Das Leuchten des Sanddorns
Roman. Originalausgabe
Das Rauschen der Ostseewellen, die Farbenpracht von Mohn- und Kornblumen, die Faszination der weissen Kreidefelsen: Nach Rügen und besonders in das Seebad Binz zieht es Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Gäste. Hier lebt die schöne junge Marie, die mit...
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Produktinformationen zu „Das Leuchten des Sanddorns “
Klappentext zu „Das Leuchten des Sanddorns “
Das Rauschen der Ostseewellen, die Farbenpracht von Mohn- und Kornblumen, die Faszination der weissen Kreidefelsen: Nach Rügen und besonders in das Seebad Binz zieht es Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Gäste. Hier lebt die schöne junge Marie, die mit ihrem Mann, einem ehemaligen Kapitän, glücklich zu sein glaubt - bis sie die reiche und selbstbewusste Sophie kennenlernt. Marie ahnt nicht, dass diese Begegnung nicht nur ihre Ehe gefährden, sondern auch das Schicksal ihrer Töchter und Enkelinnen dramatisch beeinflussen wird ...Eine grosse Familiensaga zum Schmökern und Träumen!
Lese-Probe zu „Das Leuchten des Sanddorns “
Das Leuchten des Sanddorns von Judith Kern1
Es war ein herrlicher Sommertag Anfang Juli im Jahre 1909 auf Rügen. Nicht eine Wolke war am Ostseehimmel zu entdecken, die Luft fl irrte in der Mittagshitze, und ein kaum spürbarer Wind trug den beruhigenden Klang des sanften Meeresrauschens vom wenige Meter entfernt liegenden Sandstrand herüber zur Hotelterrasse, auf der zahlreiche Badegäste unter einer hohen Buche Schatten fanden. Kinder tollten um die eng stehenden Stühle und Tische herum, Damen in langen hellen Kleidern und mit großen Hüten fächerten sich frischen Wind zu, während sie sich mit ihren Ehemännern und mit neuen Urlaubsbekanntschaften lautstark und quer über alle Tische hinweg darüber unterhielten, ob sie am Nachmittag lieber in die Granitz zum Jagdschloss wandern, eine Kutschfahrt in die Umgebung machen oder sich einfach dem Müßiggang hingeben sollten. Erst als auch die letzte Bestellung aufgetragen war, wich das wilde Stimmengewirr einem gleichmäßigen Klappern der Messer und Gabeln gegen das Porzellan, nur manchmal unterbrochen von Ermahnungen an die Kinder, doch nun endlich still zu sitzen. Marie Dahm trat aus der mit Rosen und Wicken umrankten Tür, die zur Terrasse führte, und setzte sich zu ihrem Mann Franz und Klara, der kleinen Tochter, an den runden Tisch, der etwas abseits der Gästetische direkt an der Hauswand stand. Auf ihrer blassen Stirn waren Schweißperlen, die sie mit dem Handrücken fast entschuldigend abwischte. Die Hitze, die Aufsicht der Mädchen, damit auch alles seinen ordentlichen Gang ging, das Aushelfen in der Küche bei Hanna, Besorgungen machen, im angeschlossenen Kolonialwarengeschäft verkaufen, kurzum das ganze Hotel und den Laden am Laufen halten, das alles forderte seinen Tribut. Doch Marie beklagte sich nicht. Beim Anblick der zufriedenen Gäste huschte ein
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Lächeln über ihr schmales Gesicht. Keine Frage, es war eine anstrengende Arbeit, die sie hier seit nunmehr fast zehn Jahren, neun davon als Hausherrin, verrichtete, aber es war eine, die sie zufrieden stimmte. Und manchmal dachte sie sogar, sie sei glücklich. So wie jetzt, als sie sich für Sekunden und im Glauben, unbeobachtet zu sein, auf dem Holzstuhl räkelte, ihren Kopf in den Nacken legte und die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spürte. »Was für ein prächtiger Tag«, raunte Franz ihr ins Ohr. Er hatte seine Anzugjacke neben sich gelegt und saß nur mit einem weißen Hemd und einer Anzugweste bekleidet schon seit einiger Zeit hier im Freien. Wenn das Wetter es erlaubte, nahm er seine Papiere mit nach draußen, um sie dort durchzuarbeiten. Die Seeluft sog er dabei jedes Mal aufs Neue so tief ein, als gälte es, einen Vorrat anzulegen. »Prächtig, nicht«, seufzte er noch einmal zufrieden, und sein Blick wanderte zu den Möwen, die über ihren Köpfen kreisten. »Hör nur die Schreihälse, klingt nicht sogar ihr Kreischen heute wie Freudengesänge?« »Hm«, murmelte Marie in Gedanken versunken und schlug erst erschrocken die Augen auf, als Franz ihr mit seiner weißen Leinenserviette einen Schweißtropfen von der Wange wischte. »Nicht«, zischte sie und machte unwillkürlich eine abweisende Handbewegung. Doch sofort tat es ihr leid. »Franz«, flüsterte sie so leise, dass es ihre Tochter nicht hören konnte, »entschuldige bitte, du weißt doch, dass …« »Schon gut«, unterbrach Franz sie und strich im Schutz der Tischdecke mit seiner Hand für einen kurzen Moment sanft über ihr Knie. »Schon gut.« Das Haus, auf dessen Terrasse sie saßen, war eines jener Häuser, die wie auf einer Perlenkette aufgereiht dicht an dicht an der Binzer Strandpromenade standen. Es gab welche, die mehr Erker und mehr Türme, mehr Balkone und mehr Veranden aufweisen konnten, welche, die vornehmer und mondäner waren, aber es gab nur wenige Häuser, die vor der Villa Luise so dicht am Strand erbaut worden waren. Franz, der, wie er oft sagte, »aus Sentimentalität und Heimatverbundenheit« nach dem Tod seiner Eltern seine Kapitänsmütze an den Nagel gehängt und seine ganzen Ersparnisse und sein Erbe in den Bau dieses Hauses gesteckt hatte, ließ es 1899 am äußersten Rand des Ortes, östlich des Flüsschens Ahlbeck, das den Schmachter See mit dem Meer verbindet, errichten. Den Platz hatte er mit Bedacht gewählt. Die Eingangsseite zum Meer gerichtet, »atmete« das Haus »die Unendlichkeit des Wassers«. So zumindest hatte er sich ausgedrückt, als er Marie gleich nach Bauende als Hausmädchen eingestellt und sie voller Stolz durch seine Villa Luise – benannt nach seiner verstorbenen Mutter – geführt hatte. Es war die Sehnsucht nach Weite, die eines ehemaligen Kapitäns, die damals noch aus ihm gesprochen hatte. Doch mit dem Alter war der Wunsch nach Sicherheit mindestens genauso stark geworden. Als Marie damals zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war, war es nicht die Lage, die sie besonders beeindruckt hatte. Ihre ganze Bewunderung hatte den weiß getünchten Holzschnitzereien gegolten, mit denen jede einzelne Veranda verziert war. Diesen feinen Ornamenten, die sich zwischen den Holzbalken wie Blumen rankten. Sie hatte diese Schönheit und Reinheit von Anfang an gemocht, vielleicht auch, weil sie sich so sehr von dem unterschied, was sie bislang gekannt hatte. »Denkst du an die Einladung heute Abend?«, fragte Franz unvermittelt, ohne den Blick von seinem Suppenteller zu heben. »Natürlich.« Marie nickte, während sie die beiden Mädchen beobachtete, die sich bereits darangemacht hatten, die Tische der Gäste abzuräumen. »Du entschuldigst mich?« »Nie hat sie Zeit für uns, was, Klärchen?« Franz zwinkerte seiner Tochter verschwörerisch zu und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Dann sah er seine Frau aufmunternd an, und sein Blick folgte der zarten Gestalt, wie sie im Haus verschwand. Von der Binzer Seebrücke ertönten noch die letzten Takte eines Operetten-Potpourris, das die sechzigköpfige Kapelle zum Abschluss ihres Kurkonzertes spielte, als Franz und Marie am Abend auf dem Vorplatz des Kurhauses eintrafen. Marie trug ein ins Altrosa changierendes, mit Spitzen an Kragen und Armen besetztes weit schwingendes Kleid aus Chiffon. Eine Schneiderin aus Bergen, die in einem Hinterhof ihr kleines Atelier betrieb, hatte es ihr für einen Neujahrball vor vier Jahren genäht. Seitdem zog sie es zu festlichen. Anlässen an, und bislang hatte sie nie daran gedacht, sich ein anderes Kleid schneidern zu lassen. Mit Franz und Marie waren zahlreiche andere Gäste eingetroffen. Die Damen in eleganten und reichlich verzierten Kleidern, die Herren in schwarzen Anzügen und mit schwarzen Hüten. Auch Franz machte da keine Ausnahme. In der rechten Hand schwenkte er zudem einen Stock mit silbernem Knauf, den er zum Gruß steil nach vorne streckte. »Wetter auch!«, dröhnte es von hinten. »Nee, ist das der Franz?« Ein kräftiger Schlag traf ihn auf der Schulter. »Der Franz. Was tust du hier unter all den feinen Leuten? Nimmst mich mit rein zu die Herren und Damen? Da wird doch wohl noch ein Plätzchen sein für einen kleinen Mann wie mich, oder?« Franz blickte in das vom Wetter zerfurchte Gesicht von Fischer Harksen, das einer Gebirgslandschaft mit Krater glich. Ein Geruch aus Fisch und Schnaps umhüllte ihn, und Marie machte unwillkürlich einen Schritt zurück. »Vornehm, vornehm.« Harksens Blick glitt von oben nach unten langsam über Franz hinweg, Marie ignorierte er. »Meine Hochachtung, Franz, meine Hochachtung. Wenn du zu mir kommst, dann trägst du nie deinen feinen Rock. Meinst wohl, ich wäre es nicht wert, was.« Er versetzte Franz wieder einen kräftigen Schlag auf den Rücken und verzog diesmal seinen Mund zu einem breiten Grinsen. Wie ein Mahnmahl enthüllte er seinen schwarz verfärbten Schneidezahn. »Ist gut, Harksen, geh jetzt nach Hause, ich schau morgen mal bei dir rein.« Rasch fügte er noch hinzu: »Hast wohl heute geräuchert, was? Lass mir was übrig. Du weißt ja, ich esse nur deinen Räucheraal und sonst keinen.« Harksen lachte laut auf und nickte wild mit dem Kopf. »Zu Recht, Franz, zu Recht. Da, siehst du den? Der war neulich auch bei mir. Extra aus Berlin ist der gekommen.« Er zeigte auf einen Mann in einem weißen Frack, der gerade im Begriff war, in der Eingangstür des Kurhauses zu verschwinden. »Rosi, komm rüber.« Harksen hatte Rosmarie Carl erspäht, die neben dem Eingang ihren Fotoapparat aufgebaut hatte und im Auftrag der Kurdirektion die Gäste fotografierte. »Rosi!«, schrie er noch einmal über den halben Platz hinweg, so dass sich auch diejenigen nach ihm umdrehten, die bislang noch nicht auf ihn aufmerksam geworden waren. »Komm, Franz, lass uns endlich reingehen«, drängte Marie. »Rosi, ein Foto, bitte, bitte. Du bist doch meine liebste Kleine«, tönte es in voller Lautstärke über den Platz. Doch Rosmarie Carl winkte nur lachend ab, während Franz die Gelegenheit nutzte und Marie sanft Richtung Eingang schob. Der große Saal war festlich geschmückt. Unter der Decke spannte sich ein Meer aus deutschen und schwedischen Fahnen und auf den langen Tafelreihen blitzten die dreiarmigen Leuchter und silbernen Platzteller im warmen Kerzenlicht. Ehrfürchtig strich Marie über die Besteckreihe aus großen und kleinen Löffeln, Messern und Gabeln, bevor sie neben Franz Platz nahm. »Erstklassige Arbeit von Frauenhänden«, raunte ihr eine Frauenstimme von hinten ins Ohr. Erschrocken drehte sich Marie um und blickte in ein ihr unbekanntes braungebranntes Gesicht mit großen dunklen Augen und vollen roten Lippen, die sich in diesem Moment verschmitzt kräuselten. Doch noch ehe Marie etwas erwidern konnte, bahnte sich die Unbekannte bereits ihren Weg durch die enge Stuhlreihe weiter fort. Ungläubig schüttelte Marie den Kopf. Sie sah zu Franz, doch der ließ sich gerade von seinen Tischnachbarn, einem Gutsherrn und dem fürstlichen Sekretär, zu seiner erst wenige Tage zurückliegenden Wahl zum Vorsitzenden des Rügener Seebäderverbandes gratulieren und hatte nichts von dieser kurzen Begegnung mitbekommen. Als die Kapelle auf die Bühne trat, wurde das Stimmengewirr langsam leiser. Kurz darauf erklang die Kaiserhymne und manch einer der Gäste legte sich dabei die Hand aufs Herz, während er lautstark mitsang. Franz bewegte seine Lippen kaum, und Marie blickte verstohlen die Tischreihe entlang, auf der Suche nach der ihr unbekannten Frau, deren Bemerkung sie noch immer irritierte. Das Fest wurde aus Anlass der jüngst eröffneten Eisenbahn- Fährverbindung zwischen Saßnitz und Trelleborg gegeben, und so spielte die Kapelle auch noch die schwedische Nationalhymne, in die sich bald erst zaghafte, dann immer lauter werdende Stimmen mischten, bis schließlich beim Schlussakkord ein so helles Geraune durch den Saal flirrte, das selbst der Applaus nicht übertönen konnte. »Das Gesicht sollten Sie sich gut einprägen«, flüsterte Franz’ Tischnachbar ihm ins Ohr und zeigte auf einen ganz in weiß gekleideten Herrn mittleren Alters, der sich gerade zum Ortsvorsteher Sander hinüber beugte. »Ernst von Blankenburg, Bankier aus Berlin, hat gerade ein Stück Land gekauft, zwischen Saßnitz und Binz«, sagte der Gutsherr knapp. »Will dort einen Palast errichten.« Er legte seine ganze Beto nung in dieses eine Wort, während er ansonsten eher monoton vor sich hin knatterte und mehr zu sich selbst zu sprechen schien als zu Franz. »Einen Palast?« Franz konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Für wen? Für den Kaiser? Will der Kaiser hier an unserer Küste eine Sommerresidenz errichten?« Die Vorstellung amüsierte den bis dahin so reservierten Gutsherrn. »Stellen Sie sich vor, der Kaiser stolziert hier den ganzen lieben Sommer lang herum in seiner Uniform. Jeden Tag in einer neuen. Das wäre doch eine echte Touristenattraktion, nicht, Herr Dahm?« Er gluckste vor Freude, während er aus seiner Anzugjacke ein hellgraues Einstecktuch fingerte, mit dem er sich Schweißperlen von der Stirn wischte. »Nicht für den Kaiser, natürlich nicht«, fuhr er mit ernster Stimme fort, »für sich und seine«, er räusperte sich, »verrückte Frau. Schauen Sie sich die beiden doch einmal an. Ganz in Weiß gekleidet. Beide. Berliner. Der bringt uns die Berliner Unart nach Rügen. Glauben Sie mir, solche Menschen begnügen sich nicht mit einem Haus.« »Ein neues Hotel, meinen Sie das?«, fragte Franz so ruhig wie möglich, während er innerlich bereits vor Wut schäumte. Wie konnte Sander es nur wagen, ihn über derart wichtige Ereignisse nicht in Kenntnis zu setzen? Der Gutsherr zuckte mit den Achseln. »Möglich. Vielleicht baut er aber auch ein kleines Lustschloss für seine Frau. Oder ein…«, er hielt inne. »Man erzählt sich ja einiges.« Franz nickte wissend, auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon sein Tischnachbar sprach.
2
S o allein?« Sophie von Blankenburg setzte sich neben Marie. Sie ließ sich mehr fallen als dass sie sich setzte, und es sah nicht gerade elegant aus. Seit Tagen quälte sie sich schon mit einer Erkältung, und für einen kurzen Moment schien ihre Kraft verbraucht. Marie war ihr nicht erst vorhin beim Betrachten des blankpolierten Besteckes aufgefallen. Bereits auf dem Vorplatz hatte sie gedacht, was für eine außergewöhnliche Erscheinung sie doch sei. Jemand, der auf merkwürdige Weise Vergangenes und Zukünftiges in sich zu vereinen schien. »Sicher langweilt Sie diese Walzerseligkeit auch ganz fürchterlich«, fügte sie mit einem Lächeln rasch hinzu, nachdem sie auf ihre Frage keine Antwort erhalten hatte. »Langweilen? Nein, nein, ganz und gar nicht.« Marie musterte die fremde Frau mit einer Mischung aus Neugierde und Sorge. Während des Essens, bei dem zu Franz’ Leidwesen auch Steinbutt mit Kapernsoße gereicht worden war, hatte sie schon so manche Gerüchte über Sophie von Blankenburg gehört. Verrückt sei sie, man müsse sich unbedingt vor ihr in Acht nehmen, ja, man solle alles daran setzen, sie so schnell wie möglich wieder von der Insel zu vertreiben, hatte es geheißen. Allen voran war es Hotelier Freeses Frau gewesen, die nichts unversucht gelassen hatte, Sophie von Blankenburg in den grellsten Farben als eine Bedrohung für Rügen auszumalen. »Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Sophie von Blankenburg«, sagte sie und reichte Marie die Hand. »Marie Dahm«, kam die Antwort zögerlich und für einen kurzen Moment fühlte sie alle Blicke auf sich gerichtet. »Mein Mann und ich, wir führen die Villa Luise …« »Ich habe sie schon beobachtet«, unterbrach Sophie von Blankenburg sie abrupt. »Vorhin beim Tanz. Ihr Mann sah mir nicht danach aus, als hätte er den Ausflug aufs Parkett genossen.« »Sie haben uns beobachtet?«, fragte Marie erstaunt, als fühlte sie sich ertappt. »Ich kann Ihren Mann gut verstehen. Sich wieder und wieder im Kreis zu drehen kann einen schließlich zur Verzweiflung bringen.« Sie lachte kurz auf. »Ist es Ihnen unangenehm, beobachtet zu werden?« »Nein, ja, vielleicht, ich weiß nicht …«, stammelte Marie und eine beschämende Röte schoss ihr ins Gesicht. »Es ist nur … ungewöhnlich.«»Sie finden es ungewöhnlich, beobachtet zu werden? Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sagen Sie nicht, Sie hätten das noch nie getan.« »Sicher. Nein, das wollte ich damit auch nicht sagen. Es ist nur«, Marie zögerte, »es ist nur, dass man eben nicht so offen darüber spricht. Das ist ungewöhnlich.« Sie fühlte sich unwohl. Alles, was sie sagte, erschien ihr nicht richtig. Ihr fehlte etwas, woran sie sich hätte festhalten können, ein Thema, das unverfänglich war. Aber Marie fi el nichts ein. »Ich weiß nicht«, fuhr sie daher fort, »vielleicht haben Sie ja auch recht. Vielleicht ist das ja auch ganz selbstverständlich. Nur, wissen Sie, wir hier auf Rügen, wir kennen uns damit nicht so aus.« Was redete sie da? Es war, als machten sich die Worte selbständig. Zum ersten Mal nahm sie Sophie von Blankenburgs vom Fieber gerötete Augen war, die sie für die Augen einer Verrückten hielt. Marie fürchtete einen Gefühlsausbruch, wagte jedoch nicht, noch mehr zu sagen. Beinahe krampfhaft presste sie ihre Lippen aufeinander. Kein unbedachtes Wort sollte ihr mehr entwischen. Doch Sophie von Blankenburg geriet nicht außer sich. Stattdessen nieste sie dreimal hintereinander ziemlich laut und undamenhaft, was einige Gäste mit einem mürrischen Kopfschütteln kommentierten. Marie hingegen entwich ein erlösendes Lächeln. Noch nie hatte sie eine Frau in der Öffentlichkeit so schamlos niesen hören. Sie konnte zwar nicht behaupten, dass sie daran Gefallen gefunden hätte, aber die Art, wie Sophie von Blankenburg es tat, mit einer Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit, entband sie in ihren Augen jeglicher Schuld. Sie reichte Sophie von Blankenburg ihr Taschentuch. Es war aus rosafarbenem Leinen und mit weißen Spitzen verziert, und in einer Ecke waren die Initialen ihrer Mutter eingestickt. Vom vielen Waschen hatte es etwas Zerbrechliches an sich. Das Niesen verfehlte seine befreiende Wirkung nicht. Mit einem Mal wirkte Sophie von Blankenburg nicht mehr wie eine unergründliche Bedrohung auf Marie, sondern wie eine zarte, kränkelnde Frau. Ihr fi elen die feinen Gesichtszüge auf, die schmale Nase, die jetzt leicht gerötet war, die kaum erkennbaren Fältchen an den noch immer blutunterlaufenen Augen. Sie sah, wie die halblang geschnittenen, leicht gewellten dunklen Haare die weiche Haut auf ihren Wangen umspielten. Sie fand, es war das Gesicht einer schönen Frau und nicht das Gesicht einer Verrückten. »Wie haben Sie das eigentlich vorhin gemeint mit den Frauenhänden? « »Frauenhände? Ach das. Machen Sie sich mal keine zu großen Gedanken darüber. Eine kleine Neckerei, nicht viel mehr. Manchmal kann ich einfach nicht widerstehen.« »Aber was ist so unwiderstehlich daran, wenn man hervorragend poliertes Besteck bewundert?«, fragte Marie. Sophie von Blankenburg tupfte sich die Nase. »Gut«, sagte sie schließlich, »ich will versuchen es zu erklären. Natürlich ist daran erst einmal nichts Außergewöhnliches. Obwohl, Ihr verzückter Gesichtsausdruck …« Sie lächelte in sich hinein. »Nein, im Ernst. Sie sollen nicht denken, dass ich Sie auf den Arm nehmen will. Sie haben doch sicherlich schon davon gehört, dass mich viele hier für verrückt halten. Es würde mich zumindest wundern, wenn das bis zu Ihnen noch nicht vorgedrungen wäre. Und ich kann Ihnen versichern, die Leute haben recht damit. Ja, ich bin verrückt, aber eben nicht so, wie Sie vielleicht denken. Ich bin so verrückt, mich für Dinge zu interessieren, denen die meisten Menschen keine Beachtung schenken. Nehmen Sie das Besteck. Wer bewundert schon mit einer solchen Hingabe die Arbeit von wildfremden Menschen, wie Sie es heute getan haben. Für die meisten ist es doch ganz selbstverständlich, dass das Besteck ordentlich poliert vor ihnen auf dem Tisch liegt. Sie haben der Arbeit durch Ihre Aufmerksamkeit Respekt gezollt. Und so etwas Ähnliches mache ich auch.« Sophie von Blankenburg hielt kurz inne, um sich erneut zu schneuzen. »Langweile ich Sie?« Ihr forscher Blick streifte Maries Gesicht, die energisch den Kopf schüttelte. »Nein, im Gegenteil, Sie machen mich neugierig.« »Das freut mich. Um es kurz zu machen, ich versuche dafür zu kämpfen, dass allen Menschen der Respekt gezollt wird, der ihnen gebührt. Respekt zollen heißt aber eben nicht nur, seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen für eine Arbeit, die man selber vielleicht nicht so gut hätte verrichten können, sondern auch dafür einzustehen, dass es Rechte für alle gibt. Finden Sie das merkwürdig?« Sophie von Blankenburg erwartete keine Antwort auf ihre Frage, aber die kleine Pause, die sie einlegte, zwang Marie zu einer Reaktion. Mehr als ein verlegenes Lächeln brachte sie allerdings nicht zuwege. »Gut, Sie könnten sagen, dass das verrückt ist. Und vielleicht liegen Sie damit gar nicht so falsch. Schließlich muss man ziemlich verrückt sein, wenn man sich vorgenommen hat, sich dafür einzusetzen, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen zu ihrem Recht kommen. Und dass es ziemlich verrückt ist, sich von diesem Weg nicht abbringen zu lassen, auch wenn einem immer wieder scheinbar unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt werden. Aber um ehrlich zu sein, fi nde ich es viel verrückter, dass Frauen für einen kärglichen Lohn arbeiten müssen, dass sie zwar die Kinder gebären und den Haushalt verrichten, aber von Gesetzes wegen nicht über ihre Finanzen bestimmen dürfen, wenn sie verheiratet sind.« Marie schaute Sophie von Blankenburg mit großen fragenden Augen an. »Sagen Sie es ruhig, wenn Sie anderer Meinung sind.« »Ich weiß nicht«, entgegnete Marie leise. »Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.« »Nein? Bin ich hier auf der Insel der Glückseligkeit gestrandet? Sagen Sie nicht, dass Frauen und Männer hier gleich berechtigt behandelt werden, oder dass man gar schon das Wahlrecht klammheimlich eingeführt hat, ohne den Rest des Kaiserreiches zu informieren.« »Ja, aber …« Marie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch alles, was ihr in den Sinn kam, entglitt ihr auch wieder, so dass sie nur in einem etwas trotzigen Ton, als hätte Sophie von Blankenburg sie persönlich angegriffen, sagte, dass das eben schon immer so gewesen sei und dass man daran wohl nichts ändern könne und dass sie sich im Übrigen daran auch nicht störe, denn sie habe ein Haus, einen Mann und eine Tochter und jedes Jahr zahlreiche Gäste, und mehr brauche sie nicht, denn so, wie es sei, so sei sie glücklich. Außerdem laste schon genügend Verantwortung auf ihren Schultern, und dass sie durch ein Wahlrecht nur noch eine zusätzliche Bürde aufgebrummt bekommen würde. Sie sei schließlich froh um jede Entscheidung, die sie nicht zu fällen habe. Je länger sie sprach, desto sicherer fühlte sich Marie, und irgendwann glaubte sie sogar, dass das Leben, so wie sie es lebte, zumindest für sie genau das richtige war, und dass sie unter keinen Umständen irgendeine Veränderung wünschte. »Wie wollen Sie es denn erreichen, dass die Frauen mehr Rechte bekommen?«, fragte Marie schließlich, nachdem sie für sich beschlossen hatte, dass sie davon nichts abbekommen wollte. »Na ja, das wird mühsam werden, keine Frage«, sagte Sophie von Blankenburg sichtlich amüsiert darüber, dass Marie hartnäckig an dem Thema dranblieb. »Aber je mehr Mitstreiterinnen wir haben, desto größer sind die Chancen, dass wir uns zum Schluss durchsetzen werden. Einiges wurde ja auch schon erreicht. Seit diesem Jahr dürfen Frauen in Preußen studieren, aber das ist nur der Anfang. Schauen Sie sich die Engländerinnen an. Die haben uns da einiges voraus. Die gehen auf die Straße und schrecken vor nichts zurück. Die kämpfen, wenn es sein muss, mit den gleichen Mitteln wie die Männer. Zur Not auch mit Gewalt.« »Aha, mit Gewalt.« Marie lächelte Sophie von Blankenburg mit einer Güte an, die diese für einen kurzen Moment irritierte. »Ja, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann eben auch mit Gewalt«, wiederholte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. »Gut, dann mit Gewalt. Wie stellen Sie sich das vor. Sollen wir Frauen hier auf Rügen die Dorfkrüge stürmen, sollen wir die Fischer aus ihren Booten stoßen, sollen wir den Bauern den Dreschfl egel entreißen? Mir ist rätselhaft, was Sie damit erreichen wollen.« »Sie machen sich lustig über mich, Frau Dahm«, entgegnete Sophie von Blankenburg und tat so, als wäre sie beleidigt, aber das Leuchten in ihren Augen verriet das Gegenteil. »Ja, machen Sie sich nur lustig über mich, aber ich warne Sie, das spornt mich nur noch mehr an. So schnell werden Sie mich jetzt nicht mehr los.«
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S o allein?« Sophie von Blankenburg setzte sich neben Marie. Sie ließ sich mehr fallen als dass sie sich setzte, und es sah nicht gerade elegant aus. Seit Tagen quälte sie sich schon mit einer Erkältung, und für einen kurzen Moment schien ihre Kraft verbraucht. Marie war ihr nicht erst vorhin beim Betrachten des blankpolierten Besteckes aufgefallen. Bereits auf dem Vorplatz hatte sie gedacht, was für eine außergewöhnliche Erscheinung sie doch sei. Jemand, der auf merkwürdige Weise Vergangenes und Zukünftiges in sich zu vereinen schien. »Sicher langweilt Sie diese Walzerseligkeit auch ganz fürchterlich«, fügte sie mit einem Lächeln rasch hinzu, nachdem sie auf ihre Frage keine Antwort erhalten hatte. »Langweilen? Nein, nein, ganz und gar nicht.« Marie musterte die fremde Frau mit einer Mischung aus Neugierde und Sorge. Während des Essens, bei dem zu Franz’ Leidwesen auch Steinbutt mit Kapernsoße gereicht worden war, hatte sie schon so manche Gerüchte über Sophie von Blankenburg gehört. Verrückt sei sie, man müsse sich unbedingt vor ihr in Acht nehmen, ja, man solle alles daran setzen, sie so schnell wie möglich wieder von der Insel zu vertreiben, hatte es geheißen. Allen voran war es Hotelier Freeses Frau gewesen, die nichts unversucht gelassen hatte, Sophie von Blankenburg in den grellsten Farben als eine Bedrohung für Rügen auszumalen. »Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Sophie von Blankenburg«, sagte sie und reichte Marie die Hand. »Marie Dahm«, kam die Antwort zögerlich und für einen kurzen Moment fühlte sie alle Blicke auf sich gerichtet. »Mein Mann und ich, wir führen die Villa Luise …« »Ich habe sie schon beobachtet«, unterbrach Sophie von Blankenburg sie abrupt. »Vorhin beim Tanz. Ihr Mann sah mir nicht danach aus, als hätte er den Ausflug aufs Parkett genossen.« »Sie haben uns beobachtet?«, fragte Marie erstaunt, als fühlte sie sich ertappt. »Ich kann Ihren Mann gut verstehen. Sich wieder und wieder im Kreis zu drehen kann einen schließlich zur Verzweiflung bringen.« Sie lachte kurz auf. »Ist es Ihnen unangenehm, beobachtet zu werden?« »Nein, ja, vielleicht, ich weiß nicht …«, stammelte Marie und eine beschämende Röte schoss ihr ins Gesicht. »Es ist nur … ungewöhnlich.«»Sie finden es ungewöhnlich, beobachtet zu werden? Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sagen Sie nicht, Sie hätten das noch nie getan.« »Sicher. Nein, das wollte ich damit auch nicht sagen. Es ist nur«, Marie zögerte, »es ist nur, dass man eben nicht so offen darüber spricht. Das ist ungewöhnlich.« Sie fühlte sich unwohl. Alles, was sie sagte, erschien ihr nicht richtig. Ihr fehlte etwas, woran sie sich hätte festhalten können, ein Thema, das unverfänglich war. Aber Marie fi el nichts ein. »Ich weiß nicht«, fuhr sie daher fort, »vielleicht haben Sie ja auch recht. Vielleicht ist das ja auch ganz selbstverständlich. Nur, wissen Sie, wir hier auf Rügen, wir kennen uns damit nicht so aus.« Was redete sie da? Es war, als machten sich die Worte selbständig. Zum ersten Mal nahm sie Sophie von Blankenburgs vom Fieber gerötete Augen war, die sie für die Augen einer Verrückten hielt. Marie fürchtete einen Gefühlsausbruch, wagte jedoch nicht, noch mehr zu sagen. Beinahe krampfhaft presste sie ihre Lippen aufeinander. Kein unbedachtes Wort sollte ihr mehr entwischen. Doch Sophie von Blankenburg geriet nicht außer sich. Stattdessen nieste sie dreimal hintereinander ziemlich laut und undamenhaft, was einige Gäste mit einem mürrischen Kopfschütteln kommentierten. Marie hingegen entwich ein erlösendes Lächeln. Noch nie hatte sie eine Frau in der Öffentlichkeit so schamlos niesen hören. Sie konnte zwar nicht behaupten, dass sie daran Gefallen gefunden hätte, aber die Art, wie Sophie von Blankenburg es tat, mit einer Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit, entband sie in ihren Augen jeglicher Schuld. Sie reichte Sophie von Blankenburg ihr Taschentuch. Es war aus rosafarbenem Leinen und mit weißen Spitzen verziert, und in einer Ecke waren die Initialen ihrer Mutter eingestickt. Vom vielen Waschen hatte es etwas Zerbrechliches an sich. Das Niesen verfehlte seine befreiende Wirkung nicht. Mit einem Mal wirkte Sophie von Blankenburg nicht mehr wie eine unergründliche Bedrohung auf Marie, sondern wie eine zarte, kränkelnde Frau. Ihr fi elen die feinen Gesichtszüge auf, die schmale Nase, die jetzt leicht gerötet war, die kaum erkennbaren Fältchen an den noch immer blutunterlaufenen Augen. Sie sah, wie die halblang geschnittenen, leicht gewellten dunklen Haare die weiche Haut auf ihren Wangen umspielten. Sie fand, es war das Gesicht einer schönen Frau und nicht das Gesicht einer Verrückten. »Wie haben Sie das eigentlich vorhin gemeint mit den Frauenhänden? « »Frauenhände? Ach das. Machen Sie sich mal keine zu großen Gedanken darüber. Eine kleine Neckerei, nicht viel mehr. Manchmal kann ich einfach nicht widerstehen.« »Aber was ist so unwiderstehlich daran, wenn man hervorragend poliertes Besteck bewundert?«, fragte Marie. Sophie von Blankenburg tupfte sich die Nase. »Gut«, sagte sie schließlich, »ich will versuchen es zu erklären. Natürlich ist daran erst einmal nichts Außergewöhnliches. Obwohl, Ihr verzückter Gesichtsausdruck …« Sie lächelte in sich hinein. »Nein, im Ernst. Sie sollen nicht denken, dass ich Sie auf den Arm nehmen will. Sie haben doch sicherlich schon davon gehört, dass mich viele hier für verrückt halten. Es würde mich zumindest wundern, wenn das bis zu Ihnen noch nicht vorgedrungen wäre. Und ich kann Ihnen versichern, die Leute haben recht damit. Ja, ich bin verrückt, aber eben nicht so, wie Sie vielleicht denken. Ich bin so verrückt, mich für Dinge zu interessieren, denen die meisten Menschen keine Beachtung schenken. Nehmen Sie das Besteck. Wer bewundert schon mit einer solchen Hingabe die Arbeit von wildfremden Menschen, wie Sie es heute getan haben. Für die meisten ist es doch ganz selbstverständlich, dass das Besteck ordentlich poliert vor ihnen auf dem Tisch liegt. Sie haben der Arbeit durch Ihre Aufmerksamkeit Respekt gezollt. Und so etwas Ähnliches mache ich auch.« Sophie von Blankenburg hielt kurz inne, um sich erneut zu schneuzen. »Langweile ich Sie?« Ihr forscher Blick streifte Maries Gesicht, die energisch den Kopf schüttelte. »Nein, im Gegenteil, Sie machen mich neugierig.« »Das freut mich. Um es kurz zu machen, ich versuche dafür zu kämpfen, dass allen Menschen der Respekt gezollt wird, der ihnen gebührt. Respekt zollen heißt aber eben nicht nur, seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen für eine Arbeit, die man selber vielleicht nicht so gut hätte verrichten können, sondern auch dafür einzustehen, dass es Rechte für alle gibt. Finden Sie das merkwürdig?« Sophie von Blankenburg erwartete keine Antwort auf ihre Frage, aber die kleine Pause, die sie einlegte, zwang Marie zu einer Reaktion. Mehr als ein verlegenes Lächeln brachte sie allerdings nicht zuwege. »Gut, Sie könnten sagen, dass das verrückt ist. Und vielleicht liegen Sie damit gar nicht so falsch. Schließlich muss man ziemlich verrückt sein, wenn man sich vorgenommen hat, sich dafür einzusetzen, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen zu ihrem Recht kommen. Und dass es ziemlich verrückt ist, sich von diesem Weg nicht abbringen zu lassen, auch wenn einem immer wieder scheinbar unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt werden. Aber um ehrlich zu sein, fi nde ich es viel verrückter, dass Frauen für einen kärglichen Lohn arbeiten müssen, dass sie zwar die Kinder gebären und den Haushalt verrichten, aber von Gesetzes wegen nicht über ihre Finanzen bestimmen dürfen, wenn sie verheiratet sind.« Marie schaute Sophie von Blankenburg mit großen fragenden Augen an. »Sagen Sie es ruhig, wenn Sie anderer Meinung sind.« »Ich weiß nicht«, entgegnete Marie leise. »Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.« »Nein? Bin ich hier auf der Insel der Glückseligkeit gestrandet? Sagen Sie nicht, dass Frauen und Männer hier gleich berechtigt behandelt werden, oder dass man gar schon das Wahlrecht klammheimlich eingeführt hat, ohne den Rest des Kaiserreiches zu informieren.« »Ja, aber …« Marie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch alles, was ihr in den Sinn kam, entglitt ihr auch wieder, so dass sie nur in einem etwas trotzigen Ton, als hätte Sophie von Blankenburg sie persönlich angegriffen, sagte, dass das eben schon immer so gewesen sei und dass man daran wohl nichts ändern könne und dass sie sich im Übrigen daran auch nicht störe, denn sie habe ein Haus, einen Mann und eine Tochter und jedes Jahr zahlreiche Gäste, und mehr brauche sie nicht, denn so, wie es sei, so sei sie glücklich. Außerdem laste schon genügend Verantwortung auf ihren Schultern, und dass sie durch ein Wahlrecht nur noch eine zusätzliche Bürde aufgebrummt bekommen würde. Sie sei schließlich froh um jede Entscheidung, die sie nicht zu fällen habe. Je länger sie sprach, desto sicherer fühlte sich Marie, und irgendwann glaubte sie sogar, dass das Leben, so wie sie es lebte, zumindest für sie genau das richtige war, und dass sie unter keinen Umständen irgendeine Veränderung wünschte. »Wie wollen Sie es denn erreichen, dass die Frauen mehr Rechte bekommen?«, fragte Marie schließlich, nachdem sie für sich beschlossen hatte, dass sie davon nichts abbekommen wollte. »Na ja, das wird mühsam werden, keine Frage«, sagte Sophie von Blankenburg sichtlich amüsiert darüber, dass Marie hartnäckig an dem Thema dranblieb. »Aber je mehr Mitstreiterinnen wir haben, desto größer sind die Chancen, dass wir uns zum Schluss durchsetzen werden. Einiges wurde ja auch schon erreicht. Seit diesem Jahr dürfen Frauen in Preußen studieren, aber das ist nur der Anfang. Schauen Sie sich die Engländerinnen an. Die haben uns da einiges voraus. Die gehen auf die Straße und schrecken vor nichts zurück. Die kämpfen, wenn es sein muss, mit den gleichen Mitteln wie die Männer. Zur Not auch mit Gewalt.« »Aha, mit Gewalt.« Marie lächelte Sophie von Blankenburg mit einer Güte an, die diese für einen kurzen Moment irritierte. »Ja, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann eben auch mit Gewalt«, wiederholte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. »Gut, dann mit Gewalt. Wie stellen Sie sich das vor. Sollen wir Frauen hier auf Rügen die Dorfkrüge stürmen, sollen wir die Fischer aus ihren Booten stoßen, sollen wir den Bauern den Dreschfl egel entreißen? Mir ist rätselhaft, was Sie damit erreichen wollen.« »Sie machen sich lustig über mich, Frau Dahm«, entgegnete Sophie von Blankenburg und tat so, als wäre sie beleidigt, aber das Leuchten in ihren Augen verriet das Gegenteil. »Ja, machen Sie sich nur lustig über mich, aber ich warne Sie, das spornt mich nur noch mehr an. So schnell werden Sie mich jetzt nicht mehr los.«
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Autoren-Porträt von Judith Kern
Kern, JudithJudith Kern, 1968 geboren, studierte Politische Wissenschaften, Germanistik und Romanistik in Paris und Tübingen, bevor es sie in den hohen Norden zog, wo sie seitdem als Journalistin, Texterin und Autorin in Hamburg lebt. Zahlreiche Aufenthalte an der Ostsee haben ihre Liebe zu dieser Gegend geweckt und vertieft und sie zu ihren Romanen inspiriert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Kern
- 2009, 573 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426639874
- ISBN-13: 9783426639870
- Erscheinungsdatum: 30.03.2009
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