Das geheime Prinzip der Liebe
Roman. Ausgezeichnet mit Coup des coeur des lycéens 2011
Eine bedingungslose Liebe, die sich während des Zweiten Weltkriegs in Paris verliert.
Paris, 1975: Nach dem Tod ihrer Mutter findet Camille einen Brief eines Unbekannten. Er erzählt die Geschichte seiner großen Liebe...
Paris, 1975: Nach dem Tod ihrer Mutter findet Camille einen Brief eines Unbekannten. Er erzählt die Geschichte seiner großen Liebe...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das geheime Prinzip der Liebe “
Eine bedingungslose Liebe, die sich während des Zweiten Weltkriegs in Paris verliert.
Paris, 1975: Nach dem Tod ihrer Mutter findet Camille einen Brief eines Unbekannten. Er erzählt die Geschichte seiner großen Liebe Annie und deren wohlhabender Gönnerin aus Paris, die von einem vergeblichen Kinderwunsch besessen ist. Was hat diese Geschichte mit Camille zu tun?
Paris, 1975: Nach dem Tod ihrer Mutter findet Camille einen Brief eines Unbekannten. Er erzählt die Geschichte seiner großen Liebe Annie und deren wohlhabender Gönnerin aus Paris, die von einem vergeblichen Kinderwunsch besessen ist. Was hat diese Geschichte mit Camille zu tun?
Klappentext zu „Das geheime Prinzip der Liebe “
Eine bedingungslose Liebe, die sich während des Zweiten Weltkriegs in Paris verliert. Eine mittellose junge Malerin aus der Champagne, die für ihre Gönnerin ein Kind bekommt. Eine Frauenfreundschaft, die in Hass umschlägt ...Hélène Grémillon erzählt in ihrem kunstvoll komponierten Roman von zwei Frauen, die um das kämpfen, was ihnen das Liebste ist.
»Eine raffiniert konstruierte Geschichte aus dem Paris der vierziger Jahre.« Spiegel online
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Das geheime Prinzip der Liebe “
Das geheime Prinzip der Liebe von Hélène Grémillon Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Paris 1975
Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.
Das war ein Ereignis, denn ich habe noch nie besonders viel Post bekommen. Da sich der Inhalt meines Briefkastens in der Regel auf Postkarten mit »Das Meer ist warm« oder »Wir haben viel Schnee« beschränkte, sah ich nicht oft hinein. Einmal pro Woche, zweimal in düsteren Zeiten, wenn ich von ihm - wie vom Telefon, von meinen Metrofahrten, vom Augen schließen, bis zehn zählen und sie wieder öffnen - erwartete, dass mein Leben erschüttert werde.
Dann starb meine Mutter. Da hatte ich, was ich wollte: Um ein Leben zu erschüttern, gibt es kaum etwas Besseres als den Tod einer Mutter.
Ich hatte noch nie Kondolenzbriefe gelesen. Nach dem Tod meines Vaters hatte mir meine Mutter diese triste Lektüre erspart. Sie hatte mir nur die Einladung zur Übergabe der Medaille gezeigt. Ich erinnere mich noch an die erbärmliche Zeremonie, ich war vor kurzem dreizehn geworden: Ein großer Kerl drückt mir die Hand, er will mich anlächeln, aber ich sehe nur ein Zucken, sein Mund ist schief, und wenn er spricht, ist es noch schlimmer.
»Wir bedauern zutiefst, dass der Tod am Ende einer so heldenhaften Tat stand. Mademoiselle, Ihr Vater war ein Held!«
»Sagen Sie diesen Satz zu allen Waisen Ihres Krieges? Denken Sie, dass der Stolz sie von ihrem Kummer ablenkt? Das ist sehr barmherzig, aber lassen Sie es lieber bleiben, ich habe keinen Kummer. Außerdem war mein Vater kein Held. Nicht einmal mit dem ganzen Alkohol, den er jeden Tag trank. Nehmen wir lieber an, dass Sie sich in der Person geirrt haben, und vergessen das Ganze.«
... mehr
»Auch wenn es Sie erstaunt: Ich bleibe dabei, Mademoiselle Werner. Ich spreche durchaus von Sergent Werner. Er hat sich als Freiwilliger gemeldet, um den Weg zu erkunden, und er wusste, dass das Feld vermint war. Ob Sie wollen oder nicht, Ihr Vater hat sich ausgezeichnet, und Sie müssen diese Medaille annehmen.«
»Mein Vater hat sich nicht ›ausgezeichnet‹, Monsieur Schiefmaul, er hat sich umgebracht, und Sie sollten das auch meiner Mutter sagen. Ich will nicht die Einzige sein, die es weiß, ich will mit ihr darüber sprechen können und ebenso mit meinem Bruder Pierre. Der Selbstmord eines Vaters darf kein Geheimnis bleiben.«
Ich erfinde oft Dialoge, um Sachen auszusprechen, die ich denke. Das erleichtert mich. In Wirklichkeit war ich gar nicht bei dieser Zeremonie zum Gedenken an die Soldaten im Indochinakrieg, und in Wirklichkeit habe ich nur ein einziges Mal laut gesagt, dass sich mein Vater umgebracht hat - zu meiner Mutter, in der Küche, an einem Sonnabend.
Sonnabends gab es Pommes frites, und ich half meiner Mutter, Kartoffeln zu schälen. Früher hatte Vater ihr geholfen, und ich sah ihm gern dabei zu. Wenn er schälte, sprach er zwar nicht mehr als sonst, aber es gab wenigstens ein Geräusch, das von ihm ausging, und das tat gut. Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe. Ich legte dieselben Worte in jeden Schnitt seines Messers: Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe.
In mein eigenes Schneiden hatte ich an jenem Sonnabend andere Worte gelegt: »Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt's, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat.«
Die Friteuse fiel ihr aus den Händen und zerbrach die Bodenfliesen. Das Öl breitete sich zwischen den erstarrten Beinen meiner Mutter aus.
Ich putzte die Fliesen zwar wie eine Wilde, aber unsere Füße klebten noch mehrere Tage lang und ließen meine Sätze in unseren Ohren knirschen: Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt's, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat. Um es nicht mehr zu hören, redeten mein Bruder Pierre und ich ganz laut, vielleicht auch, um das Schweigen von Maman zu übertönen, die seit jenem Sonnabend fast gänzlich verstummte.
Die Küchenfliesen sind noch immer zerbrochen, das ist mir letzte Woche aufgefallen, als ich dem interessierten Paar Mamans Haus gezeigt habe. Jedes Mal, wenn das interessierte Paar, sofern es sich in ein Käuferpaar verwandelt, auf den großen Riss am Boden schaut, wird es auf die Nachlässigkeit der Vorbesitzer schimpfen. Die Bodenfliesen werden das Erste sein, was sie erneuern lassen. Sie werden froh sein, loszulegen, wenigstens dazu wird sie gut gewesen sein, meine entsetzliche Enthüllung. Sie müssen das Haus unbedingt kaufen, sie oder andere, das ist mir egal, aber jemand muss es kaufen. Ich will es nicht und Pierre auch nicht. Ein Ort, an dem einen alles an die Toten erinnert, ist kein Ort zum Leben.
Als Maman von der Zeremonie nach Hause gekommen war, hatte sie mir Vaters Medaille gezeigt. Sie hatte mir gesagt, dass der Mann, der sie ihr übergab, einen schiefen Mund hatte, und zu lachen versucht, als sie versuchte, ihn nachzuahmen. Seit Vaters Tod konnte sie nichts anderes mehr: versuchen. Sie gab mir die Medaille, presste meine Hände zwischen ihre und sagte, dass sie mir zustehe. Dann fing sie an zu weinen, das konnte sie noch sehr gut. Ihre Tränen fielen auf meine Hände, und ich entzog sie ihr heftig. Den Schmerz meiner Mutter an meinem Körper zu spüren war mir unerträglich.
Als ich die ersten Kondolenzbriefe öffnete, erinnerten mich meine eigenen Tränen auf meinen Händen an die Tränen von damals, und ich ließ sie fließen, um zu sehen, wohin die meiner Mutter verschwunden waren, meiner Mutter, die ich so sehr geliebt hatte. Ich wusste, was in diesen Briefen stand: dass Maman eine außergewöhnliche Frau war, dass der Verlust eines geliebten Menschen schrecklich ist, dass nichts so sehr schmerzt wie diese Trauer, und so weiter, und so weiter, ich musste sie nicht lesen. Deshalb teilte ich die Umschläge jeden Abend in zwei Haufen: rechts die, die den Namen des Absenders trugen, links die, die keinen trugen, und ich begnügte mich damit, die Briefe auf dem linken Haufen zu öffnen und direkt zur Unterschrift zu springen, um zu sehen, wer mir geschrieben hatte und wem ich danken musste. Am Ende habe ich nicht vielen gedankt, und niemand hat es mir übel genommen. Der Tod entschuldigt jeden Mangel an Höflichkeit.
Der erste Brief, den ich von Louis bekam, lag auf dem linken Haufen. Der Umschlag hatte meine Aufmerksamkeit geweckt, noch bevor ich ihn öffnete. Er war viel dicker und schwerer als die anderen. Auch sein Format ließ nicht an eine Kondolenzkarte denken.
Es war ein handgeschriebener Brief, mehrere Seiten lang und ohne Unterschrift.
Annie hat immer zu meinem Leben gehört.
Ich war zwei, als sie geboren wurde, zwei Jahre minus einige Tage. Wir wohnten im selben Dorf, und ich traf sie, ohne sie zu suchen, in der Schule, beim Spaziergang, in der Messe.
Die Messe: eine schreckliche Stunde, in der immer das Gleiche passierte und die ich, eingeklemmt zwischen Vater und Mutter, unweigerlich über mich ergehen lassen musste. Die Plätze, die wir Kinder in der Kirche einnahmen, waren ein Zeichen unseres Temperaments: zwischen den Geschwistern die Braven, zwischen den Eltern die Aufsässigen. In dieser Messesitzordnung, die unabgesprochen vom ganzen Dorf eingehalten wurde, machte Annie eine Ausnahme. Die Arme war Einzelkind. Ich sage »die Arme«, weil sie sich ständig darüber beklagte.
Ihre Eltern waren schon alt, als sie auf die Welt kam. Annies Geburt war für sie ein solches Wunder, dass kein Tag verging, ohne dass sie »wir drei« sagten, einfach so, bei jeder Gelegenheit, während Annie bedauerte, kein »wir vier«, »wir fünf«, »wir sechs« zu hören. Jede Messe führte ihr die traurige Tatsache vor Augen: allein in ihrer Bank.
Während ich heute glaube, dass die Langeweile der beste Nährboden für die Phantasie ist, verkündete ich damals, der beste Nährboden für die Langeweile sei die Messe. Ich hätte nie gedacht, dass ich dort jemals irgendetwas erleben würde. Bis zu jenem Sonntag.
Schon beim ersten Lied erfasste mich ein starkes Unwohlsein. Alles war aus dem Gleichgewicht, der Altar, die Orgel, sogar Christus am Kreuz.
»Hör auf zu seufzen, Louis, du bist lauter als alle anderen! «
Diese Vorhaltung meiner Mutter, verbunden mit dem Unwohlsein, das mich nicht losließ, lockte einen tief in mir vergrabenen Satz hervor, den ihr mein Vater eines Abends zugeflüstert hatte: Pater Fantin hat seinen letzten Seufzer getan.
Mein Vater war Arzt und kannte alle Ausdrücke, um den Tod eines Menschen zu verkünden. Er flüsterte mal den einen, mal den anderen ins Ohr meiner Mutter. Aber wie jedes Kind besaß ich die Fähigkeit, wahrzunehmen, was die Großen tuschelten, und ich hörte sie alle: seinen Geist aufgeben, aufrecht sterben, den Löffel abgeben, sanft entschlummern. Den letzten mochte ich gern, er legte die Vorstellung nahe, es würde nicht so wehtun.
Vielleicht starb ich gerade!
Schließlich weiß man nie, wie sich das anfühlt, bis man wirklich stirbt.
Und wenn der nächste Seufzer mein letzter sein würde? Entsetzt hielt ich den Atem an und drehte mich flehend zur Statue des Heiligen Rochus um. Er hatte Leprakranke geheilt, da konnte er wohl auch mich retten ...
Am nächsten Sonntag schien es mir ausgeschlossen, wieder zur Messe zu gehen. Diesmal würde der Tod mich nicht verfehlen, davon war ich überzeugt. Als ich mich dann aber auf der Bank wiederfand, die ich mit meiner Familie jeden Sonntag einnahm, war das befürchtete Unwohlsein nicht zu spüren. Im Gegenteil, mich überkam ein gewisses Wohlbehagen, erfreut fand ich den einzigartigen Holzgeruch der Kirche wieder, alles war an seinem Platz. Mein Blick hatte seinen Sockel wiedergefunden, er stützte sich auf Annie, auf ihr Haar, denn ihr Gesicht sah ich nicht. Plötzlich verstand ich es: Ihre Abwesenheit hatte mich am letzten Sonntag in diesen schrecklichen Zustand versetzt. Sicher hatte sie mit einem feuchten Tuch auf der Stirn, um die Krämpfe zu dämpfen, zu Hause gelegen oder gemalt, weil ihr jede Anstrengung verboten war. Annie litt an schweren Asthmaanfällen, um die wir sie alle beneideten, weil sie sie von unangenehmen Dingen befreiten. Ihre Gestalt, ihr leises Hüsteln schenkte allem, was mich umgab, Vollständigkeit und Zusammenhalt zurück. Dann begann sie zu singen. Sie war kein fröhlicher Mensch, und ich staunte jedes Mal, wie ihr ganzer Körper auflebte, sobald die Orgel ertönte. Ich wusste noch nicht, dass der Gesang dem Lachen gleicht und dass man alles in ihn hineinlegen kann, sogar die Melancholie.
Die meisten Menschen verlieben sich in eine Person, wenn sie sie sehen. Mich hatte die Liebe hinterrücks überfallen: Annie war nicht dabei, als sie an jenem Sonntag in meinem Leben Einzug hielt. Ich war zwölf, Annie zwei Jahre jünger, zwei Jahre minus ein paar Tage.
Ich habe sie geliebt, wie ein Kind liebt, das heißt im Beisein der anderen. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mit ihr allein zu sein, ich war noch nicht im Alter für die Zweisamkeit. Ich liebte, um zu lieben, nicht um geliebt zu werden. Es genügte, Annie zu treffen, um mich froh zu machen. Ich stibitzte ihr die Haarbänder, damit sie mir hinterher lief und sie mir eiskalt aus den Händen riss, ehe sie eiskalt auf dem Absatz kehrtmachte. Es gibt nichts Kälteres als ein verärgertes kleines Mädchen.
Ausgerechnet diese ungeschickt in ihr Haar gewundenen Stoffstücke brachten mich zuerst auf die Puppen im Geschäft.
Meine Mutter führte den Kurzwarenladen des Dorfes. Nach der Schule gingen wir beide dorthin, ich zu meiner Mutter, Annie zu ihrer, die die Hälfte ihres Lebens dort verbrachte, die Hälfte, die sie nicht mit Nähen verbrachte. Als Annie einmal am Puppenregal vorbeiging, stach mir plötzlich die Ähnlichkeit ins Auge. Außer den Bändern hatte sie auch den außerordentlich weißen, feenhaften Teint mit ihnen gemeinsam. Meine noch kindlichen Gedanken begannen zu rasen und mir fiel auf, dass ich von ihrer Haut nie etwas anderes gesehen hatte als das, was ihr Hals, ihr Gesicht, ihre Füße mir offenbarten. Haargenau wie die Porzellanpuppen!
Wenn ich durch den Wartesaal der Praxis meines Vaters ging, war Annie manchmal dort. Sie kam immer ganz allein zur Untersuchung und saß klein und zart in dem schwarzen Sessel. Das Asthma entstellte ihr Gesicht, sie glich den Puppen nie so sehr, wie wenn ihre Wangen vom Husten glühten.
Da jede Ähnlichkeit wechselseitig ist, erinnerten mich auch die Porzellanpuppen an Annie, und so stahl ich sie. Doch sobald ich sie im Schutz meines Zimmers näher betrachtete, war ich unweigerlich von ihrem zu lockigen oder zu glatten Haar, ihren zu runden oder zu grünen Augen abgestoßen, und keine hatte die langen Wimpern, die An- nie mit dem Zeigefinger hochdrückte, wenn sie überlegte. Wie die Menschen waren auch diese Puppen nicht dazu bestimmt, jemandem ähnlich zu sein, und ich nahm ihnen das übel. Deshalb ging ich zum Teich, band ihnen einen Stein an die Füße und sah ohne Schmerzen zu, wie sie untergingen, in Gedanken schon bei der Nächsten, die ich mir aneignen würde, einer ähnlicheren, wie ich hoffte.
© 2012 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
»Auch wenn es Sie erstaunt: Ich bleibe dabei, Mademoiselle Werner. Ich spreche durchaus von Sergent Werner. Er hat sich als Freiwilliger gemeldet, um den Weg zu erkunden, und er wusste, dass das Feld vermint war. Ob Sie wollen oder nicht, Ihr Vater hat sich ausgezeichnet, und Sie müssen diese Medaille annehmen.«
»Mein Vater hat sich nicht ›ausgezeichnet‹, Monsieur Schiefmaul, er hat sich umgebracht, und Sie sollten das auch meiner Mutter sagen. Ich will nicht die Einzige sein, die es weiß, ich will mit ihr darüber sprechen können und ebenso mit meinem Bruder Pierre. Der Selbstmord eines Vaters darf kein Geheimnis bleiben.«
Ich erfinde oft Dialoge, um Sachen auszusprechen, die ich denke. Das erleichtert mich. In Wirklichkeit war ich gar nicht bei dieser Zeremonie zum Gedenken an die Soldaten im Indochinakrieg, und in Wirklichkeit habe ich nur ein einziges Mal laut gesagt, dass sich mein Vater umgebracht hat - zu meiner Mutter, in der Küche, an einem Sonnabend.
Sonnabends gab es Pommes frites, und ich half meiner Mutter, Kartoffeln zu schälen. Früher hatte Vater ihr geholfen, und ich sah ihm gern dabei zu. Wenn er schälte, sprach er zwar nicht mehr als sonst, aber es gab wenigstens ein Geräusch, das von ihm ausging, und das tat gut. Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe. Ich legte dieselben Worte in jeden Schnitt seines Messers: Camille, du weißt, dass ich dich lieb habe.
In mein eigenes Schneiden hatte ich an jenem Sonnabend andere Worte gelegt: »Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt's, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat.«
Die Friteuse fiel ihr aus den Händen und zerbrach die Bodenfliesen. Das Öl breitete sich zwischen den erstarrten Beinen meiner Mutter aus.
Ich putzte die Fliesen zwar wie eine Wilde, aber unsere Füße klebten noch mehrere Tage lang und ließen meine Sätze in unseren Ohren knirschen: Vater hat sich umgebracht. Du weißt es, stimmt's, Maman? Dass Vater sich umgebracht hat. Um es nicht mehr zu hören, redeten mein Bruder Pierre und ich ganz laut, vielleicht auch, um das Schweigen von Maman zu übertönen, die seit jenem Sonnabend fast gänzlich verstummte.
Die Küchenfliesen sind noch immer zerbrochen, das ist mir letzte Woche aufgefallen, als ich dem interessierten Paar Mamans Haus gezeigt habe. Jedes Mal, wenn das interessierte Paar, sofern es sich in ein Käuferpaar verwandelt, auf den großen Riss am Boden schaut, wird es auf die Nachlässigkeit der Vorbesitzer schimpfen. Die Bodenfliesen werden das Erste sein, was sie erneuern lassen. Sie werden froh sein, loszulegen, wenigstens dazu wird sie gut gewesen sein, meine entsetzliche Enthüllung. Sie müssen das Haus unbedingt kaufen, sie oder andere, das ist mir egal, aber jemand muss es kaufen. Ich will es nicht und Pierre auch nicht. Ein Ort, an dem einen alles an die Toten erinnert, ist kein Ort zum Leben.
Als Maman von der Zeremonie nach Hause gekommen war, hatte sie mir Vaters Medaille gezeigt. Sie hatte mir gesagt, dass der Mann, der sie ihr übergab, einen schiefen Mund hatte, und zu lachen versucht, als sie versuchte, ihn nachzuahmen. Seit Vaters Tod konnte sie nichts anderes mehr: versuchen. Sie gab mir die Medaille, presste meine Hände zwischen ihre und sagte, dass sie mir zustehe. Dann fing sie an zu weinen, das konnte sie noch sehr gut. Ihre Tränen fielen auf meine Hände, und ich entzog sie ihr heftig. Den Schmerz meiner Mutter an meinem Körper zu spüren war mir unerträglich.
Als ich die ersten Kondolenzbriefe öffnete, erinnerten mich meine eigenen Tränen auf meinen Händen an die Tränen von damals, und ich ließ sie fließen, um zu sehen, wohin die meiner Mutter verschwunden waren, meiner Mutter, die ich so sehr geliebt hatte. Ich wusste, was in diesen Briefen stand: dass Maman eine außergewöhnliche Frau war, dass der Verlust eines geliebten Menschen schrecklich ist, dass nichts so sehr schmerzt wie diese Trauer, und so weiter, und so weiter, ich musste sie nicht lesen. Deshalb teilte ich die Umschläge jeden Abend in zwei Haufen: rechts die, die den Namen des Absenders trugen, links die, die keinen trugen, und ich begnügte mich damit, die Briefe auf dem linken Haufen zu öffnen und direkt zur Unterschrift zu springen, um zu sehen, wer mir geschrieben hatte und wem ich danken musste. Am Ende habe ich nicht vielen gedankt, und niemand hat es mir übel genommen. Der Tod entschuldigt jeden Mangel an Höflichkeit.
Der erste Brief, den ich von Louis bekam, lag auf dem linken Haufen. Der Umschlag hatte meine Aufmerksamkeit geweckt, noch bevor ich ihn öffnete. Er war viel dicker und schwerer als die anderen. Auch sein Format ließ nicht an eine Kondolenzkarte denken.
Es war ein handgeschriebener Brief, mehrere Seiten lang und ohne Unterschrift.
Annie hat immer zu meinem Leben gehört.
Ich war zwei, als sie geboren wurde, zwei Jahre minus einige Tage. Wir wohnten im selben Dorf, und ich traf sie, ohne sie zu suchen, in der Schule, beim Spaziergang, in der Messe.
Die Messe: eine schreckliche Stunde, in der immer das Gleiche passierte und die ich, eingeklemmt zwischen Vater und Mutter, unweigerlich über mich ergehen lassen musste. Die Plätze, die wir Kinder in der Kirche einnahmen, waren ein Zeichen unseres Temperaments: zwischen den Geschwistern die Braven, zwischen den Eltern die Aufsässigen. In dieser Messesitzordnung, die unabgesprochen vom ganzen Dorf eingehalten wurde, machte Annie eine Ausnahme. Die Arme war Einzelkind. Ich sage »die Arme«, weil sie sich ständig darüber beklagte.
Ihre Eltern waren schon alt, als sie auf die Welt kam. Annies Geburt war für sie ein solches Wunder, dass kein Tag verging, ohne dass sie »wir drei« sagten, einfach so, bei jeder Gelegenheit, während Annie bedauerte, kein »wir vier«, »wir fünf«, »wir sechs« zu hören. Jede Messe führte ihr die traurige Tatsache vor Augen: allein in ihrer Bank.
Während ich heute glaube, dass die Langeweile der beste Nährboden für die Phantasie ist, verkündete ich damals, der beste Nährboden für die Langeweile sei die Messe. Ich hätte nie gedacht, dass ich dort jemals irgendetwas erleben würde. Bis zu jenem Sonntag.
Schon beim ersten Lied erfasste mich ein starkes Unwohlsein. Alles war aus dem Gleichgewicht, der Altar, die Orgel, sogar Christus am Kreuz.
»Hör auf zu seufzen, Louis, du bist lauter als alle anderen! «
Diese Vorhaltung meiner Mutter, verbunden mit dem Unwohlsein, das mich nicht losließ, lockte einen tief in mir vergrabenen Satz hervor, den ihr mein Vater eines Abends zugeflüstert hatte: Pater Fantin hat seinen letzten Seufzer getan.
Mein Vater war Arzt und kannte alle Ausdrücke, um den Tod eines Menschen zu verkünden. Er flüsterte mal den einen, mal den anderen ins Ohr meiner Mutter. Aber wie jedes Kind besaß ich die Fähigkeit, wahrzunehmen, was die Großen tuschelten, und ich hörte sie alle: seinen Geist aufgeben, aufrecht sterben, den Löffel abgeben, sanft entschlummern. Den letzten mochte ich gern, er legte die Vorstellung nahe, es würde nicht so wehtun.
Vielleicht starb ich gerade!
Schließlich weiß man nie, wie sich das anfühlt, bis man wirklich stirbt.
Und wenn der nächste Seufzer mein letzter sein würde? Entsetzt hielt ich den Atem an und drehte mich flehend zur Statue des Heiligen Rochus um. Er hatte Leprakranke geheilt, da konnte er wohl auch mich retten ...
Am nächsten Sonntag schien es mir ausgeschlossen, wieder zur Messe zu gehen. Diesmal würde der Tod mich nicht verfehlen, davon war ich überzeugt. Als ich mich dann aber auf der Bank wiederfand, die ich mit meiner Familie jeden Sonntag einnahm, war das befürchtete Unwohlsein nicht zu spüren. Im Gegenteil, mich überkam ein gewisses Wohlbehagen, erfreut fand ich den einzigartigen Holzgeruch der Kirche wieder, alles war an seinem Platz. Mein Blick hatte seinen Sockel wiedergefunden, er stützte sich auf Annie, auf ihr Haar, denn ihr Gesicht sah ich nicht. Plötzlich verstand ich es: Ihre Abwesenheit hatte mich am letzten Sonntag in diesen schrecklichen Zustand versetzt. Sicher hatte sie mit einem feuchten Tuch auf der Stirn, um die Krämpfe zu dämpfen, zu Hause gelegen oder gemalt, weil ihr jede Anstrengung verboten war. Annie litt an schweren Asthmaanfällen, um die wir sie alle beneideten, weil sie sie von unangenehmen Dingen befreiten. Ihre Gestalt, ihr leises Hüsteln schenkte allem, was mich umgab, Vollständigkeit und Zusammenhalt zurück. Dann begann sie zu singen. Sie war kein fröhlicher Mensch, und ich staunte jedes Mal, wie ihr ganzer Körper auflebte, sobald die Orgel ertönte. Ich wusste noch nicht, dass der Gesang dem Lachen gleicht und dass man alles in ihn hineinlegen kann, sogar die Melancholie.
Die meisten Menschen verlieben sich in eine Person, wenn sie sie sehen. Mich hatte die Liebe hinterrücks überfallen: Annie war nicht dabei, als sie an jenem Sonntag in meinem Leben Einzug hielt. Ich war zwölf, Annie zwei Jahre jünger, zwei Jahre minus ein paar Tage.
Ich habe sie geliebt, wie ein Kind liebt, das heißt im Beisein der anderen. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mit ihr allein zu sein, ich war noch nicht im Alter für die Zweisamkeit. Ich liebte, um zu lieben, nicht um geliebt zu werden. Es genügte, Annie zu treffen, um mich froh zu machen. Ich stibitzte ihr die Haarbänder, damit sie mir hinterher lief und sie mir eiskalt aus den Händen riss, ehe sie eiskalt auf dem Absatz kehrtmachte. Es gibt nichts Kälteres als ein verärgertes kleines Mädchen.
Ausgerechnet diese ungeschickt in ihr Haar gewundenen Stoffstücke brachten mich zuerst auf die Puppen im Geschäft.
Meine Mutter führte den Kurzwarenladen des Dorfes. Nach der Schule gingen wir beide dorthin, ich zu meiner Mutter, Annie zu ihrer, die die Hälfte ihres Lebens dort verbrachte, die Hälfte, die sie nicht mit Nähen verbrachte. Als Annie einmal am Puppenregal vorbeiging, stach mir plötzlich die Ähnlichkeit ins Auge. Außer den Bändern hatte sie auch den außerordentlich weißen, feenhaften Teint mit ihnen gemeinsam. Meine noch kindlichen Gedanken begannen zu rasen und mir fiel auf, dass ich von ihrer Haut nie etwas anderes gesehen hatte als das, was ihr Hals, ihr Gesicht, ihre Füße mir offenbarten. Haargenau wie die Porzellanpuppen!
Wenn ich durch den Wartesaal der Praxis meines Vaters ging, war Annie manchmal dort. Sie kam immer ganz allein zur Untersuchung und saß klein und zart in dem schwarzen Sessel. Das Asthma entstellte ihr Gesicht, sie glich den Puppen nie so sehr, wie wenn ihre Wangen vom Husten glühten.
Da jede Ähnlichkeit wechselseitig ist, erinnerten mich auch die Porzellanpuppen an Annie, und so stahl ich sie. Doch sobald ich sie im Schutz meines Zimmers näher betrachtete, war ich unweigerlich von ihrem zu lockigen oder zu glatten Haar, ihren zu runden oder zu grünen Augen abgestoßen, und keine hatte die langen Wimpern, die An- nie mit dem Zeigefinger hochdrückte, wenn sie überlegte. Wie die Menschen waren auch diese Puppen nicht dazu bestimmt, jemandem ähnlich zu sein, und ich nahm ihnen das übel. Deshalb ging ich zum Teich, band ihnen einen Stein an die Füße und sah ohne Schmerzen zu, wie sie untergingen, in Gedanken schon bei der Nächsten, die ich mir aneignen würde, einer ähnlicheren, wie ich hoffte.
© 2012 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
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Autoren-Porträt von Hélène Grémillon
Hélène Grémillon wurde 1977 in Poitou (Westfrankreich) geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft, arbeitete als freie Journalistin, als Drehbuchautorin und Regisseurin und lebt heute mit dem Sänger Julien Clerc und ihrem gemeinsamen Sohn in Paris. "Das geheime Prinzip der Liebe" ist ihr erster Roman und wurde mit dem Prix Roblès ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hélène Grémillon
- 2014, 1. Auflage, 256 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Claudia Steinitz
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426513811
- ISBN-13: 9783426513811
- Erscheinungsdatum: 08.01.2014
Rezension zu „Das geheime Prinzip der Liebe “
"Eine aussergewöhnlich berührende Romanze. (...) Dieser Roman ist absolut fesselnd.!" FÜR SIE 20140414
Pressezitat
"Eine aussergewöhnlich berührende Romanze. (...) Dieser Roman ist absolut fesselnd.!" FÜR SIE 20140414
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