Das Herz einer Löwin
Ein Kind, das seine Mutter verloren hat. Eine Frau auf der Suche nach einem neuen Anfang. Ein Massai-Arzt, der sich für seine Patienten aufopfert. Und eine große Liebe.
Der neue Roman von der Autorin des Bestsellers "Die...
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Produktinformationen zu „Das Herz einer Löwin “
Ein Kind, das seine Mutter verloren hat. Eine Frau auf der Suche nach einem neuen Anfang. Ein Massai-Arzt, der sich für seine Patienten aufopfert. Und eine große Liebe.
Der neue Roman von der Autorin des Bestsellers "Die Regenkönigin"! In Tansania will Emma eigentlich nur die Missionsstation besuchen, auf der ihre Mutter einst an einem tödlichen Fieber starb. Doch dort begegnet sie dem Massai-Arzt Daniel und plötzlich scheint ihr ganzes bisheriges Leben in Frage zu stehen. Als sie dann auch noch die kleine Waise Angel trifft, wird ihr klar, dass sie dem Zauber des schwarzen Kontinents erlegen ist. Sie beginnt, um das Mädchen zu kämpfen und erkennt, dass sie Afrika nicht mehr verlassen will. Genauso wenig wie Daniel.
Der neue große Afrika-Roman von der Autorin des Bestsellers "Die Regenkönigin"!
Lese-Probe zu „Das Herz einer Löwin “
Das Herz einer Löwin von Katherine Scholes Aus dem Englischen von Margarethe von Pée
1
Nord-Tansania, Ostafrika
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Angel ruckte kurz am Strick des Kamels, um sich zu vergewissern, dass der Knoten um den Baumstamm noch fest war. Das Kamel senkte den Kopf und fuhr mit den Lippen sanft über das Ohr des Mädchens. Angel lächelte und klopfte dem Tier auf den Hals. Sie schaute zu der Stelle im Schatten, wo sie die Milchschale hingestellt hatte. Der Anblick der süßen, schaumigen Milch - so weiß vor dem dunklen Holzrand - erinnerte sie daran, wie hungrig sie war. Rasch band sie das Kamelkalb los, das in der Nähe an seinem Strick zerrte. Kaum hatte sie es befreit, rannte es zu seiner Mutter und stupste ungeduldig an ihr Euter. Die Kamelstute nahm keine Notiz von ihm. Auch das Gewicht der Taschen und Decken auf ihrem Packsattel schien sie nicht zu stören. Sie interessierte sich nur für die zarten Blätter an den Spitzen der Dornenakazien. Sie schloss ihre dicken Lippen darum, riss sie ab und zermalmte sie im Maul. »Du bist ganz schön gierig, Mama Kitu«, sagte Angel und lächelte das Kalb an, das grunzend trank. »Und du auch, Matata.« Sie wandte sich von den Kamelen ab und ergriff die Milch- schale. Mit beiden Händen hielt sie sie fest, während sie den leichten Abhang zu einer Felsgruppe hinunterlief. Trotz ihrer nackten Füße bewegte sie sich leichtfüßig über die scharfen Steine. An den Felsen blieb sie stehen und blickte auf die trockene Savanne. Es war früh, und die Sonne stand noch tief am Horizont. Die ersten Strahlen, die durch die staubige Luft drangen, legten Farbe über das Land. Der Boden schimmerte gelb, und ein goldener Glanz lag auf den Felsen, deren Spitzen rosa leuchteten. Die Schatten dazwischen waren tiefbraun und blassviolett. Angel hob den Blick zum fernen Horizont und schaute auf den Pyramiden-Berg, der sich über der Ebene erhob. Blauer Dunst umgab die Hänge, und die weiße Lava auf dem Gipfel sah aus wie Schnee. Er markierte die Richtung, in die sie zogen. Angel wusste, dass er jeden Tag genau zwischen Mama Kitus Ohren vor ihnen lag. Ol Doinyo Lengai, der Gottesberg der Massai. Angel ging um die letzten Felsen herum und trat zu ihrer Mutter, die im Schneidersitz neben einem großen flachen Stein auf dem Boden saß. Der Stein sah aus wie ein Tisch, fast so, als sei er hier aufgestellt worden, damit Reisende Rast machen und die Aussicht bewundern konnten. Laura trug eine einfache Baumwolltunika und eine Hose wie Angel, aber sie hatte sich außerdem noch einen gemusterten Schal um den Kopf geschlungen. Gerade beugte sie sich vor, um Fliegen von den Fladenbroten und den Datteln zu verscheuchen, die sie auf den Stein gelegt hatte. Angel hielt ihr die Schale mit Milch hin. »Danke.« Laura hob die Schale an ihren Mund und trank. Als sie sie wieder sinken ließ, waren ihre Lippen von weißem Milchschaum eingerahmt. »Kein Schmutz«, sagte sie anerkennend. »Ich habe aufgepasst, dass kein Sand hineinkommt.«
»Das hast du gut gemacht.« »Ich bin ja auch kein kleines Kind mehr«, erklärte Angel. »Und sieh mal ...« Sie grinste breit und wackelte mit der Zunge an einem losen Vorderzahn. Laura beugte sich vor und betrachtete ihn eingehend. »Ich muss ihn dir herausziehen.« »Nein.« Angel schüttelte den Kopf. »Aber nachher verschluckst du ihn noch«, warnte Laura. »Und dann kann die Zahnfee nicht kommen.« Angel blickte sie verwirrt an. »Was ist denn eine Zahnfee?« Laura ergriff eines der Fladenbrote und reichte es Angel, zusammen mit der Milchschale. »In England erzählen die Eltern ihren Kindern, dass die Zahnfee ihn mitnimmt, wenn sie nachts einen Zahn unter ihr Kopfkissen legen, und stattdessen Geld zurücklässt.« »Hast du das auch gemacht?«, fragte Angel. »Und ist sie gekommen?« »Manchmal«, erwiderte Laura. »Allerdings nicht jedes Mal.« Während sie sprach, nahm sie ihren Schal ab. Es war ein Stück Kitenge, das früher einmal leuchtend bunt gewesen war, jetzt aber ausgeblichen und am Rand ausgefranst und zerrissen war. Ihre langen Haare - ebenso strohblond wie die ihrer Tochter - fielen ihr bis über die Schultern. Die Strähnen waren verfilzt und staubig. Sie fuhr mit den Fingern durch, band das Tuch wieder darum und steckte ein paar lose Strähnen unter den Stoff. Dann blickte sie Angel an. »Was ist los?« Das Kind runzelte die Stirn. »Wir haben kein Kopfkissen.« »Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen - ich glaube, es gibt hier auch keine Zahnfeen.« Angel kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Doch, das glaube ich schon.«
Laura lächelte. »Jetzt iss. Wir halten eine ganze Weile nicht mehr an.« Sie stand auf und zeigte zum Berg. »Die Manyata liegt genau am Rand der Ebene. Bis zum Einbruch der Nacht müssen wir dort sein.« »Vielleicht haben sie eine Ziege geschlachtet«, sagte Angel, die auf einem Stück Brot kaute. Krumen fielen ihr aus dem Mund. »Und vielleicht gibt es Eintopf mit Fleisch.« »Nein, sie erwarten uns ja nicht«, erwiderte Laura. Angel blickte ihre Mutter beunruhigt an. »Vielleicht lassen sie uns gar nicht hinein.« »Doch. Der Häuptling ist der Bruder von Walaita. Wenn wir ihm sagen, wer wir sind, und ihm die Geschenke zeigen, die wir auf ihren Rat hin mitgenommen haben, wird er uns willkommen heißen.« Angel stand ebenfalls auf. Sie folgte Lauras Blick in die Ferne. »Erzähl es mir noch einmal«, sagte sie. »Erzähl mir noch einmal, was wir tun werden.« Laura legte Angel die Hand auf den Kopf. »Wir bringen Mama Kitu und Matata sicher im Boma mit den anderen Herden des Stammes unter. Dann schlagen wir unser Zelt vor dem Haus des Häuptlings auf.« »Aber wir bleiben nicht da.« »Nein. Morgen lassen wir unsere Kamele in der Manyata - und dann gehen wir zum Wasserfall. Dort warten wir, bis uns jemand zur Hauptstraße mitnimmt.« »Wer nimmt uns denn mit?« Angel tanzte vor Aufregung, als sie auf Lauras Antwort wartete. »Wazungu. Safari-Leute. Frauen mit Sonnenbrillen und rosa Lippenstift. Männer mit großen Kameras.« Angel kicherte. »Und was haben sie sonst noch?«
»Daran kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern.« »Und was machen wir an der Hauptstraße?« »Wir fahren mit dem Bus in die Stadt«, sagte Laura. »Die Stadt«, hauchte Angel. »Wir fahren in die Stadt ...« »Aber wenn wir nicht endlich aufbrechen, fahren wir nirgendwohin. « Laura sammelte die Reste des Essens ein und bedeutete Angel, ihr die Milchschale zu bringen. Dann eilte sie zu den Kamelen. Angel folgte ihr. Sie schwenkte die Schale an der Sisalschnur, die durch ein Loch im Rand gezogen war. Sie war erst ein paar Schritte gegangen, als sie einen überraschten Aufschrei hörte. Laura war stehen geblieben und starrte auf ein paar Büsche vor sich. Ihre starre Haltung jagte Angel einen Schrecken ein. Sie drückte die Schale an die Brust und rannte auf sie zu. »Pass auf«, rief Laura ihr zu. »Da war eine Schlange - ich bin allerdings ziemlich sicher, dass sie jetzt weg ist.« Sie war ganz blass. »Ich habe etwas gespürt. Ich glaube, ich bin gebissen worden.« Sie zog das Hosenbein ein wenig hoch. An ihrer linken Wade waren zwei winzige rote Punkte zu erkennen. Angel starrte ihre Mutter an. Laura hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich habe sie kaum gesehen«, sagte Laura. Ihre Stimme zitterte. »Sie war so schnell. Und dann war sie auch schon wieder weg ...« »Du musst dich hinlegen«, sagte Angel. »Wenn man von einer Schlange gebissen worden ist, kann man nicht herumlaufen. « Laura holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ja, das stimmt.« Langsam, und ohne ihr linkes Bein zu bewegen, ließ sie sich zu Boden sinken. Dann nahm sie ihren Schal ab und versuchte, den Knoten zu lösen, aber es gelang ihr nicht. Angel nahm ihr den Schal aus den zitternden Fingern und knotete ihn auf. Dann gab sie ihn ihr zurück. Laura begann, das Stück Stoff fest um ihr Bein zu wickeln, vom Knie an abwärts zu den Bisswunden. Danach betrachteten Laura und Angel den Biss erneut. Die Haut darum herum schwoll bereits leicht an. »Tut es weh, Mama?« »Nicht sehr«, antwortete Laura. »Eigentlich gar nicht.« Sie stieß erneut die Luft aus. »Vielleicht war es ja keine gefährliche Schlange. Ich weiß nicht, was es hier für Schlangen gibt.« Sie blickte auf ihr Bein. »Vielleicht war es ja auch ein trockener Biss. Manchmal hat eine Schlange ihr Gift schon verbraucht, bevor sie beißt. Manchmal haben sie auch keine Gelegenheit, es richtig zu injizieren. Es ist ja sehr schnell gegangen.« Sie lächelte Angel beruhigend zu. »Ich glaube, wir brechen am besten gleich auf. Ich kann ja mein Bein auf den Sattel legen und es still halten.« Angel nickte. »Wir sollten zusehen, dass wir zu der Manyata kommen.« »Ja«, sagte Laura. »Wir sollten uns beeilen.« Angel rannte den Abhang hinunter zu den Kamelen. Sie war froh, dass sie hier nur kurz Rast gemacht hatten. Wenn sie jetzt alles hätte einpacken und aufladen müssen, hätte es viel zu lange gedauert, bis sie aufbrechen konnten. So jedoch hatte sie innerhalb weniger Minuten Mama Kitu losgebunden und zu Laura geführt. Das rhythmische Geräusch der Kamelhufe tröstete Angel. Mama Kitu war ein gutes Kamel - man konnte ihr vertrauen. Selbst wenn sie brünstig war, trat oder biss sie ihre Besitzer nie. Man brauchte sie beim Grasen nicht anzupflocken, und sie ließ sich immer leicht einfangen. Und als sie jetzt Laura erreichten, die flach auf dem steinigen Boden lag, gehorchte Mama Kitu sofort auf Angels Signal zum Hinknien. Matata spürte die Spannung, die in der Luft lag, und lief ruhelos um seine Mutter herum. Angel, die Angst hatte, er würde auf Laura treten, versuchte, ihn wegzuscheuchen. »Geh weg«, rief sie und wedelte mit den Armen. Er hörte nicht auf sie. »Geh weg! Weg da!«, schrie sie wieder. Ihre Stimme hallte laut in der Stille. Vor Panik begann sie, schneller zu atmen. »Es ist schon in Ordnung, Angel. Es ist gut. Du musst jetzt ruhig bleiben. Du musst mir helfen.« Diesen Tonfall kannte Angel bei ihrer Mutter. So redete sie immer, wenn sie arbeitete. Ihre Stimme klang dann so fest, dass man sich unwillkürlich stärker fühlte. Angel nickte und zwang sich, tapfer zu sein. Laura rutschte in eine sitzende Position auf den gefalteten Decken, die den Sattel auspolsterten. Angel kletterte vor sie und hielt das Seil, das an Mama Kitus Halfter befestigt war. Laura hielt sich an Angel fest, als das Kamel sich grunzend erhob. Dann lehnte sie sich an eine der Taschen, wobei sie das Bein ausgestreckt über den Holzrahmen legte. Um ihr Platz zu machen, musste Angel ein Bein ein wenig hochziehen, aber sie konnte trotzdem das Gleichgewicht halten. Als sie den Abhang hinunterritten, keuchte Laura vor Schmerzen. Angel warf ihr über die Schulter einen Blick zu. Laura lächelte mühsam. »Wenn wir in der Ebene sind, wird es leichter.«
Mama Kitu trottete den Hügel hinunter. Die sandige Ebene war flach, aber trotzdem lagen überall Felsen und umgestürzte Bäume. Angel starrte zum Rand der Savanne. Jeder Schritt führte sie näher zur Manyata. Sie stellte sich vor, wie sie im Dorf ankamen. Dort waren bestimmt Leute, die ihnen helfen konnten - aber was würden sie tun? Es hing alles davon ab, wie gefährlich die Schlange gewesen war und wie viel Gift ins Blut gelangte, das wusste Angel. Sie dachte an den Hirten aus dem Dorf am Fluss, der von einer Viper gebissen worden war. Tagelang hatte er in seiner Hütte gelegen und vor Schmerzen gestöhnt. Letztendlich hatte er überlebt, aber viele Leute waren auch schon an einem Schlangenbiss gestorben. Jeder wusste das. Deshalb töteten die Leute die Schlangen, die ihren Häusern zu nahe kamen. Ärger stieg in Angel auf. Warum war Laura nicht vorsichtiger gewesen? Seit sie denken konnte, ermahnte ihre Mutter sie ständig, ihr Moskitonetz richtig festzustecken, nicht im Wasser zu planschen, wenn sie nicht sehen konnte, dass es floss, und darauf zu achten, wo sie ihre Füße hinsetzte, vor allem, wenn sie keine Sandalen trug. »Was willst du in der Stadt tun?« Lauras Stimme durchbrach ihre Gedanken. Angel schluckte, den Blick fest auf die fernen Berge gerichtet. »Ich weiß nicht.« »Ach komm«, sagte Laura, »denk dir etwas aus.« Ihre Stimme klang jetzt normal, und Angel begann sich zu entspannen. »Ich möchte ... einen Kreisverkehr sehen. Einen mit Blumen in der Mitte und einer Statue.« Laura lachte leise. »Und was sonst noch?« »Ich möchte mir bei einem Mann mit einem Karren ein aiskrimu kaufen.«
»Ich auch, ich möchte ein Eis und ... ein neues Kleid.« Angel lächelte, weil sie das Einkaufsspiel erkannte. »Ich möchte ein Eis kaufen, ein neues Kleid ... und eine Schuluniform. « »Aber du gehst doch gar nicht zur Schule«, protestierte Laura. »Ich unterrichte dich doch.« Ihre Stimme klang zwar dünn, war aber gut zu verstehen. »Ich möchte trotzdem eine. Dann würde ich so aussehen wie die anderen Kinder«, erklärte Angel. »Auf jeden Fall habe ich es mir ausgesucht.« Sie wartete darauf, dass Laura weitermachte. In der Stille erschienen kleine Geräusche groß - das Quietschen von Leder, das gegen Leder rieb, die Wasser-Kalebassen, die aneinanderschlugen, das Zwitschern der Webervögel. Angel warf einen Blick über die Schulter. Erschrocken sah sie, dass Laura nach Luft rang. Sie war weiter nach hinten gegen die Taschen gesunken und begann, seitlich herunterzurutschen. Sofort zerrte Angel am Halfterseil und schrie Mama Kitu an, sie solle sich hinlegen. Während das Kamel auf die Knie ging, versuchte sie, Laura festzuhalten, aber der Körper ihrer Mutter war schlaff und schwer, und sie sank auf den Boden, kaum dass das Tier sich hingelegt hatte. Dort blieb sie einfach liegen und rang nach Luft. Auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe sammelten sich Schweißperlen. Angel war wie erstarrt vor Angst. »Sie hat dich doch gebissen! Sie hat dich vergiftet!« Laura leckte sich über die Lippen. »Angel. Hör zu. Du musst mich hier liegen lassen und zu der Manyata gehen. Der Heiler dort hat den schwarzen Stein. Sie schicken bestimmt jemanden zu mir, der mir helfen kann.«
»Ich will aber nicht«, sagte Angel. Sie wusste, dass sie sich wie ein Kleinkind anhörte - als ob sie immer noch getragen werden müsste. »Du musst tun, was ich dir sage«, sagte Laura sanft. »Aber zuerst einmal gib mir meine Tasche.« Angel band einen verschlissenen Lederbeutel von Mama Kitus Sattel los und trug ihn zu ihrer Mutter. Als sie sich neben sie hockte und die Riemen über der Lederklappe aufschnallte, stieg leise Hoffnung in ihr auf. So oft schon hatte Laura in diese Tasche gegriffen und irgendetwas hervorgezogen, womit sie ein Problem lösen könnte. Vielleicht hatte sie ja Medizin dabei, die ihr half. Angels Hand verharrte über einem großen Plastikbeutel mit weißen Tabletten. »Was willst du?« »Nimm meine Geldbörse. Ich will meinen Pass.« Forschend blickte Angel ihre Mutter an. Ob sie wohl im Fieberwahn redete? »Bitte«, murmelte Laura. Ganz unten in der Tasche lag die Geldbörse. Sie ertastete die harten Kanten des Passes und zog ihn heraus. Laura stöhnte. Sie blinzelte Angel aus halb geschlossenen Augen an, als ob sie sie nicht mehr richtig sehen könne. »Steck ihn in die Tasche. Verlier ihn nicht. Du musst den Häuptling bitten, dich zum Wildhüter im Nationalpark zu bringen. Zeig ihm den Pass und sag ihm, ich bin deine Mutter. Dann wissen die Leute, wer du bist.« Laura schloss die Augen. Angel betrachtete sie eine Zeitlang und verscheuchte die Fliegen, die sich auf ihre Haut setzten. Sie atmete jetzt leichter - aber sie sah immer noch müde und blass aus. Vielleicht musste sie sich einfach nur ein bisschen ausruhen, dachte Angel. Danach würde es ihr bestimmt bessergehen, und sie konnten ihren Weg fortsetzen. Angel blickte auf den Pass in ihrem Schoß. Sie verstand nicht, warum Laura unbedingt wollte, dass sie ihn in ihrer Tasche aufbewahrte. Auch nicht, warum Angel ihn dem Wildhüter zeigen sollte. Er war bestimmt ein wichtiger Mann, so wie alle Regierungsbeamten - aber warum sollte er an dem Pass Interesse haben? Verwirrt runzelte sie die Stirn. Und dann fiel ihr ein, was Laura noch gesagt hatte.
Dann werden die Leute wissen, wer du bist.
Angel starrte die bewegungslose Gestalt auf dem Boden an. Erst jetzt wurde ihr die wahre Bedeutung dieser Worte klar. Laura hatte keine Hoffnung, gerettet zu werden. Sie wollte, dass Angel zur Manyata ritt - und sie rechnete nicht damit, ihre Tochter wiederzusehen. Angels Mund wurde ganz trocken. Und noch etwas fiel ihr ein - etwas, das Laura eines Tages mal zu ein paar Freunden aus dem Feigenbaum-Dorf gesagt hatte. Angel stieß Lauras Schulter an, dann schüttelte sie sie. Laura öffnete die Augen und blickte sie an. »Der schwarze Stein wirkt nicht«, erklärte Angel. »Du glaubst nicht daran.« Tränen traten Laura in die Augen. »Nein.« »Wirst du sterben?«, fragte Angel leise. Laura schluchzte auf, aber sie antwortete ihr nicht. Angel saß einfach da und blickte Laura in die Augen. Das war die einzige Realität in diesem Moment. Wenn sie sich nicht bewegte, dachte Angel, würde es ewig so weitergehen. Aber dann verzerrte sich Lauras Gesicht vor Schmerz. Angel wünschte sich, sie könne etwas tun, um ihr zu helfen. Sie ergriff den Saum ihrer Tunika und wischte Laura damit den kalten Schweiß von der Stirn. Dann tupfte sie ihr die Schweißperlen von der Oberlippe ab. Die kleinen Gesten beruhigten sie. Und während sie so sachte wie ein Schmetterling auf einer Blüte mit dem Stoff über Lauras Gesicht fuhr, dachte sie daran, wie Laura Walaita gepflegt hatte, die Schwester des Häuptlings. Erst vor ein paar Wochen hatte Angel mit ihrer Mutter am Bett der Frau in ihrer dämmerigen, rauchigen Hütte gesessen. Alle wussten, dass sie bald sterben würde. Der Krebs hatte sich überall in ihrem Körper ausgebreitet. »Das kann ich dir versprechen«, hatte Laura gesagt und Walaitas Hand gehalten. »Ich werde bei dir sein bis zum Ende.« Selbst im schwachen Licht der Hütte hatte Angel die Erleichterung im Gesicht der Kranken gesehen. Angel ergriff Lauras Hand und hielt sie sanft fest. »Hab keine Angst, Mama«, sagte sie. »Ich werde bei dir sein bis zum Ende. Es wird immer eine Lampe für dich brennen. Die Nacht wird nie ganz dunkel sein.« Laura lächelte. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln über die Schläfen in die wirren Haare. »Ich liebe dich, meine Angel. Du bist so ... tapfer. Aber du kannst nicht hierbleiben. Du musst aufbrechen.« Ihre Worte kamen stoßweise, unterbrochen von keuchenden Atemzügen. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, das weißt du doch. Ich habe Angst um dich. Dass du hier draußen allein zurückbleibst. Du musst Mama Kitu und Matata nehmen ...« »Nein!«, unterbrach Angel sie. »Ich gehe nicht weg.« Laura schüttelte hilflos den Kopf. »Bitte, sei nicht so stur. Nicht jetzt ...« In diesem Moment kam Matata angelaufen. Er umkreiste Mama Kitu und versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen, damit er trinken konnte. Dabei stupste er auch Laura an. Angel schob seinen Kopf weg. Sie würde die beiden Kamele wegbringen müssen, damit Laura nicht gestört würde. Sie nahm die Wasserkalebasse vom Sattel, ließ Mama Kitu aufstehen und führte sie zu einer Akazie. Matata folgte ihr wie immer. Sie band das Leitseil an einen der Äste und ging wieder zu Laura zurück. Sie beugte sich über sie und tropfte ihr Wasser auf die Lippen. Laura schluckte ein wenig davon. »Gut.« Angel nickte. Kranke mussten trinken. Es war immer wichtig, genügend Wasser zu haben. Die Sonne stand jetzt höher am Himmel, und es wurde immer heißer. In der Nähe wuchsen zwar einige Akazien, aber sie würde es bestimmt nicht schaffen, Laura in ihren Schatten zu schleppen. Aber nicht weit von Lauras Kopf entfernt gab es einen großen Felsen, der in etwa so hoch war wie Angel groß. Angel zog einen Kitenge aus der Ledertasche, der, auf einem elfenbeinfarbenen Untergrund, mit rosa und braunen Vögeln bedruckt war. Laura bedeckte damit immer ihren Kopf, wenn sie in ein muslimisches Dorf kamen. Ein Ende legte sie auf den Felsen und beschwerte es mit Steinen. Den Rest des Stoffes drapierte sie über Lauras Körper. Das Tuch ähnelte einem schlecht aufgehängten Moskitonetz und bot keinen Schutz für Lauras Beine und Füße. Aber zumindest waren ihr Gesicht und ihr Körper jetzt vor der Sonne geschützt. Angel trat einen Schritt zurück und betrachtete den Sonnenschutz voller Stolz. Laura sagte oft zu ihr, wie nützlich und geschickt sie war. Sie sagte, es läge daran, dass Angel Laura so oft bei ihrer Arbeit half. Außerdem war Angel in Dörfern groß geworden, wo schon die kleinen Kinder sich um die Herden kümmerten, statt in die Schule zu gehen, und wenn ihre Eltern krank oder tot waren, mussten sie sich auch um die Babys und Kleinkinder kümmern. »Du bist wie ein afrikanisches Kind«, hatte Laura zu ihrer Tochter gesagt. Angel gefiel die Vorstellung, und sie strengte sich noch mehr an, um stark und vernünftig zu sein. Bevor sie sich ebenfalls unter das Sonnendach hockte, zog Angel Lauras Hosenbein hoch. Das Knie war jetzt geschwollen und rot, und die straff gespannte Haut wölbte sich unter dem Rand des Schals hervor. Angel biss sich auf die Lippe. Ob sie den Schal wohl abnehmen konnte? Es sah so unbequem aus. Aber Laura hatte die Bandage so sorgfältig angelegt, dass sie sie wohl besser nicht anfasste. Angel hockte sich neben Lauras Kopf. Licht drang durch den Stoff und warf einen rosigen Schein auf das Gesicht ihrer Mutter. Sie sah beinahe gesund aus, wenn man von dem grauen Speichel absah, der sich an ihrem Mundwinkel bildete. Angel wischte ihn weg, aber er kam immer wieder. Die Zeit dehnte sich. In einem Moment verging sie ganz langsam, und dann wieder unglaublich schnell. Es kam Angel so vor, als sei es noch nicht lange her, dass Laura und sie in Richtung der Manyata geritten waren und darüber geredet hatten, was sie sich in der Stadt kaufen wollten. Aber dann stellte Angel fest, dass der gelegentliche Schluck Wasser - einer für sie und einer in Lauras Mund getröpfelt - die Kalebasse schon beinahe geleert hatte. Bald würde sie eine neue Flasche von Mama Kitus Sattel holen müssen. Sie blickte über das heiße, trockene Land. Das pastellfarbene Morgenlicht war einer gleißenden Helle gewichen. Sand und Felsen hatten wieder ihre natürliche Farbe angenommen - verschiedene Grauschattierungen. Selbst das Grün der Bäume und Büsche lag unter einer grauen Staubschicht. Die einzigen Farbflecke waren die hellrosa Wüstenrosen, die aus seltsam aussehenden Büschen ohne Blätter sprossen. Angel starrte ausdruckslos über das aschgraue Land, als Laura sich plötzlich regte. Das Mädchen fuhr herum und blickte forschend in das Gesicht der Kranken. Laura runzelte die Stirn. Ihre Lippen bewegten sich. Sie sah aus wie jemand, der verzweifelt versucht, aus den Tiefen eines schlammigen Teichs an die Oberfläche - zum Licht - zu schwimmen. »Angel?« Ihre Stimme klang drängend. Angel beugte sich vor. »Ich bin hier, Mama.« Sie wartete darauf, dass Laura noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. Sie begann, Laura über die Haare zu streichen, so wie Laura es oft bei ihr getan hatte, wenn sie krank gewesen war und Fieber gehabt hatte. Zu den Bewegungen ihrer Hand gehörte ein Lied, und als Angel Text und Melodie wieder einfielen, begann sie, leise zu singen. Lala Salama, Mtoto. Schlaf jetzt, mein Kleines. Wenn du wieder aufwachst, werden wir weitersehen. Es hatte viele Strophen - jede beschrieb die Tiere, die Vögel und die Leute, die zum Leben eines Babys gehörten. Angel sang alle Strophen und fing dann wieder von vorn an. Auch als Lauras Atem nur noch stoßweise kam und rauh wurde, sang sie einfach weiter. Tränen liefen Angel übers Gesicht. Sie schmeckte das Salz auf den Lippen. Bald schon schluchzte und sang sie zugleich, aber sie hörte nicht auf. Wenn sie weitersang, sagte sie sich, würde Laura auch weiteratmen. Doch trotz des Singens hörte sie, wie Lauras Atem immer flacher wurde. Schließlich wurde ihr Keuchen zu einem Wispern. Und dann nur noch ein ganz schwacher Seufzer.
Angel erstarrte. Ihre Finger lagen auf Lauras Haaren, die verschwitzt und von grobem Sand bedeckt waren. Sie hielt den Atem an und wartete. Aber sie hörte nur das Rascheln des Windes in den Büschen und den fernen Schrei eines Raben. Langsam senkte sie den Kopf und drückte ihre Wange auf die Brust ihrer Mutter. Sie schloss die Augen und lauschte auf den Herzschlag. Aber da war nur Stille. Nichts.
Ein Windstoß riss an dem Sonnenschutz, und das Ende des Kitenge flatterte unter den Steinen hervor, die den Stoff auf dem Felsen hielten. Angel packte ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er davonflog. Sie legte sich den Stoff um die Schultern und schnupperte an dem schwachen Duft, den er verströmte. Weihrauch - Lauras Lieblingsduft. Ihr war klar, dass sie eigentlich mit Mama Kitu und Matata sofort zur Manyata aufbrechen musste, solange noch genügend Tageslicht vorhanden war. Aber sie wollte nicht. Wieder hatte sie das Gefühl, dass die Zeit stillstehen und das Leben so weitergehen würde wie bisher, wenn sie sich nicht bewegen würde. Sie griff in die Tasche ihrer Tunika und holte den Pass heraus. Sie wusste, was in dem kleinen Buch war - ab und zu hatte sie es sich anschauen dürfen. Für gewöhnlich schlug sie sofort die Seite mit dem kleinen Foto von Laura auf - sie fand es interessant, wie anders sie aussah, mit ordentlichen, kurzgeschnittenen Haaren, mit Lippenstift und einer Kette wie die der Safari-Frauen. Jetzt jedoch beachtete Angel das Bild kaum, auch nicht die Sammlung hübscher bunter Stempel. Sie blätterte zur letzten Seite des Passes und las, was Laura dort mit der Hand hingeschrieben hatte.
James Kelly, 26 Brading Ave, Southsea, Hampshire, England.
James war Lauras Bruder, das wusste Angel. Er war nie in Afrika gewesen, deshalb kannte Angel ihn nicht. Er hatte ihr allerdings einmal ein Geschenk geschickt - eine wunderschöne Puppe, die jedoch so zerbrechlich war, dass niemand damit spielen konnte. Eines Tages hatte Laura plötzlich von ihm erzählt. Angel war damals noch kleiner gewesen, aber sie konnte sich noch gut an das Gespräch erinnern. Sie hatten auf dem Boden der Veranda bei den Barmherzigen Schwestern gesessen und auf Lebensmittel gewartet. »Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder«, sagte Laura. »Er wohnt in einem wunderschönen Haus am Meer.« Sie machte so ein ernstes Gesicht, dass Angel begann, sich unwohl zu fühlen. »Warum erzählst du von ihm?«, fragte sie. »Wenn mir je etwas zustoßen sollte, wird sich James um dich kümmern. Ich habe ihn gebeten, mir das zu versprechen - weil du weder einen baba noch eine Bibi hast; keinen Vater und keine Großmutter.« Angel saß ganz still da; schmerzliche Gedanken und Bilder erfüllten ihren Kopf. »Wenn dir etwas zustößt«, sagte sie schließlich, »dann kümmere ich mich selbst um mich. Wie Zuri.« »Für weiße Kinder ist es nicht dasselbe«, sagte Laura. Ihre Stimme war sanft, aber fest. Sie öffnete den Mund, um mehr zu sagen, aber Angel stand auf und drehte ihr den Rücken zu. Ihr war übel, und sie hatte Angst - aber sie war auch wütend. Laura sollte nicht so reden; sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihrer Mutter etwas Schlimmes passieren würde, und sie wollte auch nicht wissen, was dann aus ihr würde. Sie ging ein paar Schritte weg, als ihr plötzlich ein Sprichwort einfiel, das sie im Dorf gelernt hatte. Sie drehte sich um und sagte es Laura. »Unglück hat scharfe Ohren. Wenn du seinen Namen rufst, kommt es.« Laura hatte das Thema nie wieder erwähnt. Angel umklammerte den Pass mit beiden Händen und blickte auf Lauras Schrift - vor allem auf das letzte Wort, das mit dicker schwarzer Tinte geschrieben war. England. Laura hatte ihr Geschichten über England erzählt. Dort hatten alle viel Geld, und die Kinder spielten drinnen mit Spielsachen. Die Leute lebten in Städten mit guten Krankenhäusern, aber es gab mehr Fremde als Freunde. Und statt Kamelen gab es Autos ... Angel klappte den Pass zu. Sie legte ihn auf die Handfläche, als wolle sie sein Gewicht beurteilen. Dann schleuderte sie ihn weg. Er flog durch die Luft und landete zwischen zwei Felsen, ein kleiner dunkelroter Fleck auf dem grauen Sand. Angel zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Sie ließ die Stirn auf ihre knochigen Kniescheiben sinken. Sie fühlte sich müde und leer, als ob auch ihr das Leben aus dem Körper gewichen wäre. Sie stellte sich vor, sie würde für immer hier bleiben. Nur sie und Matata und Mama Kitu. Ihre Familie ... Plötzlich hörte sie Flügel rauschen. Ein großer Vogel schüttelte seine Federn. Als Angel den Kopf hob, schwebte gerade ein zweiter Vogel zu Boden. Angel starrte auf die Geier. Es waren hässliche Vögel, mit gekrümmten Schnäbeln und halb geschlossenen Augen. Ihr zerrupftes Federkleid ließ sie immer krank aussehen, als ob die ganze Spezies darunter gelitten hätte, dass sie sich ein Leben lang von Kadavern ernährten. Angel sprang auf und rannte auf sie zu. »Nendeni! Nendeni Mbali! Weg! Haut ab!« Die Vögel breiteten ihre großen Schwingen aus und erhoben sich in die Luft. Kurz darauf jedoch landeten sie wieder, nur ein kleines Stück weiter weg. Angel blickte zu Laura. Sie wusste, dass noch mehr Geier kommen würden. Und letztendlich würde sie sie nicht alle vertreiben können. Angel blickte zu den Kamelen. Wenn es ihr irgendwie gelingen würde, Laura auf Mama Kitu zu manövrieren, dann konnte sie sie mit zur Manyata nehmen. Aber auch davon würden sich die Geier nicht abhalten lassen. Dann würden sie eben auf das Kamel herunterstoßen, und selbst Mama Kitu würde in Panik geraten und davonlaufen. Plötzlich kam ein dritter Geier und setzte sich auf Lauras Brust. Angel rannte hin und schwenkte die Arme. Aber wie die anderen Geier zog auch er sich nur ein bisschen zurück und ließ sich auf dem Felsen nieder. Rasch breitete Angel den Kitenge aus, schlang ein Ende um Lauras Füße und zog das andere zum Kopf. Sie zögerte kurz, bevor sie das Gesicht bedeckte. Mit einer Hand schob sie eine Haarsträhne zurück, die an Lauras Wange klebte. Ihre Tränen fielen auf die blasse Haut. Dann zog sie das Tuch über das Gesicht und strich es glatt. Schließlich erhob sie sich und begann, Steine zu sammeln, um sie über die Leiche zu legen. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, und es lagen viele Steine herum - aber trotzdem war es harte Arbeit. Das rauhe Vulkangestein rieb wie Sandpapier an Angels Haut. Jeden einzelnen Stein untersuchte sie auf Skorpione und Schlangen. Die Geier ließen sie und die Leiche nicht aus den Augen und hockten neben dem behelfsmäßigen Grab. Schließlich war nichts mehr von dem Stoff zu sehen, aber Angel legte noch mehr Steine darauf, damit die Leiche geschützt war. Die Geier kreischten und schlugen mit den Flügeln, als ob sie außer sich vor Wut wären. Angel, die immer noch am Grabhügel hockte, erstarrte. Geier griffen manchmal Menschen an, das wusste sie. Vielleicht nicht gerade einen starken, gesunden Erwachsenen, aber ein kleines Kind, das sich nicht wehren konnte ... Du bist nicht klein, flüsterte eine eigensinnige Stimme in ihrem Kopf. Du bist älter als Zuri, der allein die Rinder hütet. Und du bist auch stärker als er. Im Kampf besiegst du ihn immer.
Angel ergriff einen Stein, stand auf und drehte sich zu den Geiern um. Aber sie blickten sie gar nicht an. Ihre gekrümmten Schnäbel wiesen alle in die gleiche Richtung - rechts von ihr. Sie folgte ihrem Blick, und neue Angst stieg in ihr auf, als sie sah, weshalb sie in Aufruhr gerieten. Fisi. Hyänen. Es war ein ganzes Rudel. Sie waren noch ein Stück entfernt, kamen aber mit ihrem seltsam schwankenden Gang rasch näher. Die Hyäne an der Spitze stieß ein Geheul aus, das wie irres Gelächter klang. Matata blökte verängstigt, und Mama Kitu hob besorgt den Kopf. Angel blickte von den Hyänen zu den Kamelen und überlegte, ob sie besser aus dem Schutz der Felsen zu ihnen laufen sollte. Mama Kitu würde sie bestimmt in die Flucht schlagen.
Sie vergeudete kostbare Momente mit der Überlegung, ob sie es noch rechtzeitig schaffen könnte, weil sie nicht auf offenem Gelände den Hyänen entgegentreten wollte. Und dann waren die Hyänen am Grab, knurrten und husteten, als sie an den Steinen schnüffelten. Entsetzt beobachtete Angel sie. Das größte Tier musste bei einem Kampf verletzt worden sein, aus einer Wunde im Hals baumelte etwas Rosafarbenes. Langsam wandte es ihr seinen räudigen Kopf zu. Erneut lachte die Hyäne, ein unheimlicher Laut. Angel packte Lauras Tasche und schwang sie in Richtung des Kopfes der Hyäne. Es klatschte dumpf, als das feste Leder auf den behaarten Schädel traf. Die Hyäne zuckte zurück, kam aber mit gefletschten Zähnen sofort wieder auf sie zu. Immer dichter rückten die Hyänen an Angel heran. Ihr modriger Geruch hüllte Angel ein, die stumm vor Angst war. Immer wieder schwang sie die Tasche. Die Tiere heulten wütend auf, wichen aber nur wenige Schritte zurück, bevor sie sich erneut näherten. Schließlich stieß Angel einen Schrei aus. »Mama! Mama!« Sie wusste zwar, dass niemand da war, der ihr helfen konnte, aber die Worte kamen ihr ganz automatisch über die Lippen. »Mama. Mama ...«, schluchzte sie. »Bitte, hilf mir.« Schwach hörte sie, wie die Kamele vor Panik laut brüllten. Die Luft war von Lärm erfüllt. Das Atmen und Schnüffeln der Hyänen, das aufgeregte Krächzen der Geier, die die Szene beobachteten. Und ein hoher, dünner Schrei - wie von einem Neugeborenen - , der anscheinend aus ihrem Mund kam. Und dann auf einmal war noch ein weiterer Laut zu hören. Ein lautes, tiefes Grollen. Es rollte über das Land und übertönte alles. Die Hyänen spitzten die Ohren und drehten die Köpfe mit den stumpfen Schnauzen zur Ebene hin. Eine Löwin kam herangetrottet. Sie bewegte sich mit langen Schritten. Ihr Fell schimmerte in der Nachmittagssonne. Als sie den flachen Stein erreichte, wo Laura und Angel ihr Frühstück gegessen hatten, blieb sie stehen. Sie warf den Kopf zurück und brüllte wieder, wobei sie ihre großen Zähne und eine lange, rosafarbene Zunge zeigte. Angel starrte sie an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Hyänen zurückwichen. Die große Hyäne blieb am längsten stehen, scharrte auf dem Boden und knurrte. Aber als die Löwin näher kam, senkte auch sie den Kopf und schlich davon. Angel hörte ein knackendes Geräusch bei den Kamelen und erstarrte. Mama Kitu stieg erschrocken, und der Ast, an dem sie festgebunden gewesen war, hing jetzt lose am Führungsseil und schlug ihr gegen die Beine. Angstvoll galoppierte sie den Hügel hinauf, und Matata folgte dicht dahinter. Angel drückte sich gegen den Felsen, als die Löwin auf sie zukam. Sie wusste, dass jetzt nichts mehr sie retten konnte. Sie dachte an die blutigen Kadaver, die der Metzger vor seinem Dorfladen in die Bäume hängte, an das weiße Fett und das rote Fleisch, um das die Fliegen schwirrten. Ihr Herz raste vor Entsetzen, und sie bekam keine Luft mehr. Aber dann durchfuhr sie ein Gedanke. Sie würde hier sterben wie Laura. Sie würde nicht weiterleben müssen. Plötzlich beruhigt, schloss sie die Augen und wartete darauf, dass die Löwin sich auf sie stürzte. Um sie herum war es ganz still. Sie lauschte auf das Geräusch der Tatzen des Tieres, hörte aber nichts außer dem üblichen Gezwitscher der Vögel und dem Summen der Insekten. Langsam begann sie, sich zu fragen, ob ihr die Löwin wohl nichts tun würde. Aber dann drang ein dumpfer Moschusgeruch in ihre Nase. Sekunden später streifte warmer Atem ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen. Die Löwin stand direkt vor ihr. Das hellbraune Kinn und das Maul waren mit frischem Blut beschmiert. Wie betäubt vor Angst sah Angel, wie sich der Kiefer öffnete. Sie sah schwarzes Zahnfleisch, scharfe Zähne, eine rosa Zunge. Ein leises Grollen drang aus der Kehle der Löwin. Aber statt sich zu einem Brüllen zu steigern, wurde es zu einem leisen hohen Ruf, der wie der Ton eines Liedes in der Luft hing. Angel öffnete überrascht den Mund. Sie hob den Kopf und blickte die Löwin an. Einen Moment lang schaute sie wie gebannt in die goldenen Augen des Tieres. Aber dann hörte sie auf einmal aus den Tiefen ihrer Erinnerung Zuris Stimme im Kopf. »Blick nie einem wilden Tier direkt in die Augen, wenn du keinen Kampf anfangen willst.« Sie senkte den Kopf und wandte ihn ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Löwin erneut das Maul aufriss. Und dann spürte sie, wie die lange Zunge über ihre Wange leckte. Und wieder ertönte der melodische Ruf - dieses Mal sogar noch leiser, fast wie ein Murmeln. Angespannt stand Angel da, als sie plötzlich eine Bewegung hinter der Löwin wahrnahm. Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah ein geflecktes Jungtier. Es blickte sie aus runden, gelben Augen an, die Lider sauber mit Schwarz umrandet. Ein zweites Jungtier tauchte auf; dann ein drittes. Die Löwin ignorierte sie. Sie trat einen Schritt zurück und schien auf Angels Reaktion zu warten. Als Angel sich nicht rührte, senkte die Löwin den goldbraunen Kopf und stupste sie an. Als das immer noch keine Wirkung zeigte, stieß sie Angel erneut an.
Angel ging um den Felsen herum, und die Löwin folgte ihr. Ängstlich und verwirrt stolperte das Kind vorwärts. Die Löwin folgte ihm den Hügel hinauf, vorbei an dem Baum, an dem Mama Kitu festgebunden gewesen war. Die drei Jungen sprangen um Angels Füße und berührten mit ihren feuchten Nasen ihre Zehen. Als sie oben auf dem Hügel angekommen waren, trat die Löwin neben Angel. Jetzt gingen sie nebeneinanderher. Angel hob den Kopf und achtete auf den Weg. Instinktiv spürte sie, dass sie jetzt nicht stolpern durfte. Sie durfte nicht hinfallen wie jemand, der schwach und nutzlos war. Sie musste tapfer und stark wirken. Sie schwang ihre Arme und zwang ihre zitternden Beine zu einem stetigen, sicheren Gang. Hinter ihr schien die Sonne des Spätnachmittags und warf den Schatten ihres schlanken Körpers auf den Boden. Die Schatten der Löwenjungen spielten um ihre Füße herum, und neben ihr trottete die Schattenlöwin, stark und furchtlos, über das Land.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Knaur Taschenbuch
Angel ruckte kurz am Strick des Kamels, um sich zu vergewissern, dass der Knoten um den Baumstamm noch fest war. Das Kamel senkte den Kopf und fuhr mit den Lippen sanft über das Ohr des Mädchens. Angel lächelte und klopfte dem Tier auf den Hals. Sie schaute zu der Stelle im Schatten, wo sie die Milchschale hingestellt hatte. Der Anblick der süßen, schaumigen Milch - so weiß vor dem dunklen Holzrand - erinnerte sie daran, wie hungrig sie war. Rasch band sie das Kamelkalb los, das in der Nähe an seinem Strick zerrte. Kaum hatte sie es befreit, rannte es zu seiner Mutter und stupste ungeduldig an ihr Euter. Die Kamelstute nahm keine Notiz von ihm. Auch das Gewicht der Taschen und Decken auf ihrem Packsattel schien sie nicht zu stören. Sie interessierte sich nur für die zarten Blätter an den Spitzen der Dornenakazien. Sie schloss ihre dicken Lippen darum, riss sie ab und zermalmte sie im Maul. »Du bist ganz schön gierig, Mama Kitu«, sagte Angel und lächelte das Kalb an, das grunzend trank. »Und du auch, Matata.« Sie wandte sich von den Kamelen ab und ergriff die Milch- schale. Mit beiden Händen hielt sie sie fest, während sie den leichten Abhang zu einer Felsgruppe hinunterlief. Trotz ihrer nackten Füße bewegte sie sich leichtfüßig über die scharfen Steine. An den Felsen blieb sie stehen und blickte auf die trockene Savanne. Es war früh, und die Sonne stand noch tief am Horizont. Die ersten Strahlen, die durch die staubige Luft drangen, legten Farbe über das Land. Der Boden schimmerte gelb, und ein goldener Glanz lag auf den Felsen, deren Spitzen rosa leuchteten. Die Schatten dazwischen waren tiefbraun und blassviolett. Angel hob den Blick zum fernen Horizont und schaute auf den Pyramiden-Berg, der sich über der Ebene erhob. Blauer Dunst umgab die Hänge, und die weiße Lava auf dem Gipfel sah aus wie Schnee. Er markierte die Richtung, in die sie zogen. Angel wusste, dass er jeden Tag genau zwischen Mama Kitus Ohren vor ihnen lag. Ol Doinyo Lengai, der Gottesberg der Massai. Angel ging um die letzten Felsen herum und trat zu ihrer Mutter, die im Schneidersitz neben einem großen flachen Stein auf dem Boden saß. Der Stein sah aus wie ein Tisch, fast so, als sei er hier aufgestellt worden, damit Reisende Rast machen und die Aussicht bewundern konnten. Laura trug eine einfache Baumwolltunika und eine Hose wie Angel, aber sie hatte sich außerdem noch einen gemusterten Schal um den Kopf geschlungen. Gerade beugte sie sich vor, um Fliegen von den Fladenbroten und den Datteln zu verscheuchen, die sie auf den Stein gelegt hatte. Angel hielt ihr die Schale mit Milch hin. »Danke.« Laura hob die Schale an ihren Mund und trank. Als sie sie wieder sinken ließ, waren ihre Lippen von weißem Milchschaum eingerahmt. »Kein Schmutz«, sagte sie anerkennend. »Ich habe aufgepasst, dass kein Sand hineinkommt.«
»Das hast du gut gemacht.« »Ich bin ja auch kein kleines Kind mehr«, erklärte Angel. »Und sieh mal ...« Sie grinste breit und wackelte mit der Zunge an einem losen Vorderzahn. Laura beugte sich vor und betrachtete ihn eingehend. »Ich muss ihn dir herausziehen.« »Nein.« Angel schüttelte den Kopf. »Aber nachher verschluckst du ihn noch«, warnte Laura. »Und dann kann die Zahnfee nicht kommen.« Angel blickte sie verwirrt an. »Was ist denn eine Zahnfee?« Laura ergriff eines der Fladenbrote und reichte es Angel, zusammen mit der Milchschale. »In England erzählen die Eltern ihren Kindern, dass die Zahnfee ihn mitnimmt, wenn sie nachts einen Zahn unter ihr Kopfkissen legen, und stattdessen Geld zurücklässt.« »Hast du das auch gemacht?«, fragte Angel. »Und ist sie gekommen?« »Manchmal«, erwiderte Laura. »Allerdings nicht jedes Mal.« Während sie sprach, nahm sie ihren Schal ab. Es war ein Stück Kitenge, das früher einmal leuchtend bunt gewesen war, jetzt aber ausgeblichen und am Rand ausgefranst und zerrissen war. Ihre langen Haare - ebenso strohblond wie die ihrer Tochter - fielen ihr bis über die Schultern. Die Strähnen waren verfilzt und staubig. Sie fuhr mit den Fingern durch, band das Tuch wieder darum und steckte ein paar lose Strähnen unter den Stoff. Dann blickte sie Angel an. »Was ist los?« Das Kind runzelte die Stirn. »Wir haben kein Kopfkissen.« »Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen - ich glaube, es gibt hier auch keine Zahnfeen.« Angel kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Doch, das glaube ich schon.«
Laura lächelte. »Jetzt iss. Wir halten eine ganze Weile nicht mehr an.« Sie stand auf und zeigte zum Berg. »Die Manyata liegt genau am Rand der Ebene. Bis zum Einbruch der Nacht müssen wir dort sein.« »Vielleicht haben sie eine Ziege geschlachtet«, sagte Angel, die auf einem Stück Brot kaute. Krumen fielen ihr aus dem Mund. »Und vielleicht gibt es Eintopf mit Fleisch.« »Nein, sie erwarten uns ja nicht«, erwiderte Laura. Angel blickte ihre Mutter beunruhigt an. »Vielleicht lassen sie uns gar nicht hinein.« »Doch. Der Häuptling ist der Bruder von Walaita. Wenn wir ihm sagen, wer wir sind, und ihm die Geschenke zeigen, die wir auf ihren Rat hin mitgenommen haben, wird er uns willkommen heißen.« Angel stand ebenfalls auf. Sie folgte Lauras Blick in die Ferne. »Erzähl es mir noch einmal«, sagte sie. »Erzähl mir noch einmal, was wir tun werden.« Laura legte Angel die Hand auf den Kopf. »Wir bringen Mama Kitu und Matata sicher im Boma mit den anderen Herden des Stammes unter. Dann schlagen wir unser Zelt vor dem Haus des Häuptlings auf.« »Aber wir bleiben nicht da.« »Nein. Morgen lassen wir unsere Kamele in der Manyata - und dann gehen wir zum Wasserfall. Dort warten wir, bis uns jemand zur Hauptstraße mitnimmt.« »Wer nimmt uns denn mit?« Angel tanzte vor Aufregung, als sie auf Lauras Antwort wartete. »Wazungu. Safari-Leute. Frauen mit Sonnenbrillen und rosa Lippenstift. Männer mit großen Kameras.« Angel kicherte. »Und was haben sie sonst noch?«
»Daran kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern.« »Und was machen wir an der Hauptstraße?« »Wir fahren mit dem Bus in die Stadt«, sagte Laura. »Die Stadt«, hauchte Angel. »Wir fahren in die Stadt ...« »Aber wenn wir nicht endlich aufbrechen, fahren wir nirgendwohin. « Laura sammelte die Reste des Essens ein und bedeutete Angel, ihr die Milchschale zu bringen. Dann eilte sie zu den Kamelen. Angel folgte ihr. Sie schwenkte die Schale an der Sisalschnur, die durch ein Loch im Rand gezogen war. Sie war erst ein paar Schritte gegangen, als sie einen überraschten Aufschrei hörte. Laura war stehen geblieben und starrte auf ein paar Büsche vor sich. Ihre starre Haltung jagte Angel einen Schrecken ein. Sie drückte die Schale an die Brust und rannte auf sie zu. »Pass auf«, rief Laura ihr zu. »Da war eine Schlange - ich bin allerdings ziemlich sicher, dass sie jetzt weg ist.« Sie war ganz blass. »Ich habe etwas gespürt. Ich glaube, ich bin gebissen worden.« Sie zog das Hosenbein ein wenig hoch. An ihrer linken Wade waren zwei winzige rote Punkte zu erkennen. Angel starrte ihre Mutter an. Laura hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich habe sie kaum gesehen«, sagte Laura. Ihre Stimme zitterte. »Sie war so schnell. Und dann war sie auch schon wieder weg ...« »Du musst dich hinlegen«, sagte Angel. »Wenn man von einer Schlange gebissen worden ist, kann man nicht herumlaufen. « Laura holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ja, das stimmt.« Langsam, und ohne ihr linkes Bein zu bewegen, ließ sie sich zu Boden sinken. Dann nahm sie ihren Schal ab und versuchte, den Knoten zu lösen, aber es gelang ihr nicht. Angel nahm ihr den Schal aus den zitternden Fingern und knotete ihn auf. Dann gab sie ihn ihr zurück. Laura begann, das Stück Stoff fest um ihr Bein zu wickeln, vom Knie an abwärts zu den Bisswunden. Danach betrachteten Laura und Angel den Biss erneut. Die Haut darum herum schwoll bereits leicht an. »Tut es weh, Mama?« »Nicht sehr«, antwortete Laura. »Eigentlich gar nicht.« Sie stieß erneut die Luft aus. »Vielleicht war es ja keine gefährliche Schlange. Ich weiß nicht, was es hier für Schlangen gibt.« Sie blickte auf ihr Bein. »Vielleicht war es ja auch ein trockener Biss. Manchmal hat eine Schlange ihr Gift schon verbraucht, bevor sie beißt. Manchmal haben sie auch keine Gelegenheit, es richtig zu injizieren. Es ist ja sehr schnell gegangen.« Sie lächelte Angel beruhigend zu. »Ich glaube, wir brechen am besten gleich auf. Ich kann ja mein Bein auf den Sattel legen und es still halten.« Angel nickte. »Wir sollten zusehen, dass wir zu der Manyata kommen.« »Ja«, sagte Laura. »Wir sollten uns beeilen.« Angel rannte den Abhang hinunter zu den Kamelen. Sie war froh, dass sie hier nur kurz Rast gemacht hatten. Wenn sie jetzt alles hätte einpacken und aufladen müssen, hätte es viel zu lange gedauert, bis sie aufbrechen konnten. So jedoch hatte sie innerhalb weniger Minuten Mama Kitu losgebunden und zu Laura geführt. Das rhythmische Geräusch der Kamelhufe tröstete Angel. Mama Kitu war ein gutes Kamel - man konnte ihr vertrauen. Selbst wenn sie brünstig war, trat oder biss sie ihre Besitzer nie. Man brauchte sie beim Grasen nicht anzupflocken, und sie ließ sich immer leicht einfangen. Und als sie jetzt Laura erreichten, die flach auf dem steinigen Boden lag, gehorchte Mama Kitu sofort auf Angels Signal zum Hinknien. Matata spürte die Spannung, die in der Luft lag, und lief ruhelos um seine Mutter herum. Angel, die Angst hatte, er würde auf Laura treten, versuchte, ihn wegzuscheuchen. »Geh weg«, rief sie und wedelte mit den Armen. Er hörte nicht auf sie. »Geh weg! Weg da!«, schrie sie wieder. Ihre Stimme hallte laut in der Stille. Vor Panik begann sie, schneller zu atmen. »Es ist schon in Ordnung, Angel. Es ist gut. Du musst jetzt ruhig bleiben. Du musst mir helfen.« Diesen Tonfall kannte Angel bei ihrer Mutter. So redete sie immer, wenn sie arbeitete. Ihre Stimme klang dann so fest, dass man sich unwillkürlich stärker fühlte. Angel nickte und zwang sich, tapfer zu sein. Laura rutschte in eine sitzende Position auf den gefalteten Decken, die den Sattel auspolsterten. Angel kletterte vor sie und hielt das Seil, das an Mama Kitus Halfter befestigt war. Laura hielt sich an Angel fest, als das Kamel sich grunzend erhob. Dann lehnte sie sich an eine der Taschen, wobei sie das Bein ausgestreckt über den Holzrahmen legte. Um ihr Platz zu machen, musste Angel ein Bein ein wenig hochziehen, aber sie konnte trotzdem das Gleichgewicht halten. Als sie den Abhang hinunterritten, keuchte Laura vor Schmerzen. Angel warf ihr über die Schulter einen Blick zu. Laura lächelte mühsam. »Wenn wir in der Ebene sind, wird es leichter.«
Mama Kitu trottete den Hügel hinunter. Die sandige Ebene war flach, aber trotzdem lagen überall Felsen und umgestürzte Bäume. Angel starrte zum Rand der Savanne. Jeder Schritt führte sie näher zur Manyata. Sie stellte sich vor, wie sie im Dorf ankamen. Dort waren bestimmt Leute, die ihnen helfen konnten - aber was würden sie tun? Es hing alles davon ab, wie gefährlich die Schlange gewesen war und wie viel Gift ins Blut gelangte, das wusste Angel. Sie dachte an den Hirten aus dem Dorf am Fluss, der von einer Viper gebissen worden war. Tagelang hatte er in seiner Hütte gelegen und vor Schmerzen gestöhnt. Letztendlich hatte er überlebt, aber viele Leute waren auch schon an einem Schlangenbiss gestorben. Jeder wusste das. Deshalb töteten die Leute die Schlangen, die ihren Häusern zu nahe kamen. Ärger stieg in Angel auf. Warum war Laura nicht vorsichtiger gewesen? Seit sie denken konnte, ermahnte ihre Mutter sie ständig, ihr Moskitonetz richtig festzustecken, nicht im Wasser zu planschen, wenn sie nicht sehen konnte, dass es floss, und darauf zu achten, wo sie ihre Füße hinsetzte, vor allem, wenn sie keine Sandalen trug. »Was willst du in der Stadt tun?« Lauras Stimme durchbrach ihre Gedanken. Angel schluckte, den Blick fest auf die fernen Berge gerichtet. »Ich weiß nicht.« »Ach komm«, sagte Laura, »denk dir etwas aus.« Ihre Stimme klang jetzt normal, und Angel begann sich zu entspannen. »Ich möchte ... einen Kreisverkehr sehen. Einen mit Blumen in der Mitte und einer Statue.« Laura lachte leise. »Und was sonst noch?« »Ich möchte mir bei einem Mann mit einem Karren ein aiskrimu kaufen.«
»Ich auch, ich möchte ein Eis und ... ein neues Kleid.« Angel lächelte, weil sie das Einkaufsspiel erkannte. »Ich möchte ein Eis kaufen, ein neues Kleid ... und eine Schuluniform. « »Aber du gehst doch gar nicht zur Schule«, protestierte Laura. »Ich unterrichte dich doch.« Ihre Stimme klang zwar dünn, war aber gut zu verstehen. »Ich möchte trotzdem eine. Dann würde ich so aussehen wie die anderen Kinder«, erklärte Angel. »Auf jeden Fall habe ich es mir ausgesucht.« Sie wartete darauf, dass Laura weitermachte. In der Stille erschienen kleine Geräusche groß - das Quietschen von Leder, das gegen Leder rieb, die Wasser-Kalebassen, die aneinanderschlugen, das Zwitschern der Webervögel. Angel warf einen Blick über die Schulter. Erschrocken sah sie, dass Laura nach Luft rang. Sie war weiter nach hinten gegen die Taschen gesunken und begann, seitlich herunterzurutschen. Sofort zerrte Angel am Halfterseil und schrie Mama Kitu an, sie solle sich hinlegen. Während das Kamel auf die Knie ging, versuchte sie, Laura festzuhalten, aber der Körper ihrer Mutter war schlaff und schwer, und sie sank auf den Boden, kaum dass das Tier sich hingelegt hatte. Dort blieb sie einfach liegen und rang nach Luft. Auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe sammelten sich Schweißperlen. Angel war wie erstarrt vor Angst. »Sie hat dich doch gebissen! Sie hat dich vergiftet!« Laura leckte sich über die Lippen. »Angel. Hör zu. Du musst mich hier liegen lassen und zu der Manyata gehen. Der Heiler dort hat den schwarzen Stein. Sie schicken bestimmt jemanden zu mir, der mir helfen kann.«
»Ich will aber nicht«, sagte Angel. Sie wusste, dass sie sich wie ein Kleinkind anhörte - als ob sie immer noch getragen werden müsste. »Du musst tun, was ich dir sage«, sagte Laura sanft. »Aber zuerst einmal gib mir meine Tasche.« Angel band einen verschlissenen Lederbeutel von Mama Kitus Sattel los und trug ihn zu ihrer Mutter. Als sie sich neben sie hockte und die Riemen über der Lederklappe aufschnallte, stieg leise Hoffnung in ihr auf. So oft schon hatte Laura in diese Tasche gegriffen und irgendetwas hervorgezogen, womit sie ein Problem lösen könnte. Vielleicht hatte sie ja Medizin dabei, die ihr half. Angels Hand verharrte über einem großen Plastikbeutel mit weißen Tabletten. »Was willst du?« »Nimm meine Geldbörse. Ich will meinen Pass.« Forschend blickte Angel ihre Mutter an. Ob sie wohl im Fieberwahn redete? »Bitte«, murmelte Laura. Ganz unten in der Tasche lag die Geldbörse. Sie ertastete die harten Kanten des Passes und zog ihn heraus. Laura stöhnte. Sie blinzelte Angel aus halb geschlossenen Augen an, als ob sie sie nicht mehr richtig sehen könne. »Steck ihn in die Tasche. Verlier ihn nicht. Du musst den Häuptling bitten, dich zum Wildhüter im Nationalpark zu bringen. Zeig ihm den Pass und sag ihm, ich bin deine Mutter. Dann wissen die Leute, wer du bist.« Laura schloss die Augen. Angel betrachtete sie eine Zeitlang und verscheuchte die Fliegen, die sich auf ihre Haut setzten. Sie atmete jetzt leichter - aber sie sah immer noch müde und blass aus. Vielleicht musste sie sich einfach nur ein bisschen ausruhen, dachte Angel. Danach würde es ihr bestimmt bessergehen, und sie konnten ihren Weg fortsetzen. Angel blickte auf den Pass in ihrem Schoß. Sie verstand nicht, warum Laura unbedingt wollte, dass sie ihn in ihrer Tasche aufbewahrte. Auch nicht, warum Angel ihn dem Wildhüter zeigen sollte. Er war bestimmt ein wichtiger Mann, so wie alle Regierungsbeamten - aber warum sollte er an dem Pass Interesse haben? Verwirrt runzelte sie die Stirn. Und dann fiel ihr ein, was Laura noch gesagt hatte.
Dann werden die Leute wissen, wer du bist.
Angel starrte die bewegungslose Gestalt auf dem Boden an. Erst jetzt wurde ihr die wahre Bedeutung dieser Worte klar. Laura hatte keine Hoffnung, gerettet zu werden. Sie wollte, dass Angel zur Manyata ritt - und sie rechnete nicht damit, ihre Tochter wiederzusehen. Angels Mund wurde ganz trocken. Und noch etwas fiel ihr ein - etwas, das Laura eines Tages mal zu ein paar Freunden aus dem Feigenbaum-Dorf gesagt hatte. Angel stieß Lauras Schulter an, dann schüttelte sie sie. Laura öffnete die Augen und blickte sie an. »Der schwarze Stein wirkt nicht«, erklärte Angel. »Du glaubst nicht daran.« Tränen traten Laura in die Augen. »Nein.« »Wirst du sterben?«, fragte Angel leise. Laura schluchzte auf, aber sie antwortete ihr nicht. Angel saß einfach da und blickte Laura in die Augen. Das war die einzige Realität in diesem Moment. Wenn sie sich nicht bewegte, dachte Angel, würde es ewig so weitergehen. Aber dann verzerrte sich Lauras Gesicht vor Schmerz. Angel wünschte sich, sie könne etwas tun, um ihr zu helfen. Sie ergriff den Saum ihrer Tunika und wischte Laura damit den kalten Schweiß von der Stirn. Dann tupfte sie ihr die Schweißperlen von der Oberlippe ab. Die kleinen Gesten beruhigten sie. Und während sie so sachte wie ein Schmetterling auf einer Blüte mit dem Stoff über Lauras Gesicht fuhr, dachte sie daran, wie Laura Walaita gepflegt hatte, die Schwester des Häuptlings. Erst vor ein paar Wochen hatte Angel mit ihrer Mutter am Bett der Frau in ihrer dämmerigen, rauchigen Hütte gesessen. Alle wussten, dass sie bald sterben würde. Der Krebs hatte sich überall in ihrem Körper ausgebreitet. »Das kann ich dir versprechen«, hatte Laura gesagt und Walaitas Hand gehalten. »Ich werde bei dir sein bis zum Ende.« Selbst im schwachen Licht der Hütte hatte Angel die Erleichterung im Gesicht der Kranken gesehen. Angel ergriff Lauras Hand und hielt sie sanft fest. »Hab keine Angst, Mama«, sagte sie. »Ich werde bei dir sein bis zum Ende. Es wird immer eine Lampe für dich brennen. Die Nacht wird nie ganz dunkel sein.« Laura lächelte. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln über die Schläfen in die wirren Haare. »Ich liebe dich, meine Angel. Du bist so ... tapfer. Aber du kannst nicht hierbleiben. Du musst aufbrechen.« Ihre Worte kamen stoßweise, unterbrochen von keuchenden Atemzügen. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, das weißt du doch. Ich habe Angst um dich. Dass du hier draußen allein zurückbleibst. Du musst Mama Kitu und Matata nehmen ...« »Nein!«, unterbrach Angel sie. »Ich gehe nicht weg.« Laura schüttelte hilflos den Kopf. »Bitte, sei nicht so stur. Nicht jetzt ...« In diesem Moment kam Matata angelaufen. Er umkreiste Mama Kitu und versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen, damit er trinken konnte. Dabei stupste er auch Laura an. Angel schob seinen Kopf weg. Sie würde die beiden Kamele wegbringen müssen, damit Laura nicht gestört würde. Sie nahm die Wasserkalebasse vom Sattel, ließ Mama Kitu aufstehen und führte sie zu einer Akazie. Matata folgte ihr wie immer. Sie band das Leitseil an einen der Äste und ging wieder zu Laura zurück. Sie beugte sich über sie und tropfte ihr Wasser auf die Lippen. Laura schluckte ein wenig davon. »Gut.« Angel nickte. Kranke mussten trinken. Es war immer wichtig, genügend Wasser zu haben. Die Sonne stand jetzt höher am Himmel, und es wurde immer heißer. In der Nähe wuchsen zwar einige Akazien, aber sie würde es bestimmt nicht schaffen, Laura in ihren Schatten zu schleppen. Aber nicht weit von Lauras Kopf entfernt gab es einen großen Felsen, der in etwa so hoch war wie Angel groß. Angel zog einen Kitenge aus der Ledertasche, der, auf einem elfenbeinfarbenen Untergrund, mit rosa und braunen Vögeln bedruckt war. Laura bedeckte damit immer ihren Kopf, wenn sie in ein muslimisches Dorf kamen. Ein Ende legte sie auf den Felsen und beschwerte es mit Steinen. Den Rest des Stoffes drapierte sie über Lauras Körper. Das Tuch ähnelte einem schlecht aufgehängten Moskitonetz und bot keinen Schutz für Lauras Beine und Füße. Aber zumindest waren ihr Gesicht und ihr Körper jetzt vor der Sonne geschützt. Angel trat einen Schritt zurück und betrachtete den Sonnenschutz voller Stolz. Laura sagte oft zu ihr, wie nützlich und geschickt sie war. Sie sagte, es läge daran, dass Angel Laura so oft bei ihrer Arbeit half. Außerdem war Angel in Dörfern groß geworden, wo schon die kleinen Kinder sich um die Herden kümmerten, statt in die Schule zu gehen, und wenn ihre Eltern krank oder tot waren, mussten sie sich auch um die Babys und Kleinkinder kümmern. »Du bist wie ein afrikanisches Kind«, hatte Laura zu ihrer Tochter gesagt. Angel gefiel die Vorstellung, und sie strengte sich noch mehr an, um stark und vernünftig zu sein. Bevor sie sich ebenfalls unter das Sonnendach hockte, zog Angel Lauras Hosenbein hoch. Das Knie war jetzt geschwollen und rot, und die straff gespannte Haut wölbte sich unter dem Rand des Schals hervor. Angel biss sich auf die Lippe. Ob sie den Schal wohl abnehmen konnte? Es sah so unbequem aus. Aber Laura hatte die Bandage so sorgfältig angelegt, dass sie sie wohl besser nicht anfasste. Angel hockte sich neben Lauras Kopf. Licht drang durch den Stoff und warf einen rosigen Schein auf das Gesicht ihrer Mutter. Sie sah beinahe gesund aus, wenn man von dem grauen Speichel absah, der sich an ihrem Mundwinkel bildete. Angel wischte ihn weg, aber er kam immer wieder. Die Zeit dehnte sich. In einem Moment verging sie ganz langsam, und dann wieder unglaublich schnell. Es kam Angel so vor, als sei es noch nicht lange her, dass Laura und sie in Richtung der Manyata geritten waren und darüber geredet hatten, was sie sich in der Stadt kaufen wollten. Aber dann stellte Angel fest, dass der gelegentliche Schluck Wasser - einer für sie und einer in Lauras Mund getröpfelt - die Kalebasse schon beinahe geleert hatte. Bald würde sie eine neue Flasche von Mama Kitus Sattel holen müssen. Sie blickte über das heiße, trockene Land. Das pastellfarbene Morgenlicht war einer gleißenden Helle gewichen. Sand und Felsen hatten wieder ihre natürliche Farbe angenommen - verschiedene Grauschattierungen. Selbst das Grün der Bäume und Büsche lag unter einer grauen Staubschicht. Die einzigen Farbflecke waren die hellrosa Wüstenrosen, die aus seltsam aussehenden Büschen ohne Blätter sprossen. Angel starrte ausdruckslos über das aschgraue Land, als Laura sich plötzlich regte. Das Mädchen fuhr herum und blickte forschend in das Gesicht der Kranken. Laura runzelte die Stirn. Ihre Lippen bewegten sich. Sie sah aus wie jemand, der verzweifelt versucht, aus den Tiefen eines schlammigen Teichs an die Oberfläche - zum Licht - zu schwimmen. »Angel?« Ihre Stimme klang drängend. Angel beugte sich vor. »Ich bin hier, Mama.« Sie wartete darauf, dass Laura noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. Sie begann, Laura über die Haare zu streichen, so wie Laura es oft bei ihr getan hatte, wenn sie krank gewesen war und Fieber gehabt hatte. Zu den Bewegungen ihrer Hand gehörte ein Lied, und als Angel Text und Melodie wieder einfielen, begann sie, leise zu singen. Lala Salama, Mtoto. Schlaf jetzt, mein Kleines. Wenn du wieder aufwachst, werden wir weitersehen. Es hatte viele Strophen - jede beschrieb die Tiere, die Vögel und die Leute, die zum Leben eines Babys gehörten. Angel sang alle Strophen und fing dann wieder von vorn an. Auch als Lauras Atem nur noch stoßweise kam und rauh wurde, sang sie einfach weiter. Tränen liefen Angel übers Gesicht. Sie schmeckte das Salz auf den Lippen. Bald schon schluchzte und sang sie zugleich, aber sie hörte nicht auf. Wenn sie weitersang, sagte sie sich, würde Laura auch weiteratmen. Doch trotz des Singens hörte sie, wie Lauras Atem immer flacher wurde. Schließlich wurde ihr Keuchen zu einem Wispern. Und dann nur noch ein ganz schwacher Seufzer.
Angel erstarrte. Ihre Finger lagen auf Lauras Haaren, die verschwitzt und von grobem Sand bedeckt waren. Sie hielt den Atem an und wartete. Aber sie hörte nur das Rascheln des Windes in den Büschen und den fernen Schrei eines Raben. Langsam senkte sie den Kopf und drückte ihre Wange auf die Brust ihrer Mutter. Sie schloss die Augen und lauschte auf den Herzschlag. Aber da war nur Stille. Nichts.
Ein Windstoß riss an dem Sonnenschutz, und das Ende des Kitenge flatterte unter den Steinen hervor, die den Stoff auf dem Felsen hielten. Angel packte ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er davonflog. Sie legte sich den Stoff um die Schultern und schnupperte an dem schwachen Duft, den er verströmte. Weihrauch - Lauras Lieblingsduft. Ihr war klar, dass sie eigentlich mit Mama Kitu und Matata sofort zur Manyata aufbrechen musste, solange noch genügend Tageslicht vorhanden war. Aber sie wollte nicht. Wieder hatte sie das Gefühl, dass die Zeit stillstehen und das Leben so weitergehen würde wie bisher, wenn sie sich nicht bewegen würde. Sie griff in die Tasche ihrer Tunika und holte den Pass heraus. Sie wusste, was in dem kleinen Buch war - ab und zu hatte sie es sich anschauen dürfen. Für gewöhnlich schlug sie sofort die Seite mit dem kleinen Foto von Laura auf - sie fand es interessant, wie anders sie aussah, mit ordentlichen, kurzgeschnittenen Haaren, mit Lippenstift und einer Kette wie die der Safari-Frauen. Jetzt jedoch beachtete Angel das Bild kaum, auch nicht die Sammlung hübscher bunter Stempel. Sie blätterte zur letzten Seite des Passes und las, was Laura dort mit der Hand hingeschrieben hatte.
James Kelly, 26 Brading Ave, Southsea, Hampshire, England.
James war Lauras Bruder, das wusste Angel. Er war nie in Afrika gewesen, deshalb kannte Angel ihn nicht. Er hatte ihr allerdings einmal ein Geschenk geschickt - eine wunderschöne Puppe, die jedoch so zerbrechlich war, dass niemand damit spielen konnte. Eines Tages hatte Laura plötzlich von ihm erzählt. Angel war damals noch kleiner gewesen, aber sie konnte sich noch gut an das Gespräch erinnern. Sie hatten auf dem Boden der Veranda bei den Barmherzigen Schwestern gesessen und auf Lebensmittel gewartet. »Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder«, sagte Laura. »Er wohnt in einem wunderschönen Haus am Meer.« Sie machte so ein ernstes Gesicht, dass Angel begann, sich unwohl zu fühlen. »Warum erzählst du von ihm?«, fragte sie. »Wenn mir je etwas zustoßen sollte, wird sich James um dich kümmern. Ich habe ihn gebeten, mir das zu versprechen - weil du weder einen baba noch eine Bibi hast; keinen Vater und keine Großmutter.« Angel saß ganz still da; schmerzliche Gedanken und Bilder erfüllten ihren Kopf. »Wenn dir etwas zustößt«, sagte sie schließlich, »dann kümmere ich mich selbst um mich. Wie Zuri.« »Für weiße Kinder ist es nicht dasselbe«, sagte Laura. Ihre Stimme war sanft, aber fest. Sie öffnete den Mund, um mehr zu sagen, aber Angel stand auf und drehte ihr den Rücken zu. Ihr war übel, und sie hatte Angst - aber sie war auch wütend. Laura sollte nicht so reden; sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihrer Mutter etwas Schlimmes passieren würde, und sie wollte auch nicht wissen, was dann aus ihr würde. Sie ging ein paar Schritte weg, als ihr plötzlich ein Sprichwort einfiel, das sie im Dorf gelernt hatte. Sie drehte sich um und sagte es Laura. »Unglück hat scharfe Ohren. Wenn du seinen Namen rufst, kommt es.« Laura hatte das Thema nie wieder erwähnt. Angel umklammerte den Pass mit beiden Händen und blickte auf Lauras Schrift - vor allem auf das letzte Wort, das mit dicker schwarzer Tinte geschrieben war. England. Laura hatte ihr Geschichten über England erzählt. Dort hatten alle viel Geld, und die Kinder spielten drinnen mit Spielsachen. Die Leute lebten in Städten mit guten Krankenhäusern, aber es gab mehr Fremde als Freunde. Und statt Kamelen gab es Autos ... Angel klappte den Pass zu. Sie legte ihn auf die Handfläche, als wolle sie sein Gewicht beurteilen. Dann schleuderte sie ihn weg. Er flog durch die Luft und landete zwischen zwei Felsen, ein kleiner dunkelroter Fleck auf dem grauen Sand. Angel zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Sie ließ die Stirn auf ihre knochigen Kniescheiben sinken. Sie fühlte sich müde und leer, als ob auch ihr das Leben aus dem Körper gewichen wäre. Sie stellte sich vor, sie würde für immer hier bleiben. Nur sie und Matata und Mama Kitu. Ihre Familie ... Plötzlich hörte sie Flügel rauschen. Ein großer Vogel schüttelte seine Federn. Als Angel den Kopf hob, schwebte gerade ein zweiter Vogel zu Boden. Angel starrte auf die Geier. Es waren hässliche Vögel, mit gekrümmten Schnäbeln und halb geschlossenen Augen. Ihr zerrupftes Federkleid ließ sie immer krank aussehen, als ob die ganze Spezies darunter gelitten hätte, dass sie sich ein Leben lang von Kadavern ernährten. Angel sprang auf und rannte auf sie zu. »Nendeni! Nendeni Mbali! Weg! Haut ab!« Die Vögel breiteten ihre großen Schwingen aus und erhoben sich in die Luft. Kurz darauf jedoch landeten sie wieder, nur ein kleines Stück weiter weg. Angel blickte zu Laura. Sie wusste, dass noch mehr Geier kommen würden. Und letztendlich würde sie sie nicht alle vertreiben können. Angel blickte zu den Kamelen. Wenn es ihr irgendwie gelingen würde, Laura auf Mama Kitu zu manövrieren, dann konnte sie sie mit zur Manyata nehmen. Aber auch davon würden sich die Geier nicht abhalten lassen. Dann würden sie eben auf das Kamel herunterstoßen, und selbst Mama Kitu würde in Panik geraten und davonlaufen. Plötzlich kam ein dritter Geier und setzte sich auf Lauras Brust. Angel rannte hin und schwenkte die Arme. Aber wie die anderen Geier zog auch er sich nur ein bisschen zurück und ließ sich auf dem Felsen nieder. Rasch breitete Angel den Kitenge aus, schlang ein Ende um Lauras Füße und zog das andere zum Kopf. Sie zögerte kurz, bevor sie das Gesicht bedeckte. Mit einer Hand schob sie eine Haarsträhne zurück, die an Lauras Wange klebte. Ihre Tränen fielen auf die blasse Haut. Dann zog sie das Tuch über das Gesicht und strich es glatt. Schließlich erhob sie sich und begann, Steine zu sammeln, um sie über die Leiche zu legen. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, und es lagen viele Steine herum - aber trotzdem war es harte Arbeit. Das rauhe Vulkangestein rieb wie Sandpapier an Angels Haut. Jeden einzelnen Stein untersuchte sie auf Skorpione und Schlangen. Die Geier ließen sie und die Leiche nicht aus den Augen und hockten neben dem behelfsmäßigen Grab. Schließlich war nichts mehr von dem Stoff zu sehen, aber Angel legte noch mehr Steine darauf, damit die Leiche geschützt war. Die Geier kreischten und schlugen mit den Flügeln, als ob sie außer sich vor Wut wären. Angel, die immer noch am Grabhügel hockte, erstarrte. Geier griffen manchmal Menschen an, das wusste sie. Vielleicht nicht gerade einen starken, gesunden Erwachsenen, aber ein kleines Kind, das sich nicht wehren konnte ... Du bist nicht klein, flüsterte eine eigensinnige Stimme in ihrem Kopf. Du bist älter als Zuri, der allein die Rinder hütet. Und du bist auch stärker als er. Im Kampf besiegst du ihn immer.
Angel ergriff einen Stein, stand auf und drehte sich zu den Geiern um. Aber sie blickten sie gar nicht an. Ihre gekrümmten Schnäbel wiesen alle in die gleiche Richtung - rechts von ihr. Sie folgte ihrem Blick, und neue Angst stieg in ihr auf, als sie sah, weshalb sie in Aufruhr gerieten. Fisi. Hyänen. Es war ein ganzes Rudel. Sie waren noch ein Stück entfernt, kamen aber mit ihrem seltsam schwankenden Gang rasch näher. Die Hyäne an der Spitze stieß ein Geheul aus, das wie irres Gelächter klang. Matata blökte verängstigt, und Mama Kitu hob besorgt den Kopf. Angel blickte von den Hyänen zu den Kamelen und überlegte, ob sie besser aus dem Schutz der Felsen zu ihnen laufen sollte. Mama Kitu würde sie bestimmt in die Flucht schlagen.
Sie vergeudete kostbare Momente mit der Überlegung, ob sie es noch rechtzeitig schaffen könnte, weil sie nicht auf offenem Gelände den Hyänen entgegentreten wollte. Und dann waren die Hyänen am Grab, knurrten und husteten, als sie an den Steinen schnüffelten. Entsetzt beobachtete Angel sie. Das größte Tier musste bei einem Kampf verletzt worden sein, aus einer Wunde im Hals baumelte etwas Rosafarbenes. Langsam wandte es ihr seinen räudigen Kopf zu. Erneut lachte die Hyäne, ein unheimlicher Laut. Angel packte Lauras Tasche und schwang sie in Richtung des Kopfes der Hyäne. Es klatschte dumpf, als das feste Leder auf den behaarten Schädel traf. Die Hyäne zuckte zurück, kam aber mit gefletschten Zähnen sofort wieder auf sie zu. Immer dichter rückten die Hyänen an Angel heran. Ihr modriger Geruch hüllte Angel ein, die stumm vor Angst war. Immer wieder schwang sie die Tasche. Die Tiere heulten wütend auf, wichen aber nur wenige Schritte zurück, bevor sie sich erneut näherten. Schließlich stieß Angel einen Schrei aus. »Mama! Mama!« Sie wusste zwar, dass niemand da war, der ihr helfen konnte, aber die Worte kamen ihr ganz automatisch über die Lippen. »Mama. Mama ...«, schluchzte sie. »Bitte, hilf mir.« Schwach hörte sie, wie die Kamele vor Panik laut brüllten. Die Luft war von Lärm erfüllt. Das Atmen und Schnüffeln der Hyänen, das aufgeregte Krächzen der Geier, die die Szene beobachteten. Und ein hoher, dünner Schrei - wie von einem Neugeborenen - , der anscheinend aus ihrem Mund kam. Und dann auf einmal war noch ein weiterer Laut zu hören. Ein lautes, tiefes Grollen. Es rollte über das Land und übertönte alles. Die Hyänen spitzten die Ohren und drehten die Köpfe mit den stumpfen Schnauzen zur Ebene hin. Eine Löwin kam herangetrottet. Sie bewegte sich mit langen Schritten. Ihr Fell schimmerte in der Nachmittagssonne. Als sie den flachen Stein erreichte, wo Laura und Angel ihr Frühstück gegessen hatten, blieb sie stehen. Sie warf den Kopf zurück und brüllte wieder, wobei sie ihre großen Zähne und eine lange, rosafarbene Zunge zeigte. Angel starrte sie an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Hyänen zurückwichen. Die große Hyäne blieb am längsten stehen, scharrte auf dem Boden und knurrte. Aber als die Löwin näher kam, senkte auch sie den Kopf und schlich davon. Angel hörte ein knackendes Geräusch bei den Kamelen und erstarrte. Mama Kitu stieg erschrocken, und der Ast, an dem sie festgebunden gewesen war, hing jetzt lose am Führungsseil und schlug ihr gegen die Beine. Angstvoll galoppierte sie den Hügel hinauf, und Matata folgte dicht dahinter. Angel drückte sich gegen den Felsen, als die Löwin auf sie zukam. Sie wusste, dass jetzt nichts mehr sie retten konnte. Sie dachte an die blutigen Kadaver, die der Metzger vor seinem Dorfladen in die Bäume hängte, an das weiße Fett und das rote Fleisch, um das die Fliegen schwirrten. Ihr Herz raste vor Entsetzen, und sie bekam keine Luft mehr. Aber dann durchfuhr sie ein Gedanke. Sie würde hier sterben wie Laura. Sie würde nicht weiterleben müssen. Plötzlich beruhigt, schloss sie die Augen und wartete darauf, dass die Löwin sich auf sie stürzte. Um sie herum war es ganz still. Sie lauschte auf das Geräusch der Tatzen des Tieres, hörte aber nichts außer dem üblichen Gezwitscher der Vögel und dem Summen der Insekten. Langsam begann sie, sich zu fragen, ob ihr die Löwin wohl nichts tun würde. Aber dann drang ein dumpfer Moschusgeruch in ihre Nase. Sekunden später streifte warmer Atem ihr Gesicht. Sie öffnete die Augen. Die Löwin stand direkt vor ihr. Das hellbraune Kinn und das Maul waren mit frischem Blut beschmiert. Wie betäubt vor Angst sah Angel, wie sich der Kiefer öffnete. Sie sah schwarzes Zahnfleisch, scharfe Zähne, eine rosa Zunge. Ein leises Grollen drang aus der Kehle der Löwin. Aber statt sich zu einem Brüllen zu steigern, wurde es zu einem leisen hohen Ruf, der wie der Ton eines Liedes in der Luft hing. Angel öffnete überrascht den Mund. Sie hob den Kopf und blickte die Löwin an. Einen Moment lang schaute sie wie gebannt in die goldenen Augen des Tieres. Aber dann hörte sie auf einmal aus den Tiefen ihrer Erinnerung Zuris Stimme im Kopf. »Blick nie einem wilden Tier direkt in die Augen, wenn du keinen Kampf anfangen willst.« Sie senkte den Kopf und wandte ihn ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Löwin erneut das Maul aufriss. Und dann spürte sie, wie die lange Zunge über ihre Wange leckte. Und wieder ertönte der melodische Ruf - dieses Mal sogar noch leiser, fast wie ein Murmeln. Angespannt stand Angel da, als sie plötzlich eine Bewegung hinter der Löwin wahrnahm. Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah ein geflecktes Jungtier. Es blickte sie aus runden, gelben Augen an, die Lider sauber mit Schwarz umrandet. Ein zweites Jungtier tauchte auf; dann ein drittes. Die Löwin ignorierte sie. Sie trat einen Schritt zurück und schien auf Angels Reaktion zu warten. Als Angel sich nicht rührte, senkte die Löwin den goldbraunen Kopf und stupste sie an. Als das immer noch keine Wirkung zeigte, stieß sie Angel erneut an.
Angel ging um den Felsen herum, und die Löwin folgte ihr. Ängstlich und verwirrt stolperte das Kind vorwärts. Die Löwin folgte ihm den Hügel hinauf, vorbei an dem Baum, an dem Mama Kitu festgebunden gewesen war. Die drei Jungen sprangen um Angels Füße und berührten mit ihren feuchten Nasen ihre Zehen. Als sie oben auf dem Hügel angekommen waren, trat die Löwin neben Angel. Jetzt gingen sie nebeneinanderher. Angel hob den Kopf und achtete auf den Weg. Instinktiv spürte sie, dass sie jetzt nicht stolpern durfte. Sie durfte nicht hinfallen wie jemand, der schwach und nutzlos war. Sie musste tapfer und stark wirken. Sie schwang ihre Arme und zwang ihre zitternden Beine zu einem stetigen, sicheren Gang. Hinter ihr schien die Sonne des Spätnachmittags und warf den Schatten ihres schlanken Körpers auf den Boden. Die Schatten der Löwenjungen spielten um ihre Füße herum, und neben ihr trottete die Schattenlöwin, stark und furchtlos, über das Land.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Katherine Scholes
Katherine Scholes wurde auf einer Missionsstation in Tansania geboren und hat den größten Teil ihrer Kindheit dort verbracht, bevor sie nach England und dann nach Tasmanien zog. Sie hat mehrere Romane, darunter einige für Jugendliche, geschrieben und arbeitet auch im Filmbereich. Sie lebt zurzeit mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Tasmanien. "Die Regenkönigin", "Die Traumtänzerin", "Die Sturmfängerin" und "Roter Hibiskus" waren allesamt Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katherine Scholes
- 344 Seiten, Masse: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655427
- ISBN-13: 9783863655426
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