Das 5. Opfer
Ein brutaler Killer namens Neptun entführte Frauen, hinterließ ihre Hände auf den Stufen der Polizeistation und sorgte dafür, dass man fünf Tage später...
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Dreizehn Jahre alt war Reggie, als die Serie begann.
Ein brutaler Killer namens Neptun entführte Frauen, hinterließ ihre Hände auf den Stufen der Polizeistation und sorgte dafür, dass man fünf Tage später ihre Leichen fand. Reggies Mutter Vera war sein letztes Opfer. Doch ihre Leiche wurde nie gefunden. Jahre später bekommt Reggie, inzwischen eine erfolgreiche Architektin, einen Anruf aus einem Obdachlosenheim. Eine Frau, die dort lebt, behauptet, Vera zu sein. Reggie muss sich den Dämonen der Vergangenheit stellen, denn nun liegt die abgetrennte Hand einer alten Freundin Reggies vor der Polizeistation.
"Einer der strahlendsten neuen Sterne der Spannungsliteratur."
Los Angeles Times
Aus dem Amerikanischen von Sabine Schäfer
Auszug aus Neptuns Hände:
Die wahre Geschichte der ungelösten Morde von Brighton Falls
von Martha S. Paquette
Es begann mit den Händen. Rechte Hände, sauber am Handgelenk abgetrennt. Sie kamen auf den Granitstufen der Polizeiwache in leeren rot-weißen Milchkartons an, die oben zusammengeheftet waren und Fotos von vermissten Kindern auf der Rückseite hatten - das ganze Paket war in braunem Fleischerpapier verpackt, ordentlich mit einem dünnen Band verschnürt, wie eine Gebäckschachtel.
Der Gerichtsmediziner sagte der Polizei, sie sollten nach einem Chirurgen oder Fleischer suchen, jemandem, der sich mit Knochen und Sehnen auskannte. Es war fast so, als würde er die Technik des Mörders bewundern, als wäre da etwas Schönes an der Sauberkeit der Schnitte, die so perfekt waren, dass es schwerfiel, sich vorzustellen, die Hände wären jemals mit etwas verbunden gewesen; als wären es eigenständige Objekte.
Der Mörder ließ die Frauen nach der Entfernung der Hände noch genau vier Tage am Leben. Er kümmerte sich gut um sie, brannte ihre Wunden aus, pumpte sie wegen der Schmerzen mit Morphium voll, pflegte sie wie kostbare Orchideen.
Am fünften Morgen erwürgte er sie; dann ließ er ihre Leichen wie Ausstellungsstücke an öffentlichen Plätzen zurück: der städtischen Grünfläche, einem Park, dem Rasen vor der Bibliothek. Jede Frau war nackt, bis auf ihren Verband, der leuchtend weiß und liebevoll angelegt war wie ein perfekter kleiner Kokon am Ende ihres Arms.
Neptuns letztes Opfer
Das erste, was sie tut, als sie aufwacht, ist, nach ihren Händen zu sehen. Sie weiß nicht, wie lange sie ohnmächtig war. Stunden? Tage? Sie liegt auf dem Rücken, mit verbundenen Augen; die Arme befinden sich wie bei einem Taucher über ihrem Kopf, sind an einem Metallrohr festgebunden. Ihre Hände sind an den Handgelenken mit Klebeband zusammengeklebt - aber sie sind beide noch da.
Danke, danke, danke, Jesus, liebe, gute Mutter Maria, ihre beiden Hände sind noch da. Sie wackelt mit ihren Fingern und erinnert sich an ein Lied, das ihre Mutter zu singen pflegte:
Wo ist Däumchen? Wo ist Däumchen?
Hier bin ich, hier bin ich.
Wie geht es Ihnen heute, mein Herr?
Sehr gut, vielen Dank. Renn davon, renn davon.
Ihre Fußgelenke sind eng zusammengebunden, mit noch mehr Klebeband, ihre Füße prickeln schmerzhaft.
Sie hört Neptun atmen, und es klingt beinahe mechanisch, dieser kratzende Rhythmus: ein, aus, ein, aus. Tucker, Tucker, Puff, Puff. Ich denke, ich kann, ich denke, ich kann.
Neptun nimmt ihr die Augenbinde ab, und das Licht tut ihren Augen weh. Alles, was sie sieht, ist ein dunkler Umriss über ihr, und es ist nicht Neptuns Gesicht, das sie darin sieht, sondern alle Gesichter; das ihrer Mutter, das ihres Vaters, das von Luke, dem Bäcker im Donutladen, das ihres Freundes aus der Highschool, der sie niemals anfasste, es aber mochte, sich einen runterzuholen, während sie zusah. Sie sieht das Gesicht von Jesus, aus buntem Kirchenfensterglas, die Augen der Frau ohne Beine, die früher während der Frühstücksstoßzeit vor dem Denny's um Geld bettelte. All diese Gesichter drehen sich wie ein Kreisel auf Neptuns Kopf, und sie muss ihre Augen schließen, weil ihr, wenn sie zu lange hinsieht, schwindlig wird und sie sich übergeben muss.
Neptun lächelt auf sie herunter, seine Zähne sind hell wie ein Halbmond.
Sie versucht ihren Kopf zu drehen, aber ihr Hals schmerzt von ihrem Kampf vorhin, und sie kann ihn nur einen Bruchteil eines Zentimeters bewegen, bevor der Schmerz sie zu einem quietschenden Halt zwingt. Sie scheinen in einer Art Lagerhaus zu sein. Kalter Zementfußboden. Geschwungene Metallwände, die mit elektrischen Kabeln übersät sind. Überall stehen Kisten. Alte Maschinen. Der Ort riecht nach Kirmes - nach vergammelten Früchten, Fett, verbranntem Zucker, Heu.
»Es hätte nicht so kommen müssen«, sagt Neptun und schüttelt den Kopf, schnalzt scheltend mit der Zunge.
Neptun geht pfeifend im Kreis um sie herum. Es ist beinahe ein Tanz, mit einem Federn bei jedem Schritt, einem kleinen Hüpfer. Neptuns Schuhe sind aus billigem Lederimitat, völlig verkratzt, die Lauffläche glatt gelaufen, sodass sie besser über den Boden gleiten. Ganz plötzlich erstarrt Neptun, beäugt sie einen Augenblick länger, hört dann auf zu pfeifen, dreht sich um und geht davon. Schritte hallen auf dem Zementfußboden. Die Tür schließt sich mit einem schweren, dumpfen, hölzernen Aufschlag. Ein Riegel wird vorgeschoben, ein Schloss schnappt ein.
Er ist weg. Vorerst.
Die Werkzeuge sind auf einem Tablett in der Nähe ausgelegt: Klammern, Stauschlauch aus Gummi, Skalpell, kleine Säge, Propangasbrenner, Metallspatel, Rollen mit Mullbinden, dicke chirurgische Bäusche, schweres weißes Klebeband. Neptun hat diese Dinge dort zurückgelassen, wo sie sie sehen kann. Das ist alles Teil des Spiels.
Hurensohn. Hurensohn. Hurensohn.
Hör auf, sagt sie sich. Verfall nicht in Panik. Denk nach.
Morgen früh wird eine weitere Hand in einem Milchkarton auf den Stufen der Polizeiwache auftauchen. Nur dieses Mal wird es ihre Hand sein. Sie blickt zu der Säge, schluckt heftig und schließt ihre Augen.
Denk nach, verdammt.
Sie müht sich mit dem Klebeband an ihren Handgelenken ab, aber es ist sinnlos.
Sie öffnet ihre Augen und sie wandern zurück zu den Werkzeugen, den Verbänden, der Säge mit ihrer Reihe kleiner, silberner Zähne.
Sie hört ein Stöhnen zu ihrer Linken. Langsam, wie eine arthritische alte Frau, dreht sie ihren Kopf, sodass ihre linke Wange auf dem kühlen, feuchten Boden ruht.
»Du!«, sagt sie, überrascht, aber erleichtert.
Die Frau ist an einem Gusseisenrohr am anderen Ende des Lagerhauses festgebunden. »Ich kann uns hier rausbringen«, verspricht sie.
Die Frau hebt ihren Kopf, öffnet ihre verschwollenen Augen. Die Frau lacht, ihre geplatzte Lippe öffnet sich, bedeckt ihr Kinn mit Blut. »Wir sind beide tot, Dufrane«, sagt sie, ihre Stimme ist leise und knistert, wie ein Feuer, das sich nicht entfachen lässt.
TEIL EINS
Auszug aus Neptuns Hände:
Die wahre Geschichte der ungelösten Morde von Brighton Falls
von Martha S. Paquette
Es war das Jahr 1985. Madonnas Hit »Like a Virgin« dröhnte aus jedem Ghettoblaster. Kids standen an, um den Film Zurück in die Zukunft mit Michael J. Fox zu sehen. Und in dem verschlafenen kleinen Vorort Brighton Falls tötete Neptun Frauen.
Brighton Falls, nordwestlich von Hartford und gleich südlich des Flughafens gelegen, war eine Farmgemeinde, die schnell einem Vorort Platz gemacht hatte. Die Männer, die in den Versicherungshochhäusern in Hartford arbeiteten, zogen mit ihren Familien in Orte wie Brighton Falls, sichere kleine Schlafstädte mit guten Schulen, ohne Kriminalität und mit frischer Luft.
An der Hauptstraße befanden sich die wichtigsten Läden: Lukes Donuts, Wrights Apotheke, Ferraros Familienmarkt, Parsons Haushaltswaren und das Duchess Bar und Grill. Versteckt hinter diesen Läden, an den Querstraßen, lagen die Polizei- und Feuerwehrwache aus grauem Granit, ein Puppenladen, Joannes Haus der Nüsse, ein Käseladen, zwei Bücherläden (einer hatte sich auf gebrauchte Liebesromane spezialisiert), drei Kirchen, Talbots, ein Möbelladen namens »Carriage Feine Einrichtungen«, Carvel Eiskrem, Barstons Reinigung und die Tierhandlung »Am Ende der Leine«.
Der größte Teil von Brighton Falls selbst war idyllisch, doch wenn man den Fluss überquerte, den Wasserfall und die alten Mühlen, die zu Eigentumswohnungen umgebaut worden waren, hinter sich ließ, wenn man die Flughafenstraße in nördlicher Richtung fuhr, vorbei an den durch Zelte geschützten Tabakfeldern und schiefen Lagerhäusern, wechselte die Straße von zweispurig zu vierspurig. Hier befanden sich die Einkaufsmeilen, zugenagelte Fabriken, leerstehende Grundstücke, Fast-Food-Restaurants, Motels, in denen man wochen- oder stundenweise zahlen konnte, nicht jugendfreie Kinos, Gebrauchtwagenhändler und Bars. Das war die Gegend, die die Versicherungsangestellten als Niemandsland betrachteten, die sie bei Wochenendausflügen in der Familienkutsche vorsichtig mieden. Hierhin waren der Lärm und das Chaos des großen Flughafens herübergeschwappt und gefährlich nah an die Vorstadt herangekommen.
Abgesehen von der gelegentlichen Verhaftung wegen Trunkenheit und Ruhestörung in einer der Bars an der Flughafenstraße, war das größte Verbrechen, um das sich die Polizei in den letzten Jahren hatte kümmern müssen, das des Sohns des Bürgermeisters gewesen, der bei seiner Abschlussfeier zu viel getrunken, eine rote Ampel überfahren und die Polizei durch die ganze Stadt gejagt hatte, was damit endete, dass er seinen Mercedes in den Swimmingpool des Country Clubs gefahren hatte. Seit 1946 hatte es keinen Mord mehr gegeben, und das war der klare Fall eines Mannes gewesen, der seinen Bruder erschoss, nachdem er ihn im Bett mit seiner Frau erwischt hatte.
An den Neptunmorden war überhaupt nichts klar.
Seine Opfer schienen nichts gemeinsam zu haben: eine Buchhalterin mit zwei Kindern, eine Kellnerin, die Wechselschichten im Silver Spoon Diner arbeitete, eine Filmstudentin von der Wesleyan Universität, ein Ex-Model, das zur Kneipenhockerin geworden war. Die Polizei war ratlos.
Am Ende blieben alle - die Polizei, die Familien der Opfer und die Bürger von Brighton Falls - mit mehr Fragen als Antworten zurück. Warum schnitt Neptun seinen Opfern die rechte Hand ab? Warum hielt er sie vier Tage lang am Leben, nachdem er die Hände in den Milchkartons auf den Stufen der Polizeiwache zurückgelassen hatte? Und was war anders an seinem letzten Opfer, der glamourösen, jetzt abgehalfterten Vera Dufrane? Warum wurde ihre Leiche niemals gefunden?
Und vielleicht die größte Frage von allen: War er nur ein Herumtreiber auf der Durchreise, oder ist er immer noch dort draußen, lebt unter ihnen? Was hat ihn dazu gebracht, aufzuhören? Und - das fragen sich die Leute in Brighton Falls jede Nacht, wenn sie ihre Türen abschließen - wird er eines Tages wieder töten?
1
16. Oktober 2010 - Rockland, Vermont
Stell dir vor, dein Haus steht in Flammen. Du hast genau eine Minute Zeit, um so viel mitzunehmen, wie du kannst. Wofür entscheidest du dich?
Tara drehte die kleine Sanduhr um, die mit rosafarbenem Sand gefüllt war. Ihre Fingernägel waren in einem giftigen Blau lackiert, der Lack hier und da abgeblättert. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen leuchtend rot, als sie lächelte, das Wort Los! hauchte.
Reggie raste den Korridor entlang, schlitterte, als sie die Ecke vor der engen Eichentreppe umrundete, hinaufpolterte, mit einer Hand auf dem geschwungenen, schlangenähnlichen Geländer, die andere an der kühlen, feuchten Steinwand.
»Deine Lungen füllen sich mit Rauch!«, rief Tara von unten. »Deine Augen tränen.«
Reggie keuchte, riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, ihr Blick wanderte über die vollen Bücherregale, den mit ihren Zeichnungen bedeckten Schreibtisch, das ordentlich gemachte Bett mit der Steppdecke, die ihre Großmutter genäht hatte. Ihr Blick glitt über all das und ging dann direkt zum Schrank, bewegte sich in Zeitlupentempo dorthin, tastete sich in dem unsichtbaren Rauch voran, die brennenden Augen jetzt fest geschlossen.
Sie streckte die Hand nach der Schiebetür aus und öffnete sie, die kleinen Metallräder klapperten in ihrer Schiene. Reggie trat vor, ihre Finger fanden Kleider, die auf Bügeln aufgehängt waren.
Sie streckte sich nach oben, tastete nach dem Ablagefach.
»Beeil dich«, flüsterte Tara, jetzt direkt hinter ihr, ihr Atem warm und feucht an Reggies Hals. »Deine Zeit läuft ab.«
Reggie öffnete ihre Augen, atmete tief die frische, kalte Oktoberluft ein. Sie war Zuhause in Vermont. Nicht zurück in Moniques Wunsch. Und sie war neununddreißig - nicht dreizehn.
»Verdammt«, sagte sie; das Wort war eine Wolke weißen Dampfs, der aus ihrem Mund entwich. Sie hatte wieder die Fenster offengelassen.
Die Daunendecke wie ein Cape um sich gewickelt, glitt sie aus dem Bett und ging direkt zu den Fenstern, zog sie zu. Die Bäume, die noch letzte Woche lebhaftes Orange, Gelb und Rot getragen hatten, verloren ihre Leuchtkraft. Die Kälte und der Wind der letzten drei Tage hatten viele der Blätter von den Bäumen geholt. Draußen über dem See war eine V-förmige Formation von Kanadagänsen in Richtung Süden unterwegs.
»Ihr wisst nicht, was ihr verpasst«, sagte Reggie zu ihnen. Dann, mit ihrem nächsten Atemzug, murmelte sie: »Hühnerkacke. « Sie blinzelte hinunter zum See, stellte ihn sich in drei Monaten vor, zugefroren und schneebedeckt, eine flache Mondlandschaft in Weiß. Er unterschied sich gar nicht so sehr vom Ricker's Pond, wo ihre Mutter ihr das Schlittschuhfahren beigebracht hatte. Reggie konnte es deutlich vor sich sehen: wie ihre Mutter in einem grünen Samtmantel und einem goldenen Chiffonschal in eleganten Kreisen dahinsegelte, während Reggie wackelte und fiel und das Eis unter ihnen knackte. »Bist du sicher, dass das ungefährlich ist?«, hatte sie ihre Mutter jedes Mal gefragt, wenn das Eis ein Geräusch machte. Und ihre Mutter hatte gelacht. »Angsthase«, hatte sie sie geneckt, war direkt in die Mitte gefahren, dorthin, wo das Eis am dünnsten war, und hatte Reggie ihre Hände entgegengestreckt. »Komm hierher und zeig mir, aus was für einem Holz du geschnitzt bist.«
Reggie schüttelte die Erinnerung ab, zusammen mit der schweren Daunendecke. Sie zog sich schnell ein Paar Jeans und einen Pullover über und ging hinunter zur Küche, mit nackten Füßen, die sich auf dem Holzfußboden kühl anfühlten.
Sie hatte das Haus so angelegt, dass sie aus fast jedem Blickwinkel eine Aussicht auf den See hatte. Als sie die Treppe hinablief, hatte sie die große Fensterfront an der Südseite vor sich, die auf ihren Garten und ihre Wiese hinaus und hinab zum Arrow Lake ging. Es war etwas mehr als eine halbe Meile von ihrem Haus bis zum Rand des Sees, doch wenn sie die Treppen hinabkam, hatte sie da Gefühl, sie könnte einfach in die Luft hinaustreten und durch das Wohnzimmer schweben, durch die Fenster, über den Garten und das Feld und hinunter zum See. Manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie es beinahe versuchte - sich ein bisschen zu weit vorlehnte, ihren Fuß zu weit nach vorn setzte, sodass sie beinahe die nächste Stufe nach unten verfehlte. Das waren die Momente, die ihren Erfolg als Architektin klarstellten, nicht die Preise, die Auszeichnungen oder die Wertschätzung ihrer Kollegen, sondern die Art, ihre Treppe hinunterzugehen, die sie - nur für eine Sekunde - glauben ließ, dass sie sich in ein Stückchen Löwenzahnflaum verwandeln und zum See hinabschweben könnte. Damit ein Gebäude ein Erfolg wurde, musste es auf eine nahtlose Art mit der Landschaft verbunden sein. Es konnte nicht einfach aussehen, als wäre es dort zufällig abgestellt worden, sondern als wäre es dort organisch gewachsen, von Wind und Regen geformt, aus den Bergen geschnitten worden. Die Räume sollten nicht nur ineinanderfließen, sondern auch in die Welt jenseits des Hauses.
Das 4 Walls Magazine hatte Reggie gerade zu einer der besten grünen Architektinnen des Nordostens ernannt und das Schneider/Wellenstein-Haus, das sie in Stowe entworfen hatte, aufgezählt als »ein atemberaubendes Beispiel, Architektur in die Natur zu integrieren. Mit dem Fluss, der durch das Wohnzimmer fließt, und der 120 Jahre alten Eiche, die durch alle drei Stockwerke wächst, hat Dufrane eine nachhaltige Behausung geschaffen, die die Grenzen zwischen drinnen und draußen verwischt.«
Die Grenzen verwischen. Das war es, worin Reggie gut war - drinnen/draußen, alt/neu, funktional/ornamental - sie hatte eine Gabe dafür, unwahrscheinliche Ideen und Objekte zu verbinden und etwas zu erschaffen, das irgendwie beides und keines von beiden war, etwas, das größer war als die Summe seiner Teile.
Mit immer noch benebeltem Kopf und mit einem dringenden Bedürfnis nach Koffein spülte Reggie den kleinen Edelstahl- Espressobereiter aus, füllte ihn dann mit Wasser und Kaffee, setzte ihn auf den Gasherd und drehte den Knopf, um die Flamme zu entzünden. Ihre Küche war der Traum eines jeden Kochs (obwohl Reggie ehrlich gesagt nicht viel kochte und sich größtenteils von rohem Gemüse, Käse und Kräckern und Espresso ernährte) - bis zu der riesigen, die Arbeitsfläche einnehmenden italienischen Espressomaschine, die Reggie nur benutzte, wenn sie Gäste hatte. Sie zog die kleine Kanne für den Herd vor, die sie seit ihrer Collegezeit besaß. Sie war einfach zu bedienen und von ruhiger Eleganz - der Inbegriff guten Designs.
Das Wasser erreichte den Siedepunkt. Der Kaffee blubberte und erfüllte die Küche mit seinem intensiven, erdigen Duft.
Reggie sah auf ihre Uhr: 7.15 h. Sie würde zum Büro hinausgehen, ein wenig Brainstorming für das neue Projekt machen, einmal um den See laufen, duschen und dann ein paar weitere Skizzen machen. Sie blickte wieder auf ihre Uhr, erwischte sie dabei, wie sie auf 7.16 h umsprang.
Stell dir vor, dein Haus steht in Flammen. Du hast genau eine Minute Zeit, um mitzunehmen, was du kannst. Wofür entscheidest du dich?
Reggie blickte sich im Haus um, fühlte, wie die alte Panik in ihr aufstieg. Dann atmete sie ein und antwortete ihrer alten Freundin laut: »Nichts, Tara. Ich entscheide mich für nichts.« Ihre Brust lockerte sich. Muskeln entspannten sich. Tara hatte nicht mehr diese Art von Macht über sie.
Reggie war nicht mehr dreizehn. Sie wusste, dass Dinge ersetzt werden konnten. Und allzu viel besaß sie auch nicht. Das Haus zu verlieren, wäre ein niederschmetternder Schlag, aber es könnte neu aufgebaut werden. Sie besaß sehr wenige Möbelstücke. Ihr Kleiderschrank war nur halbvoll. Ihr Gelegenheitsfreund Len neckte sie: »Es ist nicht normal für eine erfolgreiche Erwachsene, in der Lage zu sein, alles, was sie besitzt, in den hinteren Teil eines Pick-up-Trucks hineinzubekommen. « Er sagte das immer mit den Händen tief in die Taschen seiner Carharrt-Hose geschoben und einem jungenhaften Grinsen im Gesicht, das das kleine Grübchen in seiner rechten Wange zum Vorschein brachte. Len lebte allein in einem alten, weiträumigen Farmhaus, in dem jeder Raum vollgestopft war mit Büchern und Kunst und Möbeln, die nicht ganz zusammenpassten.
»Das ist die Zigeunerin in mir«, sagte sie ihm dann und beugte sich vor, um seine Wange zu küssen.
»Zigeunerin, Blödsinn«, spottete er daraufhin. »Du lebst wie eine Kriminelle auf der Flucht.«
Mit einem dreifachen Espresso in der Hand ging Reggie wieder nach oben, schlüpfte mit den Füßen in ihre Clogs und öffnete die Tür zur Brücke, die zu ihrem Baumhausbüro führte. Sie atmete die kühle, frische Luft ein. Sie roch Holzrauch, feuchte Blätter, die Äpfel, die in dem aufgegebenen Obstgarten an der östlichen Seite ihres Grundstücks auf dem Boden verrotteten. Es war ein perfekter Mitte-Oktober-Tag. Die knapp fünf Meter lange Hängebrücke schwankte leicht unter ihr, und sie ging zuerst langsam, mit Garten und Einfahrt unter sich und dem Arrow Lake in der Ferne. Charlies Brücke, nannte sie sie, obwohl Charlie nicht einmal wusste, dass sie existierte. Und sie hatte nie irgendjemandem den geheimen Namen der Brücke oder die Geschichte, die dahinter stand, verraten. Was würde sie sagen? Ich habe sie nach einem Jungen benannt, der mir einmal sagte, eine Brücke wie diese wäre nicht möglich.
Das Telefon in ihrem Büro klingelte. Sie rannte die letzten paar Meter und war gefährlich nahe daran, den Espresso zu verschütten.
Sie öffnete die Tür, die nie verschlossen war - die einzige Möglichkeit hineinzukommen war, die Brücke vom Inneren ihres Hauses aus zu überqueren oder acht Meter die Eiche hinaufzuklettern, um die das Büro gebaut worden war. Das Büro hatte einen Durchmesser von vier Metern und war kreisförmig, der Baumstamm befand sich im Zentrum und es gab Fenster auf allen Seiten. Len nannte es den »Kontrollturm«.
Sie hatte einen Computertisch und einen Zeichentisch aus Holz. Da war eine kleine Pinnwand, auf die Notizen zu ihrem neuesten Projekt, eine Erinnerung, dass sie einen Kunden anrufen wollte, und ein Horoskopchart, das Len für sie angefertigt hatte, gepinnt waren. Sie hielt nichts von Durcheinander oder davon, an Dingen festzuhalten, die keine wirkliche Bedeutung hatten, daher enthielt ihr Bücherregal nur die Bücher, die sie immer wieder konsultierte, diejenigen, die sie beeinflusst hatten: Die Poesie des Raums, Eine Sprache der Muster, Die zeitlose Art des Bauens, Design mit der Natur, Notizen zur Synthese von Formen sowie eine kleine Sammlung von Naturführern. Hier und da zwischen den Büchern steckten Teile von Reggies anderer großer Inspirationsquelle: Vogelnester, Muscheln, Tannenzapfen, interessant geformte Steine, ein rundes Papierwespennest, Schoten der Papageienpflanze, Eicheln und Bucheckern.
Reggie langte nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, stolperte und spritzte heißen Espresso über ihre Hand.
Mist! Warum beeilte sie sich so? Wen erwartete sie am anderen Ende der Leitung zu hören? Charlie? Nicht sehr wahrscheinlich. Das letzte Mal, dass sie miteinander gesprochen hatten, war gewesen, als sie zufällig im Lebensmittelladen zusammengestoßen waren, kurz bevor sie beide auf unterschiedlichen Highschools ihren Abschluss gemacht hatten. Tara vielleicht, um sie zu necken, ihr zu sagen, dass sie sechzig Sekunden hatte, um alles zusammenzutragen, was ihr wichtig war?
Nein. Tatsächlich dachte sie, dass Er es wieder war.
Sie hatte die Anrufe seit Jahren bekommen, zuerst zu Hause, dann im College, dann in jedem Apartment und Haus, in dem sie jemals gewohnt hatte. Er sagte nie ein Wort. Aber sie konnte ihn atmen hören, konnte beinahe spüren, wie ein Hauch von übelriechender Feuchtigkeit ihr gutes Ohr berührte, wenn er einatmete, dann ausatmete, jeder Atemzug verspottete sie, sagte: Ich weiß, wie ich dich finden kann. Und irgendwie wusste sie, sie wusste es einfach, dass es Neptun war. Und eines Tages könnte er tatsächlich den Mund aufmachen und sprechen. Sie erlaubte sich, es sich vorzustellen: wie seine Stimme wie Wasser durch das Telefon rauschte, sie überschwemmte, durch sie hindurchfloss. Vielleicht würde er ihr die eine Sache verraten, die sie immer hatte wissen wollen: Was er mit ihrer Mutter gemacht hatte, warum sie das einzige Opfer war, dessen Leiche man nie gefunden hatte. Die anderen waren so öffentlich ausgestellt worden, aber alles, was sie jemals von Vera fanden, war ihre rechte Hand. Was war es, das Vera anders machte?
»Hallo?«, stammelte Reggie.
Sag etwas, verdammt, befahl sie sich. Atme dieses Mal nicht bloß.
»Regina? Hier ist Lorraine.«
»Oh, guten Morgen«, sagte Reggie durch zusammengebissene Zähne. Sie setzte die kleine Keramiktasse ab und schüttelte ihre schmerzende Hand, ärgerlich darüber, dass sie sich verbrannt hatte, weil sie sich für Lorraine abgehetzt hatte. Warum zur Hölle rief ihre Tante zu dieser Stunde an? Gewöhnlich rief sie jeden Sonntag um fünf an. Und Reggie gelang es oft, dann abwesend zu sein. (Oder zumindest gab sie vor, es zu sein - in einer Ecke lauernd, mit einem Glas Pinot Noir in der Hand, versteckte sie sich wie ein Kind, als könnte das rote Auge des Anrufbeantworters sie sehen, während sie der körperlosen Stimme ihrer Tante zuhörte.)
»Ich habe gerade einen Anruf von einer Sozialarbeiterin unten in Massachusetts bekommen.« Das war typisch Lorraine - sofort zur Sache zu kommen - keine nutzlose Einleitung über das Wetter oder irgendein dummes »Hier ist alles in Ordnung, wie geht es dir?«. Es gab eine lange Pause, während Reggie wartete, dass sie weitersprach. Doch das tat sie nicht.
»Lass mich raten«, sagte Reggie. »Sie hat gehört, was für eine gestörte und traumatisierte Familie wir sind, und hat ihre Dienste angeboten.«
Reggie konnte beinahe sehen, wie Lorraine mit den Augen rollte, missbilligend über die Oberseite ihrer Brille und ihre Nase hinabblickte. Lorraine, die in der Küche mit der verblassten Tapete stand, ihre Haare zu einem Dutt zusammengenommen, der so straff war, dass er die Falten auf ihrer Stirn glattzog. Und sie trug natürlich Großpapa Andrés alte Fischerweste, fleckig und nach Jahrzehnten von toten Forellen stinkend.
Reggie griff wieder nach der Espressotasse und nahm einen Schluck.
»Nein, Regina. Es scheint, dass sie deine Mutter gefunden haben. Lebend.«
Reggie spuckte den Kaffee aus, ließ die Tasse auf den Boden fallen, beobachtete, wie sie in Zeitlupentempo fiel, wie dunkler Espresso die nachhaltig angebauten Bodenbretter bespritzte.
Das war nicht möglich. Ihre Mutter war tot. Sie alle wussten das. Sie hatten vor fünfundzwanzig Jahren einen Gedenkgottesdienst abgehalten. Reggie konnte sich immer noch an die Horden von Reportern draußen erinnern, daran, dass der Prediger nach Alkohol gerochen hatte und dass Lorraines Stimme gezittert hatte, als sie das Dickinson-Gedicht »Der Tod hielt freundlich für mich an« gelesen hatte.
Schließlich flüsterte Reggie: »Was?«
»Sie sind sich ziemlich sicher, dass sie es ist«, sagte Lorraine mit ruhiger, sachlicher Stimme. »Anscheinend ist sie in den letzten zwei Jahren dort immer wieder in einem Obdachlosenasyl gewesen.«
»Aber wie kann ... Woher wissen sie das?«
»Sie hat es ihnen gesagt. Ihr fehlt die rechte Hand. Schließlich hat die Polizei Fingerabdrücke genommen - sie stimmen überein.«
Reggies Herz machte einen langsamen, kalten Satz hinunter zu ihrem Magen. Sie schloss ihre Augen und sah es dieses Mal so klar: ihre Mutter, draußen auf dem Ricker's Pond, wie sie sich über das Eis bewegte, eine perfekte Acht fuhr. Dann hielt sie Reggie ihre Hand hin, und sie fuhren zusammen zur Mitte des Teiches, lachend, mit roten Wangen, ihr Atem verursachte kleine Wolken, während das Eis sich unter ihnen bewegte und stöhnte wie ein lebendes Wesen.
»Da ist noch etwas«, sagte Lorraine, ihre Stimme war knapp und geschäftsmäßig wie immer. »Deine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat seit einiger Zeit Husten und hat schließlich zugestimmt, dass ihre Brust geröntgt wurde. Sie vermuteten Lungenentzündung oder Tuberkulose. Sie fanden Krebs. Sie hat vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
Jetzt war Reggie sprachlos, versuchte eine irrsinnige Nachricht nach der anderen zu verdauen. Es fühlte sich alles wie ein grausamer Trick an. Deine Mutter ist am Leben. Aber sie liegt im Sterben.
Sie sank auf den Boden hinab, saß in verschüttetem Kaffee.
»Ich will, dass du nach Massachusetts runterfährst und sie holst, Regina. Ich will, dass du sie zurück nach Moniques Wunsch bringst.«
»Ich?«
»Ich fahre heutzutage nicht mehr so viel. Grauer Star.«
»Aber ich ...«, stammelte Reggie.
»Ich brauche deine Hilfe dabei«, sagte Lorraine. Dann, als würde sie Reggies Zögern spüren, ergänzte sie: »Deine Mutter braucht dich.«
Reggie schob ihr Haar zurück, ihre Finger fanden die Narben. »Okay«, sagte sie.
Nach Hause. Sie kehrte wieder nach Hause zurück.
2
1976 - Brighton Falls, Connecticut
Reggies früheste Erinnerung an ihre Mutter begann damit, dass ihre Mutter ein Ei auf den Kopf stellte, und endete damit, dass Reggie ihr Ohr verlor.
Sie war fünf Jahre alt, und ihre Mutter hatte sie mit zu einer Bar an der Flughafenstraße genommen. Reggie drehte sich auf einem roten Vinylhocker, es gefiel ihr, an ihrem eigenen Trick zu arbeiten, während ihre Mutter ihren für irgendeinen Neuankömmling aufführte, der ihr versprochen hatte, ihr einen Drink zu spendieren, wenn sie es hinkriegte. Reggie drehte sich herum und herum, schlug ihre Beine bei jeder Drehung sanft gegen die ihrer Mutter, vermied dabei sorgfältig Augenkontakt mit dem Kerl zu ihrer Linken, mit dem ihre Mutter die Wette abgeschlossen hatte. Er war ein dunkelhäutiger Mann mit vorstehenden Augen, der Öl in seinen Haaren hatte und eine dünne Lederjacke trug, die sich nicht richtig zuknöpfen ließ. Seine Nase hatte einen Höcker, eine leichte Drehung, als wäre sie einmal zu oft gebrochen worden. Der Boxer, nannte Reggie ihn, sagte die Worte nicht laut, sondern in ihrem Kopf. Der Boxer nannte Reggie »Champ« und zwinkerte dem Mädchen mit einem seiner froschartigen Augen hinter dem Rücken ihrer Mutter zu, während Vera damit beschäftigt war, Salz auf die Bar zu streuen.
Der Schlüssel zu dem Trick bestand darin, dem Ei etwas zu geben, das ihm Halt gab, worin es ruhen konnte.
Reggies Mutter, Vera Dufrane, die den Eiertrick perfektioniert hatte, wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit Jayne Mansfield auf - vollbusig, mit einem Kopf voller dicker platinblonder Haare, das sich über ihre anmutigen Schultern ergoss. Sie war Abschlussballkönigin gewesen und 1969 nach der Highschool nach New York City gegangen, um eine Schauspielkarriere zu verfolgen. Um ihre Rechnungen besser bezahlen zu können, während sie kleine Rollen in Off-Broadway- Stücken spielte, begann sie zu modeln. Beinahe sofort wurde sie das Aphrodite-Cold-Cream-Girl. Ihr Bild erschien in Magazinen und Kaufhäusern im ganzen Land. Pflegen Sie sich wie eine Göttin, lautete der Slogan. Ihr plötzlicher Ruhm brachte ihr mehr Arbeit als Schauspielerin, inklusive ihrer ersten Hauptrolle seit ihren Tagen als Star des Schauspielclubs der Brighton Falls Highschool.
Doch gerade als ihre Karriere in Gang kam, kehrte Vera im Vorfrühling 1971 abrupt nach Brighton Falls zurück, zog wieder in das große und seltsame Haus ihrer Kindheit, Moniques Wunsch, zu ihrer Schwester Lorraine (die sechs Jahre älter war als sie) und ihrem Vater, André Dufrane. Bei André war als diagnostiziert worden, während Vera in New York war, und zu dem Zeitpunkt, als sie zurück in das Haus zog, befand er sich ein einem Zustand stetigen Verfalls. An ihrem ersten Abend zu Hause machte sie am Esstisch eine überraschende Ankündigung.
»Ich bin schwanger. Das Baby kommt Ende Juli.«
Ihr Vater und ihre Schwester, zu geschockt um zu sprechen, starrten sie nur an.
»Kannst du mir bitte die Brötchen rüberreichen?«, fragte Vera.
»Wer ist der Vater?«, wollte André wissen und schob seinen unberührten Teller mit Essen von sich.
»Er ist niemand«, sagte Vera.
André schüttelte zitternd den Kopf. »Was für eine Art, ein Kind in die Welt zu bringen. Als Niemand Junior.«
André hatte Moniques Wunsch für seine Frau gebaut, die immer in einem Schloss hatte wohnen wollen. Er brauchte zehn Jahre, um das Haus fertigzubauen, da er die meiste Arbeit allein tat und kein Maurer oder Tischler war. André reparierte Schuhe. Ein Schuster am Tag, ein Schlossbauer am Abend. Monique selbst starb, bevor das Schloss fertig war, an Komplikationen nach Veras Geburt.
Vera sagte als Teenager und Erwachsene oft, dass Moniques Wunsch eher wie der Name eines Rennpferdes klang als wie der eines Hauses.
»Ein echter Schuss ins Blaue«, sagte sie. »Lausige Gewinnchancen. «
Davon abgesehen, dass es aus Stein gebaut war, hatte das Haus wenig Ähnlichkeit mit einem Schloss. Es gab keinen Graben, keinen Turm oder Zinnen. Es hatte einen ausgedehnten, wirren Grundriss, der sich über zwei Etagen erstreckte und von einem Giebeldach, gedeckt mit Schiefer, gekrönt wurde. Die nicht isolierten Steinwände hielten ganz schlecht die Wärme, und das Haus war den größten Teil des Jahres dunkel und kalt. Vera fröstelte während ihrer Schwangerschaft, wie sie den größten Teil ihrer Kindheit gefröstelt hatte.
Lorraine richtete im hinteren Teil von Moniques Wunsch ein Kinderzimmer ein und tat ihr Bestes, Vera auf die Mutterschaft vorzubereiten. Sie kochte ihr Leber, zwang sie, Vitaminpillen zu nehmen, und warf zahllose Packungen mit Zigaretten weg. Lorraine tat all dies, während sie André pflegte, der bald nicht mehr in der Lage war, ohne Hilfe Treppen hoch- und runterzugehen, und anfing, den größten Teil des Tages in seinem Schlafzimmer zu verbringen, gleich gegenüber von Vera, wo er sich angewöhnte, Seifenopern auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher zu gucken. Vera saß an den Nachmittagen bei ihm, zündete sich Zigaretten an und sprang auf, um die Tür abzuschließen, wenn sie Lorraine kommen hörte. Vera rief dann: »Kein Zutritt zur Krankenstube bis zur Besuchszeit! Komm um fünf zurück! Vergiss die Tabletts mit dem Abendessen nicht!«, und Lorraine kochte vor Wut, wenn sie den Zigarettenrauch roch und ihren Vater und ihre Schwester wie Kinder hinter der geschnitzten Holztür kichern hörte.
Reggie hörte von all dem erst viel später, von ihrer Mutter. Sie hörte außerdem davon, wie Lorraine in einem Versuch, Andrés Beharren darauf, dass »das arme Bastardkind« keine große Chance hätte, entgegenzuwirken, sagte, dass Veras ungeborenes Kind ein glückliches Baby sein würde, da es von Mutter und Tante aufgezogen werden würde, und dass das die Art war, wie wilde Elefanten ihre Jungen aufzogen. Vera, die das amüsierte, begann, von Reggies Vater als dem Elefanten zu sprechen. Über die Jahre verwandelte sich dieser Spitzname in Stoßzahn, was der einzige Name war, den Reggie jemals für ihren Vater hatte.
Reggie wuchs auf mit der Vorstellung von einem Vater, der den Köper eines Mannes und den Kopf eines Elefanten hatte. Und später, als sie, im Alter von acht Jahren, auf ein Bild des Hindugottes Ganesha stieß, riss sie es aus dem Buch und bewahrte es in einem Schuhkarton unter ihrem Bett auf, der auch ihre anderen wertvollen Besitztümer enthielt: den Schädel eines Vogels, einen Penny mit Indianerkopf, zwei Dutzend Krieg-der-Sterne-Tauschkarten, Streichholzbriefchen von diversen Bars, die ihre Mutter besuchte, und eine Anzeige, ausgeschnitten aus einem Magazin, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte, die ihre Mutter zeigte, die einen Tiegel Creme in ihrer perfekt manikürten rechten Hand hielt. Vera trug ein weißes Kleid, das ihre nackten Schultern entblößte und glänzende, makellose Haut zur Schau stellte. Sie lächelte listig, als würde sie einem ein Geheimnis verraten.
Manchmal nahm Reggie die beiden Bilder heraus und legte sie nebeneinander: Ganesha und die Cold-Cream-Göttin. Ein ungleiches Paar.
Reggie beobachtete, wie ihre schöne Mutter Salz auf die Bar streute, als wäre es eine heilige Handlung. Der Barkeeper brachte ihr ein Ei aus der Küche, und Vera stellte es vorsichtig mit ihren langen, anmutigen Fingern auf den Kopf.
»Voilà«, sagte sie.
Der Boxer klatschte, seine dicken Hände schlugen ungeschickt aufeinander, erschütterten Reggies Trommelfell. Das Mädchen mit den knubbeligen Knien drehte sich auf dem Hocker, lächelnd, da sie wusste, dass ihre Mutter ein Wunder vorgeführt hatte. Sie begriff, selbst damals schon, dass ihre Mutter, das Aphrodite-Cold-Cream-Girl, von etwas berührt war, dass größer als sie selbst war, etwas, das ihr die Macht gab, ein Ei auf den Kopf zu stellen, wie einen winzigen, verformten Planeten, es vorsichtig in die Umlaufbahn zu schicken, zusammen mit dem Boxer und Reggie und allem anderen in der schäbigen Bar, bis hinunter zu den schweren Aschenbechern aus Glas, die sie alle sanft, hilflos umkreisten.
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie der Doppelgänger von Marlon Brando sein könnten?«, fragte Vera den Boxer.
»Nein«, sagte er lachend und zeigte seine verfärbten Zähne.
»Sie sehen genau wie er aus. Als er Terry Malloy in Die Faust im Nacken spielte. Haben Sie den gesehen?«
»Nein, meine Liebe, kann ich nicht behaupten.«
»Brando ist ein Gott«, sagte Vera, zündete eine Zigarette an und sah zu, wie der Rauch nach oben stieg.
Hinter ihnen spielten zwei heruntergekommene Männer Pool an einem Tisch, dessen eines Bein mit einem Telefonbuch unterlegt war. Die Kugeln schlugen heftig gegeneinander, Gestreifte und Einfarbige fochten es untereinander aus. Außer dass sie jeden Schuss ansagten, waren die Männer ruhig, rieben ihre Billardstöcke mit Kreide ein, zielten.
Vera nahm einen weiteren Drink, überprüfte ihr Make-up im Spiegel ihres Kompaktpuders. Der Boxer kaufte Reggie einen Cheeseburger und sagte, er würde ihr einen Dollar geben, wenn sie ihn aufessen konnte. Reggie verlor die Wette und hatte hinterher furchtbare Bauchschmerzen. Dann saßen sie alle drei im Auto des Boxers, einem großen, alten Boot von einem Auto, mit gerissenen Ledersitzen, die nach Menthol und Haaröl rochen.
Die Wohnung des Boxers lag in einem Backsteingebäude in der Nähe, vier Treppen mit engen, hölzernen Stufen hinauf. Er hatte einen Hund in einem Hinterzimmer, der so laut und heftig bellte, dass es die Wände erschütterte. Er machte Drinks in einem Plastikmixer, der sich überhitzte, sodass die kleine Küche nach verbranntem Gummi roch. Er nannte sie Grashüpfer, grün vom Crème de Menthe, und gab Reggie ihren eigenen Drink in einem kleinen Marmeladenglas, da er der Meinung war, mit fünf wäre sie mehr als alt genug dafür.
»Das ist wie ein Milkshake«, erzählte ihr der Boxer. »Wie einer von diesen Kleeblatt-Shakes, die man am St. Patrick's Day bekommt.«
Er sagte noch etwas Anderes, als er ihr das Glas reichte, aber sie konnte es wegen des bellenden Hundes nicht hören. Der Boxer schenkte ihr ein weiteres groteskes Augenzwinkern. Reggie lächelte, obwohl sie bemerkt hatte, dass das Glas, das er ihr gegeben hatte, dreckig war, überzogen mit einem öligen Überrest, übersät, stellte sie sich vor, mit den Bazillen, vor denen ihre Tante Lorraine sie immer warnte. Sie nahm einen Schluck und war erfreut, festzustellen, dass er so war, wie sie sich vorgestellt hatte, wie ein Kleeblatt-Shake schmecken könnte, grün und kühl, obwohl sie nie einen getrunken hatte - Tante Lorraine hielt nichts von Fastfood. Der Boxer gab Reggie einen sanften, spielerischen Klaps auf den Kopf, weil sie jetzt Trinkkumpane waren. Dann zeigte er Reggie, dass die Küchentür auf einen kleinen Zementbalkon hinausging, auf der zwei durchhängende Gartenstühle standen, ein Transistorradio und ein großer Baum in einem Topf, der vor langer Zeit eingegangen war. Der Topf war zu einem Aschenbecher und Abladeplatz für Flaschenverschlüsse und Zigarettenfolie geworden. Der Balkon hatte niedrige Wände aus Schlackenbetonblöcken, über die Reggie gerade eben so hinübergucken konnte.
»Du spielst hier draußen«, sagte ihre Mutter zu ihr. »Ist das okay für dich?«
Manchmal sagte sie Dinge, die wie Fragen klangen, aber Reggie wusste, dass sie nicht dazu gedacht waren, mit mehr als einem Nicken beantwortet zu werden.
»Magst du Musik?«, fragte der Boxer und fummelte bereits an dem knackenden Radio herum, stellte den ersten Sender ein, den er kriegen konnte. Es war lebhafte Musik, mit vielen Bläsern, gesungen in Spanisch. Reggie störte das nicht.
Sie ließen sie dort draußen, ließen die Tür zur Küche ein Stück offen. Reggie trank ihren brennenden Pfefferminzdrink, behielt das zerkleinerte Eis in ihrem Mund, bis ihre Milchzähne schmerzten. Der Radiosprecher sprach Spanisch, und Reggie stellte sich vor, dass die Worte schnelle Bälle in leuchtenden Farben waren, die durch die Luft knallten. Sie erinnerte sich an das Klacken der Billardkugeln, das Ei auf der Bar, die gebogene Nase des Boxers. Und bald hatte sie ihren kleinen grünen Drink, der nach einem Insekt benannt war, von dem Reggie wusste, dass es überhaupt nicht grün, sondern braun war, ausgetrunken.
Ihr Kopf drehte sich, als hätte sie sich einmal zu oft auf dem Barhocker gedreht, und sie dachte, dass sie sich besser hinsetzen sollte, als ihr Blick von einem schimmernden Glitzern angezogen wurde, das von der Ecke des Balkons kam.
Sie sah, dass sich dort, zwischen dem Müll am Stamm des toten Topfbaumes, ein kleiner Ring mit einem roten Stein befand.
Dies war nicht irgendein Kaugummiautomatenring, es war ein echter, der geschliffene Edelstein zwinkerte ihr von einem zarten Goldband wie ein Auge zu.
Reggie griff danach - stellte sich die Freude ihrer Mutter vor, wenn sie ihr das Geschenk auf den Finger schob - fühlte sich gleichzeitig flau und glücklich, als der Hund auf sie zukam.
Er bewegte sich zu schnell für Reggie, um mit Sicherheit sagen zu können, welche Art von Hund es war oder ob es überhaupt ein Hund war. Es hätte ein Bär sein können, ein Vielfraß, ein Tasmanischer Teufel. Er bestand nur aus Maul und gebleckten Zähnen, Speichel sprühte auf Reggies Gesicht, als er sie auf den Boden warf und dort festhielt, indem er sein volles Gewicht und seine beiden riesigen Pfoten auf Reggies Brust legte.
Der Zement war kühl. Kiesig. Kleine Risse verliefen in ihm wie Verwerfungslinien, als hätte es tausend kleine Erdbeben hier oben auf diesem Balkon gegeben, alle verursacht von diesem Hund, der kleine Mädchen auf den Boden schleuderte. Die Zeit dehnte und verlangsamte sich (ein Knetgummi- Moment, würde sie es später nennen) und Reggie war in der Lage, die kleinsten Einzelheiten ihrer Situation wahrzunehmen. Sie hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass der Hund sie töten würde, aber sie wusste nicht, wie der Tod sein würde, nur dass ihm dies vorausgehen würde: dieses kleine Zeitfenster, in dem Dinge sich in Zeitlupe bewegten und ihre Sinne auf Hochtouren liefen, alles aufnahmen, weil es ohne Zweifel ihre letzte Chance war, das Leben auf der Erde zu erleben, einschließlich des rauen, rissigen Zements.
Instinktiv drehte sie ihr Gesicht weg, als die Zähne auf sie zukamen. Es fühlte sich an, als hätte der Hund ein Loch in die Seite ihres Kopfes gerissen - da war ein schneidender Schmerz und stickige Hitze, zusammen mit einem Schwall heißen, nach verfaultem Fleisch riechenden Atems auf ihrem Gesicht.
Sie schloss ihre Augen - sicherlich nur für einen Augenblick - und betete zu Gott, was man, wie sie wusste, tun sollte, wenn man in einer derart ernsten Notlage war, ihre Tante Lorraine hatte ihr das beigebracht. Doch damit Gott durchkommen konnte, erklärte Lorraine, musste man glauben, und Reggie hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel an Gott gedacht. Doch sie versuchte es trotzdem, stellte sich einen Mann mit weißem Bart vor, der in den Wolken schwebte. Der Gott, den sie sich vorstellte, sah so ziemlich wie das Foto ihres Großvaters aus, das im oberen Flur hing: ein streng blickender Mann in einem Flanellhemd und Watstiefeln für Fischer.
Als Reggie ihre Augen öffnete, fand sie ihren Retter nicht in der Form eines mageren, in Gold gekleideten, großvaterartigen Gottes, sondern in der ihrer Mutter, die ihre Hände in das dicke schwarze Fell am Hals des Hundes grub und »Baastaard! « schrie. Vera trug nur seidene Höschen und einen Spitzen-bh und sah für Reggie aus wie eine blonde, vollbusige Wonder Woman. Der Hund wandte sich von Reggie ab und versenkte seine gelben Zähne in Veras blasse Hand. Sie stieß einen kehligen Schrei aus und schlug ihm mit ihrer linken Hand auf die Nase. Sein Kiefer entspannte sich vor Überraschung, und sie riss ihre verletzte rechte Hand mit einem schrecklichen, nassen Geräusch los und ergriff ihn noch einmal. Dieses Mal hob sie den Hund - diesen großen Bären von einem Hund - siebzig Pfund zähnefletschender Köter - und drehte ihn, als würden sie tanzen, dann ließ sie los. Der Hund flog über die niedrige Betonwand des Balkons und beendete sein Leben vier Stockwerke tiefer mit einem letzten Aufjaulen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
- Autor: Jennifer McMahon
- 2013, 448 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863658434
- ISBN-13: 9783863658434
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