Das grosse Lesebuch
Unter seinem unbestechlichen Blick wurde viel sogenannt ''Grosses'' klein und umgekehrt bekam das...
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Unter seinem unbestechlichen Blick wurde viel sogenannt ''Grosses'' klein und umgekehrt bekam das Unscheinbare Bedeutung. Harry Rowohlt hat hier Polgars beste Prosa zusammengetragen.
Der Erzähler Polgar hatte viele Themen. An seinem Tisch im Kaffeehaus - für Polgar der "Ort der Leidenschaften" - schrieb er über Städte und Landschaften, Dinge und Tiere. Die Wiener Jahre nach 1918, das glanzvolle Berlin der untergehenden Weimarer Republik und das Leben des Emigranten sind in seine Texte eingeflossen. Doch vor allem schrieb er über die Menschen - und nicht zuletzt auch immer über sich selbst.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Harry Rowohlt
Das grosse Lesebuch von Alfred Polgar
LESEPROBE
Die lilaWiese
Soundsoviele Meter über dem Meeresspiegel liegt die Kleewiese. Seit mindestens zweimalhunderttausend Jahren schon. Die Nacht wirft ein dunkles Tuch über sie, der Tagzieht es wieder fort. Die Wolke weint sich an ihrem Busen aus, der Sturmbestürmt sie, das Lüftchen plaudert mit Gräsern und Blumen. Der Nebel stülpteine silbergraue, von schwachen Rauchfäden durchwirkte Tarnkappe über dieWiese, der Frost reisst ihr die Haut in Fetzen, die Sommersonne kocht sich ein Ragoutaus Duft und Dunst.
Der Wieseist das alles ganz lila. Kalt oder warm, feucht oder trocken, Leben oder Tod ...sie duldet es in vollkommener Gleichgültigkeit. Das liegt schon so in der Naturder Natur.
Dass dieKühe sie berupfen, treten und düngen, scheint der Wiese nicht wesentlich. Auchnicht, dass Menschen sie ansehen und sich Verschiedenes dabei denken.
Vielekommen vorüber, achten ihrer nicht. Viele bleiben stehen, ziehen einenkräftigen Schluck Bergwiese in die Seele.
DieBergwiese liegt da, lässt sich geruhig abweiden von Kuhmäulern undMenschenaugen.
Sie gibtjedem das Ihre, das das Seine ist.
Einer kommtgerade vom Friedhof. da ist es ein Brocken Schwermut, den er auf der Wiesefindet.
Einer vomMahl, Verdauungsglück in den Eingeweiden. Ihm rauschen die Gräser: Der Menschist gut.
Einer vomgeschlechtlichen Exzess: ihm predigt die Wiese sanfte Wonnen des Verzichts.
Einer ausdem Kaffeehaus, taumligen Herzens, vergiftet von Nikotin und Koffein undNebenmensch-Atem. Ihm bietet die Wiese einen Splitter vom Stein der Weisen,der heisst: Natur!
Einer vonder Landpartie mit der eigenen Frau; da ist es ein anderer Splitter vom Steinder Weisen und heisst: Fiche-toi de la nature!
Dabei kannder eine auch ganz gut immer derselbe sein.
JederWanderer glaubt, die Stimme der Kleewiese zu vernehmen; aber er vernimmt immernur seine eigene. Am gründlichsten in diesem Punkt täuscht sich der Dichter.Wär' er's sonst?
Jahreszeitenund Wetterlaunen der Menschenseele lässt die Wiese so gelassen über sich ergehenwie Sonne, Schnee, Nebel und den munteren Sausewind. Seufzen und Lachen hörtsie, das Tirilieren der Zärtlichen, die Debatte der Botaniker, dieFachgespräche der Bauern, das innere Geschrei des Lyrikers. Publikum!
Den Dichter aber wurmte es, als Publikum genommen zuwerden wie die andern. Es passte ihm nicht, dass er ein Verhältnis zur Wiesehatte, die Wiese aber kein Verhältnis zu ihm. Und dann: was hat denn einDichter von seiner Beziehung zur Natur, wenn niemand weiss, dass er sie hat?
Deshalbentschloss er sich, für die Kleewiese etwas zu tun.
Abendssagte jemand: »Schön ist der Überzieher des ...« - »Nein«, rief der Dichter, »schön istdie Bergwiese!« Er belegte sie für seine Begeisterung, wie man einen Platzbelegt im Eisenbahnkupee.
ZuPfingsten stand die Wiese, in freie Rhythmen verwandelt, auf denBuchhändlerregalen: »Die lila Wiese«. Davon hundert Exemplare auf Bütten,handsigniert.
»Die lilaWiese kann sich alle Gräser ablecken«, sagten die Leute, »dass sie solchenErklärer und Verklärer gefunden hat.«
»Ich kaufemir noch heute eine Photographie.«
»DerKleewiese?«
»Nein, desDichters.«
MehrereForstadjunkten zogen in die Stadt, um beim Verfasser Natur zu hören.
Ein Rabe,mokant wie Raben sind, gratulierte der Wiese. »Sehr nett ist das, was Sie daüber den Dichter gedichtet haben«, sagte er.
Der jungeRechtsanwalt aber schenkte das Buch dem goldhaarigen Fräulein Hilde.
»Ich binganz heiss geworden bei der Lektüre«, flüsterte sie, das Haupt an seineSchulter schmiegend. Behutsam legte der Anwalt die Hand auf die Hand des geliebtenMädchens, sagte leise des Dichters Namen, nichts sonst, wie Werther in gleicherSituation nur gesagt hatte: »Klopstock!«
Gewitterwolkenstanden über dem Kurhaus. Die Kapelle spielte: »0 Katharina«. Und derRechtsanwalt hauchte einen Kuss auf Hildes kurz geschnittenes Haar, hinten, woes in ganz kleinen Borsten steht und schon wieder seine natürliche Farbe zeigt.
© 2003 by Kein & Aber AG, Zürich
- Autor: Alfred Polgar
- 2004, 7. Aufl., 432 Seiten, Masse: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499238063
- ISBN-13: 9783499238062
- Erscheinungsdatum: 01.09.2004
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