Das kuriose Brasilien-Buch
Was Reiseführer verschweigen
Wolfgang Kunath ist Lateinamerika-Korrespondent, lebt seit 2002 in Rio de Janeiro - und beantwortet in seinem Buch viele ungewöhnliche Fragen, die uns das grösste Land Lateinamerikas näherbringen:
- Warum werden die Brasilianer trotz Körperkult immer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das kuriose Brasilien-Buch “
Klappentext zu „Das kuriose Brasilien-Buch “
Wolfgang Kunath ist Lateinamerika-Korrespondent, lebt seit 2002 in Rio de Janeiro - und beantwortet in seinem Buch viele ungewöhnliche Fragen, die uns das grösste Land Lateinamerikas näherbringen:- Warum werden die Brasilianer trotz Körperkult immer dicker?
- Weshalb leben die Brasilianer ganz gerne hinter Panzerglas und Fenstergittern?
- Wieso fürchten sie den Monat August?
- Was haben die Brasilianer mit uns zu tun - und wir mit ihnen?
Ein spannender Einblick in eines der aufregendsten Länder der kommenden Jahre ...
Lese-Probe zu „Das kuriose Brasilien-Buch “
Das kuriose Brasilien-Buch - Was Reiseführer verschweigen von Wolfgang Kunath1.
Was die Brasilianer mit uns zu tun haben - und wir mit ihnen
Die brasilianische Küche verdient bis heute keine allzu lauten Lobeshymnen. Aber immerhin, sie verfeinert sich unablässig. Und wenn man João Ubaldo Ribeiro glauben darf - aber man darf ihm natürlich nicht glauben, denn Brasiliens bekanntester lebender Romancier hat eine geradezu tropisch blühende Phantasie -, dann begann die Veredelung im 17. Jahrhundert, als Capiroba seine Ernährung radikal umstellte: Und zwar von Portugiesen auf Holländer. »Ein Wildbret wie dieses hatte es nie gegeben«, lässt Ubaldo seinen Menschenfresser Capiroba von dem »hochblonden« Fremdling schwärmen, den er erlegt hatte: »Das Fleisch war ein bisschen blass und süßlich, aber so zart und weich ... und die Kinder mochten es so gerne.«
Nach seinem ersten Holländer mag der Caboclo Capiroba - Caboclos sind halb Schwarze, halb Indianer - nicht mehr essen, was er früher aß. Gebratener Pater in Kokosmilch und Dendê-Öl zum Beispiel schmeckt ihm gar nicht mehr, plötzlich empfindet er sogar »Brechreiz, wenn er an Spanier und Portugiesen denkt«, trotz all der Lagerverwalter, Stallburschen, Schiffsjungen oder der »vier jungen Söhne von Gerichtsbeisitzern« portugiesischer Provenienz, die früher seinen Speisezettel bevölkert hatten. Da die Holländer aber, anders als die stets reichlich vorhandenen Portugiesen und Spanier, nicht ständig zur Verfügung stehen, geht Capiroba dazu über, sie nicht sofort zu töten und zu verspeisen. Sondern er beginnt sie lebend zu fangen, einzusperren und nur bei Bedarf zu schlachten. Mit anderen Worten, er erfindet die Stall- und Lagerhaltung.
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Auch das früheste historische Zeugnis der deutschbrasilianischen Beziehungen ist kulinarischer Art. »Darnach furten sie mich in die huetten / ... da kamen die weiber ... und schlugen vnd raufften mich / vnd draweten (drohten) mir wie sie mich essen woelten«, beschreibt der hessische Landsknecht Hans von Staden seine ungemütliche Begegnung mit den »Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen«, denen er 1550 in die Hände fiel. Da war er bereits das zweite Mal in Brasilien - beim ersten Mal wollte er eigentlich nach Indien, fand aber nur ein Schiff nach Nordost-Brasilien, und das Ziel seiner zweiten Reise war auch nicht Brasilien, sondern das La-Plata-Gebiet weiter im Süden. Aber er erlitt Schiffbruch, rettete sich nahe dem heutigen Hafen Paranaguá ans Festland und kommandierte später, nachdem er in portugiesische Dienste getreten war, die São-Felipe-Festung, damals der südlichste Militärstützpunkt Portugals in Brasilien.
Und als er eines schönen Tages mit seinem Sklaven zum Jagen in den Busch geht, fällt er den Tupinambá- Indianern in die Hände. Er wird niedergeschlagen und gefangen genommen, und sofort entbrennt unter den Wilden ein wütender Streit um die einzelnen Körperteile des damals 25-Jährigen, wie er in seinem Reisebericht recht farbig schildert. Aber obwohl die, die ihn gefangen hatten, so wenig Vertrauen erweckende Namen wie »Großer Kochtopf « und »Kleiner Napf« tragen - João Ubaldo Ribeiro hätte sich das auch nicht schöner ausdenken können -, wird er verschont. Er gewinnt nach und nach die Freundschaft eines Medizinmannes, der ihn schützt. Das Los, im Kochtopf oder auf dem Grill zu enden, bleibt ihm erspart, und er wird dann auch nicht mehr gezwungen, sich den Frauen seiner Halter und Hüter mit dem Ausruf »Ich komme, euer Essen!« zu melden. Zehn Monate bleibt er bei den »Wilden Nacketen Grimmigen Menschfresser Leuthen «. Am Ende erlangt er die Freiheit und fährt 1555 nach Deutschland zurück.
Seine zwei Jahre später in Marburg veröffentlichte »Warhaftige Historia« wurde zum Bestseller, der bis heute über 80 Auflagen erlebt hat, davon 15 auf Portugiesisch und 25 auf Deutsch. Dennoch war das Buch zeitweilig völlig vergessen. Nach dem riesigen Anfangserfolg - Staden erlebte ihn noch mit, er starb erst 1576 - erlahmte Mitte des 17. Jahrhunderts das Interesse an seinen relativ drastischen, dabei in nüchterner und klarer Sprache zu Papier gebrachten Schilderungen. Denn solche Beschreibungen von Reisen in ferne Länder verloren nach und nach ihre Exklusivität. Je enger Südamerika - und für Afrika oder Asien galt das, geringfügig variiert, genauso - in die globalen Wirtschafts- und Herrschaftsbeziehungen des europäischen Kolonialismus eingebunden wurde, desto häufiger wurden solche Berichte. Man empfand sie nicht mehr als spektakulär.
Erst der Literarische Verein Stuttgart legte die »Warhaftige Historia« 1859 neu auf. Statt schauerlicher Schilderungen von kriegerischen Abenteuern mit wilden Tieren oder gar Menschenfressern war nun Historisch-Völkerkundliches gefragt. Natürlich entsprach das 300 Jahre alte Buch nicht mehr dem Forschungsstand; im 19. Jahrhundert fand man es nicht nur wegen der geschilderten Fakten interessant, sondern zugleich wegen der Art, sie zu schildern. In Brasilien pries der Geograph und Historiker Teodoro Sampaio Stadens Darstellung als »unmittelbare und verlässliche Urkunde«.
Stadens Reisebericht hat durchaus populärwissenschaftliche ethnologische Qualitäten. Nüchtern und schnörkellos beschreibt er im zweiten Teil seines Buches die fremde Welt, in die ihn das Schicksal geworfen hat. Er notiert die Trinksitten der »Wilden«, lässt sich über die Art ihrer Hängematten ebenso wie die Gebräuche ihrer Körperbemalung aus, er umreißt ihre soziale Organisation ebenso wie ihre Kochgewohnheiten. Und erstaunlicherweise steht in diesem Kapitel zwar einiges über die Zubereitung von Speisen, aber kein Wort über Menschenfresserei, die an anderer Stelle - im ersten Teil des Buches, in dem er seine Erlebnisse beschreibt - so dramatisch hervorgehoben wird.
Ist sie wirklich wahr, die »Warhaftige Historia«? Oder hat der fromme hessische Landsknecht hie und da kräftig übertrieben, damit sich sein Bericht besser verkauft? Tatsächlich sind die Archäologen und Ethnologen bis heute über der Frage zerstritten, ob es in Südamerika Kannibalismus wirklich gegeben hat und, wenn ja, in welcher Form. Die Befürworter der Kannibalismusthese beziehen sich auf die immer wieder gleichlautenden Berichte; was der Franzose Jean de Léry oder der Italiener Amerigo Vespucci aufgeschrieben haben, liest sich ähnlich wie die Schilderungen des Hessen Staden. Also, so lautet die Folgerung, muss es der Realität entsprechen. Die Zweifler schließen allerdings, ganz im Gegenteil, aus den immer gleichen, immer wiederkehrenden Details auf eine Erzähltradition - oder unfreundlicher gesagt: Einer hätte immer vom anderen abgeschrieben.
Kannibalismus als Wandermythos also, der viel mehr mit den Imaginationen in der Köpfen der Europäer als mit den Realitäten in den Kochtöpfen der Südamerikaner zu tun hätte. Bei Ethnien, die erst später in Kontakt mit der sogenannten Zivilisation traten, liegen jedoch kaum Hinweise auf Anthropophagie vor. Aber wäre sie so üblich gewesen, wie die Reisenden des 16. Jahrhunderts behaupteten, dann müsste sie sich ja wohl bei den unkontaktierten Völkern bis heute erhalten haben, oder wenigstens bei einigen.
Was diesen Streit der Wissenschaftler betrifft, zieht sich João Ubaldo Ribeiro in seinem wunderbaren Buch »Brasilien, Brasilien« äußerst elegant aus der Affäre: Der Caboclo, der die Holländer zum Fressen gern hatte, ist erst durch die Verwirrungen der Zivilisation auf die Idee gekommen, Menschen zu verzehren. Erst die Patres mit ihrer Religion, ihren Wundern, ihrem Gottessohnopfer, ihren Strafen und ihren Androhungen haben den Kopf des Caboclo durcheinandergebracht. Sie haben Capiroba, obwohl sie den Verzehr von Menschenfleisch so sehr verabscheuten, »gerade dies ... durch ihre Erzählungen beigebracht«, schreibt Ubaldo. Er ist allerdings so fair, der katholischen Kirche nicht alle Schuld zuzuschreiben, sondern nennt noch einen weiteren Grund für die kulinarischen Entgleisungen des Caboclo: »Manchmal raucht er Kopfkraut.«
Deutsches Brauchtum - die nachgemachte Vergangenheit
Das »November Fest« ist das persönliche Steckenpferd von Marino José Franz. Er selber hat es 1998 ins Leben gerufen, er hat fünfzig »typisch deutsche Trachten« angeschafft und aus eigener Tasche bezahlt, inklusive Filzhütchen mit Feder dran. In dem Fotoalbum, das er vorzeigt, steht die Volkstanzgruppe - die Damen im Dirndl, die Herren in der Kniebundhose - vor viel Schwarz-Rot-Gold unter dem Schild »Willcommen «, in Fraktur-Lettern. Aber das Foto stammt aus der Anfangszeit des »November Fest«. Mittlerweile ist das »c« durch eine korrektes »k« ersetzt worden.
Das »November Fest«, erklärt der Soja-Unternehmer Franz, ist längst Tradition; jeder zweite Landwirt aus der Umgebung habe schließlich deutsche Wurzeln. Deshalb bringt der lokale Radiosender »Alternativa FM« sonntags auch zwei Stunden typisch deutsche Musik. Und was bitte hat man sich hier, in den brettebenen Weiten des Mato Grosso, unter typisch deutscher Musik vorzustellen? »Na, Heintje und Heino«, sagt Franz in kehligem, stockendem Deutsch, bevor er schnell wieder ins viel vertrautere Portugiesische fällt, »und wie heißt noch mal dieser Seemann? - Aah, Freddy Quinn.«
Lucas do Rio Verde, heute ein Städtchen von etwa 45 000 Einwohnern, ist erst 1988 gegründet worden. Der Sojaboom hat es reich gemacht. Lucas hat keine Favelas, keine Arbeitslosen, kaum Kriminalität - und weder Gesicht noch Charakter. Man sieht der Stadt noch ihren Ursprung als Straßendorf an: Die zentrale Achse ist die Bundesstraße 163, die Brasiliens Kornkammer Mato Grosso von Süden nach Norden durchquert. Die westliche Hälfte der Fahrbahn, also die nach Süden führende, ist deutlich häufiger geflickt als die nach Norden führende. Denn nach Süden fahren die Sojalaster beladen und schwer, nach Norden leer und leicht.
Vor 1982, als die Landreformbehörde eine Handvoll Menschen aus dem Süden Brasiliens ansiedelte, gab es hier, wo heute Lucas steht, eigentlich nichts. Franz allerdings war schon da: Er kam, als Mitarbeiter der staatlichen Agrarforschung, bereits 1980. Später stieg er aus dem Staatsdienst aus, vor zwanzig Jahren gründete er mit 600 Dollar Startkapital ein Handelsunternehmen, das heute Millionen Dollar jährlich umsetzt. »In Brasilien geschieht die Revolution auf dem Land«, sagt Franz, der bis 2012 Bürgermeister von Lucas war. »Ach, man könnte noch so viel machen.« Und wer sich so erfolgreich eine Zukunft aufgebaut hat wie Franz - warum sollte sich der nicht auch eine Vergangenheit nachmachen können, in Schwarz-Rot-Gold und Lodengrün?
Beim »November Fest« ist der deutsche Bindestrich ebenso wegbrasilianisiert wie das Neutrum, denn »a festa« ist weiblich, deshalb heißt es auch »a November Fest«. Und warum ausgerechnet dieser Monat? Damit es nicht »Oktober Fest« heißt, erklärt Franz verschmitzt. Denn bei diesem Wort denkt ganz Brasilien an Blumenau, wo alljährlich das »größte deutsche Fest ganz Amerikas« stattfindet, so jedenfalls die Eigenwerbung. Und damit kann sich Lucas do Rio Verde allem Sojareichtum zum Trotz nicht messen, ebenso wenig wie die Dutzende von anderen teutonisch angehauchten Volksfesten sonstwo in Brasilien.
Knapp 600 000 Besucher kamen 2012 nach Blumenau, die größte der deutsch geprägten Städte Brasiliens, und sie vernichteten in den 19 Tagen des Folklorevergnügens 652 000 Liter Bier.
Auch wenn den des Deutschen Unkundigen ein kleines Vokabularium an die Hand gegeben wird, in dem nachzulesen ist, was zum Beispiel »ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit« heißt - besonders gemütlich geht es in Blumenau beim »Oktober Fest« nicht zu. Die Hallen in der Villa Germânica, dem Festkomplex, sind berüchtigt für ihre nüchterne Größe, trotz aller deutschtümelnden Fachwerkerkerchen ringsherum. Sponsoren sind eine Großbank, eine TV-Kabelgesellschaft und ein Handynetzbetreiber, was dem Fest einen viel kommerzielleren und vielleicht deshalb weniger gemütlichen Anstrich gibt, als wenn eine Großbrauerei als Financier in Erscheinung träte.
Trotz der großen Zahlen war Norberto Mette, der Präsident der Villa Germânica, 2012 nicht so recht zufrieden: »Wir haben festgestellt, dass die Trachten dies Jahr ein wenig ihren Charakter verloren haben«, und das bringe das finanzielle Fundament des Festes ins Wanken. Denn wer in Tracht kommt, darf gratis hinein - und um den Eintritt zu sparen, kamen viele in Trachten, die gar keine echten waren.
Aber was sind schon echte Trachten? Blumenau, heute eine Stadt mit 300 000 Einwohnern, einer höchst erfolgreichen Textilindustrie und mindestens sieben Trachtenspezialgeschäften, wurde 1850 von dem Apotheker Dr. Hermann Blumenau und anderen deutschen Pionieren gegründet, und dass dabei die dort ansässigen Indianer vertrieben wurden, das führen die Chroniken der Stadt nicht so gerne aus. Das »Oktober Fest«, so die offizielle Darstellung, entstand aus dem Wunsch der Blumenauer, »ihre Liebe zum Leben und zu den germanischen Traditionen« zum Ausdruck zu bringen.
Die Wahrheit ist ein bisschen prosaischer. 1984 richtete das Hochwasser des Rio Itajai-Açu verheerende Schäden in Blumenau an. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Moral der Blumenauer zu heben, wurde das »Oktober Fest« erfunden. Vorher haben sich die Blumenauer also nicht groß um ihre Traditionen geschert, und was eine echte, eine typische Tracht ist - nun ja. Der Filzhut für den Herrn, so verrät die Website des Festes, ist optional, aber Kniebundhose mit Hosenträger, ein weißes oder kariertes Hemd und weiße Kniestrümpfe sind Pflicht. Und braune Halbschuhe - aber auf keinen Fall »Turnschuhe, Plastikschlappen oder Sandalen«!
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Auch das früheste historische Zeugnis der deutschbrasilianischen Beziehungen ist kulinarischer Art. »Darnach furten sie mich in die huetten / ... da kamen die weiber ... und schlugen vnd raufften mich / vnd draweten (drohten) mir wie sie mich essen woelten«, beschreibt der hessische Landsknecht Hans von Staden seine ungemütliche Begegnung mit den »Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen«, denen er 1550 in die Hände fiel. Da war er bereits das zweite Mal in Brasilien - beim ersten Mal wollte er eigentlich nach Indien, fand aber nur ein Schiff nach Nordost-Brasilien, und das Ziel seiner zweiten Reise war auch nicht Brasilien, sondern das La-Plata-Gebiet weiter im Süden. Aber er erlitt Schiffbruch, rettete sich nahe dem heutigen Hafen Paranaguá ans Festland und kommandierte später, nachdem er in portugiesische Dienste getreten war, die São-Felipe-Festung, damals der südlichste Militärstützpunkt Portugals in Brasilien.
Und als er eines schönen Tages mit seinem Sklaven zum Jagen in den Busch geht, fällt er den Tupinambá- Indianern in die Hände. Er wird niedergeschlagen und gefangen genommen, und sofort entbrennt unter den Wilden ein wütender Streit um die einzelnen Körperteile des damals 25-Jährigen, wie er in seinem Reisebericht recht farbig schildert. Aber obwohl die, die ihn gefangen hatten, so wenig Vertrauen erweckende Namen wie »Großer Kochtopf « und »Kleiner Napf« tragen - João Ubaldo Ribeiro hätte sich das auch nicht schöner ausdenken können -, wird er verschont. Er gewinnt nach und nach die Freundschaft eines Medizinmannes, der ihn schützt. Das Los, im Kochtopf oder auf dem Grill zu enden, bleibt ihm erspart, und er wird dann auch nicht mehr gezwungen, sich den Frauen seiner Halter und Hüter mit dem Ausruf »Ich komme, euer Essen!« zu melden. Zehn Monate bleibt er bei den »Wilden Nacketen Grimmigen Menschfresser Leuthen «. Am Ende erlangt er die Freiheit und fährt 1555 nach Deutschland zurück.
Seine zwei Jahre später in Marburg veröffentlichte »Warhaftige Historia« wurde zum Bestseller, der bis heute über 80 Auflagen erlebt hat, davon 15 auf Portugiesisch und 25 auf Deutsch. Dennoch war das Buch zeitweilig völlig vergessen. Nach dem riesigen Anfangserfolg - Staden erlebte ihn noch mit, er starb erst 1576 - erlahmte Mitte des 17. Jahrhunderts das Interesse an seinen relativ drastischen, dabei in nüchterner und klarer Sprache zu Papier gebrachten Schilderungen. Denn solche Beschreibungen von Reisen in ferne Länder verloren nach und nach ihre Exklusivität. Je enger Südamerika - und für Afrika oder Asien galt das, geringfügig variiert, genauso - in die globalen Wirtschafts- und Herrschaftsbeziehungen des europäischen Kolonialismus eingebunden wurde, desto häufiger wurden solche Berichte. Man empfand sie nicht mehr als spektakulär.
Erst der Literarische Verein Stuttgart legte die »Warhaftige Historia« 1859 neu auf. Statt schauerlicher Schilderungen von kriegerischen Abenteuern mit wilden Tieren oder gar Menschenfressern war nun Historisch-Völkerkundliches gefragt. Natürlich entsprach das 300 Jahre alte Buch nicht mehr dem Forschungsstand; im 19. Jahrhundert fand man es nicht nur wegen der geschilderten Fakten interessant, sondern zugleich wegen der Art, sie zu schildern. In Brasilien pries der Geograph und Historiker Teodoro Sampaio Stadens Darstellung als »unmittelbare und verlässliche Urkunde«.
Stadens Reisebericht hat durchaus populärwissenschaftliche ethnologische Qualitäten. Nüchtern und schnörkellos beschreibt er im zweiten Teil seines Buches die fremde Welt, in die ihn das Schicksal geworfen hat. Er notiert die Trinksitten der »Wilden«, lässt sich über die Art ihrer Hängematten ebenso wie die Gebräuche ihrer Körperbemalung aus, er umreißt ihre soziale Organisation ebenso wie ihre Kochgewohnheiten. Und erstaunlicherweise steht in diesem Kapitel zwar einiges über die Zubereitung von Speisen, aber kein Wort über Menschenfresserei, die an anderer Stelle - im ersten Teil des Buches, in dem er seine Erlebnisse beschreibt - so dramatisch hervorgehoben wird.
Ist sie wirklich wahr, die »Warhaftige Historia«? Oder hat der fromme hessische Landsknecht hie und da kräftig übertrieben, damit sich sein Bericht besser verkauft? Tatsächlich sind die Archäologen und Ethnologen bis heute über der Frage zerstritten, ob es in Südamerika Kannibalismus wirklich gegeben hat und, wenn ja, in welcher Form. Die Befürworter der Kannibalismusthese beziehen sich auf die immer wieder gleichlautenden Berichte; was der Franzose Jean de Léry oder der Italiener Amerigo Vespucci aufgeschrieben haben, liest sich ähnlich wie die Schilderungen des Hessen Staden. Also, so lautet die Folgerung, muss es der Realität entsprechen. Die Zweifler schließen allerdings, ganz im Gegenteil, aus den immer gleichen, immer wiederkehrenden Details auf eine Erzähltradition - oder unfreundlicher gesagt: Einer hätte immer vom anderen abgeschrieben.
Kannibalismus als Wandermythos also, der viel mehr mit den Imaginationen in der Köpfen der Europäer als mit den Realitäten in den Kochtöpfen der Südamerikaner zu tun hätte. Bei Ethnien, die erst später in Kontakt mit der sogenannten Zivilisation traten, liegen jedoch kaum Hinweise auf Anthropophagie vor. Aber wäre sie so üblich gewesen, wie die Reisenden des 16. Jahrhunderts behaupteten, dann müsste sie sich ja wohl bei den unkontaktierten Völkern bis heute erhalten haben, oder wenigstens bei einigen.
Was diesen Streit der Wissenschaftler betrifft, zieht sich João Ubaldo Ribeiro in seinem wunderbaren Buch »Brasilien, Brasilien« äußerst elegant aus der Affäre: Der Caboclo, der die Holländer zum Fressen gern hatte, ist erst durch die Verwirrungen der Zivilisation auf die Idee gekommen, Menschen zu verzehren. Erst die Patres mit ihrer Religion, ihren Wundern, ihrem Gottessohnopfer, ihren Strafen und ihren Androhungen haben den Kopf des Caboclo durcheinandergebracht. Sie haben Capiroba, obwohl sie den Verzehr von Menschenfleisch so sehr verabscheuten, »gerade dies ... durch ihre Erzählungen beigebracht«, schreibt Ubaldo. Er ist allerdings so fair, der katholischen Kirche nicht alle Schuld zuzuschreiben, sondern nennt noch einen weiteren Grund für die kulinarischen Entgleisungen des Caboclo: »Manchmal raucht er Kopfkraut.«
Deutsches Brauchtum - die nachgemachte Vergangenheit
Das »November Fest« ist das persönliche Steckenpferd von Marino José Franz. Er selber hat es 1998 ins Leben gerufen, er hat fünfzig »typisch deutsche Trachten« angeschafft und aus eigener Tasche bezahlt, inklusive Filzhütchen mit Feder dran. In dem Fotoalbum, das er vorzeigt, steht die Volkstanzgruppe - die Damen im Dirndl, die Herren in der Kniebundhose - vor viel Schwarz-Rot-Gold unter dem Schild »Willcommen «, in Fraktur-Lettern. Aber das Foto stammt aus der Anfangszeit des »November Fest«. Mittlerweile ist das »c« durch eine korrektes »k« ersetzt worden.
Das »November Fest«, erklärt der Soja-Unternehmer Franz, ist längst Tradition; jeder zweite Landwirt aus der Umgebung habe schließlich deutsche Wurzeln. Deshalb bringt der lokale Radiosender »Alternativa FM« sonntags auch zwei Stunden typisch deutsche Musik. Und was bitte hat man sich hier, in den brettebenen Weiten des Mato Grosso, unter typisch deutscher Musik vorzustellen? »Na, Heintje und Heino«, sagt Franz in kehligem, stockendem Deutsch, bevor er schnell wieder ins viel vertrautere Portugiesische fällt, »und wie heißt noch mal dieser Seemann? - Aah, Freddy Quinn.«
Lucas do Rio Verde, heute ein Städtchen von etwa 45 000 Einwohnern, ist erst 1988 gegründet worden. Der Sojaboom hat es reich gemacht. Lucas hat keine Favelas, keine Arbeitslosen, kaum Kriminalität - und weder Gesicht noch Charakter. Man sieht der Stadt noch ihren Ursprung als Straßendorf an: Die zentrale Achse ist die Bundesstraße 163, die Brasiliens Kornkammer Mato Grosso von Süden nach Norden durchquert. Die westliche Hälfte der Fahrbahn, also die nach Süden führende, ist deutlich häufiger geflickt als die nach Norden führende. Denn nach Süden fahren die Sojalaster beladen und schwer, nach Norden leer und leicht.
Vor 1982, als die Landreformbehörde eine Handvoll Menschen aus dem Süden Brasiliens ansiedelte, gab es hier, wo heute Lucas steht, eigentlich nichts. Franz allerdings war schon da: Er kam, als Mitarbeiter der staatlichen Agrarforschung, bereits 1980. Später stieg er aus dem Staatsdienst aus, vor zwanzig Jahren gründete er mit 600 Dollar Startkapital ein Handelsunternehmen, das heute Millionen Dollar jährlich umsetzt. »In Brasilien geschieht die Revolution auf dem Land«, sagt Franz, der bis 2012 Bürgermeister von Lucas war. »Ach, man könnte noch so viel machen.« Und wer sich so erfolgreich eine Zukunft aufgebaut hat wie Franz - warum sollte sich der nicht auch eine Vergangenheit nachmachen können, in Schwarz-Rot-Gold und Lodengrün?
Beim »November Fest« ist der deutsche Bindestrich ebenso wegbrasilianisiert wie das Neutrum, denn »a festa« ist weiblich, deshalb heißt es auch »a November Fest«. Und warum ausgerechnet dieser Monat? Damit es nicht »Oktober Fest« heißt, erklärt Franz verschmitzt. Denn bei diesem Wort denkt ganz Brasilien an Blumenau, wo alljährlich das »größte deutsche Fest ganz Amerikas« stattfindet, so jedenfalls die Eigenwerbung. Und damit kann sich Lucas do Rio Verde allem Sojareichtum zum Trotz nicht messen, ebenso wenig wie die Dutzende von anderen teutonisch angehauchten Volksfesten sonstwo in Brasilien.
Knapp 600 000 Besucher kamen 2012 nach Blumenau, die größte der deutsch geprägten Städte Brasiliens, und sie vernichteten in den 19 Tagen des Folklorevergnügens 652 000 Liter Bier.
Auch wenn den des Deutschen Unkundigen ein kleines Vokabularium an die Hand gegeben wird, in dem nachzulesen ist, was zum Beispiel »ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit« heißt - besonders gemütlich geht es in Blumenau beim »Oktober Fest« nicht zu. Die Hallen in der Villa Germânica, dem Festkomplex, sind berüchtigt für ihre nüchterne Größe, trotz aller deutschtümelnden Fachwerkerkerchen ringsherum. Sponsoren sind eine Großbank, eine TV-Kabelgesellschaft und ein Handynetzbetreiber, was dem Fest einen viel kommerzielleren und vielleicht deshalb weniger gemütlichen Anstrich gibt, als wenn eine Großbrauerei als Financier in Erscheinung träte.
Trotz der großen Zahlen war Norberto Mette, der Präsident der Villa Germânica, 2012 nicht so recht zufrieden: »Wir haben festgestellt, dass die Trachten dies Jahr ein wenig ihren Charakter verloren haben«, und das bringe das finanzielle Fundament des Festes ins Wanken. Denn wer in Tracht kommt, darf gratis hinein - und um den Eintritt zu sparen, kamen viele in Trachten, die gar keine echten waren.
Aber was sind schon echte Trachten? Blumenau, heute eine Stadt mit 300 000 Einwohnern, einer höchst erfolgreichen Textilindustrie und mindestens sieben Trachtenspezialgeschäften, wurde 1850 von dem Apotheker Dr. Hermann Blumenau und anderen deutschen Pionieren gegründet, und dass dabei die dort ansässigen Indianer vertrieben wurden, das führen die Chroniken der Stadt nicht so gerne aus. Das »Oktober Fest«, so die offizielle Darstellung, entstand aus dem Wunsch der Blumenauer, »ihre Liebe zum Leben und zu den germanischen Traditionen« zum Ausdruck zu bringen.
Die Wahrheit ist ein bisschen prosaischer. 1984 richtete das Hochwasser des Rio Itajai-Açu verheerende Schäden in Blumenau an. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Moral der Blumenauer zu heben, wurde das »Oktober Fest« erfunden. Vorher haben sich die Blumenauer also nicht groß um ihre Traditionen geschert, und was eine echte, eine typische Tracht ist - nun ja. Der Filzhut für den Herrn, so verrät die Website des Festes, ist optional, aber Kniebundhose mit Hosenträger, ein weißes oder kariertes Hemd und weiße Kniestrümpfe sind Pflicht. Und braune Halbschuhe - aber auf keinen Fall »Turnschuhe, Plastikschlappen oder Sandalen«!
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Wolfgang Kunath
Kunath, Wolfgang'Hier müsste man dauerhaft leben', sagte sich Wolfgang Kunath 1992, als er nach Rio de Janeiro kam, um für die Stuttgarter Zeitung über den damaligen UN-Umweltgipfel zu berichten. Der Wunsch ging nicht gleich in Erfüllung. Von 1994 bis 1999 schrieb er für deutsche und Schweizer Zeitungen aus Afrika, bevor er, nach einem Zwischenspiel in Berlin, als Korrespondent der Stuttgarter Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung nach Rio de Janeiro kam. Das war im Jahr 2002 - als noch kaum zu ahnen war, dass im folgenden Jahrzehnt der spektakuläre Aufstieg Brasiliens zu einer der grossen aufstrebenden Wirtschaftsmächte zu beschreiben sein würde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Kunath
- 2013, 2. Aufl., 352 Seiten, Masse: 9 x 14,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359651309X
- ISBN-13: 9783596513093
- Erscheinungsdatum: 22.08.2013
Rezension zu „Das kuriose Brasilien-Buch “
All diese Geschichten, die in Reiseführern sonst keinen Platz finden, fügen sich zusammen zu einem Brasilien, wie Kunath es erlebt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20140814
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