Das Geheimnis des Kalligraphen
Roman
In Damaskus macht ein Gerücht die Runde: Nura, die schöne Frau des berühmten Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet. Warum hat sie ein Leben, um das viele sie beneiden, hinter sich gelassen? Oder war sie Opfer einer Entführung der Gegner ihres Mannes?...
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis des Kalligraphen “
In Damaskus macht ein Gerücht die Runde: Nura, die schöne Frau des berühmten Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet. Warum hat sie ein Leben, um das viele sie beneiden, hinter sich gelassen? Oder war sie Opfer einer Entführung der Gegner ihres Mannes? Schon als junger Mann wird Farsi als Wunderkind der Kalligraphie gefeiert. Nun arbeitet er verbissen an Plänen für eine radikale Reform der arabischen Sprache, nicht ahnend, dass zwischen Nura und seinem Lehrling Salman eine leidenschaftliche Liebe ihren Anfang nimmt - die Liebe zwischen einer Muslimin und einem Christen. Der neue Roman des deutsch-syrischen Autors ist ein grosser Bilderbogen der syrischen Gesellschaft, der alle Sinne der Leser anspricht.
Klappentext zu „Das Geheimnis des Kalligraphen “
In Damaskus macht ein Gerücht die Runde: Nura, die schöne Frau des berühmten Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet. Warum hat sie ein Leben, um das viele sie beneiden, hinter sich gelassen? Oder war sie Opfer einer Entführung der Gegner ihres Mannes? Schon als junger Mann wird Farsi als Wunderkind der Kalligraphie gefeiert. Nun arbeitet er verbissen an Plänen für eine radikale Reform der arabischen Sprache, nicht ahnend, dass zwischen Nura und seinem Lehrling Salman eine leidenschaftliche Liebe ihren Anfang nimmt - die Liebe zwischen einer Muslimin und einem Christen. Der neue Roman des deutsch-syrischen Autors ist ein grosser Bilderbogen der syrischen Gesellschaft, der alle Sinne der Leser anspricht.
Lese-Probe zu „Das Geheimnis des Kalligraphen “
Das Geheimnis des Kalligraphen von Rafik Schami 1.
Unter dem Gejohle einer Gruppe Jugendlicher taumelte ein Mann
aus seinem Getreidegeschäft. Er versuchte verzweifelt, sich an der
Tür festzuhalten, doch die lärmende Meute schlug ihm auf die Finger
und Arme, zerrte an ihm, versetzte ihm Schläge, wenn auch keine besonders
kräftigen. Als wäre das Ganze ein Spaß, lachten die Jugendlichen
dabei und sangen ein absurdes Lied, in dem sie zugleich Gott
dankten und den Mann unflätig beschimpften. Es waren gereimte Obszönitäten
von Analphabeten.
»Hilfe«, schrie der Mann, doch keiner half ihm. Die Angst ließ seine
Stimme heiser klingen.
Wie Wespen schwirrten kleine Kinder in ärmlichen Kleidern um die
Traube der Jugendlichen, die den Mann hermetisch umschloss. Die
Kinder quengelten und bettelten in einem fort, auch sie würden den
Mann gerne einmal anfassen. Sie fielen zu Boden, richteten sich auf,
spuckten geräuschvoll und weit wie Erwachsene und rannten hinter
der Meute her.
Nachdem zwei Jahre lang Dürre geherrscht hatte, regnete es an diesem
Märztag 1942 wie schon seit über einer Woche ununterbrochen.
Erleichtert konnten die Bewohner der Stadt nun wieder tief schlafen.
Schlimme Sorgen hatten wie ein Alp auf Damaskus gelegen. Schon im
September des ersten Jahres der Dürre waren die Unheilverkünder, die
Steppenflughühner, gekommen, sie suchten in riesigen Schwärmen
Wasser und Nahrung in den Gärten der grünen Oase Damaskus. Man
wusste seit Urzeiten, wenn dieser taubengroße, sandfarben gesprenkelte
Steppenvogel erscheint, wird es Dürre geben. So war es auch in
jenem Herbst. So war es immer. Die Bauern hassten den Vogel.
... mehr
Sobald das erste Steppenflughuhn gesichtet wurde, erhöhten die
Großhändler von Weizen, Linsen, Kichererbsen, Zucker und Bohnen
die Preise.
In den Moscheen beteten die Imame seit Dezember mit Hunderten
von Kindern und Jugendlichen, die, von Lehrern und Erziehern begleitet,
scharenweise alle Gebetshäuser aufsuchten.
Der Himmel schien alle Wolken verschluckt zu haben. Sein Blau war
staubig. Die Saat harrte voller Sehnsucht nach Wasser in der trockenen
Erde aus, und was kurz keimte, erstarb - dünn wie Kinderhaare - in
der sommerlichen Hitze, die bis Ende Oktober anhielt. Bauern aus den
umliegenden Dörfern nahmen in Damaskus für ein Stück Brot jede
Arbeit an und waren dankbar dafür, denn sie wussten, bald würden die
noch hungrigeren Bauern aus dem trockenen Süden kommen, die mit
noch weniger Lohn zufrieden wären.
Scheich Rami Arabi, Nuras Vater, war seit Oktober völlig erschöpft,
denn neben den offiziellen fünf Gebeten in seiner kleinen Moschee
musste er Männerkreise leiten, die bis zur Morgendämmerung religiöse
Lieder sangen, um Gott milde zu stimmen und Regen zu erbitten.
Und auch am Tag kam er nicht zur Ruhe, denn zwischen den offiziellen
Gebetszeiten rückten die Massen der Schüler an, mit denen er
traurige Lieder anstimmen musste, die Gottes Herz erweichen sollten.
Es waren weinerliche Lieder, die Scheich Rami Arabi nicht mochte,
weil sie von Aberglauben nur so trieften. Der Aberglaube beherrschte
die Menschen wie ein Zauber. Es waren keine ungebildeten, sondern
angesehene Männer, die glaubten, die Steinsäulen der benachbarten
Moschee würden beim Gebet Scheich Hussein Kiftaros vor Rührung
weinen. Scheich Hussein war ein Halbanalphabet mit großem Turban
und langem Bart.
Rami Arabi wusste, dass Säulen niemals weinen, sondern durch die
Kälte Wassertropfen aus dem Dampf kondensieren, den die Betenden
ausatmen. Aber das durfte er nicht sagen. Den Aberglauben müsse er
erdulden, damit die Analphabeten ihren Glauben nicht verlören, sagte
er seiner Frau.
Am ersten März fiel der erste Tropfen Wasser. Ein Junge kam in die
Moschee gerannt, während Hunderte von Kindern sangen. Er schrie
so schrill, dass alle verstummten. Der Junge erschrak, als es so still
wurde, dann aber kamen die Worte schüchtern und leise aus seinem
Mund: »Es regnet«, sagte er. Eine Woge der Erleichterung ging durch
die Moschee und man hörte aus allen Ecken den Dank an Gott: Allahu
Akbar.Und als hätten auch ihre Augen den Segen Gottes erfahren,
weinten viele Erwachsene vor Rührung.
Draußen regnete es, anfangs zögerlich und dann in Strömen. Die
staubige Erde hüpfte vor Freude, dann sättigte sie sich und wurde ruhig
und dunkel. Innerhalb weniger Tage glänzte das Pflaster der Straßen
von Damaskus vom Staub befreit, und die gelben Felder außerhalb
der Stadt bekamen einen zarten, hellgrünen Mantel.
Die Armen atmeten erleichtert auf und die Bauern machten sich
auf den Weg zurück zu ihren Dörfern und zu ihren Frauen.
Scheich Rami aber regte sich auf, denn nun war die Moschee wie
leergefegt. Abgesehen von ein paar alten Männern kam niemand mehr
zum Gebet. »Sie behandeln Gott wie einen Restaurantdiener. Sie bestellen
bei ihm Regen, und sobald er ihnen das Bestellte bringt, zeigen
sie ihm die kalte Schulter«, sagte er.
Der Regen wurde weniger und ein warmer Wind fegte die feinen Tropfen
in die Gesichter der Jugendlichen, die nun ihren Tanz mit dem
Mann in die Mitte der Straße verlegten. Sie schlossen ihre Arme um
ihn und drehten ihn in ihrer Mitte, und dann flog sein Hemd über die
Köpfe, und als wäre es eine Schlange oder eine Spinne, traten die Kleineren
im äußersten Kreis der Tanzenden erregt auf das Hemd, zerbissen
und zerrissen es in Fetzen.
Der Mann hörte auf, Widerstand zu leisten, weil ihn die vielen Ohrfeigen
verwirrten. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen
Ton heraus. Irgendwann flog seine dicke Brille durch die Luft und landete
in einer Pfütze am Bürgersteig.
Einer der Jugendlichen war schon heiser vor Aufregung. Er sang in
zwischen keine Reime mehr, sondern aneinandergereihte Schimpfwörter.
Die Jugendlichen skandierten wie berauscht und streckten ihre
Hände gen Himmel: »Gott hat uns erhört.«
Der Mann schien niemanden zu sehen, während sein Blick auf der
Suche nach Halt umherirrte. Für einen Augenblick starrte er Nura an.
Sie war gerade sechs oder sieben und stand vor dem Regen geschützt
unter der großen, bunten Markise des Süßigkeitenladens am Eingang
ihrer Gasse. Sie wollte gerade anfangen, den roten Lutscher zu genießen,
den sie für einen Piaster bei Elias geholt hatte. Aber die Szene vor
ihr nahm sie gefangen. Jetzt zerrissen die Jugendlichen die Hose des
Mannes, und keiner der Passanten half ihm. Er fiel zu Boden. Sein Gesicht
war starr und blass, als hätte er bereits eine Ahnung von dem, was
noch kommen sollte. Die Tritte, die ihm die Tanzenden versetzten,
schien er nicht zu spüren. Er schimpfte nicht und flehte nicht, sondern
tastete zwischen den dünnen Beinen der Jugendlichen den Boden ab,
als ob er seine Brille suchen würde.
»In der Pfütze«, sprach Nura, als wollte sie ihm helfen.
Als ein älterer Herr im grauen Kittel der Angestellten zu ihm gehen
wollte, wurde er auf dem Bürgersteig von einem Mann unsanft aufgehalten,
der elegante traditionelle Kleider trug: nach hinten offene
Schuhe, weite schwarze Hosen, weißes Hemd, bunte Weste und einen
roten Schal aus Seide um den Bauch. Über seinen Schultern lag das
gefaltete, schwarzweiß gemusterte Kufiya, das arabische Männerkopftuch.
Unter dem Arm trug er ein verziertes Bambusrohr. Der dreißigjährige
muskulöse Mann war glatt rasiert und hatte einen großen, mit
Bartwichse gepflegten schwarzen Schnurrbart. Er war ein bekannter
Schlägertyp. Man nannte solche Damaszener Männer Kabadai,ein
türkisches Wort, das so viel bedeutet wie Raufbold. Das waren kräftige
und furchtlose Männer, die oft Streit suchten und davon lebten, für
Wohlhabende mit sauberen Händen schmutzige Aufträge zu erledigen,
wie etwa jemanden zu erpressen oder zu demütigen. Der Kabadai
schien Gefallen an der Tat der Jugendlichen gefunden zu haben.
»Lass den Kindern ihren Spaß mit diesem Ungläubigen, der ihnen das
Brot vom Mund raubt«, rief er wie ein Erzieher, packte den Mann im
grauen Kittel mit der linken Hand am Hals und schlug ihm mit dem
Stock lachend auf den Hintern, während er ihn ins Geschäft zurückbeförderte.
Die umstehenden Männer und Frauen lachten über den
Angestellten, der wie ein Schüler zu flehen anfing.
Nun lag der vermeintliche Räuber zusammengekauert und nackt
auf der Straße und weinte. Die Jugendlichen zogen davon, immer
noch im Regen singend und tanzend. Ein kleiner, blasser Junge mit
schmalem, vernarbtem Gesicht löste sich von der Meute, kehrte zurück
und versetzte dem Liegenden einen letzten Tritt in den Rücken.
Jauchzend und mit ausgebreiteten Armen ein Flugzeug nachahmend,
rannte er zu seinen Kameraden zurück.
»Nura, geh nach Hause. Das ist nichts für Mädchen«, hörte sie Elias'
sanfte Stimme, der das Ganze vom Fenster seines Ladens aus beobachtet
hatte.
Nura zuckte zusammen, aber sie ging nicht. Sie beobachtete, wie
der nackte Mann sich langsam aufsetzte, um sich schaute, einen Fetzen
seiner dunklen Hose heranzog und damit sein Geschlecht bedeckte.
Ein Bettler las die Brille auf, die trotz des weiten Wurfs unversehrt
geblieben war, und brachte sie dem Nackten. Der Mann setzte sie
auf, und ohne den Bettler weiter zu beachten, lief er in sein Geschäft.
Als Nura ihrer Mutter beim Kaffee im Wohnzimmer atemlos von
dem Vorfall erzählte, blieb diese ungerührt. Die dicke Nachbarin Badia,
die täglich zu Besuch kam, stellte die Mokkatasse auf den kleinen
Tisch und lachte laut auf.
»Geschieht dem herzlosen Kreuzanbeter recht. Das hat er davon,
die Preise zu erhöhen«, zischte die Mutter. Nura erschrak.
Und die Nachbarin erzählte belustigt, ihr Mann habe berichtet, in
der Nähe der Omaijaden-Moschee hätten Jugendliche einen jüdischen
Händler nackt bis zur Geraden Straße geschleift und dort unter
Gejohle beschimpft und geschlagen.
Nuras Vater kam spät. Sein Gesicht hatte an diesem Tag jede Farbe
verloren. Er war nur noch grau, und sie hörte ihn lange mit ihrer Mutter
über die Jugendlichen streiten, die er »gottlos« schimpfte. Erst beim
Abendessen hatte er sich wieder beruhigt.
Jahre später dachte Nura, wenn es so etwas wie eine Kreuzung auf
dem Weg zu ihren Eltern gegeben hätte, dann hätte sie sich in jener
Nacht entschieden, den Weg zum Vater zu nehmen. Das Verhältnis zu
ihrer Mutter blieb immer kalt.
Am Tag nach dem Vorfall wollte Nura wissen, ob der Mann mit
der Brille auch ohne Herz leben könne. Der Himmel klarte für Stunden
auf, nur eine Flotte kleiner Wolken überquerte den himmlischen
Ozean. Nura schlich durch die offene Haustür und gelangte von ihrer
Gasse zur Hauptstraße. Sie bog nach links ab und ging am großen Getreidegeschäft
vorbei, das zur Straße hin ein Büro mit großen Fenstern
hatte. Daneben lag die Halle, in der Arbeiter pralle Jutesäcke mit Körnern
trugen, wogen und aufstapelten.
Als wäre nichts geschehen, saß der Mann wieder vornehm dunkel
angezogen an einem mit Blättern übersäten Tisch und schrieb etwas
in ein dickes Heft. Er hob kurz den Kopf hoch und schaute zum Fenster
hinaus. Augenblicklich drehte Nura ihren Kopf zur Seite und lief
schnell weiter bis zum Eissalon. Dort holte sie tief Atem und machte
kehrt. Diesmal vermied sie es, ins Büro hineinzuschauen, damit der
Mann sie nicht erkennen konnte.
Noch Jahre später verfolgte sie das Bild des auf der Straße liegenden
nackten Mannes bis in ihre Träume. Nura wachte immer erschrocken
auf.
»Josef Aflak, Getreide, Saatgut«, entzifferte sie einige Zeit später das
Schild über dem Eingang des Geschäfts, und kurz darauf erfuhr sie,
dass der Mann Christ war. Es war nicht so, dass ihre Mutter diesen
Mann hasste, für sie waren alle, die nicht Muslime waren, Ungläubige.
Auch der Süßigkeitenverkäufer mit den lustigen roten Haaren war
Christ. Er hieß Elias und machte immer Scherze mit Nura. Er war der
einzige in ihrem Leben, der sie Prinzessin nannte. Sie fragte ihn einmal,
warum er sie nicht besuche, und hoffte dabei, dass er mit einer
großen Tüte voller bunter Süßigkeiten kommen würde, aber Elias
lachte nur.
Auch der Eissalon gehörte einem Christen, Rimon. Der war sonderbar.
Wenn er keine Kunden hatte, nahm er seine Laute von der
Wand und spielte und sang, bis der Laden voll wurde, dann rief er:
»Wer will ein Eis?«
Deshalb dachte Nura, ihre Mutter mochte Christen nicht, weil sie
lustig waren und immer das Leckerste verkauften. Ihre Mutter war
spindeldürr, lachte selten und aß nur, wenn es sich nicht vermeiden
ließ.
Oft tadelte sie der Vater, dass sie bald keinen Schatten mehr werfe.
Aufden alten Bildern sah die Mutter rundlich und schön aus. Aber
jetzt sagte auch Badia, die beleibte Nachbarin, sie fürchte, dass Nuras
Mutter beim nächsten Wind weggeweht würde.
Als Nura kurz vor Ende der neunten Klasse stand, hörte sie von
ihrem Vater, Josef, der Getreidehändler, sei gestorben. Er soll vor seinem
Tod erzählt haben, dass er damals, als die Jugendlichen ihn gequält
hatten, für einen Augenblick ohnmächtig gewesen sei und wie in
einem vorbeiziehenden Film gesehen habe, dass seine Tochter Marie
und sein Sohn Michel zum Islam übertreten würden.
Niemand nahm ihn ernst, weil der alte Mann kurz vor seinem Tod
Fieber hatte. Die Entscheidung seiner Tochter Marie, nach einer stürmischen
Liebe einen Muslim zu heiraten, hatte er nie verdaut. Die Ehe
endete später unglücklich.
Und über seinen einzigen Sohn Michel, der nicht sein Geschäft weiterführen,
sondern Politiker werden wollte, war er schon lange verärgert.
Doch Josefs Traum ging in Erfüllung, denn fünfzig Jahre später,
kurz vor seinem Tod, erklärte Michel als verbitterter alter Politiker
im Bagdader Exil seinen Übertritt zum Islam und wurde schließlich
dort unter dem Namen Ahmad Aflak begraben. Aber das ist eine andere
Geschichte.
Die Aijubigasse lag im alten Midan-Viertel südwestlich der Altstadt,
aber außerhalb der Stadtmauer. Sie duftete nach Anis, aber sie langweilte
Nura. Sie war kurz und hatte nur vier Häuser. Nuras Elternhaus
bildete den Abschluss dieser Sackgasse. Die fensterlose Mauer des
Anislagers besetzte die stumme rechte Seite.
Im ersten Haus auf der linken Seite der Gasse lebte Badia mit ihrem
Mann. Er war groß und formlos und sah aus wie ein ausgedienter
Kleiderschrank. Badia war die einzige Freundin von Nuras Mutter.
Nura kannte die neun Töchter und Söhne Badias nur als Erwachsene,
die sie immer freundlich grüßten, aber wie Schatten vorbeihuschten,
ohne Spuren zu hinterlassen. Nur die Tochter Buschra war ihr aus der
Kinderzeit im Gedächtnis geblieben. Sie mochte Nura, küsste sie,
wann immer sie sie sah, und nannte sie »meine Schöne«. Buschra duftete
nach exotischen Blumen, weshalb sich Nura gerne von ihr umarmen
ließ.
Das zweite Haus bewohnte ein reiches und kinderloses, sehr altes
Ehepaar, das kaum Kontakt zu den anderen hatte.
Im Haus unmittelbar neben Nura wohnte eine große Familie von
Christen, mit denen die Mutter kein Wort wechselte. Ihr Vater dagegen
grüßte die Männer freundlich, wenn er sie auf der Gasse traf,
während die Mutter etwas murmelte, das wie Abwehrzauber klang,
der sie schützen sollte, für den Fall, dass diese Feinde einen ihrer Zaubersprüche
gegen sie schleuderten.
Sieben oder acht Jungen zählte Nura im Haus der Christen. Es gab
kein einziges Mädchen. Sie spielten mit Bällen, Murmeln und Kieselsteinen.
Manchmal tollten sie fröhlich den ganzen Tag wie übermütige
Welpen herum. Nura beobachtete sie oft von der Haustür aus, immer
bereit, die Tür zuzuschlagen, sobald sich einer ihr näherte. Zwei von
ihnen, die etwas älter und größer waren als die anderen, machten ihr
immer, sobald sie sie erblickten, Andeutungen, dass sie sie umarmen
und küssen wollten, dann huschte sie schnell ins Haus und beobachtete
durch das große Schlüsselloch, wie die Jungen miteinander
lachten. Ihr Herz raste, und sie wagte sich den ganzen Tag nicht mehr
hinaus.
Manchmal trieben sie es wirklich schlimm. Wenn Nura auf dem
Rückweg vom Eisverkäufer oder vom Süßigkeitenhändler war, tauchten
die Jungen plötzlich auf und stellten sich wie eine Mauer vor sie.
Sie forderten, an ihrem Eis oder Lutscher lecken zu dürfen, und drohten,
ihr sonst den Weg nicht freizumachen. Erst wenn Nura anfing zu
weinen, verschwanden sie.
Eines Tages beobachtete Elias die Szene, als er zufällig vor seinem
Laden kehrte und einen Blick in die Gasse warf. Er kam Nura mit seinem
großen Besen zu Hilfe und schimpfte mit den Jungen. »Wenn es
noch einmal einer wagt, dir den Weg zu versperren, komm nur zu mir.
Mein Besen hungert nach einem Hintern«, rief Elias laut, damit die
Jungen es hörten. Das wirkte. Seit diesem Tag standen ihr die Jungen
Spalier, wenn sie sich zufällig trafen.
Nur einer gab nicht auf. Er flüsterte ihr häufig zu: »Du bist so schön.
Ich will dich sofort heiraten.«
Er war dick, hatte weiße Haut und rote Backen und war jünger als
sie. Die anderen, schon größeren Jungen, die ihr schöne Augen machten,
lachten ihn aus.
»Dummkopf, sie ist eine Muslimin.«
»Dann will ich auch ein Muslim sein«, rief der Junge verzweifelt
und handelte sich eine schallende Ohrfeige von einem seiner Brüder
ein. Der Dicke hieß Maurice, ein anderer Giorgios. Komische Namen,
dachte Nura und hatte Mitleid mit dem Dicken, der nun laut heulte.
»Und wenn schon. Ich bin Muslim, wenn es mir gefällt, und Muhammad
ist mir lieber als du«, rief er trotzig, und der andere gab
ihm eine zweite Ohrfeige und einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.
Maurice schniefte und schaute unaufhörlich auf Nuras Haus, als
würde er von dort die Rettung erwarten.
Bald darauf rief eine Frau aus dem Hausinneren nach ihm, und
er ging langsam und mit gesenktem Haupt hinein. Es dauerte nicht
lang, und Nura hörte die Schreie der Mutter und das Flehen des Sohnes.
Seit diesem Tag sprach Maurice nicht mehr vom Heiraten. Er mied
Nuras Blick, als ob er durch ihn krank werden könnte. Einmal saß er
am Hauseingang und schluchzte. Als er Nura sah, drehte er sich zur
Wand und weinte leise. Nura blieb stehen. Sie sah seine großen dunkelroten
Ohren und verstand, dass man ihn geschlagen hatte. Er tat ihr
leid. Sie näherte sich ihm und berührte ganz leicht seine Schulter.
Maurice hörte abrupt auf zu weinen. Er drehte sich zu ihr und lächelte
mit einem Gesicht voller Tränen und Rotz, den er mit dem Ärmel über
beide Wangen verteilt hatte.
»Nura«, flüsterte er erstaunt.
Sie wurde rot und rannte nach Hause. Ihr Herz klopfte. Sie gab ihrer
Mutter die Papiertüte mit den Zwiebeln, die sie bei Omar, dem Gemüsehändler,
gekauft hatte.
»Hat der Gemüsehändler was gesagt?«, fragte die Mutter.
»Nein«, sagte Nura und wollte zur Haustür gehen, um nach Maurice
Ausschau zu halten.
»Du bist ja so außer dir, hast du etwas angestellt?«, fragte die Mutter.
»Nein«, antwortete Nura.
»Komm her«, sagte die Mutter, »ich werde alles von deiner Stirn ablesen.
« Nura bekam fürchterliche Angst, und die Mutter las und las
und dann sagte sie: »Du kannst gehen, du hast nichts Schlimmes getan.«
Jahrelang glaubte Nura, dass ihre Mutter ihr die Untaten von der
Stirn ablesen könne, deshalb schaute sie nach jeder Begegnung mit
dem dicklichen Jungen in den Spiegel, um zu sehen, ob irgendetwas
auf der Stirn zu sehen war. Sie schrubbte sie sicherheitshalber mit Olivenkernseife
und wusch sie danach gründlich ab.
Überhaupt war ihre Mutter sonderbar. Sie schien sich für die ganze
Welt verantwortlich zu fühlen. Einmal nahm ihr Vater Nura und die
Mutter zu einem Fest mit, bei dem Derwische tanzten, und selten
fühlte sich Nura so leicht wie an jenem Abend. Auch ihr Vater schien
zu schweben vor Glückseligkeit. Der eine Derwisch tanzte mit geschlossenen
Augen und die anderen kreisten um ihn wie Planeten um
die Sonne. Ihre Mutter aber sah nur, dass sein Kleid an mehreren Stellen
schmutzig war.
An religiösen Festen schmückten ihre Eltern und die Muslime der
ganzen Straße ihre Häuser und Geschäfte mit bunten Tüchern. Teppiche
hingen aus den Fenstern und von Balkonen, Blumentöpfe wurden
vor die Hauseingänge gestellt. Prozessionen zogen singend und tanzend
durch die Straßen. Manche zeigten Schwert- und Bambusrohr-
kämpfe, andere veranstalteten ein Feuerwerk und aus den Fenstern
regnete es Rosenwasser auf die Passanten.
Die Christen feierten leise, ohne bunte Fahnen und ohne Umzüge.
Diesen Unterschied hatte Nura sehr früh bemerkt. Nur die Kirchenglocken
schlugen an jenen Tagen etwas lauter. Man sah die Christen in
festlichen Kleidern, aber es gab weder einen Jahrmarkt noch ein Riesenrad
oder bunte Fahnen.
Auch kamen die christlichen Feiertage immer zur gleichen Jahreszeit.
Weihnachten Ende Dezember und Ostern im Frühjahr und
Pfingsten im Frühsommer. Der Ramadan aber wanderte durch das
ganze Jahr. Und wenn er im Hochsommer kam, war es kaum auszuhalten.
Sie musste von morgens bis abends ohne ein Stück Brot, ohne
einen Schluck Wasser ausharren und das bei vierzig Grad im Schatten.
Maurice hatte Mitleid mit ihr. Er flüsterte ihr zu, auch er faste heimlich,
damit er sich genauso elend fühle wie sie.
Sie vergaß nie den Tag, als Maurice ihr zuliebe eine kleine Verwirrung
auslöste. Sie war bereits vierzehn und der Ramadan war in jenem
Jahr im August. Sie fastete und litt. Plötzlich hörten die Nachbarn
deutlich die Muezzinrufe und stürzten sich auf das Essen. Nur ihre
Mutter sagte: »Das kann doch nicht stimmen! Dein Vater ist noch
nicht zu Hause und die Kanone wurde noch nicht abgefeuert.«
Eine halbe Stunde später hörte man dann die Rufe der Muezzins
über den Dächern und ein Kanonenschuss erschütterte die Luft. Ihr
Vater, der bald darauf hereinkam, erzählte, die Leute hätten wegen
eines falschen Muezzins das Fasten zu früh gebrochen. Nura wusste
sofort, wer dahintersteckte. Eine Stunde später klopften zwei Polizisten
bei der christlichen Familie, es gab Geschrei und Tränen.
Von allen Festen und Feiertagen mochte Nura den siebenundzwanzigsten
Tag des Ramadan am liebsten. An diesem Tag öffne sich der
Himmel und Gott höre für kurze Zeit die Wünsche der Menschen,
sagte ihr Vater. Seit sie denken konnte, war sie jedes Jahr schon Tage
vorher unruhig, sie überlegte und überlegte, was sie sich von Gott
wünschen solle.
Nie hatte er ihr auch nur einen einzigen Wunsch erfüllt.
Gott schien sie nicht zu mögen. Doch der dicke Maurice erklärte
ihr, Gott möge mit Sicherheit schöne Mädchen, er könne aber ihre
Stimme nicht hören. Und Maurice wusste auch warum: »Die Erwachsenen
beten in dieser Nacht so laut, dass Gott Kopfschmerzen bekommt
und den Himmel schließt, noch bevor er ein einziges Kind
gehört hat.«
Und in der Tat versammelte ihr Vater seine Verwandten und
Freunde im Hof und bat mit ihnen zusammen Gott laut um Ver-
gebung ihrer Sünden und Erfüllung der Wünsche nach Glück und Gesundheit.
Nura blickte auf die Versammelten und wusste, dass Maurice
recht hatte. Da rief sie einmal mitten im Gebet laut aus: »Aber für
mich kannst du, lieber Gott, ja einen Eimer Vanilleeis mit Pistazien
schicken.« Die Betenden lachten und konnten trotz wiederholter Versuche
nicht weiterbeten, denn immer wieder unterbrach einer das Gebet
mit schallendem Gelächter.
Nur Nuras Mutter fürchtete sich vor der Strafe Gottes. Und sie
war die einzige, die am nächsten Tag Durchfall hatte. Sie jammerte,
warum Gott ausgerechnet sie bestrafe, obwohl sie kaum gelacht habe.
Überhaupt war die Mutter sehr abergläubisch, sie schnitt ihre Nägel
nie nachts, damit die Geister sie nicht mit Alpträumen bestraften.
Sie kippte kein heißes Wasser ins Waschbecken, ohne vorher den Namen
Gottes laut auszurufen, damit sich die Geister, die gerne in den
dunklen Wasserrohren hausen, nicht verbrühten und sie nicht bestraften.
Von nun an durfte Nura nicht mehr mitbeten. Sie musste in ihrem
Zimmer bleiben und leise ihre Wünsche aussprechen. Oft lag sie nur
auf dem Bett und schaute durch das Fenster zum dunklen Sternenhimmel
hinauf.
Schon früh merkte sie, dass ihr Vater an den Feiertagen von einer
sonderbaren Trauer heimgesucht wurde. Er, dessen Worte in der Moschee
Hunderte von Männern aufrichteten und den alle Ladenbesitzer
auf der Hauptstraße, wenn er vorbeiging, respektvoll begrüßten
- manchmal unterbrachen sie sogar ihre Gespräche, um ihn kurz um
seinen Rat zu fragen -, dieser mächtige Vater war jedes Jahr nach dem
feierlichen Gebet unglücklich. Er ging gebeugt zum Sofa, kauerte sich
hin und schluchzte wie ein Kind. Nie erfuhr Nura den Grund.
© Weltbild
Sobald das erste Steppenflughuhn gesichtet wurde, erhöhten die
Großhändler von Weizen, Linsen, Kichererbsen, Zucker und Bohnen
die Preise.
In den Moscheen beteten die Imame seit Dezember mit Hunderten
von Kindern und Jugendlichen, die, von Lehrern und Erziehern begleitet,
scharenweise alle Gebetshäuser aufsuchten.
Der Himmel schien alle Wolken verschluckt zu haben. Sein Blau war
staubig. Die Saat harrte voller Sehnsucht nach Wasser in der trockenen
Erde aus, und was kurz keimte, erstarb - dünn wie Kinderhaare - in
der sommerlichen Hitze, die bis Ende Oktober anhielt. Bauern aus den
umliegenden Dörfern nahmen in Damaskus für ein Stück Brot jede
Arbeit an und waren dankbar dafür, denn sie wussten, bald würden die
noch hungrigeren Bauern aus dem trockenen Süden kommen, die mit
noch weniger Lohn zufrieden wären.
Scheich Rami Arabi, Nuras Vater, war seit Oktober völlig erschöpft,
denn neben den offiziellen fünf Gebeten in seiner kleinen Moschee
musste er Männerkreise leiten, die bis zur Morgendämmerung religiöse
Lieder sangen, um Gott milde zu stimmen und Regen zu erbitten.
Und auch am Tag kam er nicht zur Ruhe, denn zwischen den offiziellen
Gebetszeiten rückten die Massen der Schüler an, mit denen er
traurige Lieder anstimmen musste, die Gottes Herz erweichen sollten.
Es waren weinerliche Lieder, die Scheich Rami Arabi nicht mochte,
weil sie von Aberglauben nur so trieften. Der Aberglaube beherrschte
die Menschen wie ein Zauber. Es waren keine ungebildeten, sondern
angesehene Männer, die glaubten, die Steinsäulen der benachbarten
Moschee würden beim Gebet Scheich Hussein Kiftaros vor Rührung
weinen. Scheich Hussein war ein Halbanalphabet mit großem Turban
und langem Bart.
Rami Arabi wusste, dass Säulen niemals weinen, sondern durch die
Kälte Wassertropfen aus dem Dampf kondensieren, den die Betenden
ausatmen. Aber das durfte er nicht sagen. Den Aberglauben müsse er
erdulden, damit die Analphabeten ihren Glauben nicht verlören, sagte
er seiner Frau.
Am ersten März fiel der erste Tropfen Wasser. Ein Junge kam in die
Moschee gerannt, während Hunderte von Kindern sangen. Er schrie
so schrill, dass alle verstummten. Der Junge erschrak, als es so still
wurde, dann aber kamen die Worte schüchtern und leise aus seinem
Mund: »Es regnet«, sagte er. Eine Woge der Erleichterung ging durch
die Moschee und man hörte aus allen Ecken den Dank an Gott: Allahu
Akbar.Und als hätten auch ihre Augen den Segen Gottes erfahren,
weinten viele Erwachsene vor Rührung.
Draußen regnete es, anfangs zögerlich und dann in Strömen. Die
staubige Erde hüpfte vor Freude, dann sättigte sie sich und wurde ruhig
und dunkel. Innerhalb weniger Tage glänzte das Pflaster der Straßen
von Damaskus vom Staub befreit, und die gelben Felder außerhalb
der Stadt bekamen einen zarten, hellgrünen Mantel.
Die Armen atmeten erleichtert auf und die Bauern machten sich
auf den Weg zurück zu ihren Dörfern und zu ihren Frauen.
Scheich Rami aber regte sich auf, denn nun war die Moschee wie
leergefegt. Abgesehen von ein paar alten Männern kam niemand mehr
zum Gebet. »Sie behandeln Gott wie einen Restaurantdiener. Sie bestellen
bei ihm Regen, und sobald er ihnen das Bestellte bringt, zeigen
sie ihm die kalte Schulter«, sagte er.
Der Regen wurde weniger und ein warmer Wind fegte die feinen Tropfen
in die Gesichter der Jugendlichen, die nun ihren Tanz mit dem
Mann in die Mitte der Straße verlegten. Sie schlossen ihre Arme um
ihn und drehten ihn in ihrer Mitte, und dann flog sein Hemd über die
Köpfe, und als wäre es eine Schlange oder eine Spinne, traten die Kleineren
im äußersten Kreis der Tanzenden erregt auf das Hemd, zerbissen
und zerrissen es in Fetzen.
Der Mann hörte auf, Widerstand zu leisten, weil ihn die vielen Ohrfeigen
verwirrten. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen
Ton heraus. Irgendwann flog seine dicke Brille durch die Luft und landete
in einer Pfütze am Bürgersteig.
Einer der Jugendlichen war schon heiser vor Aufregung. Er sang in
zwischen keine Reime mehr, sondern aneinandergereihte Schimpfwörter.
Die Jugendlichen skandierten wie berauscht und streckten ihre
Hände gen Himmel: »Gott hat uns erhört.«
Der Mann schien niemanden zu sehen, während sein Blick auf der
Suche nach Halt umherirrte. Für einen Augenblick starrte er Nura an.
Sie war gerade sechs oder sieben und stand vor dem Regen geschützt
unter der großen, bunten Markise des Süßigkeitenladens am Eingang
ihrer Gasse. Sie wollte gerade anfangen, den roten Lutscher zu genießen,
den sie für einen Piaster bei Elias geholt hatte. Aber die Szene vor
ihr nahm sie gefangen. Jetzt zerrissen die Jugendlichen die Hose des
Mannes, und keiner der Passanten half ihm. Er fiel zu Boden. Sein Gesicht
war starr und blass, als hätte er bereits eine Ahnung von dem, was
noch kommen sollte. Die Tritte, die ihm die Tanzenden versetzten,
schien er nicht zu spüren. Er schimpfte nicht und flehte nicht, sondern
tastete zwischen den dünnen Beinen der Jugendlichen den Boden ab,
als ob er seine Brille suchen würde.
»In der Pfütze«, sprach Nura, als wollte sie ihm helfen.
Als ein älterer Herr im grauen Kittel der Angestellten zu ihm gehen
wollte, wurde er auf dem Bürgersteig von einem Mann unsanft aufgehalten,
der elegante traditionelle Kleider trug: nach hinten offene
Schuhe, weite schwarze Hosen, weißes Hemd, bunte Weste und einen
roten Schal aus Seide um den Bauch. Über seinen Schultern lag das
gefaltete, schwarzweiß gemusterte Kufiya, das arabische Männerkopftuch.
Unter dem Arm trug er ein verziertes Bambusrohr. Der dreißigjährige
muskulöse Mann war glatt rasiert und hatte einen großen, mit
Bartwichse gepflegten schwarzen Schnurrbart. Er war ein bekannter
Schlägertyp. Man nannte solche Damaszener Männer Kabadai,ein
türkisches Wort, das so viel bedeutet wie Raufbold. Das waren kräftige
und furchtlose Männer, die oft Streit suchten und davon lebten, für
Wohlhabende mit sauberen Händen schmutzige Aufträge zu erledigen,
wie etwa jemanden zu erpressen oder zu demütigen. Der Kabadai
schien Gefallen an der Tat der Jugendlichen gefunden zu haben.
»Lass den Kindern ihren Spaß mit diesem Ungläubigen, der ihnen das
Brot vom Mund raubt«, rief er wie ein Erzieher, packte den Mann im
grauen Kittel mit der linken Hand am Hals und schlug ihm mit dem
Stock lachend auf den Hintern, während er ihn ins Geschäft zurückbeförderte.
Die umstehenden Männer und Frauen lachten über den
Angestellten, der wie ein Schüler zu flehen anfing.
Nun lag der vermeintliche Räuber zusammengekauert und nackt
auf der Straße und weinte. Die Jugendlichen zogen davon, immer
noch im Regen singend und tanzend. Ein kleiner, blasser Junge mit
schmalem, vernarbtem Gesicht löste sich von der Meute, kehrte zurück
und versetzte dem Liegenden einen letzten Tritt in den Rücken.
Jauchzend und mit ausgebreiteten Armen ein Flugzeug nachahmend,
rannte er zu seinen Kameraden zurück.
»Nura, geh nach Hause. Das ist nichts für Mädchen«, hörte sie Elias'
sanfte Stimme, der das Ganze vom Fenster seines Ladens aus beobachtet
hatte.
Nura zuckte zusammen, aber sie ging nicht. Sie beobachtete, wie
der nackte Mann sich langsam aufsetzte, um sich schaute, einen Fetzen
seiner dunklen Hose heranzog und damit sein Geschlecht bedeckte.
Ein Bettler las die Brille auf, die trotz des weiten Wurfs unversehrt
geblieben war, und brachte sie dem Nackten. Der Mann setzte sie
auf, und ohne den Bettler weiter zu beachten, lief er in sein Geschäft.
Als Nura ihrer Mutter beim Kaffee im Wohnzimmer atemlos von
dem Vorfall erzählte, blieb diese ungerührt. Die dicke Nachbarin Badia,
die täglich zu Besuch kam, stellte die Mokkatasse auf den kleinen
Tisch und lachte laut auf.
»Geschieht dem herzlosen Kreuzanbeter recht. Das hat er davon,
die Preise zu erhöhen«, zischte die Mutter. Nura erschrak.
Und die Nachbarin erzählte belustigt, ihr Mann habe berichtet, in
der Nähe der Omaijaden-Moschee hätten Jugendliche einen jüdischen
Händler nackt bis zur Geraden Straße geschleift und dort unter
Gejohle beschimpft und geschlagen.
Nuras Vater kam spät. Sein Gesicht hatte an diesem Tag jede Farbe
verloren. Er war nur noch grau, und sie hörte ihn lange mit ihrer Mutter
über die Jugendlichen streiten, die er »gottlos« schimpfte. Erst beim
Abendessen hatte er sich wieder beruhigt.
Jahre später dachte Nura, wenn es so etwas wie eine Kreuzung auf
dem Weg zu ihren Eltern gegeben hätte, dann hätte sie sich in jener
Nacht entschieden, den Weg zum Vater zu nehmen. Das Verhältnis zu
ihrer Mutter blieb immer kalt.
Am Tag nach dem Vorfall wollte Nura wissen, ob der Mann mit
der Brille auch ohne Herz leben könne. Der Himmel klarte für Stunden
auf, nur eine Flotte kleiner Wolken überquerte den himmlischen
Ozean. Nura schlich durch die offene Haustür und gelangte von ihrer
Gasse zur Hauptstraße. Sie bog nach links ab und ging am großen Getreidegeschäft
vorbei, das zur Straße hin ein Büro mit großen Fenstern
hatte. Daneben lag die Halle, in der Arbeiter pralle Jutesäcke mit Körnern
trugen, wogen und aufstapelten.
Als wäre nichts geschehen, saß der Mann wieder vornehm dunkel
angezogen an einem mit Blättern übersäten Tisch und schrieb etwas
in ein dickes Heft. Er hob kurz den Kopf hoch und schaute zum Fenster
hinaus. Augenblicklich drehte Nura ihren Kopf zur Seite und lief
schnell weiter bis zum Eissalon. Dort holte sie tief Atem und machte
kehrt. Diesmal vermied sie es, ins Büro hineinzuschauen, damit der
Mann sie nicht erkennen konnte.
Noch Jahre später verfolgte sie das Bild des auf der Straße liegenden
nackten Mannes bis in ihre Träume. Nura wachte immer erschrocken
auf.
»Josef Aflak, Getreide, Saatgut«, entzifferte sie einige Zeit später das
Schild über dem Eingang des Geschäfts, und kurz darauf erfuhr sie,
dass der Mann Christ war. Es war nicht so, dass ihre Mutter diesen
Mann hasste, für sie waren alle, die nicht Muslime waren, Ungläubige.
Auch der Süßigkeitenverkäufer mit den lustigen roten Haaren war
Christ. Er hieß Elias und machte immer Scherze mit Nura. Er war der
einzige in ihrem Leben, der sie Prinzessin nannte. Sie fragte ihn einmal,
warum er sie nicht besuche, und hoffte dabei, dass er mit einer
großen Tüte voller bunter Süßigkeiten kommen würde, aber Elias
lachte nur.
Auch der Eissalon gehörte einem Christen, Rimon. Der war sonderbar.
Wenn er keine Kunden hatte, nahm er seine Laute von der
Wand und spielte und sang, bis der Laden voll wurde, dann rief er:
»Wer will ein Eis?«
Deshalb dachte Nura, ihre Mutter mochte Christen nicht, weil sie
lustig waren und immer das Leckerste verkauften. Ihre Mutter war
spindeldürr, lachte selten und aß nur, wenn es sich nicht vermeiden
ließ.
Oft tadelte sie der Vater, dass sie bald keinen Schatten mehr werfe.
Aufden alten Bildern sah die Mutter rundlich und schön aus. Aber
jetzt sagte auch Badia, die beleibte Nachbarin, sie fürchte, dass Nuras
Mutter beim nächsten Wind weggeweht würde.
Als Nura kurz vor Ende der neunten Klasse stand, hörte sie von
ihrem Vater, Josef, der Getreidehändler, sei gestorben. Er soll vor seinem
Tod erzählt haben, dass er damals, als die Jugendlichen ihn gequält
hatten, für einen Augenblick ohnmächtig gewesen sei und wie in
einem vorbeiziehenden Film gesehen habe, dass seine Tochter Marie
und sein Sohn Michel zum Islam übertreten würden.
Niemand nahm ihn ernst, weil der alte Mann kurz vor seinem Tod
Fieber hatte. Die Entscheidung seiner Tochter Marie, nach einer stürmischen
Liebe einen Muslim zu heiraten, hatte er nie verdaut. Die Ehe
endete später unglücklich.
Und über seinen einzigen Sohn Michel, der nicht sein Geschäft weiterführen,
sondern Politiker werden wollte, war er schon lange verärgert.
Doch Josefs Traum ging in Erfüllung, denn fünfzig Jahre später,
kurz vor seinem Tod, erklärte Michel als verbitterter alter Politiker
im Bagdader Exil seinen Übertritt zum Islam und wurde schließlich
dort unter dem Namen Ahmad Aflak begraben. Aber das ist eine andere
Geschichte.
Die Aijubigasse lag im alten Midan-Viertel südwestlich der Altstadt,
aber außerhalb der Stadtmauer. Sie duftete nach Anis, aber sie langweilte
Nura. Sie war kurz und hatte nur vier Häuser. Nuras Elternhaus
bildete den Abschluss dieser Sackgasse. Die fensterlose Mauer des
Anislagers besetzte die stumme rechte Seite.
Im ersten Haus auf der linken Seite der Gasse lebte Badia mit ihrem
Mann. Er war groß und formlos und sah aus wie ein ausgedienter
Kleiderschrank. Badia war die einzige Freundin von Nuras Mutter.
Nura kannte die neun Töchter und Söhne Badias nur als Erwachsene,
die sie immer freundlich grüßten, aber wie Schatten vorbeihuschten,
ohne Spuren zu hinterlassen. Nur die Tochter Buschra war ihr aus der
Kinderzeit im Gedächtnis geblieben. Sie mochte Nura, küsste sie,
wann immer sie sie sah, und nannte sie »meine Schöne«. Buschra duftete
nach exotischen Blumen, weshalb sich Nura gerne von ihr umarmen
ließ.
Das zweite Haus bewohnte ein reiches und kinderloses, sehr altes
Ehepaar, das kaum Kontakt zu den anderen hatte.
Im Haus unmittelbar neben Nura wohnte eine große Familie von
Christen, mit denen die Mutter kein Wort wechselte. Ihr Vater dagegen
grüßte die Männer freundlich, wenn er sie auf der Gasse traf,
während die Mutter etwas murmelte, das wie Abwehrzauber klang,
der sie schützen sollte, für den Fall, dass diese Feinde einen ihrer Zaubersprüche
gegen sie schleuderten.
Sieben oder acht Jungen zählte Nura im Haus der Christen. Es gab
kein einziges Mädchen. Sie spielten mit Bällen, Murmeln und Kieselsteinen.
Manchmal tollten sie fröhlich den ganzen Tag wie übermütige
Welpen herum. Nura beobachtete sie oft von der Haustür aus, immer
bereit, die Tür zuzuschlagen, sobald sich einer ihr näherte. Zwei von
ihnen, die etwas älter und größer waren als die anderen, machten ihr
immer, sobald sie sie erblickten, Andeutungen, dass sie sie umarmen
und küssen wollten, dann huschte sie schnell ins Haus und beobachtete
durch das große Schlüsselloch, wie die Jungen miteinander
lachten. Ihr Herz raste, und sie wagte sich den ganzen Tag nicht mehr
hinaus.
Manchmal trieben sie es wirklich schlimm. Wenn Nura auf dem
Rückweg vom Eisverkäufer oder vom Süßigkeitenhändler war, tauchten
die Jungen plötzlich auf und stellten sich wie eine Mauer vor sie.
Sie forderten, an ihrem Eis oder Lutscher lecken zu dürfen, und drohten,
ihr sonst den Weg nicht freizumachen. Erst wenn Nura anfing zu
weinen, verschwanden sie.
Eines Tages beobachtete Elias die Szene, als er zufällig vor seinem
Laden kehrte und einen Blick in die Gasse warf. Er kam Nura mit seinem
großen Besen zu Hilfe und schimpfte mit den Jungen. »Wenn es
noch einmal einer wagt, dir den Weg zu versperren, komm nur zu mir.
Mein Besen hungert nach einem Hintern«, rief Elias laut, damit die
Jungen es hörten. Das wirkte. Seit diesem Tag standen ihr die Jungen
Spalier, wenn sie sich zufällig trafen.
Nur einer gab nicht auf. Er flüsterte ihr häufig zu: »Du bist so schön.
Ich will dich sofort heiraten.«
Er war dick, hatte weiße Haut und rote Backen und war jünger als
sie. Die anderen, schon größeren Jungen, die ihr schöne Augen machten,
lachten ihn aus.
»Dummkopf, sie ist eine Muslimin.«
»Dann will ich auch ein Muslim sein«, rief der Junge verzweifelt
und handelte sich eine schallende Ohrfeige von einem seiner Brüder
ein. Der Dicke hieß Maurice, ein anderer Giorgios. Komische Namen,
dachte Nura und hatte Mitleid mit dem Dicken, der nun laut heulte.
»Und wenn schon. Ich bin Muslim, wenn es mir gefällt, und Muhammad
ist mir lieber als du«, rief er trotzig, und der andere gab
ihm eine zweite Ohrfeige und einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.
Maurice schniefte und schaute unaufhörlich auf Nuras Haus, als
würde er von dort die Rettung erwarten.
Bald darauf rief eine Frau aus dem Hausinneren nach ihm, und
er ging langsam und mit gesenktem Haupt hinein. Es dauerte nicht
lang, und Nura hörte die Schreie der Mutter und das Flehen des Sohnes.
Seit diesem Tag sprach Maurice nicht mehr vom Heiraten. Er mied
Nuras Blick, als ob er durch ihn krank werden könnte. Einmal saß er
am Hauseingang und schluchzte. Als er Nura sah, drehte er sich zur
Wand und weinte leise. Nura blieb stehen. Sie sah seine großen dunkelroten
Ohren und verstand, dass man ihn geschlagen hatte. Er tat ihr
leid. Sie näherte sich ihm und berührte ganz leicht seine Schulter.
Maurice hörte abrupt auf zu weinen. Er drehte sich zu ihr und lächelte
mit einem Gesicht voller Tränen und Rotz, den er mit dem Ärmel über
beide Wangen verteilt hatte.
»Nura«, flüsterte er erstaunt.
Sie wurde rot und rannte nach Hause. Ihr Herz klopfte. Sie gab ihrer
Mutter die Papiertüte mit den Zwiebeln, die sie bei Omar, dem Gemüsehändler,
gekauft hatte.
»Hat der Gemüsehändler was gesagt?«, fragte die Mutter.
»Nein«, sagte Nura und wollte zur Haustür gehen, um nach Maurice
Ausschau zu halten.
»Du bist ja so außer dir, hast du etwas angestellt?«, fragte die Mutter.
»Nein«, antwortete Nura.
»Komm her«, sagte die Mutter, »ich werde alles von deiner Stirn ablesen.
« Nura bekam fürchterliche Angst, und die Mutter las und las
und dann sagte sie: »Du kannst gehen, du hast nichts Schlimmes getan.«
Jahrelang glaubte Nura, dass ihre Mutter ihr die Untaten von der
Stirn ablesen könne, deshalb schaute sie nach jeder Begegnung mit
dem dicklichen Jungen in den Spiegel, um zu sehen, ob irgendetwas
auf der Stirn zu sehen war. Sie schrubbte sie sicherheitshalber mit Olivenkernseife
und wusch sie danach gründlich ab.
Überhaupt war ihre Mutter sonderbar. Sie schien sich für die ganze
Welt verantwortlich zu fühlen. Einmal nahm ihr Vater Nura und die
Mutter zu einem Fest mit, bei dem Derwische tanzten, und selten
fühlte sich Nura so leicht wie an jenem Abend. Auch ihr Vater schien
zu schweben vor Glückseligkeit. Der eine Derwisch tanzte mit geschlossenen
Augen und die anderen kreisten um ihn wie Planeten um
die Sonne. Ihre Mutter aber sah nur, dass sein Kleid an mehreren Stellen
schmutzig war.
An religiösen Festen schmückten ihre Eltern und die Muslime der
ganzen Straße ihre Häuser und Geschäfte mit bunten Tüchern. Teppiche
hingen aus den Fenstern und von Balkonen, Blumentöpfe wurden
vor die Hauseingänge gestellt. Prozessionen zogen singend und tanzend
durch die Straßen. Manche zeigten Schwert- und Bambusrohr-
kämpfe, andere veranstalteten ein Feuerwerk und aus den Fenstern
regnete es Rosenwasser auf die Passanten.
Die Christen feierten leise, ohne bunte Fahnen und ohne Umzüge.
Diesen Unterschied hatte Nura sehr früh bemerkt. Nur die Kirchenglocken
schlugen an jenen Tagen etwas lauter. Man sah die Christen in
festlichen Kleidern, aber es gab weder einen Jahrmarkt noch ein Riesenrad
oder bunte Fahnen.
Auch kamen die christlichen Feiertage immer zur gleichen Jahreszeit.
Weihnachten Ende Dezember und Ostern im Frühjahr und
Pfingsten im Frühsommer. Der Ramadan aber wanderte durch das
ganze Jahr. Und wenn er im Hochsommer kam, war es kaum auszuhalten.
Sie musste von morgens bis abends ohne ein Stück Brot, ohne
einen Schluck Wasser ausharren und das bei vierzig Grad im Schatten.
Maurice hatte Mitleid mit ihr. Er flüsterte ihr zu, auch er faste heimlich,
damit er sich genauso elend fühle wie sie.
Sie vergaß nie den Tag, als Maurice ihr zuliebe eine kleine Verwirrung
auslöste. Sie war bereits vierzehn und der Ramadan war in jenem
Jahr im August. Sie fastete und litt. Plötzlich hörten die Nachbarn
deutlich die Muezzinrufe und stürzten sich auf das Essen. Nur ihre
Mutter sagte: »Das kann doch nicht stimmen! Dein Vater ist noch
nicht zu Hause und die Kanone wurde noch nicht abgefeuert.«
Eine halbe Stunde später hörte man dann die Rufe der Muezzins
über den Dächern und ein Kanonenschuss erschütterte die Luft. Ihr
Vater, der bald darauf hereinkam, erzählte, die Leute hätten wegen
eines falschen Muezzins das Fasten zu früh gebrochen. Nura wusste
sofort, wer dahintersteckte. Eine Stunde später klopften zwei Polizisten
bei der christlichen Familie, es gab Geschrei und Tränen.
Von allen Festen und Feiertagen mochte Nura den siebenundzwanzigsten
Tag des Ramadan am liebsten. An diesem Tag öffne sich der
Himmel und Gott höre für kurze Zeit die Wünsche der Menschen,
sagte ihr Vater. Seit sie denken konnte, war sie jedes Jahr schon Tage
vorher unruhig, sie überlegte und überlegte, was sie sich von Gott
wünschen solle.
Nie hatte er ihr auch nur einen einzigen Wunsch erfüllt.
Gott schien sie nicht zu mögen. Doch der dicke Maurice erklärte
ihr, Gott möge mit Sicherheit schöne Mädchen, er könne aber ihre
Stimme nicht hören. Und Maurice wusste auch warum: »Die Erwachsenen
beten in dieser Nacht so laut, dass Gott Kopfschmerzen bekommt
und den Himmel schließt, noch bevor er ein einziges Kind
gehört hat.«
Und in der Tat versammelte ihr Vater seine Verwandten und
Freunde im Hof und bat mit ihnen zusammen Gott laut um Ver-
gebung ihrer Sünden und Erfüllung der Wünsche nach Glück und Gesundheit.
Nura blickte auf die Versammelten und wusste, dass Maurice
recht hatte. Da rief sie einmal mitten im Gebet laut aus: »Aber für
mich kannst du, lieber Gott, ja einen Eimer Vanilleeis mit Pistazien
schicken.« Die Betenden lachten und konnten trotz wiederholter Versuche
nicht weiterbeten, denn immer wieder unterbrach einer das Gebet
mit schallendem Gelächter.
Nur Nuras Mutter fürchtete sich vor der Strafe Gottes. Und sie
war die einzige, die am nächsten Tag Durchfall hatte. Sie jammerte,
warum Gott ausgerechnet sie bestrafe, obwohl sie kaum gelacht habe.
Überhaupt war die Mutter sehr abergläubisch, sie schnitt ihre Nägel
nie nachts, damit die Geister sie nicht mit Alpträumen bestraften.
Sie kippte kein heißes Wasser ins Waschbecken, ohne vorher den Namen
Gottes laut auszurufen, damit sich die Geister, die gerne in den
dunklen Wasserrohren hausen, nicht verbrühten und sie nicht bestraften.
Von nun an durfte Nura nicht mehr mitbeten. Sie musste in ihrem
Zimmer bleiben und leise ihre Wünsche aussprechen. Oft lag sie nur
auf dem Bett und schaute durch das Fenster zum dunklen Sternenhimmel
hinauf.
Schon früh merkte sie, dass ihr Vater an den Feiertagen von einer
sonderbaren Trauer heimgesucht wurde. Er, dessen Worte in der Moschee
Hunderte von Männern aufrichteten und den alle Ladenbesitzer
auf der Hauptstraße, wenn er vorbeiging, respektvoll begrüßten
- manchmal unterbrachen sie sogar ihre Gespräche, um ihn kurz um
seinen Rat zu fragen -, dieser mächtige Vater war jedes Jahr nach dem
feierlichen Gebet unglücklich. Er ging gebeugt zum Sofa, kauerte sich
hin und schluchzte wie ein Kind. Nie erfuhr Nura den Grund.
© Weltbild
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Autoren-Porträt von Rafik Schami
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. Sein umfangreiches Werk wurde in 35 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Preis "Gegen Vergessen - Für Demokratie", dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis und der Carl-Zuckmayer-Medaille. Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien u.a. Das ist kein Papagei (illustriert von Wolf Erlbruch, 1994), Die Sehnsucht der Schwalbe (2000), Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm (2003, illustriert von Ole Könnecke), Der Kameltreiber von Heidelberg (2006, illustriert von Henrike Wilson), Das Herz der Puppe (2012, illustriert von Kathrin Schärer), Meister Marios Geschichte (2013, illustriert von Anja Maria Eisen), Elisa oder Die Nacht der Wünsche (2019, illustriert von Gerda Raidt); im Erwachsenenprogramm des Verlages Die dunkle Seite der Liebe (Roman, 2004), Das Geheimnis des Kalligraphen (Roman, 2008), Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte (2011), Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (Roman, 2015), Die geheime Mission des Kardinals (Roman, 2019), Mein Sternzeichen ist der Regenbogen (2021) und Wenn du erzählst, erblüht die Wüste (Roman, 2023).
Bibliographische Angaben
- Autor: Rafik Schami
- 2008, 9. Aufl., 458 Seiten, Masse: 15,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446230513
- ISBN-13: 9783446230514
- Erscheinungsdatum: 19.08.2008
Rezension zu „Das Geheimnis des Kalligraphen “
"Schami benutzt Motive des Liebes- und des Gesellschaftsromans und entwirft eine grobgemusterte, bunte Erzählarabeske, die ähnlich exotisch wirkt wie die Kalligraphie, um die es hintergründig geht." Stefana Sabin, Neue Zürcher Zeitung, 26.10.08"Das Damaskus der Kindheit Rafik Schamis mit seinen Gerüchen und Gerichten, den krummen Strassen und Biographien." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 21.11.08
Pressezitat
"Schami benutzt Motive des Liebes- und des Gesellschaftsromans und entwirft eine grobgemusterte, bunte Erzählarabeske, die ähnlich exotisch wirkt wie die Kalligraphie, um die es hintergründig geht." Stefana Sabin, Neue Zürcher Zeitung, 26.10.08"Das Damaskus der Kindheit Rafik Schamis mit seinen Gerüchen und Gerichten, den krummen Strassen und Biographien." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 21.11.08
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