Das Geschenk der Wölfe
Roman
Der junge Journalist Reuben soll einen Artikel über ein altes Herrenhaus schreiben. Doch bei der Besichtigung wird er von einem großen Raubtier attackiert. Bald verändert Reuben sich: Er wird zum Wolfsmann, nachts wird er zur...
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Produktinformationen zu „Das Geschenk der Wölfe “
Der junge Journalist Reuben soll einen Artikel über ein altes Herrenhaus schreiben. Doch bei der Besichtigung wird er von einem großen Raubtier attackiert. Bald verändert Reuben sich: Er wird zum Wolfsmann, nachts wird er zur reißenden Bestie. Reuben wird gefürchtet. Doch das wahre Böse lauert woanders.
Klappentext zu „Das Geschenk der Wölfe “
Interview mit einem WerwolfDer junge Journalist Reuben soll einen Artikel über ein altes Herrenhaus schreiben, das abgelegen auf den Klippen der nordkalifornischen Küste thront. Doch die Besichtigung endet blutig: Reuben wird von einem grossen Raubtier attackiert. Seine Wunden heilen ungewöhnlich schnell. Bald verändert Reuben sich. Er wird zum Wolfsmann.
Bei Tag der attraktive Jungreporter, der über die furchterregende fremde Kreatur berichtet, bei Nacht eine Bestie: Reuben wird gefürchtet und gejagt. Doch das wahre Böse lauert woanders.
Der Bestseller aus den USA von einer Meisterin des Fantasy-Genres!
Lese-Probe zu „Das Geschenk der Wölfe “
Das Geschenk der Wölfe von Anne Rice 1
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Reuben war ein großer junger Mann, an die eins neunzig, mit braunen Locken und tiefliegenden blauen Augen. Seinen Spitznamen, «Sonnyboy», hasste er so sehr, dass er es vermied, auf eine Weise zu lächeln, die jeder «unwiderstehlich » fand. Momentan war er aber zu glücklich, um seine Gesichtszüge zu kontrollieren oder so zu tun, als sei er älter als dreiundzwanzig. Eine steife Brise wehte vom Meer her, als er einen steilen Hügel erklomm. Neben ihm ging eine etwas ältere, ebenso exotische wie elegante Frau namens Marchent Nideck, die ihm wunderbare Dinge über das große Haus auf den Klippen erzählte. Sie war schlank, fast dünn, ihr schmales Gesicht erinnerte an die klassischen Züge einer Marmorstatue, und ihr Haar war von jenem Blond, das nie ergraute. Es war glatt zurückgekämmt und fiel ihr mit sanftem Schwung fast bis auf die Schultern. Mit ihrem langen braunen Strickkleid und den polierten braunen Stiefeln entsprach sie genau Reubens Geschmack. Er war hergekommen, um im Auftrag des San Francisco Observer für einen Artikel über dieses riesige Haus zu recherchieren. Marchent Nideck wollte es verkaufen, nachdem ihr Großonkel, Felix Nideck, endlich für tot erklärt und der Nachlass geregelt worden war. Er war bereits vor zwanzig Jahren verschwunden, sein Testament aber jetzt erst gültig geworden, und danach ging das Haus an seine Nichte Marchent. Seit Reuben angekommen war, hatten sie den bewaldeten Hügel durchstreift, ein verfallenes altes Gästehaus und die Ruine der ehemaligen Scheune besichtigt. Sie waren alten Straßen und Pfaden gefolgt, die sich teilweise in unwegsamem Gelände verloren, und hier und da waren sie plötzlich an den steil abfallenden Klippen herausgekommen, wo sie einen phantastischen Blick auf den kalten eisengrauen Pazifik hatten, um dann wieder ins sichere Unterholz mit knorrigen Eichen und üppigem Farngestrüpp einzutauchen. Auf einen solchen Streifzug durch die Wildnis war Reuben nicht vorbereitet gewesen und folglich ganz unpassend gekleidet. Als er sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, trug er seine gewohnte «Uniform» - einen blauen Kammgarn- Blazer über einem dünnen Kaschmirpullover und eine graue Hose. Wenigstens hatte er noch einen Schal im Handschuhfach gefunden, den er umbinden konnte, obwohl ihm die beißende Kälte eigentlich nichts ausmachte. Das große Haus mit den tief herabgezogenen Schieferdächern und bleiverglasten Fenstern glich einem Winterpalast. Die Mauern waren aus unbehauenem Naturstein, und zahllose Schornsteine erhoben sich über den spitzen Giebeln. An der Westseite hatte es einen ausgedehnten Wintergarten, der ganz aus Glas und weiß gestrichenem Eisen bestand. Reuben war restlos begeistert. Schon die Fotos, die er sich im Internet angesehen hatte, waren phantastisch gewesen, aber das Haus in natura zu sehen war einfach überwältigend. Er selbst war in einem alten Haus aufgewachsen, in Russian Hill, einem der begehrtesten Wohnviertel von San Francisco, und auch die luxuriösen Häuser von Presidio Heights und den Vororten der Stadt kannte er von innen. Auch in Berkeley, wo er aufs College gegangen war, hatte er eindrucksvolle Gebäude kennengelernt, und das Fachwerkhaus seines verstorbenen Großvaters in Hillsborough war viele Jahre lang sein Feriendomizil gewesen. Aber keins dieser Häuser konnte es mit dem der Nidecks aufnehmen. Allein schon seine Größe machte es zu etwas Besonderem, ganz zu schweigen von dem riesigen Grundstück, das dazugehörte. Es war wie eine eigene Welt für sich. «Das ist nicht zu toppen», hatte er fasziniert gemurmelt, als er es zum ersten Mal sah. «Diese Schieferdächer! Und die Regenrinnen scheinen noch aus Kupfer zu sein!» Üppige Efeuranken bedeckten gut die Hälfte des Gebäudes und reichten bis an die obersten Fenster. Gleich beim ersten Blick auf das Haus hatte er gebremst und war eine ganze Weile im Wagen sitzen geblieben, um es zu bewundern. Eines Tages, dachte er, wenn er ein berühmter Schriftsteller war und ein Refugium brauchte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen, würde er nur zu gern ein Haus wie dieses besitzen. Er wusste, dass ein wunderbarer Nachmittag vor ihm lag. Als er dann das verwahrloste, unbewohnbare Gästehaus gesehen hatte, war er erschrocken, aber Marchent hatte ihm versichert, das Haupthaus sei in bester Ordnung. Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie sprach mit einem Akzent, der weder britisch klang noch aus Boston oder New York stammte, aber er hatte etwas Kultiviertes, Weltgewandtes und verlieh allem, was sie sagte, Würde und Leichtigkeit zugleich. «Ich weiß, wie schön dieses Haus ist», sagte sie. «An der gesamten kalifornischen Küste gibt es keins, das es mit ihm aufnehmen könnte. Aber ich muss es verkaufen, mir bleibt nichts anderes übrig. Wenn es so weit kommt, dass ein Haus von einem Besitz ergreift, muss man es loslassen und sich wieder um Dinge kümmern, die man vernachlässigt hat.» Sie sagte, sie wolle wieder reisen, und gab zu, dass sie seit Onkel Felix' Verschwinden nicht besonders viel Zeit in dem Haus verbracht hatte. Sobald es verkauft war, wollte sie nach Südamerika gehen. «Was für ein Jammer», sagte Reuben und wusste, dass ein Reporter nichts derart Persönliches sagen sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Außerdem verlangte ja niemand von ihm, kalt wie ein Fisch zu sein. «Dieses Haus ist einzigartig, Marchent», sagte er. «Ich werde ihm mit meinem Artikel ein Denkmal setzen und hoffe, dass Sie auf diese Weise schnell einen Käufer finden.» Was er meinte, war: Ich wünschte, ich könnte dieses Haus selber kaufen. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, seit er das Haus zum ersten Mal durch die Bäume schimmern gesehen hatte. «Ich bin ja so froh, dass die Zeitung ausgerechnet Sie geschickt hat», sagte Marchent. «Sie sind begeisterungsfähig, und das ist mir wichtig.» Reuben dachte: Ja, ich bin begeisterungsfähig, und ich will dieses Haus haben. Warum auch nicht? So eine Chance bekomme ich nie wieder. Doch dann dachte er an seine Mutter und Celeste, seine Freundin, den aufgehenden Stern der Bezirksstaatsanwaltschaft, und sah förmlich vor sich, wie sie über diese verrückte Idee lachten. «Was haben Sie denn plötzlich, Reuben?», fragte Marchent. «Sie schauen auf einmal so merkwürdig drein.» «Ach, ich hab nur gerade nachgedacht», sagte er und tippte sich an die Schläfe. «In Gedanken schreibe ich schon an meinem Artikel. ‹Architektonisches Juwel an der Küste von Mendocino, seit seiner Erbauung zum ersten Mal auf dem Markt.›» «Klingt gut.» Selbst so kurze Bemerkungen klangen in Marchents eigenartigem Akzent weltläufig. «Ich würde dem Haus einen Namen geben, wenn es meins wäre», sagte Reuben. «Einen, der seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Kap Nideck oder so.» «An Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen», sagte Marchent. «Das merkt man gleich. Ich mag Ihre Artikel, ich habe einige gelesen. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Aber momentan arbeiten Sie an einem Roman, nicht wahr? Ein talentierter Reporter in Ihrem Alter sollte sich der Literatur zuwenden. Es wäre schade, wenn Sie es nicht täten.» «Das ist Musik in meinen Ohren», sagte Reuben gerührt und sah Marchent überrascht an. Sie war wunderschön, und wenn sie lächelte, schienen die feinen Linien ihres Gesichts zu sprechen. «Erst letzte Woche hat mein Vater gesagt, dass ein junger Mann wie ich noch nichts zu erzählen hat - und zu sagen schon gar nichts. Er war Professor und ist mittlerweile ziemlich ausgebrannt. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren überarbeitet er seine ‹Gesammelten Gedichte›.» Kaum hatte er das gesagt, dachte er: Du redest zu viel, lass das sein! Eigentlich müsste dieses Haus seinem Vater gefallen. Phil Golding war der wahre Dichter der Familie, und als solcher müsste ihn dieses Haus gefühlsmäßig ansprechen. Wahrscheinlich würde er sogar Reubens Mutter ganz begeistert davon erzählen, die eine solche Lobeshymne aber nur mit einer spöttischen Bemerkung quittieren würde. Dr. Grace Golding war eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, und sie war es, die die Familiengeschicke lenkte. Sie war es auch, die Reuben den Job beim San Francisco Observer besorgt hatte, obwohl er nichts als einen Master in Englischer Literatur und eine Weltreise pro Jahr vorzuweisen hatte. Grace war stolz auf den investigativen Journalismus, den er neuerdings betrieb, aber diese «Maklergeschichte» hielt sie für reine Zeitverschwendung. «Jetzt träumen Sie schon wieder», sagte Marchent, legte ihren Arm um seine Schultern, lachte und küsste ihn auf die Wange. Damit hatte Reuben nicht gerechnet, und es ging ihm durch und durch, als er ihre weichen Brüste spürte und ihr schweres, dezent aufgetragenes Parfüm roch. «Um ehrlich zu sein, habe ich bis jetzt noch nichts Nennenswertes zustande gebracht», sagte er mit einer Vertraulichkeit, die ihn selbst überraschte. «Meine Mutter ist eine brillante Chirurgin, mein Bruder Priester. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits in meinem Alter ein international erfolgreicher Grundstücksmakler. Dagegen bin ich ein Nichts, ein Niemand. Auch bei der Zeitung bin ich erst seit einem halben Jahr. Man sollte die Menschheit vor mir warnen. Aber ich verspreche Ihnen, dass mein Artikel über dieses Haus ganz nach Ihrem Geschmack sein wird.» «Unsinn», sagte Marchent. «Ihre Herausgeberin sagt, Ihr Artikel über den Greenleaf-Mord hat zur Festnahme des Täters geführt. Sie sind ein sehr charmanter, bescheidener junger Mann.» Reuben wusste nicht, ob er rot wurde. Warum schüttete er dieser Frau sein Herz aus? Sonst war es gar nicht seine Art, Freunde mit Selbstauskünften dieser Art zu bombardieren. Aber dieser Frau fühlte er sich auf unerklärliche Art verbunden. «Für den Greenleaf-Artikel habe ich nicht mal einen Tag gebraucht», murmelte er. «Und das meiste, was ich über den Verdächtigen herausgefunden habe, ist nie gedruckt worden.» Marchent fragte augenzwinkernd: «Wie alt sind Sie eigentlich, Reuben? Ich bin achtunddreißig.» «Das sieht man Ihnen nicht an», sagte Reuben und meinte es so. Am liebsten hätte er gesagt: Sie sind perfekt. Tatsächlich sagte er: «Ich bin dreiundzwanzig.»
«Dreiundzwanzig? Dann sind Sie ja noch fast ein Kind.» Klar. «Sonnyboy» nannte ihn ja sogar seine Freundin Celeste. «Kleiner» sagte sein großer Bruder Jim, der Priester. «Mein Baby» war er für seine Mutter, sogar wenn andere Leute dabei waren. Nur sein Vater nannte ihn Reuben, und wenn sie einander in die Augen sahen, hatte Reuben stets das Gefühl, dass sein Vater ihn so sah, wie er wirklich war. Dad, du solltest dieses Haus sehen! Es gibt keinen besseren Ort zum Schreiben, um seine Ruhe zu haben und sich von der spektakulären Landschaft inspirieren zu lassen. Reuben steckte die klammen Hände in die Taschen und versuchte den scharfen Wind zu ignorieren, der ihm Tränen in die Augen trieb. Sie waren auf dem Rückweg und würden sich gleich bei einem Kaffee am Kamin von der Kälte erholen. «Aber Sie sind viel zu groß, um noch ein Junge zu sein», sagte Marchent. «Außerdem sind Sie äußerst sensibel, Reuben. Es gehört schon was dazu, dieses gottverlassene Fleckchen Erde trotz dieser Kälte würdigen zu können. Mit dreiundzwanzig war ich am liebsten in New York oder Paris. Die großen Metropolen waren meins.» Sie hielt inne und sah Reuben an. «Was ist? Habe ich Sie beleidigt?» «Nein, gar nicht.» Reuben hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden. «Ich rede zu viel über mich. Aber keine Sorge, Marchent, ich verliere den Artikel nicht aus den Augen. Buscheichen, Gräser, feuchte Erde, Farnkraut. Ich registriere alles.» «Ich weiß. Nie wieder ist der Geist so aufnahmefähig wie in der Jugend», sagte Marchent. «Wir werden die nächsten zwei Tage miteinander verbringen, da möchte ich direkt sein. Sie schämen sich Ihrer Jugend, nicht wahr? Das ist nicht nötig. Sie sind ein attraktiver Mann, um ehrlich zu sein: der attraktivste, den ich je gesehen habe. Nein, nein, das meine ich ernst. Wer so aussieht, hat keinen Grund, schüchtern zu sein.» Reuben schüttelte den Kopf. Marchent wusste ja nicht, was sie da sagte. Er hasste es, als attraktiv, hinreißend oder süß bezeichnet zu werden. «Was, wenn die Leute das nicht mehr sagen? Meinst du, dann fühlst du dich besser?», hatte Celeste einmal gefragt. «Hast du darüber schon mal nachgedacht? Was mich betrifft, Sonnyboy, wäre ich nicht mit dir zusammen, wenn du nicht so gut aussähst.» Es sollte ein Scherz sein, aber Celestes Scherze hatten oft einen bitteren Beigeschmack. «Jetzt habe ich Sie doch beleidigt», sagte Marchent. «Bitte verzeihen Sie mir. Ich glaube, alle Normalsterblichen glorifizieren Menschen, die so gut aussehen wie Sie. Aber das Wesentliche an Ihnen ist, dass Sie ein Poet sind.» Als sie die gepflasterte Terrasse erreichten, wurde es kühler. Der Wind hatte jetzt etwas Schneidendes, und die Sonne sank hinter silbernen Wolken langsam ins Meer. Marchent blieb kurz stehen und schien um Atem zu ringen, aber Reuben war sich nicht sicher, ob das der Grund für ihr Zögern war. Der Wind ließ ihr Haar flattern, und sie legte die Hand schützend an die Stirn. Dann hob sie den Kopf und blickte zum obersten Fenster hinauf, als suchte sie dort etwas. Plötzlich kam sich Reuben wie das verlorenste Wesen der Welt vor, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie abgeschieden und einsam dieser Ort war. Das nächste Dorf, Nideck, war Kilometer entfernt, und wenn es hochkam, wohnten dort vielleicht zweihundert Menschen. Auf der Fahrt hatte er dort angehalten, aber die meisten Läden an der Hauptstraße waren geschlossen gewesen. Die einzige Pension stand zum Verkauf, und zwar schon «seit Ewigkeiten», wie der Tankwart sagte, aber Reuben solle sich keine Sorgen machen, es gebe hier kein Funkloch, Internet und Handys funktionierten hier einwandfrei. Trotzdem kam ihm die Welt jenseits der windigen Terrasse in diesem Moment ganz unwirklich vor. «Spukt es hier?», fragte er und folgte Marchents Blick zu dem obersten Fenster. «Sehen Sie Gespenster?» «Dieses Haus braucht keine», sagte sie. «Die Zeiten sind so schon finster genug.» «Es ist einfach ein wunderbares Haus», sagte Reuben. «Die Nidecks hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie einen Käufer mit einer romantischen Ader finden, der es beispielsweise in ein einzigartiges, unvergessliches Hotel umfunktioniert.» «Eine gute Idee. Andererseits: Warum sollte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen? Der Strand ist nur ein schmaler Streifen und schwer zu erreichen. Die Redwoodbäume sind phantastisch, aber wer aus der Gegend von San Francisco nimmt eine Fahrt von vier Stunden auf sich, um Redwoodbäume zu sehen? Das kann man in Kalifornien einfacher haben. Und das Dorf haben Sie ja selber gesehen. Bei Licht betrachtet, gibt es hier weit und breit nichts als Kap Nideck, wie Sie es nennen. Manchmal habe ich Angst, dass selbst dieses Haus nicht mehr lange stehen wird.» «Das dürfen Sie nicht sagen! Nicht mal denken. Wer würde denn so ein wunderbares Haus niederreißen?» Marchent nahm seinen Arm, und sie gingen über den sandigen Plattenweg an Reubens Wagen vorbei zur Tür auf der anderen Seite des Hauses. «Wenn Sie in meinem Alter wären, würde ich mich in Sie verlieben», sagte sie. «Hätte ich früher einen so charmanten Mann kennengelernt, würde ich heute bestimmt nicht allein leben.» «Warum eine Frau wie Sie allein lebt, kann ich nicht verstehen», sagte Reuben. Sie war die anmutigste und selbstsicherste Frau, die er kannte. Selbst nach ihrem Streifzug durch die Wildnis sah sie noch so elegant aus, als machte sie einen Einkaufsbummel am Rodeo Drive. Am linken Handgelenk trug sie ein schmales Perlenarmband, das ihren lässigen Bewegungen zusätzlichen Glanz verlieh, obwohl Reuben nicht genau sagen konnte, wie dieser Effekt zustande kam. Nach Westen hin war das Gelände baumlos, daher war es nur zu verständlich, warum man den Blick in diese Richtung frei gehalten hatte. Inzwischen toste der Wind übers Meer, und grauer Nebel senkte sich über den Pazifik. Ich muss mich mit der Atmosphäre vertraut machen, dachte Reuben. Dazu gehört auch so eine Düsternis wie jetzt gerade. Es war, als fiele ein Schatten auf seine Seele, aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl. Er wollte dieses Haus haben, sein Leben an diesem Ort verbringen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Zeitung hätte einen anderen Reporter hergeschickt, aber man hatte sich nun mal für ihn entschieden. Da hatte er wirklich Glück gehabt. «Mein Gott, es wird ja beinahe sekündlich kälter», sagte Marchent, und beide beschleunigten ihre Schritte. «Ich hatte ganz vergessen, wie schnell das hier an der Küste geht. Obwohl ich damit aufgewachsen bin, überrascht es mich immer noch.» Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um an der Fassade hochzusehen. Wieder sah es so aus, als suchte sie etwas oder jemanden. Dann legte sie wieder die Hand an die Stirn und blickte in den heraufziehenden Nebel. Bestimmt würde sie es eines Tages bereuen, dass sie sich entschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, dachte Reuben. Doch es schien nötig zu sein. Und schließlich hatte er nicht über ihre Gefühle zu entscheiden. Trotzdem war es ihm peinlich, dass er genug Geld hatte, um das Haus zu kaufen, und er hatte das Gefühl, dass er ausdrücklich erklären sollte, warum er kein Gebot abgab. Aber das wäre einfach zu unhöflich gewesen. Und abgesehen davon war er in Gedanken immer noch am Kalkulieren und Phantasieren. Die Wolken wurden dichter und dunkler, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Wieder folgte Reuben Marchents Blick die mittlerweile ganz im Dunkeln liegende Hausfassade hinauf. Die rautenförmigen bleiverglasten Fenster glänzten, und die gigantischen Redwoodbäume hinter der Ostseite des Hauses kamen ihm völlig überdimensioniert vor. «Was denken Sie gerade?», fragte Marchent. «Oh, nichts Besonderes. Ich habe gerade zu den Redwoodbäumen hinübergesehen. Sie lösen in mir immer ganz merkwürdige Gefühle aus. Neben ihnen wird alles andere so klein. Als würden sie sagen: ‹Wir waren schon da, bevor der erste Mensch hier an Land ging, und wir werden immer noch hier sein, wenn ihr und eure Häuser längst verschwunden seid.›» Marchent lächelte, aber sie sah traurig aus, als sie sagte: «Das stimmt. Mein Onkel Felix hat diese Bäume sehr geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht gefällt werden dürfen.» «Gott sei Dank», murmelte Reuben. «Es läuft mir immer kalt den Rücken herunter, wenn ich alte Fotos sehe, auf denen Holzfäller in den Redwoodwäldern arbeiten und tausend Jahre alte Baumriesen vernichten. Stellen Sie sich das bloß mal vor: tausend Jahre!» «Genau das hat Onkel Felix auch gesagt, fast wörtlich.» «Er würde auch nicht wollen, dass das Haus abgerissen wird, nicht wahr?» Sofort bereute Reuben, was er gesagt hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Das hätte ich nicht sagen sollen.» «Aber Sie haben absolut recht. Das hätte er ganz sicher nicht gewollt. Er hat dieses Haus sehr geliebt. Er hatte gerade angefangen, es zu renovieren, als er verschwand.» Mit einem merkwürdig sehnsüchtigen Blick wandte Marchent sich ab. «Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist», sagte sie seufzend. «Was meinen Sie damit, Marchent?» «Nun ja ... wie mein Onkel verschwunden ist.» Sie lachte bitter auf. «So ein Unsinn! Verschwunden! Wahrscheinlich ist er völlig zu Recht für tot erklärt worden. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich ihn verraten, wenn ich das Haus verkaufe oder Dinge sage wie: ‹Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wird ganz gewiss nie wieder durch diese Tür gehen.›» «Verstehe», sagte Reuben leise. Er hatte keinerlei Gefühl für den Tod und konnte sich darunter nichts vorstellen. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Freundin hatten ihm das oft vorgehalten. Seine Mutter war die gute Seele der Abteilung für Traumapatienten am General Hospital von San Francisco, und seine Freundin kannte die dunkle Seite der Menschen von ihrer Arbeit als Staatsanwältin, während sein Vater den Tod sogar in fallendem Laub sah. Er selbst hatte sechs Artikel über zwei Mordfälle geschrieben, und beide Frauen seines Lebens hatten diese Artikel erst in den Himmel gelobt und ihm dann Vorträge darüber gehalten, was er alles nicht begriffen hatte. Eine Bemerkung seines Vaters kam ihm in den Sinn. «Du bist ziemlich naiv, Reuben, aber das Leben wird dich früh genug lehren, was du wissen musst.» Er sagte oft ungewöhnliche Dinge. Erst am Vortag hatte er beim Essen gesagt: «Es vergeht kein Tag, an dem ich keine universelle Frage stelle. Was ist der Sinn des Lebens? Hat es überhaupt einen? Oder ist alles nur Schall und Rauch? Sind wir alle verdammt?» Und später hatte Celeste gesagt: «Ich weiß, warum nichts wirklich zu dir durchdringt, Sonnyboy. Deine Mutter schildert ihre Operationen in allen unappetitlichen Einzelheiten, während sie einen Krabbencocktail löffelt, und dein Vater spricht nur von absolut bedeutungslosen Dingen. Ich wünschte, ich könnte das so locker nehmen wie du. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, dich an meiner Seite zu haben.» Aber war es auch für ihn ein gutes Gefühl? Nein. Kein bisschen. Trotzdem musste man Celeste zugutehalten, dass sie viel liebenswürdiger und netter war, als man meinen könnte, wenn man sie nur reden hörte. Sie war eine knallharte Staatsanwältin, ein Meter sechsundfünfzig pures Dynamit, aber wenn sie mit ihm zusammen war, war sie anschmiegsam und einfach nur süß. Sie achtete darauf, wie er sich kleidete, und rief stets zurück, wenn er sie mal nicht erreichen konnte. Wenn er fachliche Fragen hatte, die sie nicht selbst beantworten konnte, setzte sie ihn umgehend mit kompetenten Kollegen in Verbindung. Trotzdem war ihre Art zu reden oft harsch und zynisch. Plötzlich hatte Reuben das Gefühl, dass das Haus etwas Düsteres, Tragisches ausstrahlte, und er wollte dahinterkommen, was es war, denn in erster Linie erinnerte es ihn an Cellomusik, tiefe, volltönende, etwas raue und vor allem klare Cellomusik. Es war, als spräche das Haus zu ihm - oder als würde es das tun, sobald er aufhörte, die Stimmen von zu Hause im Ohr zu haben. Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Ohne den Blick vom Haus abzuwenden, schaltete er es aus. «Meine Güte, wie Sie aussehen!», sagte Marchent. «Sie frieren ja! Wie gedankenlos von mir. Kommen Sie, wir gehen rein.» «Halb so schlimm», sagte Reuben. «In Russian Hill schlafe ich immer bei offenem Fenster. Ich bin solche Temperaturen gewohnt.» Er folgte ihr die Stufen hinauf und durch die massive, gewölbte Tür. Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, obwohl sie in einer riesigen Diele mit hohen Deckenbalken standen, von der in lichter Höhe endlose holzgetäfelte Flure abgingen, die sich im Zwielicht verloren. An der gegenüberliegenden Wand loderte ein Feuer in einem höhlenartigen Kamin. Davor standen alte, unförmige Sofas und Sessel. Die brennenden Eichenscheite hatte Reuben schon auf der Wanderung gerochen. Der Geruch war ihm ab und zu angenehm in die Nase gestiegen. Marchent führte ihn zu dem Samtsofa, das dem Kamin am nächsten stand. Auf einem großen marmornen Couchtisch stand ein silbernes Kaffeeservice. «Wärmen Sie sich auf», sagte sie und stellte sich selbst mit ausgestreckten Händen ans Feuer. Die großen alten Kaminböcke waren aus Messing, das Kamingitter schmiedeeisern, die Kaminziegel schwarz. Marchent drehte sich um und ging fast lautlos über die alten, abgewetzten Orientteppiche und schaltete einige Lampen an, die überall im Raum verteilt waren. Nach und nach wurde es hell und freundlich. Die Sitzmöbel waren trotz ihrer enormen Ausmaße bequem und die zerschlissenen Schonbezüge praktisch. Hier und da standen karamellfarbene Lederstühle. Etliche altmodische Bronzestatuen stellten mythologische Figuren dar. An den Wänden hingen alte, nachgedunkelte Landschaftsgemälde in schweren Goldrahmen. Es wurde so warm, dass Reuben kurz davor war, Jacke und Schal abzulegen. Er blickte auf die alte, dunkle Holztäfelung über dem Kamin, die mit klassischen Schnitzereien verziert war, genau wie die der anderen Wände. Der Kamin war von Bücherschränken eingerahmt, in denen große alte Lederbände, Bücher mit Leinenrücken und sogar Taschenbücher standen. Hinter Reuben, an der Ostseite des Hauses, schloss sich eine schöne alte Bibliothek an, ebenfalls holzgetäfelt. Schon immer hatte er davon geträumt, einmal so eine Bibliothek zu besitzen. Auch dort schien ein Kaminfeuer zu brennen. «Das ist ja atemberaubend», sagte er. Er stellte sich vor, wie sein Vater dort säße, seine Gedichte durchsähe und sich endlose Notizen machte. Er würde diese Bibliothek lieben. Es war der ideale Ort, um über universelle Fragen nachzudenken. Seine Mutter würde sich hier allerdings nicht wohlfühlen. Aber warum eigentlich nicht? Seine Eltern liebten einander, waren aber grundverschieden. Phil versuchte, Grace' Arztfreunde zu ertragen, und in ihren Augen waren seine wenigen Akademikerfreunde von früher schreckliche Langweiler. Gedichte verabscheute Grace aus grundsätzlichen Erwägungen, genau wie die Filme, die Phil mochte. Wenn er auf einer Dinnerparty seine Meinung über irgendetwas äußerte, wechselte sie das Thema, wandte sich ihrem Tischnachbarn zu, verließ den Raum, um noch eine Flasche Wein zu holen, oder begann zu husten. Sie tat das nicht, um ihn zu verletzen, denn so war sie nicht. Vielmehr stürzte sie sich voller Elan auf Dinge, die sie liebte, und sie vergötterte Reuben.
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Reuben war ein großer junger Mann, an die eins neunzig, mit braunen Locken und tiefliegenden blauen Augen. Seinen Spitznamen, «Sonnyboy», hasste er so sehr, dass er es vermied, auf eine Weise zu lächeln, die jeder «unwiderstehlich » fand. Momentan war er aber zu glücklich, um seine Gesichtszüge zu kontrollieren oder so zu tun, als sei er älter als dreiundzwanzig. Eine steife Brise wehte vom Meer her, als er einen steilen Hügel erklomm. Neben ihm ging eine etwas ältere, ebenso exotische wie elegante Frau namens Marchent Nideck, die ihm wunderbare Dinge über das große Haus auf den Klippen erzählte. Sie war schlank, fast dünn, ihr schmales Gesicht erinnerte an die klassischen Züge einer Marmorstatue, und ihr Haar war von jenem Blond, das nie ergraute. Es war glatt zurückgekämmt und fiel ihr mit sanftem Schwung fast bis auf die Schultern. Mit ihrem langen braunen Strickkleid und den polierten braunen Stiefeln entsprach sie genau Reubens Geschmack. Er war hergekommen, um im Auftrag des San Francisco Observer für einen Artikel über dieses riesige Haus zu recherchieren. Marchent Nideck wollte es verkaufen, nachdem ihr Großonkel, Felix Nideck, endlich für tot erklärt und der Nachlass geregelt worden war. Er war bereits vor zwanzig Jahren verschwunden, sein Testament aber jetzt erst gültig geworden, und danach ging das Haus an seine Nichte Marchent. Seit Reuben angekommen war, hatten sie den bewaldeten Hügel durchstreift, ein verfallenes altes Gästehaus und die Ruine der ehemaligen Scheune besichtigt. Sie waren alten Straßen und Pfaden gefolgt, die sich teilweise in unwegsamem Gelände verloren, und hier und da waren sie plötzlich an den steil abfallenden Klippen herausgekommen, wo sie einen phantastischen Blick auf den kalten eisengrauen Pazifik hatten, um dann wieder ins sichere Unterholz mit knorrigen Eichen und üppigem Farngestrüpp einzutauchen. Auf einen solchen Streifzug durch die Wildnis war Reuben nicht vorbereitet gewesen und folglich ganz unpassend gekleidet. Als er sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, trug er seine gewohnte «Uniform» - einen blauen Kammgarn- Blazer über einem dünnen Kaschmirpullover und eine graue Hose. Wenigstens hatte er noch einen Schal im Handschuhfach gefunden, den er umbinden konnte, obwohl ihm die beißende Kälte eigentlich nichts ausmachte. Das große Haus mit den tief herabgezogenen Schieferdächern und bleiverglasten Fenstern glich einem Winterpalast. Die Mauern waren aus unbehauenem Naturstein, und zahllose Schornsteine erhoben sich über den spitzen Giebeln. An der Westseite hatte es einen ausgedehnten Wintergarten, der ganz aus Glas und weiß gestrichenem Eisen bestand. Reuben war restlos begeistert. Schon die Fotos, die er sich im Internet angesehen hatte, waren phantastisch gewesen, aber das Haus in natura zu sehen war einfach überwältigend. Er selbst war in einem alten Haus aufgewachsen, in Russian Hill, einem der begehrtesten Wohnviertel von San Francisco, und auch die luxuriösen Häuser von Presidio Heights und den Vororten der Stadt kannte er von innen. Auch in Berkeley, wo er aufs College gegangen war, hatte er eindrucksvolle Gebäude kennengelernt, und das Fachwerkhaus seines verstorbenen Großvaters in Hillsborough war viele Jahre lang sein Feriendomizil gewesen. Aber keins dieser Häuser konnte es mit dem der Nidecks aufnehmen. Allein schon seine Größe machte es zu etwas Besonderem, ganz zu schweigen von dem riesigen Grundstück, das dazugehörte. Es war wie eine eigene Welt für sich. «Das ist nicht zu toppen», hatte er fasziniert gemurmelt, als er es zum ersten Mal sah. «Diese Schieferdächer! Und die Regenrinnen scheinen noch aus Kupfer zu sein!» Üppige Efeuranken bedeckten gut die Hälfte des Gebäudes und reichten bis an die obersten Fenster. Gleich beim ersten Blick auf das Haus hatte er gebremst und war eine ganze Weile im Wagen sitzen geblieben, um es zu bewundern. Eines Tages, dachte er, wenn er ein berühmter Schriftsteller war und ein Refugium brauchte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen, würde er nur zu gern ein Haus wie dieses besitzen. Er wusste, dass ein wunderbarer Nachmittag vor ihm lag. Als er dann das verwahrloste, unbewohnbare Gästehaus gesehen hatte, war er erschrocken, aber Marchent hatte ihm versichert, das Haupthaus sei in bester Ordnung. Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie sprach mit einem Akzent, der weder britisch klang noch aus Boston oder New York stammte, aber er hatte etwas Kultiviertes, Weltgewandtes und verlieh allem, was sie sagte, Würde und Leichtigkeit zugleich. «Ich weiß, wie schön dieses Haus ist», sagte sie. «An der gesamten kalifornischen Küste gibt es keins, das es mit ihm aufnehmen könnte. Aber ich muss es verkaufen, mir bleibt nichts anderes übrig. Wenn es so weit kommt, dass ein Haus von einem Besitz ergreift, muss man es loslassen und sich wieder um Dinge kümmern, die man vernachlässigt hat.» Sie sagte, sie wolle wieder reisen, und gab zu, dass sie seit Onkel Felix' Verschwinden nicht besonders viel Zeit in dem Haus verbracht hatte. Sobald es verkauft war, wollte sie nach Südamerika gehen. «Was für ein Jammer», sagte Reuben und wusste, dass ein Reporter nichts derart Persönliches sagen sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Außerdem verlangte ja niemand von ihm, kalt wie ein Fisch zu sein. «Dieses Haus ist einzigartig, Marchent», sagte er. «Ich werde ihm mit meinem Artikel ein Denkmal setzen und hoffe, dass Sie auf diese Weise schnell einen Käufer finden.» Was er meinte, war: Ich wünschte, ich könnte dieses Haus selber kaufen. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, seit er das Haus zum ersten Mal durch die Bäume schimmern gesehen hatte. «Ich bin ja so froh, dass die Zeitung ausgerechnet Sie geschickt hat», sagte Marchent. «Sie sind begeisterungsfähig, und das ist mir wichtig.» Reuben dachte: Ja, ich bin begeisterungsfähig, und ich will dieses Haus haben. Warum auch nicht? So eine Chance bekomme ich nie wieder. Doch dann dachte er an seine Mutter und Celeste, seine Freundin, den aufgehenden Stern der Bezirksstaatsanwaltschaft, und sah förmlich vor sich, wie sie über diese verrückte Idee lachten. «Was haben Sie denn plötzlich, Reuben?», fragte Marchent. «Sie schauen auf einmal so merkwürdig drein.» «Ach, ich hab nur gerade nachgedacht», sagte er und tippte sich an die Schläfe. «In Gedanken schreibe ich schon an meinem Artikel. ‹Architektonisches Juwel an der Küste von Mendocino, seit seiner Erbauung zum ersten Mal auf dem Markt.›» «Klingt gut.» Selbst so kurze Bemerkungen klangen in Marchents eigenartigem Akzent weltläufig. «Ich würde dem Haus einen Namen geben, wenn es meins wäre», sagte Reuben. «Einen, der seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Kap Nideck oder so.» «An Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen», sagte Marchent. «Das merkt man gleich. Ich mag Ihre Artikel, ich habe einige gelesen. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Aber momentan arbeiten Sie an einem Roman, nicht wahr? Ein talentierter Reporter in Ihrem Alter sollte sich der Literatur zuwenden. Es wäre schade, wenn Sie es nicht täten.» «Das ist Musik in meinen Ohren», sagte Reuben gerührt und sah Marchent überrascht an. Sie war wunderschön, und wenn sie lächelte, schienen die feinen Linien ihres Gesichts zu sprechen. «Erst letzte Woche hat mein Vater gesagt, dass ein junger Mann wie ich noch nichts zu erzählen hat - und zu sagen schon gar nichts. Er war Professor und ist mittlerweile ziemlich ausgebrannt. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren überarbeitet er seine ‹Gesammelten Gedichte›.» Kaum hatte er das gesagt, dachte er: Du redest zu viel, lass das sein! Eigentlich müsste dieses Haus seinem Vater gefallen. Phil Golding war der wahre Dichter der Familie, und als solcher müsste ihn dieses Haus gefühlsmäßig ansprechen. Wahrscheinlich würde er sogar Reubens Mutter ganz begeistert davon erzählen, die eine solche Lobeshymne aber nur mit einer spöttischen Bemerkung quittieren würde. Dr. Grace Golding war eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, und sie war es, die die Familiengeschicke lenkte. Sie war es auch, die Reuben den Job beim San Francisco Observer besorgt hatte, obwohl er nichts als einen Master in Englischer Literatur und eine Weltreise pro Jahr vorzuweisen hatte. Grace war stolz auf den investigativen Journalismus, den er neuerdings betrieb, aber diese «Maklergeschichte» hielt sie für reine Zeitverschwendung. «Jetzt träumen Sie schon wieder», sagte Marchent, legte ihren Arm um seine Schultern, lachte und küsste ihn auf die Wange. Damit hatte Reuben nicht gerechnet, und es ging ihm durch und durch, als er ihre weichen Brüste spürte und ihr schweres, dezent aufgetragenes Parfüm roch. «Um ehrlich zu sein, habe ich bis jetzt noch nichts Nennenswertes zustande gebracht», sagte er mit einer Vertraulichkeit, die ihn selbst überraschte. «Meine Mutter ist eine brillante Chirurgin, mein Bruder Priester. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits in meinem Alter ein international erfolgreicher Grundstücksmakler. Dagegen bin ich ein Nichts, ein Niemand. Auch bei der Zeitung bin ich erst seit einem halben Jahr. Man sollte die Menschheit vor mir warnen. Aber ich verspreche Ihnen, dass mein Artikel über dieses Haus ganz nach Ihrem Geschmack sein wird.» «Unsinn», sagte Marchent. «Ihre Herausgeberin sagt, Ihr Artikel über den Greenleaf-Mord hat zur Festnahme des Täters geführt. Sie sind ein sehr charmanter, bescheidener junger Mann.» Reuben wusste nicht, ob er rot wurde. Warum schüttete er dieser Frau sein Herz aus? Sonst war es gar nicht seine Art, Freunde mit Selbstauskünften dieser Art zu bombardieren. Aber dieser Frau fühlte er sich auf unerklärliche Art verbunden. «Für den Greenleaf-Artikel habe ich nicht mal einen Tag gebraucht», murmelte er. «Und das meiste, was ich über den Verdächtigen herausgefunden habe, ist nie gedruckt worden.» Marchent fragte augenzwinkernd: «Wie alt sind Sie eigentlich, Reuben? Ich bin achtunddreißig.» «Das sieht man Ihnen nicht an», sagte Reuben und meinte es so. Am liebsten hätte er gesagt: Sie sind perfekt. Tatsächlich sagte er: «Ich bin dreiundzwanzig.»
«Dreiundzwanzig? Dann sind Sie ja noch fast ein Kind.» Klar. «Sonnyboy» nannte ihn ja sogar seine Freundin Celeste. «Kleiner» sagte sein großer Bruder Jim, der Priester. «Mein Baby» war er für seine Mutter, sogar wenn andere Leute dabei waren. Nur sein Vater nannte ihn Reuben, und wenn sie einander in die Augen sahen, hatte Reuben stets das Gefühl, dass sein Vater ihn so sah, wie er wirklich war. Dad, du solltest dieses Haus sehen! Es gibt keinen besseren Ort zum Schreiben, um seine Ruhe zu haben und sich von der spektakulären Landschaft inspirieren zu lassen. Reuben steckte die klammen Hände in die Taschen und versuchte den scharfen Wind zu ignorieren, der ihm Tränen in die Augen trieb. Sie waren auf dem Rückweg und würden sich gleich bei einem Kaffee am Kamin von der Kälte erholen. «Aber Sie sind viel zu groß, um noch ein Junge zu sein», sagte Marchent. «Außerdem sind Sie äußerst sensibel, Reuben. Es gehört schon was dazu, dieses gottverlassene Fleckchen Erde trotz dieser Kälte würdigen zu können. Mit dreiundzwanzig war ich am liebsten in New York oder Paris. Die großen Metropolen waren meins.» Sie hielt inne und sah Reuben an. «Was ist? Habe ich Sie beleidigt?» «Nein, gar nicht.» Reuben hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden. «Ich rede zu viel über mich. Aber keine Sorge, Marchent, ich verliere den Artikel nicht aus den Augen. Buscheichen, Gräser, feuchte Erde, Farnkraut. Ich registriere alles.» «Ich weiß. Nie wieder ist der Geist so aufnahmefähig wie in der Jugend», sagte Marchent. «Wir werden die nächsten zwei Tage miteinander verbringen, da möchte ich direkt sein. Sie schämen sich Ihrer Jugend, nicht wahr? Das ist nicht nötig. Sie sind ein attraktiver Mann, um ehrlich zu sein: der attraktivste, den ich je gesehen habe. Nein, nein, das meine ich ernst. Wer so aussieht, hat keinen Grund, schüchtern zu sein.» Reuben schüttelte den Kopf. Marchent wusste ja nicht, was sie da sagte. Er hasste es, als attraktiv, hinreißend oder süß bezeichnet zu werden. «Was, wenn die Leute das nicht mehr sagen? Meinst du, dann fühlst du dich besser?», hatte Celeste einmal gefragt. «Hast du darüber schon mal nachgedacht? Was mich betrifft, Sonnyboy, wäre ich nicht mit dir zusammen, wenn du nicht so gut aussähst.» Es sollte ein Scherz sein, aber Celestes Scherze hatten oft einen bitteren Beigeschmack. «Jetzt habe ich Sie doch beleidigt», sagte Marchent. «Bitte verzeihen Sie mir. Ich glaube, alle Normalsterblichen glorifizieren Menschen, die so gut aussehen wie Sie. Aber das Wesentliche an Ihnen ist, dass Sie ein Poet sind.» Als sie die gepflasterte Terrasse erreichten, wurde es kühler. Der Wind hatte jetzt etwas Schneidendes, und die Sonne sank hinter silbernen Wolken langsam ins Meer. Marchent blieb kurz stehen und schien um Atem zu ringen, aber Reuben war sich nicht sicher, ob das der Grund für ihr Zögern war. Der Wind ließ ihr Haar flattern, und sie legte die Hand schützend an die Stirn. Dann hob sie den Kopf und blickte zum obersten Fenster hinauf, als suchte sie dort etwas. Plötzlich kam sich Reuben wie das verlorenste Wesen der Welt vor, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie abgeschieden und einsam dieser Ort war. Das nächste Dorf, Nideck, war Kilometer entfernt, und wenn es hochkam, wohnten dort vielleicht zweihundert Menschen. Auf der Fahrt hatte er dort angehalten, aber die meisten Läden an der Hauptstraße waren geschlossen gewesen. Die einzige Pension stand zum Verkauf, und zwar schon «seit Ewigkeiten», wie der Tankwart sagte, aber Reuben solle sich keine Sorgen machen, es gebe hier kein Funkloch, Internet und Handys funktionierten hier einwandfrei. Trotzdem kam ihm die Welt jenseits der windigen Terrasse in diesem Moment ganz unwirklich vor. «Spukt es hier?», fragte er und folgte Marchents Blick zu dem obersten Fenster. «Sehen Sie Gespenster?» «Dieses Haus braucht keine», sagte sie. «Die Zeiten sind so schon finster genug.» «Es ist einfach ein wunderbares Haus», sagte Reuben. «Die Nidecks hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie einen Käufer mit einer romantischen Ader finden, der es beispielsweise in ein einzigartiges, unvergessliches Hotel umfunktioniert.» «Eine gute Idee. Andererseits: Warum sollte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen? Der Strand ist nur ein schmaler Streifen und schwer zu erreichen. Die Redwoodbäume sind phantastisch, aber wer aus der Gegend von San Francisco nimmt eine Fahrt von vier Stunden auf sich, um Redwoodbäume zu sehen? Das kann man in Kalifornien einfacher haben. Und das Dorf haben Sie ja selber gesehen. Bei Licht betrachtet, gibt es hier weit und breit nichts als Kap Nideck, wie Sie es nennen. Manchmal habe ich Angst, dass selbst dieses Haus nicht mehr lange stehen wird.» «Das dürfen Sie nicht sagen! Nicht mal denken. Wer würde denn so ein wunderbares Haus niederreißen?» Marchent nahm seinen Arm, und sie gingen über den sandigen Plattenweg an Reubens Wagen vorbei zur Tür auf der anderen Seite des Hauses. «Wenn Sie in meinem Alter wären, würde ich mich in Sie verlieben», sagte sie. «Hätte ich früher einen so charmanten Mann kennengelernt, würde ich heute bestimmt nicht allein leben.» «Warum eine Frau wie Sie allein lebt, kann ich nicht verstehen», sagte Reuben. Sie war die anmutigste und selbstsicherste Frau, die er kannte. Selbst nach ihrem Streifzug durch die Wildnis sah sie noch so elegant aus, als machte sie einen Einkaufsbummel am Rodeo Drive. Am linken Handgelenk trug sie ein schmales Perlenarmband, das ihren lässigen Bewegungen zusätzlichen Glanz verlieh, obwohl Reuben nicht genau sagen konnte, wie dieser Effekt zustande kam. Nach Westen hin war das Gelände baumlos, daher war es nur zu verständlich, warum man den Blick in diese Richtung frei gehalten hatte. Inzwischen toste der Wind übers Meer, und grauer Nebel senkte sich über den Pazifik. Ich muss mich mit der Atmosphäre vertraut machen, dachte Reuben. Dazu gehört auch so eine Düsternis wie jetzt gerade. Es war, als fiele ein Schatten auf seine Seele, aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl. Er wollte dieses Haus haben, sein Leben an diesem Ort verbringen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Zeitung hätte einen anderen Reporter hergeschickt, aber man hatte sich nun mal für ihn entschieden. Da hatte er wirklich Glück gehabt. «Mein Gott, es wird ja beinahe sekündlich kälter», sagte Marchent, und beide beschleunigten ihre Schritte. «Ich hatte ganz vergessen, wie schnell das hier an der Küste geht. Obwohl ich damit aufgewachsen bin, überrascht es mich immer noch.» Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um an der Fassade hochzusehen. Wieder sah es so aus, als suchte sie etwas oder jemanden. Dann legte sie wieder die Hand an die Stirn und blickte in den heraufziehenden Nebel. Bestimmt würde sie es eines Tages bereuen, dass sie sich entschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, dachte Reuben. Doch es schien nötig zu sein. Und schließlich hatte er nicht über ihre Gefühle zu entscheiden. Trotzdem war es ihm peinlich, dass er genug Geld hatte, um das Haus zu kaufen, und er hatte das Gefühl, dass er ausdrücklich erklären sollte, warum er kein Gebot abgab. Aber das wäre einfach zu unhöflich gewesen. Und abgesehen davon war er in Gedanken immer noch am Kalkulieren und Phantasieren. Die Wolken wurden dichter und dunkler, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Wieder folgte Reuben Marchents Blick die mittlerweile ganz im Dunkeln liegende Hausfassade hinauf. Die rautenförmigen bleiverglasten Fenster glänzten, und die gigantischen Redwoodbäume hinter der Ostseite des Hauses kamen ihm völlig überdimensioniert vor. «Was denken Sie gerade?», fragte Marchent. «Oh, nichts Besonderes. Ich habe gerade zu den Redwoodbäumen hinübergesehen. Sie lösen in mir immer ganz merkwürdige Gefühle aus. Neben ihnen wird alles andere so klein. Als würden sie sagen: ‹Wir waren schon da, bevor der erste Mensch hier an Land ging, und wir werden immer noch hier sein, wenn ihr und eure Häuser längst verschwunden seid.›» Marchent lächelte, aber sie sah traurig aus, als sie sagte: «Das stimmt. Mein Onkel Felix hat diese Bäume sehr geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht gefällt werden dürfen.» «Gott sei Dank», murmelte Reuben. «Es läuft mir immer kalt den Rücken herunter, wenn ich alte Fotos sehe, auf denen Holzfäller in den Redwoodwäldern arbeiten und tausend Jahre alte Baumriesen vernichten. Stellen Sie sich das bloß mal vor: tausend Jahre!» «Genau das hat Onkel Felix auch gesagt, fast wörtlich.» «Er würde auch nicht wollen, dass das Haus abgerissen wird, nicht wahr?» Sofort bereute Reuben, was er gesagt hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Das hätte ich nicht sagen sollen.» «Aber Sie haben absolut recht. Das hätte er ganz sicher nicht gewollt. Er hat dieses Haus sehr geliebt. Er hatte gerade angefangen, es zu renovieren, als er verschwand.» Mit einem merkwürdig sehnsüchtigen Blick wandte Marchent sich ab. «Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist», sagte sie seufzend. «Was meinen Sie damit, Marchent?» «Nun ja ... wie mein Onkel verschwunden ist.» Sie lachte bitter auf. «So ein Unsinn! Verschwunden! Wahrscheinlich ist er völlig zu Recht für tot erklärt worden. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich ihn verraten, wenn ich das Haus verkaufe oder Dinge sage wie: ‹Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wird ganz gewiss nie wieder durch diese Tür gehen.›» «Verstehe», sagte Reuben leise. Er hatte keinerlei Gefühl für den Tod und konnte sich darunter nichts vorstellen. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Freundin hatten ihm das oft vorgehalten. Seine Mutter war die gute Seele der Abteilung für Traumapatienten am General Hospital von San Francisco, und seine Freundin kannte die dunkle Seite der Menschen von ihrer Arbeit als Staatsanwältin, während sein Vater den Tod sogar in fallendem Laub sah. Er selbst hatte sechs Artikel über zwei Mordfälle geschrieben, und beide Frauen seines Lebens hatten diese Artikel erst in den Himmel gelobt und ihm dann Vorträge darüber gehalten, was er alles nicht begriffen hatte. Eine Bemerkung seines Vaters kam ihm in den Sinn. «Du bist ziemlich naiv, Reuben, aber das Leben wird dich früh genug lehren, was du wissen musst.» Er sagte oft ungewöhnliche Dinge. Erst am Vortag hatte er beim Essen gesagt: «Es vergeht kein Tag, an dem ich keine universelle Frage stelle. Was ist der Sinn des Lebens? Hat es überhaupt einen? Oder ist alles nur Schall und Rauch? Sind wir alle verdammt?» Und später hatte Celeste gesagt: «Ich weiß, warum nichts wirklich zu dir durchdringt, Sonnyboy. Deine Mutter schildert ihre Operationen in allen unappetitlichen Einzelheiten, während sie einen Krabbencocktail löffelt, und dein Vater spricht nur von absolut bedeutungslosen Dingen. Ich wünschte, ich könnte das so locker nehmen wie du. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, dich an meiner Seite zu haben.» Aber war es auch für ihn ein gutes Gefühl? Nein. Kein bisschen. Trotzdem musste man Celeste zugutehalten, dass sie viel liebenswürdiger und netter war, als man meinen könnte, wenn man sie nur reden hörte. Sie war eine knallharte Staatsanwältin, ein Meter sechsundfünfzig pures Dynamit, aber wenn sie mit ihm zusammen war, war sie anschmiegsam und einfach nur süß. Sie achtete darauf, wie er sich kleidete, und rief stets zurück, wenn er sie mal nicht erreichen konnte. Wenn er fachliche Fragen hatte, die sie nicht selbst beantworten konnte, setzte sie ihn umgehend mit kompetenten Kollegen in Verbindung. Trotzdem war ihre Art zu reden oft harsch und zynisch. Plötzlich hatte Reuben das Gefühl, dass das Haus etwas Düsteres, Tragisches ausstrahlte, und er wollte dahinterkommen, was es war, denn in erster Linie erinnerte es ihn an Cellomusik, tiefe, volltönende, etwas raue und vor allem klare Cellomusik. Es war, als spräche das Haus zu ihm - oder als würde es das tun, sobald er aufhörte, die Stimmen von zu Hause im Ohr zu haben. Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Ohne den Blick vom Haus abzuwenden, schaltete er es aus. «Meine Güte, wie Sie aussehen!», sagte Marchent. «Sie frieren ja! Wie gedankenlos von mir. Kommen Sie, wir gehen rein.» «Halb so schlimm», sagte Reuben. «In Russian Hill schlafe ich immer bei offenem Fenster. Ich bin solche Temperaturen gewohnt.» Er folgte ihr die Stufen hinauf und durch die massive, gewölbte Tür. Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, obwohl sie in einer riesigen Diele mit hohen Deckenbalken standen, von der in lichter Höhe endlose holzgetäfelte Flure abgingen, die sich im Zwielicht verloren. An der gegenüberliegenden Wand loderte ein Feuer in einem höhlenartigen Kamin. Davor standen alte, unförmige Sofas und Sessel. Die brennenden Eichenscheite hatte Reuben schon auf der Wanderung gerochen. Der Geruch war ihm ab und zu angenehm in die Nase gestiegen. Marchent führte ihn zu dem Samtsofa, das dem Kamin am nächsten stand. Auf einem großen marmornen Couchtisch stand ein silbernes Kaffeeservice. «Wärmen Sie sich auf», sagte sie und stellte sich selbst mit ausgestreckten Händen ans Feuer. Die großen alten Kaminböcke waren aus Messing, das Kamingitter schmiedeeisern, die Kaminziegel schwarz. Marchent drehte sich um und ging fast lautlos über die alten, abgewetzten Orientteppiche und schaltete einige Lampen an, die überall im Raum verteilt waren. Nach und nach wurde es hell und freundlich. Die Sitzmöbel waren trotz ihrer enormen Ausmaße bequem und die zerschlissenen Schonbezüge praktisch. Hier und da standen karamellfarbene Lederstühle. Etliche altmodische Bronzestatuen stellten mythologische Figuren dar. An den Wänden hingen alte, nachgedunkelte Landschaftsgemälde in schweren Goldrahmen. Es wurde so warm, dass Reuben kurz davor war, Jacke und Schal abzulegen. Er blickte auf die alte, dunkle Holztäfelung über dem Kamin, die mit klassischen Schnitzereien verziert war, genau wie die der anderen Wände. Der Kamin war von Bücherschränken eingerahmt, in denen große alte Lederbände, Bücher mit Leinenrücken und sogar Taschenbücher standen. Hinter Reuben, an der Ostseite des Hauses, schloss sich eine schöne alte Bibliothek an, ebenfalls holzgetäfelt. Schon immer hatte er davon geträumt, einmal so eine Bibliothek zu besitzen. Auch dort schien ein Kaminfeuer zu brennen. «Das ist ja atemberaubend», sagte er. Er stellte sich vor, wie sein Vater dort säße, seine Gedichte durchsähe und sich endlose Notizen machte. Er würde diese Bibliothek lieben. Es war der ideale Ort, um über universelle Fragen nachzudenken. Seine Mutter würde sich hier allerdings nicht wohlfühlen. Aber warum eigentlich nicht? Seine Eltern liebten einander, waren aber grundverschieden. Phil versuchte, Grace' Arztfreunde zu ertragen, und in ihren Augen waren seine wenigen Akademikerfreunde von früher schreckliche Langweiler. Gedichte verabscheute Grace aus grundsätzlichen Erwägungen, genau wie die Filme, die Phil mochte. Wenn er auf einer Dinnerparty seine Meinung über irgendetwas äußerte, wechselte sie das Thema, wandte sich ihrem Tischnachbarn zu, verließ den Raum, um noch eine Flasche Wein zu holen, oder begann zu husten. Sie tat das nicht, um ihn zu verletzen, denn so war sie nicht. Vielmehr stürzte sie sich voller Elan auf Dinge, die sie liebte, und sie vergötterte Reuben.
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Autoren-Porträt von Anne Rice
Rice, AnneAnne O'Brien Rice wurde 1941 in New Orleans geboren. Berühmt wurde sie vor allem mit ihrer zehnbändigen «Chronik der Vampire» (OT: «The Vampire Chronicles»); der erste Band, «Interview mit einem Vampir», wurde mit Brad Pitt und Tom Cruise verfilmt. Anne Rice hat insgesamt 27 Bücher geschrieben, die sich über 100 Millionen Mal verkauft haben. Sie lebt in der Nähe von Palm Springs.
Beleites, Edith
geboren 1953 in Bremen. Sie studierte Anglistik und Politik sowie Diplompädagogik in Marburg. Seit 1980 lebt und arbeitet sie als freie Autorin, Übersetzerin und Redakteurin in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Rice
- 2013, Neuausg., 656 Seiten, Masse: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Beleites, Edith
- Übersetzer: Edith Beleites
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499238608
- ISBN-13: 9783499238604
- Erscheinungsdatum: 01.07.2013
Rezension zu „Das Geschenk der Wölfe “
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