer wieder zu versuchen«, sagte der Mönch. »Und dabei möglichst den Grund für das Misslingen herauszufinden. So lange, bis es irgendwann glückt.«
Dennoch gab es keine Rettung für den Verletzten mit der Bauchwunde. Er atmete nicht mehr.
Der Mönch bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet.
Timoteo befingerte die Beule an seinem Hinterkopf und verzog das Gesicht. Sie fühlte sich so groß an wie das Ei einer Gans. Und sie schmerzte gewaltig.
»Es würde weniger wehtun, wenn du die Finger davon ließest«, sagte William. Er war außer Atem vom schnellen Gehen, und sein englischer Akzent war stärker als sonst. Die Aufregung über den vorangegangen Kampf war ihm deutlich anzumerken, zumal er nicht ungeschoren davongekommen war: Er hatte eine blutig geschlagene Lippe, weil ihn Bertoluccis Faust im Gesicht getroffen hatte.
Galeazzo, der zwischen Timoteo und William ging, stöhnte bei jedem Schritt wegen der Schmerzen in seinem Brustkorb. Er war davon überzeugt, dass Timoteos Hieb ihm mindestens eine Rippe gebrochen habe, was Timoteo bisher nur mit einem unwilligen Brummen kommentiert hatte.
Wenigstens zwei der Bertolucci-Anhänger hatte es wohl übel erwischt. Gefallen waren sie William zufolge durch die Hand einiger bewaffneter Scholaren. Was diese dazu bewogen hatte, auf Seiten der Caliari zu kämpfen, blieb freilich unerfindlich. Timoteo kannte sie nicht einmal. Er wusste lediglich, dass sie der Juristenfakultät angehörten und außerdem Mitglieder einer fremden Natio waren, laut William entweder Ungarn oder Polen. William, der die blutige Attacke aus nächster Nähe mit angesehen hatte, war der Meinung, sie seien nur zufällig vorbeigekommen und hätten einfach nur ihre Degen in einem echten Kampf ausprobieren wollen, und ebenso schnell seien sie auch wieder weg gewesen, noch bevor der Schuss gefallen war.
»Der eine, den sie abstachen, ist mit Sicherheit tot«, sagte der blonde junge Engländer. »Und der andere hat bestimmt auch nicht mehr lange zu leben, ich sah seine Gedärme.«
»Zwei Anhänger der Bertolucci weniger auf der Welt«, meinte Timoteo. Dennoch verspürte er keinerlei Genugtuung, im Gegenteil, es bedrückte ihn, dass Menschen so sinnlos gestorben waren. Dabei hätte er sich freuen sollen, denn jeder Freund der Bertolucci war ein Feind der Caliari und somit überflüssig.
Gesunden Zorn empfand er jedoch über den Schlag auf den Hinterkopf. Kein Gegner hatte ihn je auf so perfide Weise an-gegriffen, noch nicht einmal während der beiden Jahre, in denen er seinen Waffendienst im Heer der Dogenrepublik geleistet hatte. Richtig gekämpft hatte er zwar nur in wenigen kleinen Scharmützeln, doch feige Attacken von hinten hatte es dabei nie gegeben. Aber so waren die Bertolucci eben. Hinterhältigkeit war ihre zweite Natur.
Timoteo platzte mit seinem Ärger heraus. »Verbannung hin oder her - bei der nächsten Gelegenheit zahle ich es Gentile Bertolucci heim!«
Galeazzo warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Weil er mich erwürgen wollte? Sei versichert, das habe ich ihm schon selbst heimgezahlt, und mein Griff war härter als seiner. Sein Kehlkopf wird ihm auch in ein paar Wochen noch das Gefühl geben, eine fette Kröte im Hals sitzen zu haben!«
»Ich habe ihn ebenfalls ziemlich heftig erwischt«, sagte William zufrieden. »Seine Nase hat unter meiner Faust sehr laut geknackt.«
»Das ist ja gut und schön«, sagte Timoteo barsch. »Trotzdem wird er den Schlag auf meinen Kopf noch sehr bereuen.«
»Oh.« Galeazzo grinste. »Das kannst du ja nicht wissen, weil du ohnmächtig warst. Aber ich erzähle es dir mit Freuden. Nicht er hat dich niedergeschlagen. Die junge Dame aus der Kutsche hat den Knüppel gegen dich geschwungen.«
»Das Mädchen aus Mantua?«, fragte Timoteo ungläubig. »Dieses kleine dünne Ding? Bist du sicher?«
Galeazzo nickte und blieb stehen. Sie hatten das Hospizium erreicht, in dem er und William wohnten. »Sie meinte, es sei zu deinem Besten gewesen. Und ich hörte sie zu Gentile Bertolucci sagen, sie habe es nicht seinetwegen getan, sondern um dich davor zu bewahren, zum Mörder zu werden.«
»Das finde ich vernünftig von ihr«, erklärte William.
»Nun ja, eine kleine Einschränkung will ich nicht unerwähnt lassen«, sagte Galeazzo. »Sie und ihre wirklich reizende Stiefschwester Arcangela besuchen ihre Verwandten hier in Padua. Die Bertolucci. Lodovico Bertolucci ist ihr Onkel.«
Timoteo fehlten die Worte. Erst, nachdem Galeazzo und William im Studentenwohnheim verschwunden waren, hatte er sich so weit gesammelt, dass er seinem Zorn auf gebührende Weise Ausdruck verleihen konnte: Er trat hart gegen die nächstbeste Mauer. Dummerweise mit dem falschen Fuß. Das versehrte rechte Bein brannte auf dem ganzen restlichen Nachhauseweg wie Höllenfeuer.
Das Haus der Caliari befand sich nur einen Steinwurf vom Botanischen Garten entfernt. An schönen Tagen ging Timoteo auf dem Weg zur Universität gern auf einen kurzen Abstecher dorthin, um die exotischen Pflanzen zu betrachten. Die meisten davon erschienen ihm wegen ihrer Fremdartigkeit bemerkenswert, und oft fragte er sich beim Anblick eines dieser sonderbar gefärbten oder gefiederten Gewächse, wie es wohl in jenem Teil der Welt aussehen mochte, aus dem es stammte. Manche dieser seltsamen Bäume oder Sträucher waren so empfindlich, dass sie nur in eigens dafür aufgestellten Glashäusern gediehen. Botaniker hatten sie von ihren Reisen aus tropischen Gefilden mitgebracht, oft als kleine Ableger, herangezüchtet in Kisten und sorgsam vor Wind und Wetter geschützt, in der Hoffnung, sie könnten in Europa Wurzeln schlagen. Sofern ein solches Unterfangen überhaupt glückte, dann in Padua, wo sich die fähigsten Gärtner der Republik um die Pflanzen bemühten, in einem Garten, der seinesgleichen noch nicht gefunden hatte. Jedenfalls hörte man das allenthalben, und Timoteo sah keinen Anlass, daran zu zweifeln.
Gelegentlich kam ihm auch in den Sinn, dass zwischen der Universität und dem Botanischen Garten erstaunliche Parallelen bestanden, und das nicht etwa nur, weil über die zahlreichen dort wachsenden Heilkräuter regelmäßig Vorlesungen in ärztlicher Pflanzenkunde gehalten wurden. Die Ähnlichkeit zwischen Garten und Alma Mater lag vielmehr hauptsächlich darin begründet, dass sich in beidem so viel Fremdes fand. In der Botanik die vielen exotischen Pflanzen aus nur teilweise erforschten Gegenden jenseits der großen Ozeane, und in der Universität die Studenten aus aller Herren Länder. Sie kamen von überallher und bildeten innerhalb ihrer Fakultäten eigenständige Nationes, von denen es Dutzende gab. Wer etwas gelten wollte, studierte in Padua. Und versäumte dabei nicht, an den zahlreichen Freizeitvergnügungen teilzunehmen, zu denen unbedingt ein Besuch des Botanischen Gartens gehörte.
Was an diesem Tag selbstverständlich nicht im Entferntesten infrage kam. Timoteos Bemühungen, sich mit bedeutungslosen Gedanken an Gärten und Studenten von seinen Schmerzen und seiner sonstigen Misere abzulenken, endeten jäh, als er die Stimme seines Bruders hörte. Hieronimo stand mit verkniffener Miene vor dem Haus und schaute ihm entgegen. Er hatte an dem Kampf teilgenommen, war aber sofort verschwunden, als Gradenigo in die Luft geschossen hatte. Die Ansprache des Ratspräsidenten hatte er daher nicht mehr mitbekommen und brannte nun sichtlich darauf, Timoteos Bericht zu hören.
Timoteo rieb sich das rechte Bein und folgte Hieronimo ins Haus, während er darüber nachdachte, wie er mit möglichst schonenden Worten seine Familie von der drohenden Verbannung in Kenntnis setzen konnte.
Sein Bruder betrat den Wohnraum, wo der Vater darauf wartete, in allen blutigen Einzelheiten von der Schlägerei zu erfahren. Je härter es die Bertolucci getroffen hätte, desto besser würde es ihm gefallen.
Alberto Caliari saß in dem Rollstuhl, den Hieronimo für ihn hatte zimmern lassen. Er ermöglichte es ihm, sich ohne fremde Hilfe im Erdgeschoss frei zu bewegen und über eine eigens gebaute Rampe auch in den Garten hinauszurollen. Vorher hatte er sich mühsam mit Krücken fortbewegt, von einem Sessel zum anderen, und das hatte in den letzten Jahren häufiger zu Stürzen geführt. Alberto Caliari wurde nicht jünger, dafür aber immer eigensinniger, und jedes Mal, wenn er fiel, erzitterte das Haus von seinem Wutgebrüll.
»Berichte!«, sagte er zu Timoteo. Nur dieses eine Wort.
»Zwei der Bertolucci-Anhänger werden diesen Tag nicht überleben«, sagte Timoteo. »Und Galeazzo gelang es beinahe, Gentile Bertolucci zu erwürgen.«
Er hatte mit Bedacht zuerst die Nachricht erzählt, die seinem Vater gefallen würde. Dann würde ihn der Rest vielleicht nicht so hart treffen, obwohl Timoteo das stark bezweifelte. Präsident Gradenigo war kein Mann der leeren Worte. Was immer er in Aussicht stellte, würde er verwirklichen, daran zweifelte Timoteo keinen Moment. Schon mancher hatte sein Leben gelassen, weil er sich Gradenigos Unmut zugezogen hatte, und von mindestens zwei Edelmännern war bekannt, dass er persönlich für ihre Verbannung gesorgt hatte. Beide führten den Verlautbarungen nach irgendwo auf Sizilien ein unwürdiges Leben in irgendeinem primitiven Dorf, aller Besitztümer und Titel beraubt. Sollten sie je wieder wagen, einen Fuß auf den Boden der Republik zu setzen, würde man sie am nächsten Baum aufknüpfen und dort zur Abschreckung hängen lassen, bis ihnen das Fleisch von den Knochen faulte. Nicht einmal die Ehre des Richtschwerts würde ihnen zuteilwerden.
An einer Verbannung würden sowohl sein Vater als auch sein Bruder zugrunde gehen. Beide hingen mit ganzem Herzen an ihren Ländereien, mochten diese seit etlichen Jahren auch nur noch das Nötigste abwerfen, um der Familie ein standesgemäßes Leben zu ermöglichen. Vor allem Hieronimo war förmlich verwachsen mit der Scholle, es verging kein Tag, an dem er nicht hinausritt und auf den Pachthöfen nach dem Rechten schaute. Wo es nur ging, packte er mit an, reparierte Dächer, schirrte Ochsen vor Pflugscharen, half bei der Olivenernte. Ihm das Land wegzunehmen, das seit Generationen den Caliari gehörte, wäre gleichbedeutend mit vollständiger Vernichtung.
Fraglich war nur, ob diese Einsicht ihm half, seinen Hass auf die Bertolucci zu zügeln. Von diesem Hass hatte er deutlich mehr aufzubieten als Timoteo, was schon einiges heißen wollte, da Timoteo oft meinte, selbst förmlich davon bersten zu können. Im Gegensatz zu Timoteo konnte Hieronimo sich noch sehr gut an ihrer beider Mutter erinnern. Bei ihrem Tod war Timoteo erst drei Jahre alt gewesen, Hieronimo dagegen bereits zehn. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem ihr Vater ihnen nicht klargemacht hatte, wer für den Tod der Mutter verantwortlich war.
»Hast du die Sprache verloren?«, fragte Alberto Caliari ungeduldig mitten in seine Gedanken hinein. »Ich will wissen, wer die Männer der Bertolucci tötete!«
»Keine Ahnung. Irgendwelche Scholaren, die ich nicht kenne.«
»Und kennst du wenigstens die Toten?«
»Das konnte ich in der Eile nicht mehr herausfinden. Gradenigo hat uns alle zusammengestaucht und dann befohlen, dass wir verschwinden. Er hat die Büttel ausschwärmen lassen, also haben wir die Beine in die Hand genommen.«
Alberto Caliari verzog unwillig das Gesicht. »Der alte Schweinehund. Warum muss er sich immer einmischen?«
»Er hat die Macht dazu«, gab Timoteo vorsichtig zu bedenken.
Hieronimo, der an der Wand lehnte, hatte mit unbewegter Miene zugehört. »Und jetzt erzähl den Rest.«
»Ähm ... wie?«
»Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass du dir die schlechte Nachricht bis zum Schluss aufheben willst.«
»Du hättest eben nicht gleich beim Knall des Schusses verschwinden müssen«, begehrte Timoteo auf. »Dann wüsstest du es jetzt selbst!«
»Was wüsste er selbst?« Brodata Caliari kam ins Zimmer und trat neben den Rollstuhl, erpicht darauf, die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Die Nachricht vom Kampf auf der Piazza delle Erbe hatte bereits die Runde gemacht, während er noch im Gange war.
»Verbannung«, platzte Timoteo heraus. »Gradenigo hat es vor allen Leuten geschworen, beim heiligen Antonius. Ein Zwischenfall noch, gleichviel wie unbedeutend, und wir werden alle verbannt. Unsere ganze Familie.«
»Das hat er so nur so dahergesagt«, erklärte Brodata impulsiv. Wütend fügte sie hinzu. »Und warum nur wir? Warum nicht die Bertolucci? Oder sagte er, dass auch die Bertolucci verbannt werden sollen?«
»Von ihnen war nicht die Rede.«
»Was für eine empörende Ungerechtigkeit!«
Timoteo räusperte sich. »Vielleicht hat es damit zu tun, dass nicht sie jedes Mal anfangen, sondern wir. Heute ja auch wieder.« »Wie fing es denn an?«, wollte sie wissen.
»Daran erinnere ich mich nicht mehr so genau«, meinte Timoteo ausweichend.
»Es fing damit an, dass ich Gentile Bertolucci einen schwanzlosen Versager nannte«, mischte sein Bruder sich wütend ein. Er reckte sich. »Er hätte mich eben nicht so frech angrinsen sollen.«
»Oh, das hast du wirklich zu ihm gesagt?«, fragte Brodata. Sie runzelte die Stirn. »Eine veritable Beleidigung, alles was recht ist.«
Brodata Caliari war die Tante von Timoteo und Hieronimo und führte den Haushalt mit harter Hand. Sie war zweiundvierzig und damit zehn Jahre jünger als ihr Bruder Alberto, sah aber nach allgemeiner Ansicht nicht älter aus als fünfunddreißig. Ihr bernsteinfarbenes Haar zeigte keine Spur von Grau, und ihre Figur war füllig und fest und zog immer noch viele Männerblicke auf sich. Allerdings hatte sie nie geheiratet. Das sowie ihre harsche Art hatten ihr mancherorts den Beinamen Eiserne Jungfrau eingetragen.
Alberto sagte nichts. Sein hageres Gesicht war bleich geworden, und seine Kiefer mahlten. Er wusste genau, dass Gradenigo bisher noch immer sein Wort gehalten hatte, im Guten wie im Schlechten.
Timoteo räusperte sich abermals. »Ich muss dann wieder los«, sagte er. »Das Repetitorium fängt gleich an.«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Thomas
- 2012, 1. Aufl., 560 Seiten, Masse: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404167325
- ISBN-13: 9783404167326
- Erscheinungsdatum: 01.12.2012
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