Das Leuchten der Purpurinseln / Marokko-Saga Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Das Schiff der Schwestern Mirijam und Lucia wird überfallen. Beide geraten in maurische Gefangenschaft und Sklaverei. Lucia landet in einem Harem, Mirjiam verliert unter einer Folter ihre Sprache. Wurden die reichen Erbinnen Opfer eines Verräters?
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Produktinformationen zu „Das Leuchten der Purpurinseln / Marokko-Saga Bd.1 “
Das Schiff der Schwestern Mirijam und Lucia wird überfallen. Beide geraten in maurische Gefangenschaft und Sklaverei. Lucia landet in einem Harem, Mirjiam verliert unter einer Folter ihre Sprache. Wurden die reichen Erbinnen Opfer eines Verräters?
Klappentext zu „Das Leuchten der Purpurinseln / Marokko-Saga Bd.1 “
Abenteuer und Liebe in fernen exotischen WeltenAntwerpen, 1520. Da ihr Vater im Sterben liegt, müssen sich Mirijam und Lucia Van de Meulen auf eine gefahrvolle Reise nach Andalusien begeben, wo sie bei Verwandten ein neues Leben beginnen sollen. Doch auf hoher See geraten sie in Gefangenschaft und werden nach Afrika gebracht. Dort wird Lucia in einem Harem eingesperrt, während Mirijam als Sklavin derart gefoltert wird, dass sie die Sprache einbüsst. Sie überlebt allein dank der Hilfe eines maurischen Heilers. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Mogador, der Stadt der Purpurschnecken. Dort lernt Mirijam nicht nur die Kunst des Färbens und des Heilens, sondern auch die Liebe kennen ...
- Eine Frau kämpft um ihre Zukunft und ihre Freiheit - und um die Liebe.
- Für die Leserinnen von Sarah Lark, Carla Federico und Patricia Mennen.
- Rot ist die Liebe, Blau ist das Glück, doch Purpur ist die Freiheit!
- Eine exotische Familiensaga vor der Kulisse Nordafrikas.
Lese-Probe zu „Das Leuchten der Purpurinseln / Marokko-Saga Bd.1 “
Das Leuchten der Purpurinseln von Doris CramerMOGADOR 1525
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Ali el-Mansour war in die nahtlosen, weißen Tücher eines Mekka-Pilgers gehüllt, aller Körperhaare ledig und barhäuptig. Er saß auf einem Hocker in der Mitte des Raums, umgeben von großen Öllampen. Sie waren allerdings noch nicht entzündet, denn durch das Fenster fielen jetzt, am Spätnachmittag, die Strahlen der untergehenden Sonne in breiten Bahnen und tauchten den Raum in goldenes Licht.
Für gewöhnlich schmückten dieses Zimmer farbige Wandbehänge und dichte Teppiche, die Tische waren unter Stößen von Büchern begraben, und vor Tür und Fenstern hingen gewebte Vorhänge aus Kamelhaar, die Wind und Zugluft abhielten. Heute jedoch war er leer, kahl und weiß, kalkweiß.
»Salâm u aleikum*, meine Tochter«, sagte der Alte. »Friede sei mit dir. Wir müssen reden.«
»Aleikum as salâm«, antwortete Azîza und ließ ihre Augen umherwandern, »auch mit dir sei Friede.« Sie war beunruhigt. Warum hatte er den Raum ausräumen lassen? Was ging hier vor? Dann aber küsste sie ehrerbietig seine Hände, legte sie an Stirn und Herz und setzte sich vor dem alten Arzt auf den Boden. Geduld und das Gefühl für den richtigen Moment waren wichtige Tugenden, hatte der Hakim ihr beigebracht.
»Jeden Tag danke ich Allah für seine große Güte«, begann der Alte, und sein freundliches Gesicht erstrahlte. »Für die Güte, die er mir erwies, indem er mir dich als Tochter schenkte. Mit Freude unterrichtete und schützte ich dich und sorgte all die Jahre für dein Wohlergehen. Heute jedoch bedarf ich deiner Hilfe.« Mit beiden Händen umfasste er Azîzas Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Ich erbitte von dir eine Hilfe, die nur du allein mir erweisen kannst.« Seine Stimme zitterte.
Dann wandte er sein Gesicht den schrägen Strahlen der Sonne zu und forderte: »Schau in meine Augen. Schau genau hin, damit du mir sagen kannst, was du siehst.«
Azîza tat, wie ihr geheißen, und obwohl sie um die Schwere seiner Augenerkrankung wusste, erkannte sie erst bei der genauen Betrachtung im hellen Sonnenlicht, wie weit seine Erblindung fortgeschritten war. »Oh Abu, Vater!«, stöhnte sie.
»Nur ruhig, du bist eine Heilerin!«, mahnte der alte Hakim. »Was siehst du? Beschreibe es mir genau, so wie ich es dich gelehrt habe.«
Die junge Frau jedoch wandte das Gesicht ab.
»Azîza, ich bitte dich! Sieh hin!«
Und Azîza sah hin. »Dieses Auge ...« Sie stockte und wandte erneut den Blick ab. Dann aber zwang sie sich zur Ruhe. Behutsam legte sie ihren Finger unter das linke Auge des Mannes und untersuchte es sorgfältig. »Es sieht aus, als sei es mit Milch gefüllt, mit geronnener Milch«, meinte sie, um Sachlichkeit bemüht. »Das andere ebenfalls. Doch nein, das rechte ist nicht ganz gefüllt, nur ein Teil scheint milchig zu sein.«
»Gut«, nickte der Alte zufrieden. »Nun sag mir, wie nennen wir diese Krankheit, und welche Therapie kennst du bei einem derartigen Befund?«
»Es ist die Cataracta, der Schleier, mein Vater. Und es gibt nur einen Weg, diesen Schleier zu beseitigen und den starren Blick zu verhindern. Das ist die Operation, welche wir >den Star stechen< nennen.«
»Sehr gut! So ist es.« Die nüchterne Art des Hakim half Azîza, ihre Fassung wiederzugewinnen. Dennoch zitterte sie, als er ihre Hand ergriff. »Und nun beantworte mir folgende Frage: Wie oft hast du mir schon bei dieser Operation zugesehen, und wie oft hast du mir dabei geholfen?«
»Oft, Vater, sehr oft sogar.«
Azîza erriet, was kommen würde, und sie versteifte sich. »Nein, verlange das nicht von mir, das kann ich nicht tun!« Sie umklammerte die Knie des Alten. »Ich flehe dich an, bitte mich nicht darum!«, beschwor sie ihn unter Tränen.
Der Vater ließ sie weinen. Seine Hand ruhte leicht auf ihrem Kopf, die Finger streichelten den weichen Flaum am Ansatz ihrer Locken und strichen sanft über ihren verspannten Nacken. Er wartete geduldig.
»Du weißt, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er leise, als sie sich endlich gefangen hatte. »Außerdem habe ich die Sterne befragt. Sie stehen zurzeit günstig, und das sollten wir nutzen. Nun ruh dich einen Moment aus, mein Kind, bevor wir mit der Operation beginnen.«
Er entnahm einer Silberschale zwei der von ihm selbst gefertigten Betäubungspillen und schluckte sie hinunter. Wie Alî el-Mansour kannte auch seine Tochter die Zusammensetzung dieser Pillen auswendig, zu der man Tropfen aus Mohnkapseln, Weihrauch und Wolfskraut mit Kräutern aus der Wüste und gemahlener Muskatnuss aufkochen musste. Danach zog alles vierzig Tage in Wein, bevor man die Flüssigkeit in die Sonne stellte, bis sie verflogen und nur noch eine breiige Masse übrig war, aus der man kleine Kugeln drehen konnte. Sie besaßen immer einen ausreichenden Vorrat dieser Arznei, die in getrocknetem Zustand lange wirksam blieb.
Es half ihr, sich die Rezeptur in Erinnerung zu rufen und damit die Gewissheit, dass sie keineswegs unfähig war. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre hatte ihr Abu sie gründlich unterrichtet und so viel seines Wissens an sie weitergegeben, dass sie selbst eine gute Heilerin geworden war. Sie verdankte ihm viel, genau genommen alles. Wo wäre sie, wenn er sie nicht auf dem Sklavenmarkt entdeckt und zu sich genommen hätte? Man hätte sie misshandelt, getreten und geschlagen und am Schluss irgendwo im Sand der Wüste verscharrt.
Von draußen ertönten plötzlich Trommelschläge, dumpfe, dunkle, rhythmisch pulsierende Schläge, die Azîza erzittern ließen.
Der Alte nickte zufrieden. »Sidi Bilals gnaoua-Musiker werden uns begleiten und helfen, die bösen Dschinn zu vertreiben. Alles wird gut, mit Allahs Hilfe.«
Er hatte eine lila bestellt? Für diese Zeremonie also wurden in der Küche Milch und Datteln, die heiligen Speisen, sowie einige Hühnchen vorbereitet. Den schwarzen Musikern, die in der Tradition des verehrten Mystikers Sîdi Bilal ihre Musik zur Heilung von Kranken einsetzten, wurden magische Kräfte nachgesagt. Familien, die sich um eine kranke oder verwirrte Person sorgten, baten sie in ihr Haus, um sich betend in eine heilende Trance zu tanzen. Schon setzte die Laute ein, dann ertönten Kastagnetten und Tamburine.
Der Hakim zog seine Arztkiste zu sich heran. »Bismillah, im Namen Gottes«, murmelte er, als er aus einem weißen Baumwolltuch ein schmales, frisch geschliffenes spitzes Instrument wickelte und in Azîzas Hände legte. »Dieses Messer wurde im Feuer gehärtet und gereinigt, es ist ein gutes Werkzeug. Rufe nun unsere Helfer herein. Und fürchte dich nicht, mein liebes Kind.« Er streichelte ihr über die Finger. »Ich werde dich leiten, du aber wirst meine Hand sein.«
Ruhig gab der alte Heiler den beiden Helfern, die sich ein wenig bang im Raum umsahen, seine Anweisungen. »Halte meinen Kopf gut fest«, trug er dem schwarzen Hünen auf, der gemeinsam mit der Dienerin näher trat. »Die Operation dauert lediglich wenige Minuten. Es wird nicht wehtun, aber ich darf meinen Kopf keinesfalls bewegen.«
Der Diener blickte ängstlich in die Runde. Ihm war keine Arbeit zu schwer, aber was nun von ihm verlangt wurde, beunruhigte ihn. Umständlich wischte er sich die Hände an seiner weiten, hemdartigen gandourah ab, bevor er nickte.
»Stell dich hinter mich, leg deine Hand an meine Stirn, und press meinen Hinterkopf fest an deine Brust. Genau so, das machst du gut. Und du«, fuhr Abu Alî an die Frau gewandt fort, »wirst für das Licht verantwortlich sein, es soll direkt auf die Augen fallen. Entzünde gleich jetzt die Lampen. Von Zeit zu Zeit musst du außerdem Tränen fortwischen. Nimm dazu jenes saubere Tuch dort.« Er hatte alles genau vorbereitet. Nun schwieg er und schaute Azîza an.
Äußerlich hatte die junge Frau ihre Ruhe inzwischen wiedergefunden. Sie holte ein Tischchen herbei und legte reine Tücher und den glänzenden Starstecher bereit. Auf einem zweiten Tisch warteten frische Weidenrinde und schmale Streifen von Kürbisschalen neben dem Verbandmaterial.
Im Garten begann die tabal zu dröhnen, erst langsam, dann immer drängender, bis die große Trommel in einen steten Rhythmus fiel. Die dunklen Schläge vibrierten in Azîzas Körpermitte. Andere, hellere Trommeln setzten ein, Tamburine kamen hinzu und nahmen den Takt auf, ebenso die klatschenden Hände der Menschen im Garten. Die Musik wurde drängender. In die anschwellenden und wieder abflauenden Trommelwirbel mischten sich Flötentöne und Gesänge mit halblaut gemurmelten Beschwörungen und Gebeten. Azîzas Gedanken ordneten sich, ihr Atem wurde ruhig, und die Monotonie der Musik verlangsamte ihren Herzschlag. Sie hob den Kopf. Sie war bereit.
Alî el-Mansour sprach die erste Sure des Korans: »Bismillah, Lob sei Allah, dem Weltenherrn, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, dem König am Tag des Gerichts: Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir um Hilfe. Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist «
»Ich beginne. Halt ihn gut fest«, sagte die junge Frau zu dem Schwarzen, der den Hinterkopf des Hakim an seine Brust presste.
Mit der linken Hand hielt sie das Auge geöffnet, mit der rechten fasste sie das schlanke Starstichmesser. Sie atmete tief aus und fixierte das Auge. Behutsam senkte sie die Nadel in die getrübte Linse. Sie musste auf den Boden des Augapfels gedrückt und dort eine Weile gehalten werden, um zu verhindern, dass sie wieder aufstieg. Wenn das geschah, wäre alles umsonst gewesen.
Eine blutige Träne quoll aus dem Auge und rann über Abu Alls Wange. »Mehr Licht auf das Auge!«, befahl Azîza. »Und die Tränen abwischen.«
Vorsichtig tupfte die Dienerin über das Gesicht des Alten.
Dann zog Azîza behutsam die Nadel zurück. Es blieb bei dem einen Blutstropfen, und auch die Linse verharrte an ihrem Platz. Geschafft!
»Baraka Allah u fiq! Gott segne dich.« Alî el-Mansour seufzte erleichtert. »Du hast getan, was ich von dir verlangte. Sei ganz ruhig, alles wird gut.«
»Schließe die Augen, Vater, und leg den Kopf in den Nacken. Ich will dich verbinden.«
Die Tochter tupfte über sein Gesicht, dann legte sie frische Weidenrinde zusammen mit feinen Kürbisschalen über das Auge und wickelte aus reinen, weißen Baumwolltüchern einen Verband.
»Deine Hände haben nicht gezögert«, sagte der Alte, und man hörte den Stolz in seiner Stimme, »sie blieben ruhig. In einigen Wochen, wenn dieses Auge geheilt sein wird, werden wir, so Gott will, das rechte ebenfalls von seinem Schleier befreien, Inshaallah.«
Erst später, als alles längst vorüber war und Abu Alî auf seinem Lager zwischen angewärmten Decken lag und sein gleichmäßiger Atem sie eigentlich hätte beruhigen müssen, begann Azîza zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und kauerte sich in den Schatten, wo niemand sie sehen konnte.
In diesem Moment musste sie an die Qualen und den langen, mühevollen Weg denken, den die kleine Mirijam aus Antwerpen hinter sich gebracht hatte, bis Lâlla Azîza dem Vater durch ihre Heilkunst endlich so etwas wie einen Gegendienst erweisen konnte. Dabei war ihr klar, sie würde niemals ihre Dankesschuld abtragen können, nicht einmal dadurch, dass sie ihm das Augenlicht erhielt.
1. TEIL
SCHRECKENSREISE 1520
1
ANTWERPEN
Am Tag vor seinem Tod tat Andrees van de Meulen endlich alles Nötige, um die Zukunft seiner Töchter Lucia und Mirijam zu sichern. Allzu lange hatte er die Augen vor dem Kommenden verschlossen, jetzt eilte es.
»Keine Widerrede, Lucia, es ist mein Wille«, verkündete er mit gewohnter Autorität. »Du reist zu deinem Oheim nach Granada und heiratest seinen jüngsten Sohn Fernando. Das Schiff sticht noch heute Abend in See. Mirijam begleitet dich. Sie wird bei dir bleiben, bis Juan, dein Oheim, auch für sie einen guten Ehemann gefunden hat. Nun packt eure Sachen, danach kommt wieder zu mir, damit ich euch meinen Segen geben kann.« Der Kaufmann winkte den Mädchen, sich zu entfernen.
Lucia lief schluchzend und mit fliegenden Röcken in ihre Kammer, während Mirijam auf den Treppenabsatz sank. Was sie am Bett des Vaters gespürt hatte, ließ sie frösteln. Etwas Fremdes war um den armen kranken Vater gewesen. Außerdem hatte sie die fahle Blässe im Gesicht des Vaters gesehen und die dunklen Schatten um seine Augen, und sie ahnte, was das bedeutete. Offensichtlich wusste auch er selbst, wie es um ihn stand. Aber er durfte nicht sterben und sie verlassen! Tief in ihrem Inneren spürte sie jedoch, niemand konnte sich dem Tod in den Weg stellen, weder
Arzt noch Priester. Er würde sterben. Deshalb schickte er sie zu fremden Leuten. Aber ausgerechnet nach Andalusien?
Mirijam lehnte sich an das Geländer. Blicklos starrte sie auf ihre verkrampften Hände. Wenn, dann war jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um zu beten, dachte sie. Muhme Gesa behauptete, bis auf den einen oder anderen Unterschied seien der jüdische und der christliche Gott im Grunde gleich. Sie sagte auch, ein Gebet zur rechten Zeit sei immer nützlich.
Als Kind einer jüdischen Mutter kannte Mirijam keine christlichen Gebete, dennoch faltete sie jetzt die Hände. Sie kniete auf dem Dielenboden, verschränkte die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten, und flehte inbrünstig: »Allmächtiger Gott, Herr und Gebieter über alle Stämme Abrahams und Israels, Vater des Herrn Jesus, ich bitte dich, mach, dass unser Vater bei uns bleiben kann. Ich flehe dich an, lass uns unseren Vater! Du hast doch bereits unsere Mütter zu dir geholt. Wir können nicht allein in Antwerpen bleiben.« Sie überlegte, bevor sie entschlossen fortfuhr: »Als Dank werde ich mich taufen lassen und in deine Kirche eintreten, sogar gegen Vaters Rat. Das gelobe ich. In Ewigkeit, Amen.« Mehr fiel ihr nicht ein.
Ein Wort aber drängte sich in ihrem Kopf mehr und mehr in den Vordergrund: Allein! Nach Vaters Tod würden sie ganz allein sein, Lucia und sie. Wenn sie doch bloß ein Junge wäre! Dann könnte sie auch ohne Vater hierbleiben. Bei einem der Kaufherren würde sie Vaters Geschäft erlernen und gar nicht lange, dann könnte sie allein ... Mirijams Gedanken kamen ins Stocken. Allein nicht, überlegte sie, aber vielleicht mit Hilfe von Advocat Cohn? Der würde doch sicher auch ihr helfen, wie er jetzt dem Vater zur Seite stand?
Im Scherz, in dem auch ein bisschen Ernst steckte, hatten Lucia und sie diese Erbteilung längst beschlossen. Lucia interessierte sich nicht für den Handel, sie hingegen schon. Sie hätte sogar Talent dafür, ein gutes Gespür, hatte der Vater kürzlich erst gesagt, als sie eine fehlerhafte Abrechnung gefunden und berichtigt hatte.
Das Licht fiel durch eine der bunten Fensterscheiben und malte farbige Flecken auf den hellen Boden. Sie konnte kaum den Blick von den verschwimmenden Farben abwenden, während sie mit den Tränen kämpfte. Sie liebte die bunten Fenster hier oben, ebenso die schimmernde Holzvertäfelung und die geschnitzten Türen. Auch den feinen Duft nach Bienenwachs liebte sie, mit dem Muhme Gesa die Treppe einreiben ließ, und den sanften Glanz, wenn danach die Stufen mit einem weichen Tuch poliert worden waren. »Ich will nicht fort«, murmelte sie halblaut. »Hier bin ich doch zu Hause!«
Spanien war furchtbar weit entfernt von allem, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte. Dort lebten die de Molinas, entfernte Verwandte, die keiner von ihnen von Angesicht kannte. Wenn sie nur daran dachte, bekam sie Bauchweh. Lucia sollte mit dem Sohn verheiratet werden, und auch für sie wurde ein Ehemann gesucht. Eines Tages würde sie heiraten, natürlich, vielleicht sogar Cornelisz. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und sprang schnell zum nächsten Gedanken. Jedenfalls würde sie irgendwann in der Zukunft gemeinsam mit ihrem Gemahl das Handelshaus van de Meulen führen und nicht irgendwo in Spanien leben. So klar hatte bis heute ihre Zukunft ausgesehen. Und nun Spanien?
Wusste Vater denn nicht, dass sie als Jüdin dort nicht in Sicherheit würde leben können? Andererseits, in welchem Land der Erde konnte sie schon Sicherheit für sich erhoffen? Überall wurden Juden höchstens geduldet. Mutter war noch ein Kind gewesen, als ihre Familie Granada verlassen musste. Ihre Flucht vor der Inquisition war eine Geschichte, über die im Haus nicht gesprochen wurde. Nicht aus Gleichgültigkeit, eher weil Mutters Jüdischsein etwas ganz Normales zu sein schien. Vielleicht vergaß Mirijam es ja deshalb oft selbst? Dabei würde sie liebend gern ebenfalls irgendwo dazugehören, sogar zu einer jüdischen Gemeinde, wo doch Vater und Lucia Christen waren! Schon immer hatte sie es als Ungerechtigkeit empfunden, nicht mit zu den festlichen Messen zu Ostern oder Weihnachten in die Kathedrale gehen zu dürfen. Auch aus diesem Grund hatte sie schon ein paar Mal daran gedacht, sich taufen zu lassen. Sie hatte mit Vater darüber gesprochen, der jedoch gar nichts davon hielt.
»Die Menschen behaupten zwar, dass die Taufe das Wichtigste am Christentum sei, aber leider leben sie nicht danach«, hatte er gesagt. »Konvertierte Juden werden keinen Deut höher geachtet oder besser behandelt als bekennende Juden, vielleicht sogar weniger, jedenfalls ist das hier in Antwerpen so. Du tätest dir keinen Gefallen, mein Kind. Es ist besser, du bleibst bei der Religion deiner Mutter und ihrer Vorfahren. Zu gegebener Zeit werde ich dich zum Rabbi bringen, damit du die herrschenden Regeln und Gebote erlernst.«
Dazu war es allerdings bis heute nicht gekommen. Wäre sie ein Junge, hätte sich Vater sicher anders verhalten. Einen Sohn würde er nicht wie einen Tuchballen behandeln, den man nach Belieben überallhin verfrachten konnte, selbst über das Meer nach Spanien. Nein, rief sie sich gleich darauf zur Ordnung, das war nicht gerecht. Vater meinte es gut, und er hatte kaum eine andere Wahl. Schließlich hatten sie außer dieser merkwürdigen spanischen Verwandtschaft keine Angehörigen mehr.
Mirijam schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte weiterhin versuchen, sich mit allen möglichen Überlegungen abzulenken, der eigentliche Schrecken würde dadurch jedoch nicht vergehen. Der Tod stand vor der Tür! Was immer für sie und Lucia auch vorgesehen war, wo immer man sie beide auch hinschickte, bei aller Ungewissheit war doch eines sicher: Sie lebten und sahen einer Zukunft entgegen. Der arme Vater indessen...
Kaum hatten die Mädchen den Raum verlassen, ballte van de Meulen die Fäuste, er hustete und keuchte und krümmte sich vor Schmerzen. Der vergangene nasskalte Sommer hatte ihm schwer zugesetzt, mehr als manch ein Winter, und er hatte immer wieder den Arzt rufen lassen müssen. Seit Wochen kam dieser nun täglich und untersuchte die Beschaffenheit von Urin und Blut. Er verbrachte viel Zeit am Bett des Kranken, hielt auch Rat mit seinen Kollegen und fertigte die verschiedensten Arzneien für ihn an. Doch weder warme Umschläge mit Kampfer, Kräutern oder zerstoßenen Samen noch Tinkturen, Tees oder Salben hatten bis jetzt geholfen. Ebenso wenig hatten Aderlasse gefruchtet oder die Messen, die van de Meulen lesen ließ. Seine Pein wurde von Tag zu Tag eher größer. Seit einigen Tagen nun hustete er Blut. Er wusste, dass keine Heilung mehr zu erwarten war und sein Ende nahte. In der vergangenen Nacht hatte er viele Stunden gebetet, und jetzt fügte er sich in sein Schicksal, wie es einem guten Christenmenschen anstand. Allerdings gab es noch wichtige Dinge zu regeln, vor allem, was mit seinen Töchtern geschehen sollte.
...
Copyright © by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ali el-Mansour war in die nahtlosen, weißen Tücher eines Mekka-Pilgers gehüllt, aller Körperhaare ledig und barhäuptig. Er saß auf einem Hocker in der Mitte des Raums, umgeben von großen Öllampen. Sie waren allerdings noch nicht entzündet, denn durch das Fenster fielen jetzt, am Spätnachmittag, die Strahlen der untergehenden Sonne in breiten Bahnen und tauchten den Raum in goldenes Licht.
Für gewöhnlich schmückten dieses Zimmer farbige Wandbehänge und dichte Teppiche, die Tische waren unter Stößen von Büchern begraben, und vor Tür und Fenstern hingen gewebte Vorhänge aus Kamelhaar, die Wind und Zugluft abhielten. Heute jedoch war er leer, kahl und weiß, kalkweiß.
»Salâm u aleikum*, meine Tochter«, sagte der Alte. »Friede sei mit dir. Wir müssen reden.«
»Aleikum as salâm«, antwortete Azîza und ließ ihre Augen umherwandern, »auch mit dir sei Friede.« Sie war beunruhigt. Warum hatte er den Raum ausräumen lassen? Was ging hier vor? Dann aber küsste sie ehrerbietig seine Hände, legte sie an Stirn und Herz und setzte sich vor dem alten Arzt auf den Boden. Geduld und das Gefühl für den richtigen Moment waren wichtige Tugenden, hatte der Hakim ihr beigebracht.
»Jeden Tag danke ich Allah für seine große Güte«, begann der Alte, und sein freundliches Gesicht erstrahlte. »Für die Güte, die er mir erwies, indem er mir dich als Tochter schenkte. Mit Freude unterrichtete und schützte ich dich und sorgte all die Jahre für dein Wohlergehen. Heute jedoch bedarf ich deiner Hilfe.« Mit beiden Händen umfasste er Azîzas Gesicht und küsste sie auf die Stirn. »Ich erbitte von dir eine Hilfe, die nur du allein mir erweisen kannst.« Seine Stimme zitterte.
Dann wandte er sein Gesicht den schrägen Strahlen der Sonne zu und forderte: »Schau in meine Augen. Schau genau hin, damit du mir sagen kannst, was du siehst.«
Azîza tat, wie ihr geheißen, und obwohl sie um die Schwere seiner Augenerkrankung wusste, erkannte sie erst bei der genauen Betrachtung im hellen Sonnenlicht, wie weit seine Erblindung fortgeschritten war. »Oh Abu, Vater!«, stöhnte sie.
»Nur ruhig, du bist eine Heilerin!«, mahnte der alte Hakim. »Was siehst du? Beschreibe es mir genau, so wie ich es dich gelehrt habe.«
Die junge Frau jedoch wandte das Gesicht ab.
»Azîza, ich bitte dich! Sieh hin!«
Und Azîza sah hin. »Dieses Auge ...« Sie stockte und wandte erneut den Blick ab. Dann aber zwang sie sich zur Ruhe. Behutsam legte sie ihren Finger unter das linke Auge des Mannes und untersuchte es sorgfältig. »Es sieht aus, als sei es mit Milch gefüllt, mit geronnener Milch«, meinte sie, um Sachlichkeit bemüht. »Das andere ebenfalls. Doch nein, das rechte ist nicht ganz gefüllt, nur ein Teil scheint milchig zu sein.«
»Gut«, nickte der Alte zufrieden. »Nun sag mir, wie nennen wir diese Krankheit, und welche Therapie kennst du bei einem derartigen Befund?«
»Es ist die Cataracta, der Schleier, mein Vater. Und es gibt nur einen Weg, diesen Schleier zu beseitigen und den starren Blick zu verhindern. Das ist die Operation, welche wir >den Star stechen< nennen.«
»Sehr gut! So ist es.« Die nüchterne Art des Hakim half Azîza, ihre Fassung wiederzugewinnen. Dennoch zitterte sie, als er ihre Hand ergriff. »Und nun beantworte mir folgende Frage: Wie oft hast du mir schon bei dieser Operation zugesehen, und wie oft hast du mir dabei geholfen?«
»Oft, Vater, sehr oft sogar.«
Azîza erriet, was kommen würde, und sie versteifte sich. »Nein, verlange das nicht von mir, das kann ich nicht tun!« Sie umklammerte die Knie des Alten. »Ich flehe dich an, bitte mich nicht darum!«, beschwor sie ihn unter Tränen.
Der Vater ließ sie weinen. Seine Hand ruhte leicht auf ihrem Kopf, die Finger streichelten den weichen Flaum am Ansatz ihrer Locken und strichen sanft über ihren verspannten Nacken. Er wartete geduldig.
»Du weißt, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er leise, als sie sich endlich gefangen hatte. »Außerdem habe ich die Sterne befragt. Sie stehen zurzeit günstig, und das sollten wir nutzen. Nun ruh dich einen Moment aus, mein Kind, bevor wir mit der Operation beginnen.«
Er entnahm einer Silberschale zwei der von ihm selbst gefertigten Betäubungspillen und schluckte sie hinunter. Wie Alî el-Mansour kannte auch seine Tochter die Zusammensetzung dieser Pillen auswendig, zu der man Tropfen aus Mohnkapseln, Weihrauch und Wolfskraut mit Kräutern aus der Wüste und gemahlener Muskatnuss aufkochen musste. Danach zog alles vierzig Tage in Wein, bevor man die Flüssigkeit in die Sonne stellte, bis sie verflogen und nur noch eine breiige Masse übrig war, aus der man kleine Kugeln drehen konnte. Sie besaßen immer einen ausreichenden Vorrat dieser Arznei, die in getrocknetem Zustand lange wirksam blieb.
Es half ihr, sich die Rezeptur in Erinnerung zu rufen und damit die Gewissheit, dass sie keineswegs unfähig war. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre hatte ihr Abu sie gründlich unterrichtet und so viel seines Wissens an sie weitergegeben, dass sie selbst eine gute Heilerin geworden war. Sie verdankte ihm viel, genau genommen alles. Wo wäre sie, wenn er sie nicht auf dem Sklavenmarkt entdeckt und zu sich genommen hätte? Man hätte sie misshandelt, getreten und geschlagen und am Schluss irgendwo im Sand der Wüste verscharrt.
Von draußen ertönten plötzlich Trommelschläge, dumpfe, dunkle, rhythmisch pulsierende Schläge, die Azîza erzittern ließen.
Der Alte nickte zufrieden. »Sidi Bilals gnaoua-Musiker werden uns begleiten und helfen, die bösen Dschinn zu vertreiben. Alles wird gut, mit Allahs Hilfe.«
Er hatte eine lila bestellt? Für diese Zeremonie also wurden in der Küche Milch und Datteln, die heiligen Speisen, sowie einige Hühnchen vorbereitet. Den schwarzen Musikern, die in der Tradition des verehrten Mystikers Sîdi Bilal ihre Musik zur Heilung von Kranken einsetzten, wurden magische Kräfte nachgesagt. Familien, die sich um eine kranke oder verwirrte Person sorgten, baten sie in ihr Haus, um sich betend in eine heilende Trance zu tanzen. Schon setzte die Laute ein, dann ertönten Kastagnetten und Tamburine.
Der Hakim zog seine Arztkiste zu sich heran. »Bismillah, im Namen Gottes«, murmelte er, als er aus einem weißen Baumwolltuch ein schmales, frisch geschliffenes spitzes Instrument wickelte und in Azîzas Hände legte. »Dieses Messer wurde im Feuer gehärtet und gereinigt, es ist ein gutes Werkzeug. Rufe nun unsere Helfer herein. Und fürchte dich nicht, mein liebes Kind.« Er streichelte ihr über die Finger. »Ich werde dich leiten, du aber wirst meine Hand sein.«
Ruhig gab der alte Heiler den beiden Helfern, die sich ein wenig bang im Raum umsahen, seine Anweisungen. »Halte meinen Kopf gut fest«, trug er dem schwarzen Hünen auf, der gemeinsam mit der Dienerin näher trat. »Die Operation dauert lediglich wenige Minuten. Es wird nicht wehtun, aber ich darf meinen Kopf keinesfalls bewegen.«
Der Diener blickte ängstlich in die Runde. Ihm war keine Arbeit zu schwer, aber was nun von ihm verlangt wurde, beunruhigte ihn. Umständlich wischte er sich die Hände an seiner weiten, hemdartigen gandourah ab, bevor er nickte.
»Stell dich hinter mich, leg deine Hand an meine Stirn, und press meinen Hinterkopf fest an deine Brust. Genau so, das machst du gut. Und du«, fuhr Abu Alî an die Frau gewandt fort, »wirst für das Licht verantwortlich sein, es soll direkt auf die Augen fallen. Entzünde gleich jetzt die Lampen. Von Zeit zu Zeit musst du außerdem Tränen fortwischen. Nimm dazu jenes saubere Tuch dort.« Er hatte alles genau vorbereitet. Nun schwieg er und schaute Azîza an.
Äußerlich hatte die junge Frau ihre Ruhe inzwischen wiedergefunden. Sie holte ein Tischchen herbei und legte reine Tücher und den glänzenden Starstecher bereit. Auf einem zweiten Tisch warteten frische Weidenrinde und schmale Streifen von Kürbisschalen neben dem Verbandmaterial.
Im Garten begann die tabal zu dröhnen, erst langsam, dann immer drängender, bis die große Trommel in einen steten Rhythmus fiel. Die dunklen Schläge vibrierten in Azîzas Körpermitte. Andere, hellere Trommeln setzten ein, Tamburine kamen hinzu und nahmen den Takt auf, ebenso die klatschenden Hände der Menschen im Garten. Die Musik wurde drängender. In die anschwellenden und wieder abflauenden Trommelwirbel mischten sich Flötentöne und Gesänge mit halblaut gemurmelten Beschwörungen und Gebeten. Azîzas Gedanken ordneten sich, ihr Atem wurde ruhig, und die Monotonie der Musik verlangsamte ihren Herzschlag. Sie hob den Kopf. Sie war bereit.
Alî el-Mansour sprach die erste Sure des Korans: »Bismillah, Lob sei Allah, dem Weltenherrn, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, dem König am Tag des Gerichts: Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir um Hilfe. Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist «
»Ich beginne. Halt ihn gut fest«, sagte die junge Frau zu dem Schwarzen, der den Hinterkopf des Hakim an seine Brust presste.
Mit der linken Hand hielt sie das Auge geöffnet, mit der rechten fasste sie das schlanke Starstichmesser. Sie atmete tief aus und fixierte das Auge. Behutsam senkte sie die Nadel in die getrübte Linse. Sie musste auf den Boden des Augapfels gedrückt und dort eine Weile gehalten werden, um zu verhindern, dass sie wieder aufstieg. Wenn das geschah, wäre alles umsonst gewesen.
Eine blutige Träne quoll aus dem Auge und rann über Abu Alls Wange. »Mehr Licht auf das Auge!«, befahl Azîza. »Und die Tränen abwischen.«
Vorsichtig tupfte die Dienerin über das Gesicht des Alten.
Dann zog Azîza behutsam die Nadel zurück. Es blieb bei dem einen Blutstropfen, und auch die Linse verharrte an ihrem Platz. Geschafft!
»Baraka Allah u fiq! Gott segne dich.« Alî el-Mansour seufzte erleichtert. »Du hast getan, was ich von dir verlangte. Sei ganz ruhig, alles wird gut.«
»Schließe die Augen, Vater, und leg den Kopf in den Nacken. Ich will dich verbinden.«
Die Tochter tupfte über sein Gesicht, dann legte sie frische Weidenrinde zusammen mit feinen Kürbisschalen über das Auge und wickelte aus reinen, weißen Baumwolltüchern einen Verband.
»Deine Hände haben nicht gezögert«, sagte der Alte, und man hörte den Stolz in seiner Stimme, »sie blieben ruhig. In einigen Wochen, wenn dieses Auge geheilt sein wird, werden wir, so Gott will, das rechte ebenfalls von seinem Schleier befreien, Inshaallah.«
Erst später, als alles längst vorüber war und Abu Alî auf seinem Lager zwischen angewärmten Decken lag und sein gleichmäßiger Atem sie eigentlich hätte beruhigen müssen, begann Azîza zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und kauerte sich in den Schatten, wo niemand sie sehen konnte.
In diesem Moment musste sie an die Qualen und den langen, mühevollen Weg denken, den die kleine Mirijam aus Antwerpen hinter sich gebracht hatte, bis Lâlla Azîza dem Vater durch ihre Heilkunst endlich so etwas wie einen Gegendienst erweisen konnte. Dabei war ihr klar, sie würde niemals ihre Dankesschuld abtragen können, nicht einmal dadurch, dass sie ihm das Augenlicht erhielt.
1. TEIL
SCHRECKENSREISE 1520
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ANTWERPEN
Am Tag vor seinem Tod tat Andrees van de Meulen endlich alles Nötige, um die Zukunft seiner Töchter Lucia und Mirijam zu sichern. Allzu lange hatte er die Augen vor dem Kommenden verschlossen, jetzt eilte es.
»Keine Widerrede, Lucia, es ist mein Wille«, verkündete er mit gewohnter Autorität. »Du reist zu deinem Oheim nach Granada und heiratest seinen jüngsten Sohn Fernando. Das Schiff sticht noch heute Abend in See. Mirijam begleitet dich. Sie wird bei dir bleiben, bis Juan, dein Oheim, auch für sie einen guten Ehemann gefunden hat. Nun packt eure Sachen, danach kommt wieder zu mir, damit ich euch meinen Segen geben kann.« Der Kaufmann winkte den Mädchen, sich zu entfernen.
Lucia lief schluchzend und mit fliegenden Röcken in ihre Kammer, während Mirijam auf den Treppenabsatz sank. Was sie am Bett des Vaters gespürt hatte, ließ sie frösteln. Etwas Fremdes war um den armen kranken Vater gewesen. Außerdem hatte sie die fahle Blässe im Gesicht des Vaters gesehen und die dunklen Schatten um seine Augen, und sie ahnte, was das bedeutete. Offensichtlich wusste auch er selbst, wie es um ihn stand. Aber er durfte nicht sterben und sie verlassen! Tief in ihrem Inneren spürte sie jedoch, niemand konnte sich dem Tod in den Weg stellen, weder
Arzt noch Priester. Er würde sterben. Deshalb schickte er sie zu fremden Leuten. Aber ausgerechnet nach Andalusien?
Mirijam lehnte sich an das Geländer. Blicklos starrte sie auf ihre verkrampften Hände. Wenn, dann war jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um zu beten, dachte sie. Muhme Gesa behauptete, bis auf den einen oder anderen Unterschied seien der jüdische und der christliche Gott im Grunde gleich. Sie sagte auch, ein Gebet zur rechten Zeit sei immer nützlich.
Als Kind einer jüdischen Mutter kannte Mirijam keine christlichen Gebete, dennoch faltete sie jetzt die Hände. Sie kniete auf dem Dielenboden, verschränkte die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten, und flehte inbrünstig: »Allmächtiger Gott, Herr und Gebieter über alle Stämme Abrahams und Israels, Vater des Herrn Jesus, ich bitte dich, mach, dass unser Vater bei uns bleiben kann. Ich flehe dich an, lass uns unseren Vater! Du hast doch bereits unsere Mütter zu dir geholt. Wir können nicht allein in Antwerpen bleiben.« Sie überlegte, bevor sie entschlossen fortfuhr: »Als Dank werde ich mich taufen lassen und in deine Kirche eintreten, sogar gegen Vaters Rat. Das gelobe ich. In Ewigkeit, Amen.« Mehr fiel ihr nicht ein.
Ein Wort aber drängte sich in ihrem Kopf mehr und mehr in den Vordergrund: Allein! Nach Vaters Tod würden sie ganz allein sein, Lucia und sie. Wenn sie doch bloß ein Junge wäre! Dann könnte sie auch ohne Vater hierbleiben. Bei einem der Kaufherren würde sie Vaters Geschäft erlernen und gar nicht lange, dann könnte sie allein ... Mirijams Gedanken kamen ins Stocken. Allein nicht, überlegte sie, aber vielleicht mit Hilfe von Advocat Cohn? Der würde doch sicher auch ihr helfen, wie er jetzt dem Vater zur Seite stand?
Im Scherz, in dem auch ein bisschen Ernst steckte, hatten Lucia und sie diese Erbteilung längst beschlossen. Lucia interessierte sich nicht für den Handel, sie hingegen schon. Sie hätte sogar Talent dafür, ein gutes Gespür, hatte der Vater kürzlich erst gesagt, als sie eine fehlerhafte Abrechnung gefunden und berichtigt hatte.
Das Licht fiel durch eine der bunten Fensterscheiben und malte farbige Flecken auf den hellen Boden. Sie konnte kaum den Blick von den verschwimmenden Farben abwenden, während sie mit den Tränen kämpfte. Sie liebte die bunten Fenster hier oben, ebenso die schimmernde Holzvertäfelung und die geschnitzten Türen. Auch den feinen Duft nach Bienenwachs liebte sie, mit dem Muhme Gesa die Treppe einreiben ließ, und den sanften Glanz, wenn danach die Stufen mit einem weichen Tuch poliert worden waren. »Ich will nicht fort«, murmelte sie halblaut. »Hier bin ich doch zu Hause!«
Spanien war furchtbar weit entfernt von allem, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte. Dort lebten die de Molinas, entfernte Verwandte, die keiner von ihnen von Angesicht kannte. Wenn sie nur daran dachte, bekam sie Bauchweh. Lucia sollte mit dem Sohn verheiratet werden, und auch für sie wurde ein Ehemann gesucht. Eines Tages würde sie heiraten, natürlich, vielleicht sogar Cornelisz. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und sprang schnell zum nächsten Gedanken. Jedenfalls würde sie irgendwann in der Zukunft gemeinsam mit ihrem Gemahl das Handelshaus van de Meulen führen und nicht irgendwo in Spanien leben. So klar hatte bis heute ihre Zukunft ausgesehen. Und nun Spanien?
Wusste Vater denn nicht, dass sie als Jüdin dort nicht in Sicherheit würde leben können? Andererseits, in welchem Land der Erde konnte sie schon Sicherheit für sich erhoffen? Überall wurden Juden höchstens geduldet. Mutter war noch ein Kind gewesen, als ihre Familie Granada verlassen musste. Ihre Flucht vor der Inquisition war eine Geschichte, über die im Haus nicht gesprochen wurde. Nicht aus Gleichgültigkeit, eher weil Mutters Jüdischsein etwas ganz Normales zu sein schien. Vielleicht vergaß Mirijam es ja deshalb oft selbst? Dabei würde sie liebend gern ebenfalls irgendwo dazugehören, sogar zu einer jüdischen Gemeinde, wo doch Vater und Lucia Christen waren! Schon immer hatte sie es als Ungerechtigkeit empfunden, nicht mit zu den festlichen Messen zu Ostern oder Weihnachten in die Kathedrale gehen zu dürfen. Auch aus diesem Grund hatte sie schon ein paar Mal daran gedacht, sich taufen zu lassen. Sie hatte mit Vater darüber gesprochen, der jedoch gar nichts davon hielt.
»Die Menschen behaupten zwar, dass die Taufe das Wichtigste am Christentum sei, aber leider leben sie nicht danach«, hatte er gesagt. »Konvertierte Juden werden keinen Deut höher geachtet oder besser behandelt als bekennende Juden, vielleicht sogar weniger, jedenfalls ist das hier in Antwerpen so. Du tätest dir keinen Gefallen, mein Kind. Es ist besser, du bleibst bei der Religion deiner Mutter und ihrer Vorfahren. Zu gegebener Zeit werde ich dich zum Rabbi bringen, damit du die herrschenden Regeln und Gebote erlernst.«
Dazu war es allerdings bis heute nicht gekommen. Wäre sie ein Junge, hätte sich Vater sicher anders verhalten. Einen Sohn würde er nicht wie einen Tuchballen behandeln, den man nach Belieben überallhin verfrachten konnte, selbst über das Meer nach Spanien. Nein, rief sie sich gleich darauf zur Ordnung, das war nicht gerecht. Vater meinte es gut, und er hatte kaum eine andere Wahl. Schließlich hatten sie außer dieser merkwürdigen spanischen Verwandtschaft keine Angehörigen mehr.
Mirijam schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte weiterhin versuchen, sich mit allen möglichen Überlegungen abzulenken, der eigentliche Schrecken würde dadurch jedoch nicht vergehen. Der Tod stand vor der Tür! Was immer für sie und Lucia auch vorgesehen war, wo immer man sie beide auch hinschickte, bei aller Ungewissheit war doch eines sicher: Sie lebten und sahen einer Zukunft entgegen. Der arme Vater indessen...
Kaum hatten die Mädchen den Raum verlassen, ballte van de Meulen die Fäuste, er hustete und keuchte und krümmte sich vor Schmerzen. Der vergangene nasskalte Sommer hatte ihm schwer zugesetzt, mehr als manch ein Winter, und er hatte immer wieder den Arzt rufen lassen müssen. Seit Wochen kam dieser nun täglich und untersuchte die Beschaffenheit von Urin und Blut. Er verbrachte viel Zeit am Bett des Kranken, hielt auch Rat mit seinen Kollegen und fertigte die verschiedensten Arzneien für ihn an. Doch weder warme Umschläge mit Kampfer, Kräutern oder zerstoßenen Samen noch Tinkturen, Tees oder Salben hatten bis jetzt geholfen. Ebenso wenig hatten Aderlasse gefruchtet oder die Messen, die van de Meulen lesen ließ. Seine Pein wurde von Tag zu Tag eher größer. Seit einigen Tagen nun hustete er Blut. Er wusste, dass keine Heilung mehr zu erwarten war und sein Ende nahte. In der vergangenen Nacht hatte er viele Stunden gebetet, und jetzt fügte er sich in sein Schicksal, wie es einem guten Christenmenschen anstand. Allerdings gab es noch wichtige Dinge zu regeln, vor allem, was mit seinen Töchtern geschehen sollte.
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Autoren-Porträt von Doris Cramer
Doris Cramer ist gelernte Buchhändlerin und leitete jahrelang eine Gemeindebibliothek, bevor sie schliesslich zum Schreiben fand. Sie ist durch und durch Bücherwurm. Ab 1984 unternahm sie regelmässige, ausgedehnte Reisen nach Nordafrika und darüber hinaus, von Marokko bis nach Syrien, davon allein siebzehn Touren durch den äussersten Süden Marokkos. Die Landschaft, die Berberkultur und das Leben in den Wüstenregionen Südmarokkos waren für sie ein spannendes Gegenkonzept zum übererschlossenen, überregulierten Deutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Doris Cramer
- 2012, Originalausgabe, 671 Seiten, 1 farbige Abbildungen, Masse: 12,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442378745
- ISBN-13: 9783442378746
- Erscheinungsdatum: 10.05.2012
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