Lockruf der Finsternis / Dark Hunter Bd.12
Roman. Deutsche Erstausgabe
Sie sind gefährlich und unschlagbar sexy: die Dark Hunter!
Sin war einst ein mächtiger sumerischer Gott, bis er seine Macht an Artemis verlor. Er sinnt auf Rache, doch zunächst steht er vor einer schweren Aufgabe: Er muss...
Sin war einst ein mächtiger sumerischer Gott, bis er seine Macht an Artemis verlor. Er sinnt auf Rache, doch zunächst steht er vor einer schweren Aufgabe: Er muss...
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Produktinformationen zu „Lockruf der Finsternis / Dark Hunter Bd.12 “
Sie sind gefährlich und unschlagbar sexy: die Dark Hunter!
Sin war einst ein mächtiger sumerischer Gott, bis er seine Macht an Artemis verlor. Er sinnt auf Rache, doch zunächst steht er vor einer schweren Aufgabe: Er muss die Menschheit vor Dämonen retten, doch dazu muss er einer Frau vertrauen, die einst seiner ärgsten Feindin diente.
Sin war einst ein mächtiger sumerischer Gott, bis er seine Macht an Artemis verlor. Er sinnt auf Rache, doch zunächst steht er vor einer schweren Aufgabe: Er muss die Menschheit vor Dämonen retten, doch dazu muss er einer Frau vertrauen, die einst seiner ärgsten Feindin diente.
Klappentext zu „Lockruf der Finsternis / Dark Hunter Bd.12 “
Sie sind gefährlich und unschlagbar sexy: die Dark Hunter!Sin war einst ein mächtiger sumerischer Gott, bis er seine Macht an Artemis verlor und zum Dark Hunter wurde. Seit Jahrhunderten sinnt er auf Rache. Doch seine Vergeltung muss warten: Denn gefährliche Dämonen sind erwacht und gieren nach Menschenfleisch. Nur Sin kann die Menschheit retten - doch dafür muss er, der nichts anderes als Verrat kennt, der einen Frau vertrauen, die einst seiner ärgsten Feindin diente ...
Lese-Probe zu „Lockruf der Finsternis / Dark Hunter Bd.12 “
Lockruf der Finsternis von Sherrilyn Kenyon Deutsch von Larissa Rabe
Prolog
Rache.
Manche sagen, es ist ein Gift, das in die Seele eindringt und sie bloßlegt. Dass der Pfad der Rache denjenigen, der ihn verfolgt, zerstört.
Aber für andere ist Rache wie Muttermilch. Sie nährt und tut ihnen gut - und gibt ihnen Grund zum Überleben, wenn sie nichts anderes mehr haben, was sie an diese Welt bindet.
Dies ist die Geschichte eines solchen Wesens. Sin, auch Nana genannt, war derjenige, der einst über die gesamte bekannte Welt herrschte, geboren als Gott zu einer Zeit, in der die Menschheit noch nicht einmal schriftliche Aufzeichnungen von den Anfängen ihrer Geschichte machte. Die Götterwelt, der er angehörte, war alles beherrschend, und um ihn herum zollten ihm alle ihren Respekt.
Und dann kam der Tag, an dem andere Götter sich erhoben und ihn herausforderten. Jahrhundertelang führte er seinen blutigen Kampf, und er hätte gesiegt, hätte nicht ein Verrat ihn seiner Göttlichkeit beraubt.
Seiner geheimen Kräfte beraubt, musste er in der Welt der Menschen als einer von ihnen leben - als etwas anderes, etwas Dunkles, Kaltes und Tödliches.
Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende. Eine Niederlage gibt dem Teil der Seele Nahrung, der Revanche verlangt. Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung. Und solange es Hoffnung gibt, gibt es auch Entschlossenheit.
Und das Bedürfnis nach Rache, das stets auf Seiten der Besiegten ist.
Jahrhundertelang wartete der antike Gott den richtigen Zeitpunkt ab, denn er wusste, dass die Selbstzufriedenheit und Arroganz seiner Feinde sie irgendwann wieder zusammenführen würde.
Und nun ist der Tag der Abrechnung zum Greifen nahe ...
1
... mehr
»Er muss zur Strecke gebracht werden. Und wenn es nach mir geht, dann schmerzhaft und schnell, aber letztlich ist alles, was zu seinem Tod führt, in Ordnung.«
Acheron Parthenopaeus wandte den Kopf und erblickte die griechische Göttin Artemis, die auf ihn zukam. Seit Jahrhunderten waren die beiden nun schon aneinandergebunden, und in Momenten wie diesem glaubte die Göttin tatsächlich, sie hätte ihn unter Kontrolle.
In Wirklichkeit jedoch sah es ganz anders aus.
Acheron saß, mit einer schwarzen Lederhose bekleidet, auf der steinernen Brüstung ihres Tempelbalkons. Mit dem Rücken lehnte er an einer der Säulen aus glänzendem weißem Marmor, die den Balkon umgaben. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf einen Wasserfall, hinter dem ein Regenbogen leuchtete, und auf eine perfekte Waldlandschaft. Andererseits hätte man auf dem Berg Olymp, wo die griechischen Götter residierten, auch nichts anderes erwartet ...
Artemis wäre mit ihrem fliegenden roten Haar, ihrer makellosen porzellanfarbenen Haut und ihren scharf blickenden, grünen Augen wunderschön gewesen, wenn Ash nicht einen Widerwillen gegen jeden einzelnen ihrer Atemzüge gehabt hätte.
»Warum hast du denn plötzlich Hummeln im Hintern, wenn es um Sin geht?«
Sie verzog den Mund. »Ich kann es nicht leiden, wenn du so redest.«
Und genau deswegen redete er auch so. Die Götter sollten verhüten, dass er je etwas tat, das ihr gefiel. Damit hatte er schon genug Probleme. »Du lenkst vom Thema ab.«
Sie antwortete beleidigt: »Ich habe ihn immer schon gehasst. Er hätte eigentlich sterben sollen. Erinnerst du dich? Aber du hast ja eingegriffen.«
Damit vereinfachte sie die Abfolge der Ereignisse ganz erheblich. »Er hat ganz von selbst überlebt. Ich habe dem Kerl nur eine Stelle beschafft, nachdem du ihn fertiggemacht hattest.«
»Ja, und jetzt ist er verrückt geworden. Hast du nicht gesehen, dass er letzte Nacht in ein Museum eingebrochen, drei Wachen k. o. geschlagen und ein bekanntes Kunstwerk gestohlen hat? Damit setzt er deine wertvollen Dark-Hunter der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aus. Ich schwöre dir, das hat er mit Absicht gemacht. Er hofft, dass er geschnappt wird, sodass er den Menschen von uns berichten kann. Er ist eine Bedrohung für uns alle.«
Ash nahm ihre Wut nicht ernst, obwohl er mit ihr darin übereinstimmte, dass Sin sich sehr waghalsig verhalten hatte. Normalerweise hatte der antike Exgott mehr gesunden Menschenverstand. »Ich bin mir sicher, dass er nur ein Stück Heimat berühren wollte. Zum Henker, was auch immer er sich da an Kunstwerken genommen hat - wahrscheinlich hat es ihm oder jemandem aus seiner Familie gehört. Ich werde niemanden töten, nur weil er Heimweh hat, Artie, das wäre ja, als ob man jemanden umbringt, während er auf dem Pott sitzt. Es ist einfach falsch.«
Sie legte die Hände auf ihre Hüften und starrte ihn an. »Heißt das etwa, du tust das als belanglos ab?«
»Meinst du damit, dass es nach meiner Auffassung nicht eine sofortige Hinrichtung rechtfertigt? Du magst mich ja für verrückt halten, aber ja, ich tue es als belanglos ab.«
Sie schaute ihn mit schmalen Augen an. »Du wirst streichfähig.«
Ash runzelte die Stirn, bis er begriff, was sie meinte. »Weich, Artie. Du wolltest sagen, dass ich weich werde. «
»Wie auch immer.« Sie baute sich neben ihm auf. »Der Archeron, den ich mal kannte, hätte ihn schon für eine kleinere Sache geschält.«
Er stieß einen entnervten Seufzer aus, ehe er antwortete. »Das Fell über die Ohren gezogen, Artie, verdammt, lerne doch endlich, wie man spricht. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich immer herausfinden muss, was, zum Teufel, du sagen willst. Und nie im Leben hätte ich jemandem für eine solche Tat das Fell über die Ohren gezogen.«
»Doch, das hättest du.«
Er dachte einen Moment darüber nach. Aber wie üblich hatte sie unrecht. »Nein. Ganz bestimmt nicht. Nur du würdest mich für eine so unbedeutenden Sache zu einer derartigen Gewalttätigkeit drängen.«
»Du bist ein richtiger Mistkerl.«
Zumindest hatte sie diesmal recht.
Er lehnte den Kopf gegen die Säule, sodass er zu ihr aufblicken konnte. »Warum? Weil ich deinem Gebot nicht nachkomme?«
»Ja. Das bist du mir schuldig. Du hast mich dazu gebracht, mich von den gedungenen Mördern zu trennen, und jetzt habe ich keine Kontrolle mehr über die Wesen ...«
»Die du geschaffen hast«, unterbrach er ihren Wutanfall. »Etwas Wichtiges solltest du hierbei aber nicht vergessen. Die Dark-Hunter müsste es eigentlich gar nicht geben. Und weil du nicht genug Verstand hast, werde ich es dir noch einmal erklären: Du hast mir die Kräfte geraubt, mit denen ich die Toten zurückholen konnte. Ich brauchte die Dark-Hunter eigentlich nicht, damit sie mir helfen, gegen die Daimons zu kämpfen und die Menschen zu beschützen. Das habe ich alles sehr gut allein erledigt. Aber du konntest das nicht ertragen. Du hast sie geschaffen, und dann hast du mir die Verantwortung für sie aufgehalst. Das ist eine Verantwortung, die ich äußerst ernst nehme, also musst du schon entschuldigen, wenn ich dich davon abhalte, sie zu töten, nur weil du deine umgekehrte PMS hast.«
Sie schaute ihn finster an. »Umgekehrte PMS?«
»Ja, anders als normale Frauen bist du jeden Monat achtundzwanzig Tage lang unausstehlich.«
Sie holte aus, um ihn zu schlagen, aber er packte ihr Handgelenk. »Das Recht, mich zu schlagen, ist in unserem Pakt nicht mit inbegriffen.«
Sie entzog ihm ihren Arm. »Ich will ihn tot sehen.«
»Ich lasse mich in dieser Angelegenheit nicht zu deinem Werkzeug machen.« Zum Glück für Sin gab es Ash. Und das war der einzige Grund, weshalb Artemis Sin nicht tötete. Vor vielen Jahrhunderten hatten Ash und Artemis einen Pakt geschlossen. Sie hatte einen Dark- Hunter flambiert, der eine einzige falsche Bemerkung gemacht hatte. Danach hatten sie vereinbart, dass Artemis ohne die Erlaubnis von Ash nie wieder einen Dark- Hunter anrühren würde.
Ihre Augen sprühten vor Wut. »Sin hat etwas vor, das spüre ich.«
»Das bezweifle ich nicht. Seit dem Tag, an dem du ihn seiner Göttlichkeit beraubt hast, will er dich ermorden. Zum Glück für dich stehe ich dem im Weg, und Sin weiß das.«
Sie kniff wieder wütend die Augen zusammen. »Ich bin überrascht, dass du ihm nicht dabei hilfst, mich umzubringen. «
Das überraschte ihn selbst auch. Aber er wusste schließlich, dass er mit so etwas nichts zu tun haben durfte. Er brauchte Artemis, um zu überleben, und wenn er sterben müsste, würde es auf der Welt noch mehr Angst geben, als es ohnehin schon gab.
Zu schade. Denn ehrlich gesagt hätte er nichts lieber getan, als ihr endlich den Rücken zuzukehren und sich nie wieder umzuschauen.
Artemis drängte sich an sein Knie. »Willst du ihn nicht wenigstens fragen, warum er im Museum gewesen ist und diese Wachleute angegriffen hat?«
Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte ihn. »Lässt du mich gehen, damit ich das tun kann?«
»Du schuldest mir deine Dienste noch für drei Tage.«
So viel zum Thema Hoffnung. Er hätte es wissen müssen. Das Miststück hatte nicht die Absicht, ihn aus ihrem Tempel zu entlassen, ehe die zwei Wochen vorbei waren. Es war ein bitterer Handel, den er mit ihr abgeschlossen hatte. Zwei Wochen lang war er ihr Sexsklave, und damit erkaufte er sich zwei Monate Freiheit, in denen sie nicht einschritt. Er hasste diese Spielchen, aber er wusste keinen anderen Ausweg.
Auch wenn es ihm wirklich verdammt zuwider war.
»Dann sieht es so aus, als ob die Sache noch Zeit hätte.«
Artemis knurrte ihn an und ballte die Hände zu Fäusten. Acheron würde noch einmal ihr Ende bedeuten. Sie wusste nicht, warum sie es überhaupt mit ihm aushielt.
Aber eigentlich wusste sie es doch. Obwohl er so stur war, war er doch immer noch der Mann mit dem meisten Sex-Appeal, der ihr je begegnet war. Nichts genoss sie mehr, als zuzuschauen, wie er sich bewegte. Sogar wenn er saß, wie jetzt gerade. Er hatte den perfektesten Körper, den ein Mann je gehabt hatte. Sein langes blondes Haar war zu einem Zopf geflochten und über eine Schulter geworfen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte sich zurück, wobei sein linker nackter Fuß zu einem Rhythmus wippte, den nur er hören konnte.
Er war stark und kühn und beugte sich ihrem Willen nur, wenn sie ihn dazu zwang. Und selbst dann tat er es nur murrend und widerwillig. Er war wie ein wildes Tier, das niemand zähmen konnte.
Außerdem konnte er zubeißen und knurrte jeden an, der versuchte, ihm nahe zu kommen.
Und die Götter waren Zeugen, dass sie seit Jahrhunderten versuchte, ihn entweder für sich zu gewinnen oder ihn zu besiegen, sodass er sich ergab. Aber weder das eine noch das andere klappte. Er war stets in der Nähe und doch gleichzeitig unerreichbar, und das machte sie zornig.
Sie zog einen Schmollmund. »Es würde dir gefallen, wenn er mich umbringt, hab ich recht?«
Er lachte leicht. »Himmel, nein. Diese Ehre will ich schon selbst in Anspruch nehmen.«
Wie konnte er es wagen! »Du erbärmlicher ...«
»Keine Beleidigungen, Artie«, schnitt er ihr gereizt das Wort ab. »Wir wissen beide, dass du es nicht so meinst. Diese Lippenbekenntnisse bin ich wirklich leid.«
Bei dieser Wortwahl überlief sie ein Schauer. »Merkwürdig. Von deinen Lippen kann ich gar nicht genug bekommen.« Sie beugte sich vor und berührte sie. Sein Mund war der einzige Körperteil an ihm, der weich war - weich wie die Blütenblätter einer Rose -, und sie war völlig fasziniert von ihm. »Du hast wirklich wunderbare Lippen, Acheron, vor allem, wenn sie über meinen Körper gleiten.«
Ash stöhnte, als er die Hitze in ihren smaragdgrünen Augen sah, und bekam eine Gänsehaut. »Kriegst du denn nie genug? Ich schwöre dir, wenn ich ein Sterblicher wäre, würde ich von unserer letzten Runde noch schlapp in der Ecke hängen. Falls ich nicht schon längst tot wäre. Wir müssen für dich wirklich ein anderes Hobby finden, damit du nicht ständig auf mir herumturnst.«
Aber es war zu spät, sie drückte bereits sein Knie herunter und setzte sich rittlings auf seine Hüften.
Er knirschte mit den Zähnen und lehnte den Kopf zurück, als sie begann, an seinem Hals zu knabbern. Er neigte den Kopf, denn er wusste schon, was jetzt kam, während sie seine Haut ableckte. Ihr Herz schlug bereits schneller, als sie sich näher an ihn drückte.
Und dann spürte er, wie ihre scharfen Schneidezähne sich in seine Haut bohrten, und im nächsten Augenblick trank sie sein Blut ...
»Katra!«
Kat Agrotera schoss kerzengerade in ihrem Bett hoch, als sie die schrille Stimme in ihrem Kopf hörte. »Was hab ich denn gemacht?«, fragte sie. Warum war Artemis jetzt wohl wieder wütend auf sie?
»Hast du schon geschlafen?«
Sie blinzelte, als Artemis neben dem Bett in ihrem Zimmer erschien. Der Raum war stockdunkel, abgesehen von dem unheimlichen blauen Licht, das von Artemis' Körper ausging.
Kat saß in ihrem pinkfarbenen Schlafanzug auf dem Bett, die Haare zerzaust, und sie entschied, dass sie ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen und ihren Sarkasmus unterdrücken sollte. »Jetzt bin ich wach.«
»Gut. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Kat musste ein Lachen unterdrücken. »Ich erinnere dich ja nur ungern daran, aber weißt du noch, dass du meine Dienste Apollymi weitergegeben hast? Und die große böse Göttin aus Atlantis, die du so fürchtest, verbietet mir jetzt, irgendetwas von dem zu tun, was du sagst. Sie findet es ziemlich lustig, dass sie dich auf diese Art und Weise reizen kann.«
Artemis kniff drohend die Augen zusammen. »Katra ...«
»Matisera ...«, sagte sie und ahmte Artemis' aufgebrachten Tonfall nach. »Ich habe mich nicht darum gerissen. Du bist diejenige, die den Pakt mit Apollymi geschlossen hat, mit dem ich jetzt leben muss. Mich persönlich ärgert es wahnsinnig, dass du mich behandelst wie eine Manga-Sammelkarte, die du nicht mehr im Haus haben willst. Aber du hast mich eingetauscht. Tut mir leid - ich spiele jetzt in der gegnerischen Mannschaft. «
Artemis trat einen Schritt vor, und Kat merkte plötzlich, dass sie wirklich Angst hatte.
»Stimmt etwas nicht?«
Artemis nickte und flüsterte: »Er wird mich töten.«
»Acheron?« Er kam dafür am ehesten infrage.
»Nein«, sagte sie scharf, »Acheron würde mir nie etwas tun, er droht nur damit. Erinnerst du dich noch daran, als du ein junges Mädchen warst?«
Wenn man die Tatsache bedachte, dass das so etwa zehn-oder elftausend Jahre her war, so war das eine ganz schöne Zeitspanne. »Einige Dinge sehe ich noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Warum?«
Artemis setzte sich auf Kats Bett und zog ihr Stofftier, einen Tiger, zu sich heran. »Erinnerst du dich an den sumerischen Gott Sin?«
Kat runzelte die Stirn. »Ist das der, der vor Äonen in deinen Tempel eingedrungen ist und versucht hat, dir deine Kräfte zu nehmen und dich zu töten?«
Artemis' Hand krallte sich um den Tiger. »Ja. Er ist zurück und versucht wieder, mich umzubringen.«
Wie war das nur möglich? Kat hatte sich persönlich um diesen Feind gekümmert. »Ich dachte, er wäre tot?«
»Nein, Acheron hat ihn gerettet, ehe er sterben konnte, und hat ihn zu einem Dark-Hunter gemacht. Sin glaubt, dass ich diejenige bin, die ihm seine Kräfte geraubt und ihn, als wäre er tot, zurückgelassen hat.« Artemis' Augen brannten vor Entsetzen. »Er wird mich umbringen, Katra, das weiß ich. Die ganze Welt wird untergehen. Wir steuern auf die sumerische apokalypsi zu ...«
»Ich glaube nicht, dass sie damals schon dieses Wort verwendet haben.«
»Wen interessiert es, welches Wort sie verwendet haben? «, rief Artemis. »Das Ende der Welt bleibt das Ende der Welt, egal, wie man es nennt. Es geht um Folgendes: Sin wird jetzt wieder versuchen, mich zu stürzen und meinen Platz einzunehmen. Weißt du, was das bedeutet? «
»Es wird großer Jubel ausbrechen?«
»Katra!«
Ernüchtert sagte sie: »Tut mir leid. Ich hab's schon kapiert: Er will Rache.«
»Ja, für etwas, das ich gar nicht getan habe. Ich brauche deine Hilfe, Katra, bitte.«
Kat saß einen Augenblick da und dachte nach. Es sah Artemis gar nicht ähnlich, um etwas zu bitten. Sie forderte nur - und allein deshalb begriff Kat, wie sehr Artemis Sin fürchtete. Ganz offensichtlich hatte die Göttin große Angst vor ihm, aber trotzdem beschlich Kat der Verdacht, dass an dieser Geschichte noch mehr dran war als das, was Artemis verriet. So war es nämlich immer. »Und was verschweigst du mir?«
Artemis starrte sie ausdruckslos an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Natürlich weißt du das.« Artemis sagte niemals die ganze Wahrheit über irgendetwas. »Und ehe ich mich auf ein Unheil einlasse, will ich alles wissen.«
Artemis' Gesicht verhärtete sich. »Willst du damit sagen, dass du dich weigerst, mir zu helfen - nach allem, was ich dir angetan habe?«
Das traf es eigentlich recht gut. »Ich glaube, du wolltest sagen ›nach allem, was ich für dich getan habe‹, und nicht ›was ich dir angetan habe‹, Matisera.«
»Das ist mir völlig egal, antworte mir lieber!«
Wow. Für eine Frau, die um Hilfe bat, hatte Artemis eine wunderbare Art, sich auszudrücken. Aber so war sie nun mal, und Kat wäre misstrauisch geworden, wenn Artemis nicht gebieterisch gewesen wäre. »Was soll ich für dich tun?«
»Was denkst du denn? Ihn umbringen!«
Kat verschlug es die Sprache. »Matisera! Was verlangst du da von mir!«
»Ich verlange von dir, dass du mir das Leben rettest«, knurrte sie, »und das ist ja wohl das Mindeste, was du für mich tun kannst. Besonders nach allem, was ich dir gegeben habe. Sin wird mich töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt, und mir meine gesamten Kräfte rauben. Wer weiß, was er der Menschheit antut, wenn er erst wieder ein Gott ist - wie er sie leiden lassen wird. Ich bin schon bei Acheron gewesen, und er hat sich geweigert, mir zu helfen. Du bist meine einzige Hoffnung.«
»Warum tötest du ihn denn nicht selbst? Ich weiß, dass du dazu in der Lage wärst.«
Artemis lehnte sich beleidigt zurück. »Er hat die Tuppi Shimati. Du weißt doch noch, was das ist, oder?«
»Die sumerische Tafel des Schicksals - ja, das weiß ich noch.« Wer sie besaß, konnte einen anderen Gott lahmlegen. Sie konnte auch dazu verwendet werden, einem anderen Gott seine gesamten Kräfte zu rauben, und sie ermöglichte es somit ihrem Besitzer, jeden Gott zu töten. Die Tafel war also nicht unbedingt etwas, das die Götter in den falschen Händen sehen wollten.
Artemis schluckte. »Was glaubst du, was Sin jetzt, da er sie hat, machen wird?«
Kinderspiel, Artemis. »Und damit hast du meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Mach dir keine Sorgen, Matisera, ich werde sie ihm abjagen.«
Artemis sah tatsächlich erleichtert aus. »Ich will nicht, dass irgendjemand von unserer Vergangenheit erfährt. Du vor allem verstehst doch, wie wichtig es ist, dass man sich verborgen hält. Lass mich diesmal nicht im Stich, Katra. Du musst dein Versprechen mir gegenüber halten. «
Kat zuckte zusammen, als sie an das erste und einzige Mal in ihrem Leben dachte, wo sie bei einem Auftrag für Artemis versagt hatte. »Das werde ich.«
Artemis neigte den Kopf und verschwand.
Kat legte sich wieder ins Bett und dachte über das nach, was sich soeben abgespielt hatte. Auf der einen Seite hatte sie keinerlei Zweifel daran, dass Artemis die Wahrheit über die Tafel des Schicksals sagte. Die Götterwelt von Sin hatte diese Tafel erschaffen. Wenn irgendjemand wusste, wie er sie finden und benutzen konnte, dann Sin.
Aber Artemis war immer noch Artemis.
Und das bedeutete, dass in dieser Geschichte wahrscheinlich einige wichtige Teile fehlten, und ehe Kat Jagd auf einen anderen Gott machte, sogar auf einen gestürzten, wollte sie so viel über ihn wissen wie nur möglich.
Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag, klappte es auf und schaute auf die Uhr. Bei ihr war es ein Uhr früh, aber in Minneapolis war es erst Mitternacht. Sie drückte die Ziffer 6 und wartete, bis eine weiche weibliche Stimme erklang.
Kat lächelte, als sie ihre Freundin hörte. »Hallo, Cassandra, wie geht's dir?« Früher einmal war sie Cassandras Beschützerin gewesen. Aber seit Cassandra unsterblich geworden und mit dem ehemaligen Dark-Hunter Wulf verheiratet war, war Kat eine andere Aufgabe zugefallen. Artemis hatte ihre Dienste an die atlantäische Göttin Apollymi abgetreten.
Doch noch immer war Kat gut mit Cassandra befreundet und besuchte sie so oft wie möglich.
»Hallo, Baby«, sagte Cassandra lachend. »Uns geht's gut. Wir sind gerade fast am Ende eines Films. Aber deine Stimme und der Zeitpunkt dieses Anrufs verraten mir, dass du mehr auf dem Herzen hast, als nur zu fragen, wie's mir geht.«
Kat lächelte über die Intuition ihrer Freundin. »In Ordnung, erwischt. Ich habe einen bestimmten Grund für meinen Anruf. Kannst du mir mal deinen Göttergatten geben? Ich habe ein paar Fragen zum Thema Dark- Hunter, die ich ihm stellen möchte.«
»Klar, einen Moment.«
Kat fuhr sich mit der Hand durch ihre zerzausten Locken, als Wulf ans Telefon kam. Sie war ihm zum ersten Mal begegnet, als er noch ein Dark-Hunter gewesen war, einer der unsterblichen Beschützer, die in Artemis' Diensten standen und im Gegenzug dafür Racheakte ausführen durften. Ihre Aufgabe bestand darin, Daimons zu töten, die Jagd auf menschliche Seelen machten, und sie verbrachten die Ewigkeit in Diensten der Artemis und schützten die Menschheit.
Aber Wulf war Freiheit gewährt worden, und jetzt lebte er glücklich mit seinem Sohn, seiner Tochter und seiner Frau in Minneapolis. Und er überwachte die Daimons nur, wenn die Dark-Hunter in seinem Bezirk Verstärkung brauchten.
»Hallo, Kat. Du wolltest mich sprechen?« Auch nach all diesen vielen Jahrhunderten hatte seine Stimme noch einen starken nordischen Akzent.
»Ja. Kennst du zufällig einen Dark-Hunter namens Sin?«
»Ich kenne einige, die so heißen - welchen meinst du denn?«
»Einen Sumerer.«
»Den gestürzten Gott?«
»Das muss er sein.«
Wulf seufzte am anderen Ende der Leitung. »Persönlich kenne ich ihn nicht, aber ich habe Gerüchte über ihn gehört. Es heißt, er ist völlig verrückt.«
»Wer sagt das?«
»Das sagen alle. Jeder Dark-Hunter, der je in seinem Bezirk gewesen ist. Jeder Squire, der je den Fehler begangen hat, ihm über den Weg zu laufen. Er ist ein gemeiner Dreckskerl, der absolut niemanden neben sich duldet.«
Das klang nicht besonders vielversprechend. Aber es bekräftigte Artemis' Angst. »Kennst du irgendjemanden, der ihn persönlich kennt und den ich vielleicht mal anrufen könnte?«
»Ash.«
Ja. Da gab es allerdings ein großes Problem: Artemis würde ausflippen, wenn Kat sich dem atlantäischen Gott je näherte.
»Sonst kennst du keinen?«
»Nein«, sagte Wulf mit fester Stimme. »Ich möchte wiederholen, dass er vollkommen unsozial ist und mit niemandem verkehrt. Es heißt, er habe einmal zugesehen, wie ein Dark-Hunter unter den Händen eines Daimons umgekommen ist, und habe dabei gelacht. Du kannst dich ja mal bei dailyinquisitor.com/bbs einloggen und an dem Schwarzen Brett der Dark-Hunter gucken, ob du jemanden finden kannst, mit dem er vielleicht enger bekannt ist. Ich hege da große Zweifel, nach dem, was ich bisher über ihn gehört habe, aber das ist die beste Chance, die du hast.«
Na toll. »Super, vielen Dank für deine Hilfe. Dann lass ich dich mal zu eurem Film zurückkehren. Macht's gut!«
»Du auch.«
Kat beendete das Gespräch und griff nach ihrem Laptop, der unter dem Bett lag. Sie folgte Wulfs Rat, aber nachdem sie einige Stunden damit zugebracht hatte, die Schwarzen Bretter zu durchforsten und auf der Dark Hunter.com-Webseite Profile gelesen hatte, gab sie auf. Sie hatte nichts Neues erfahren, außer der Tatsache, dass Sin ein Einzelgänger und ein Psychopath war.
Offenbar jagte er nicht einmal Daimons. Einer Geschichte zufolge war er mal an einer Gruppe Daimons vorbeigekommen, die gerade einen Menschen aussaugten, und hatte keine Miene verzogen. Außerdem gab es einige Geschichten über ihn, die besagten, dass er sich selbst Brandwunden zufügte und jeden Einzelnen verfluchte, der ihm zu nahe kam.
Oje, das klang wirklich nach einem warmherzigen, flauschigen Kuscheltier. Sie konnte es gar nicht erwarten, ihn kennenzulernen. Offenbar hatte er es nicht gerade mit Geselligkeit - das fand sie grundsätzlich in Ordnung. Sie war ein Einzelkind und auch nicht immer gut mit anderen ausgekommen.
Aber die Geschichten über seine Selbstverstümmelung beschäftigten sie. Was für eine Art von Geschöpf war er, dass er so etwas tat? Hatte er zusammen mit seinen göttlichen Kräften auch seinen Verstand verloren - oder war er immer schon so gewesen?
Sie seufzte, klappte den Laptop zu und zwang sich, aus ihrem bequemen Bett aufzustehen und dem Schlafanzug herauszukommen. Es war erst drei Uhr früh ... also noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang, und das bedeutete, Sin wäre wahrscheinlich auf den Straßen unterwegs und wanderte ziellos herum, während er an Daimons vorbeikam, die den Tod verdient hatten.
Kat schloss die Augen und konzentrierte sich, bis sie das fand, wonach sie suchte ...
Sin.
Aber sie fand ihn nicht da, wo sie es erwartet hatte. Statt in Las Vegas war er in New York ... im Central Park, um genau zu sein. Sie schwebte nun als durchsichtige Form in die Schatten. Niemand konnte sie sehen - nur wenn das Licht sie mit voller Wucht traf, würde man die leuchtenden Umrisse ihres Körpers erkennen. Sie hielt sich im Schatten, völlig außer Sicht-und Reichweite des wahnsinnigen Exgottes.
Nach ihren Recherchen war Sin in Las Vegas stationiert.
Was machte er dann mitten in der Nacht in New York?
Wie und wann war er dorthin gelangt?
Aber das war nicht das Wichtigste. Es war die Art und Weise, wie er durch den spärlich beleuchteten Bereich des Parks ging. »Stalking« traf es ganz gut. Er wirkte wie ein blutrünstiges Tier, das der Spur seiner Beute folgt: Er hatte den Kopf gesenkt, und seine Augen waren kaum mehr als Schlitze, mit denen er die Gegend um sich herum betrachtete. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel, der mit seinen Bewegungen mitschwang und sich blähte. Sin bot einen eindrucksvollen Anblick. Er hatte breite Schultern, und sein kurzes, lockiges pechschwarzes Haar reichte ihm kaum bis zum Kragen. Im Gegensatz zu vielen anderen Dark-Hunter hatte er keine schwarzen Augen - sie waren goldbraun wie die Augen eines Löwen. Wie gelbbrauner Topas. Und im Kontrast zu seiner dunklen gebräunten Haut glitzerten sie wie Eis.
Seine Gesichtszüge waren perfekt, aber da er als Gott geboren war, war das zu erwarten. Es war eine Regel, dass Götter niemals hässlich waren. Und selbst wenn sie es wären, würden sie ihre Kräfte dazu benutzen, um das zu korrigieren. Es stand im Zusammenhang mit der ganzen göttlichen Eitelkeitskiste, was manchmal ganz schön unangenehm sein konnte.
Sin schien nicht älter zu sein als Mitte dreißig, und er bewegte sich mit flüssiger, zeitloser Grazie. Er hatte seine schwarzen Augenbrauen zusammengezogen und runzelte ernst die Stirn, und ein mindestens zwei Tage alter Bart bedeckte sein Gesicht.
Er war wirklich ausgesucht schön, und ein Teil von ihr, den sie gar nicht kannte, bemerkte ganz besonders, wie gefährlich männlich er sich bewegte. Es durchschoss sie heiß und stieg ihr zu Kopf wie ein starker Wein, als sie ihm zuschaute. Es machte sie schwindelig und nahm ihr den Atem.
Sie hätte gern die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn berührt, aber sie wusste, dass er sie sofort töten würde, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekam. Er war faszinierend und bezaubernd.
Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und neigte den Kopf in ihre Richtung. Kat hielt den Atem an, und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. Hatte er sie gehört? Oder ihre Anwesenheit wahrgenommen? Dazu sollte er eigentlich nicht in der Lage sein, aber schließlich war er ein Gott ... zumindest war er mal einer gewesen.
Vielleicht hatte er diese Kraft noch immer.
Aber als sie den kaum wahrnehmbaren Schatten zu ihrer Linken sah, begriff sie, dass er sich nicht auf sie konzentrierte, sondern auf die Bäume vor ihr. Was immer sich dort befand, sie hörte ein Flüstern in einer Sprache, die sie nie zuvor gehört hatte. Leise und unheilvoll wie eine merkwürdige Kombination aus knirschenden Zahnrädern und einem Quietschen, das einen bis ins Mark erschütterte.
»Erkutu«, flüsterte Sin mit kräftiger Stimme. Mit einer einzigen fließenden Bewegung ließ er den Mantel von den Schultern gleiten und entblößte einen Körper, der so kraftvoll aussah, dass es ihr regelrecht einen Schauer über den Rücken jagte.
Er trug ein schwarzes ärmelloses T-Shirt, eine schwarze Lederhose und Bikerstiefel mit Schnallen. Der ausgeprägte, perfekte Schwung seiner Muskeln war bemerkenswert, und noch auffallender waren die Messer, die an seinem Bizeps befestigt waren, und außerdem das Heft eines antiken Dolches, der in seinem linken Stiefel steckte. An den Unterarmen trug er silberne Armschienen, und während er sich den Schatten näherte, löste er eine lange Schnur von seinem rechten Handgelenk. An jedem Ende dieser Schnur war eine Metallkugel, die etwa die Größe eines Golfballs hatte. Sie blitzten im Licht und gaben ein metallisches Geräusch von sich, während er ging.
Es war offensichtlich, dass er sich zu einem Kampf rüstete, aber nirgendwo befanden sich Daimons in der Nähe. Wenn da welche gewesen wären, hätte sie es spüren müssen.
Und noch immer war das merkwürdige Flüstern zu hören.
Kat kroch durch die Bäume und versuchte zu erspähen, wohin er ging.
Ohne Vorwarnung wurde etwas nach Sins Kopf geschleudert. Er duckte sich, richtete sich wieder auf und schwang die Schnur über seinen Kopf wie ein Cowboy sein Lasso. Die Kugeln pfiffen einen Augenblick durch die Luft, ehe er die Schnur losließ und die Kugeln durchs Laub flogen.
Ein Schrei zerriss die Nacht.
Kat erstarrte, als sie erkannte, was Sin veranlasst hatte, seine Waffe zu werfen. Zuerst sah es aus wie eine schöne Menschenfrau, bis sie den Mund öffnete und eine doppelte Reihe von scharfen Fangzähnen sichtbar wurde. Doch noch schlimmer als die Fangzähne war das Blut, das ihr vom Kinn tropfte. Menschliches Blut, das genauso rot war wie die Augen dieses Wesens.
Und sie war nicht allein. Insgesamt waren sie zu dritt - die Frau und zwei stämmige Männer. Kat hatte solche Wesen wie diese noch nie gesehen. Sie gehörten ganz klar nicht zur menschlichen Rasse, obwohl sie die Körper von Menschen hatten. Sie kommunizierten miteinander in dieser merkwürdigen Sprache, die sich anhörte wie die Laute eines Frettchens oder eines Delfins.
Gemeinsam gingen sie auf Sin los. Er duckte sich und schleuderte den Ersten, der ihn erreichte, über seinen Rücken nach hinten. Mit einer weichen, fließenden Bewegung zog er den Dolch aus seinem Stiefel und stieß nach dem zweiten Mann. Der Dämon packte Sins Arm und schlug seine Fangzähne in dessen Hand.
Sin fluchte, stieß die Kreatur mit dem Knie in den Magen und drehte sich rasch um, um sich mit der Frau zu befassen. Die Dämonin zuckte zurück, nur Sekundenbruchteile, ehe sein Dolch ihr den Hals aufgeschlitzt hätte.
Der erste Mann rappelte sich hoch und wollte Sin von hinten angreifen, aber Sin drehte sich um und warf sich zu Boden, sodass der Dämon auf den anderen stürzte, der Sin gebissen hatte. Sin wickelte eine weitere Schnur von seinem linken Arm ab, erhob sich und schlang die Schnur der Frau um den Hals. Sie schrie kurz auf, dann wurde ihr Kopf vom Körper abgetrennt und fiel zu Boden.
Kat wandte sich ab und krümmte sich bei diesem Anblick, die Galle stieg ihr in die Kehle.
Die anderen beiden Dämonen schrien auf, dann rannten sie davon. Sin verschränkte die Arme vor der Brust, riss sich rechts und links die Messer vom Bizeps und warf sie den Fliehenden in den Rücken. Die beiden stürzten zu Boden, krümmten sich und schrien im Todeskampf.
Ein einzelner letzter Schrei - dann waren sie still.
Kat war schockiert von dem, was sie sah. Es war scheußlich und empörend, und etwas an Sin verriet, dass er das, was er tat, wesentlich mehr genoss, als er sollte. Es war, als sei er stolz darauf, den anderen so viel Schmerz zuzufügen, wie er nur konnte.
Der Mistkerl ist total krank.
Sin sah den Männern noch ein paar Augenblicke zu, dann ging er zu der Frau, die überfallen worden war. Aber für sie kam jede Hilfe zu spät. Sogar aus dieser Entfernung erkannte Kat, dass die Frau tot war, ihre glasigen Augen starrten hinauf zum sternenübersäten Himmel, und ihr Körper war von dem tödlichen Angriff gezeichnet.
Die arme Frau.
Mit grimmigem Gesicht drückte Sin der Frau die Augen zu und flüsterte ein altes sumerisches Gebet, damit ihre Seele trotz der Gewalt, die ihr das Leben genommen hatte, in Frieden ruhen möge. Seine Handlungsweise überraschte Kat. Das schien überhaupt nicht zu dem zu passen, was dieser Mann zuvor getan hatte.
Zumindest dachte sie das, bis er ein Messer aus dem Rücken eines der Dämonen zog. Aus seiner rechten Hand ließ er eine Flamme aufsteigen und erhitzte damit die Klinge, und als sie heiß war, drückte er sie auf die Bisswunde an seiner Hand. Kat zuckte mitfühlend zusammen, obwohl er nicht einmal wimmerte.
Er stand einfach nur da und biss die Zähne zusammen, während ihr von dem Gestank des verbrannten Fleisches fast übel wurde.
Aber er war noch nicht fertig. Sobald er die Blutung gestoppt hatte, ging er zu der Menschenfrau zurück und trennte ihr ohne jedes Mitleid den Kopf vom Körper ab.
Er ist wahnsinnig ... Kat krümmte sich vor Entsetzen.
Eine andere Erklärung gab es nicht. Warum sonst würde er einem unschuldigen Opfer so etwas antun? Es ergab einfach keinen Sinn.
Und noch immer war er nicht fertig. Er köpfte auch die beiden Dämonen, dann schichtete er alle vier Leichen übereinander und zündete ein Feuer an. Mit unbeweglichem Gesicht sah er zu, wie die Leichen verbrannten. Die Flammen beleuchteten seine kalten, emotionslosen Gesichtszüge. Die Schatten verdunkelten seine Augen und ließen ihn eher wie einen Dämon aussehen als die Dämonen, die er gerade getötet hatte.
Er sprach die ganze Zeit über kein einziges Wort und zeigte nicht eine Spur von Mitgefühl.
Nachdem die Leichen völlig verbrannt waren, verteilte Sin die Asche mit dem Fuß, bis man nichts mehr sehen konnte. Niemand würde je erfahren, was mit der armen Frau geschehen war.
Wieso durfte dieser Mann leben, wenn er dermaßen brutal war? Wusste Acheron nicht, was Sin nachts trieb? Dass er menschliche Überreste schändete? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Acheron ihm etwas so Entsetzliches ohne Weiteres vergab. Das lag nicht in seiner Natur, genauso wenig wie in ihrer.
Vielleicht hatte Artemis doch ein einziges Mal recht. Jemand wie Sin sollte nicht auf die Welt losgelassen werden. Er war zu gefährlich.
Aber ehe Kat sich auf das Ganze einließ, musste sie genau wissen, was für Kräfte er besaß. Nach dem, was sie gerade gesehen hatte, konnte er das Feuer kontrollieren und war versiert im Umgang mit Waffen und im Nahkampf.
Ihn außer Gefecht zu setzen, das würde schwierig werden. Vielleicht wäre es klüger, ihn erstarren zu lassen. Sie könnte ihn in Schlaf versetzen, sodass er niemandem schaden konnte - es würde so ein, als wäre er tot, aber er würde immer noch leben. Ja, das war wohl das Beste, was sie tun konnte, statt ihn auf der Stelle zu töten.
Und während sie über seinen Tod nachdachte, griff Sin nach seinem Mantel. Schwungvoll zog er ihn über und verschwand in einem schimmernden Nebel.
Verdammt!
Kat schloss die Augen und versuchte, ihn wieder zu spüren, sodass sie ihre Mission erfüllen könnte.
Aber sie spürte nichts. Nirgendwo eine Spur von ihm.
Sie runzelte die Stirn. Wie war das nur möglich? Er musste wie alle anderen eine Wesensart haben, und die würde immer eine Spur hinterlassen wie eine Art Visitenkarte. Sie versuchte noch einmal, ihn aufzuspüren - wieder nichts. Es war, als ob er nicht länger auf der Erde weilte. Sie hatte keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte.
Das war ihr noch nie passiert.
»Wo bist du, Sin?«
Aber die eigentliche Frage war nicht, wo er war, sondern, was er tat ...
2
Sin teleportierte sich in sein Hotelzimmer zurück, obwohl er sich ebenso gut gleich nach Hause hätte teleportieren können. Aber er wollte jetzt nicht von Kish oder Damien belästigt werden. Er brauchte ein wenig Platz und Zeit für sich, damit er sich geistig auf das vorbereiten konnte, was er tun musste.
Er war voller Blut, doch die Zeit, in der er seine wahre Freude daran gehabt hätte, war vorbei. Er war diese niemals enden wollenden Schlachten leid. Er war es müde, in einem Krieg zu kämpfen, von dem er wusste, dass er ihn niemals wirklich würde gewinnen können.
Es gab nur eine Person, deren Blut er gern an seinen Händen gesehen hätte. Wie würde er sich freuen, es an seiner Haut kleben zu fühlen!
Artemis.
Allein der Gedanke daran, ihr den Kopf vom Körper abzutrennen, ließ ihn lächeln, als er ins Badezimmer ging, wo er eine lange, heiße Dusche nehmen wollte.
Nachdem er das Wasser angestellt hatte, ließ er seine Waffen zu Boden fallen und zog sich aus, während er darauf wartete, dass das Wasser warm genug war. Sobald es siedend heiß war, stieg er unter den Strahl. Durch den Kampf war er voller Sand, Schweiß und Blut - sein eigenes Blut und das Blut seiner Feinde. Er senkte den Kopf und sah zu, wie es abgewaschen und im Wasser herumgewirbelt wurde und schließlich im Abfluss verschwand.
Das heiße Wasser tat seinem Körper gut. Aber an seinen unruhigen, besorgten Gedanken konnte es nichts ändern. Das Kerir oder die Abrechnung, wie manche es nannten, kam, und noch immer musste er den Hayar Bedr - den Vergessenen Mond - finden, ehe die Gallu- Dämonen ihn finden und zerstören konnten. Ohne den Mond hatte Sin nicht die geringste Chance, sie je zurückzutreiben.
Nicht dass die Chancen mit dem Vergessenen Mond viel besser gewesen wären, aber mit einem Fünkchen Hoffnung lebte es sich viel leichter.
Sin knirschte mit den Zähnen, als er sich das Kerir vorstellte. Um Mitternacht am Silvesterabend, wenn alle Welt feierte, würden die sieben Dimme-Dämonen befreit werden, die Anu geschaffen hatte, damit sie die gefallenen Götter rächen würden. Der Einzige, der sie bekämpfen konnte, war Sin, und weil er seine göttlichen Kräfte nicht mehr besaß, hatte er nicht die Spur einer Hoffnung, die Dimme zu schlagen.
Jetzt konnten nur noch die Götter, die alten und neuen, Mitleid mit ihnen allen haben.
»Verdammt sollst du sein, Artemis«, knurrte er. Das verdammte Miststück! Durch eine einzige selbstsüchtige Handlung hatte sie die ganze Welt zum Untergang verdammt - und es machte ihr noch nicht einmal etwas aus. Sie dachte, ihre eigene Göttlichkeit würde sie vor den Dämonen schützen.
Sie war eine Idiotin.
Warum kümmerst du dich überhaupt darum? Jede Art von Kampf würde nur dazu führen, den eigenen Tod hinauszuzögern. Aber es lag nicht in Sins Natur, einfach danebenzustehen und nichts zu tun, während unschuldige Menschen getötet wurden. Nichts zu tun, während die Erde überrannt und zerstört wurde. Nein, er hatte schon zu viele Jahrhunderte damit zugebracht, die Gallu- Dämonen zu bekämpfen, als dass er ihnen die Erde einfach so überlassen könnte. Er wollte so viele von ihnen mitnehmen, wie er nur konnte.
Sie waren nicht leicht zu besiegen, aber die Dimme- Dämonen erst ...
Sie würden ihn zerreißen und dabei nur lachen. Er seufzte, drehte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und zögerte kurz, als er die neue Narbe auf seiner Hand betrachtete. Verdammt sollten sie dafür sein! Anders als die Daimons, die der griechische Gott Apollo dazu verdammt hatte, davon zu leben, dass sie menschliche Seelen stahlen, konnten die Gallu einen Menschen in einen der ihren verwandeln. Das Gift, mit dem sie ihre Opfer durch einen Biss vergifteten, konnte sogar Sin infizieren und ihn auch zu einem Gallu machen. Deswegen musste er das Gift jedes Mal ausbrennen, wenn es in seinen Körper einzudringen drohte. Deswegen musste er auf Nummer sicher gehen, diese Kreaturen köpfen und ihre Leichen verbrennen. Es war der einzige Weg, ihr Gift vollständig zu zerstören und zu verhindern, dass sie sich wieder erholten.
Sie konnten sich ungeheuer schnell vermehren: ein Biss, ein bisschen Blutaustausch, mehr war nicht nötig. Sie mussten einen Menschen nicht einmal töten, um ihn in einen Dämon zu verwandeln. Aber die Gallu liebten das Töten so sehr, dass sie es einfach aus Spaß taten. Wenn ein Mensch einmal infiziert war, verlor er rasch die Kontrolle an die Gallu, die ihn dahingehend beeinflussen konnten, dass er alles tat, was sie von ihm verlangten, und zu einem hirnlosen Sklaven wurde.
Oder zu etwas noch Schlimmerem.
Vor elftausend Jahren hatte es Soldaten gegeben, die ausgebildet worden waren, die Gallu zu bekämpfen, und die von den sumerischen Göttern genau diesen Auftrag erhalten hatten. Als die Anzahl dieser Krieger immer weiter abgenommen hatte und sie schließlich alle ausgelöscht worden waren, hatten Sin, seine Tochter und sein Bruder die Gallu gefangen, um sie davon abzuhalten, Menschen als Beute zu nehmen. Aber im Lauf der Zeit und nach dem Sturz der sumerischen Götter hatten die Gallu begonnen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Sie waren mittlerweile klüger und besser organisiert.
Jetzt versuchten sie, die antiken Kunstwerke zu finden, die Sins Bruder versteckt hatte. Mit ihnen wollten sie den Dimme-Dämonen bei deren Erwachen helfen und hofften, dass die Dimme sich für diese Loyalität erkenntlich zeigen würden. Und das würden die Dimme vermutlich auch tun.
In drei Wochen würde es verdammt unangenehm werden, wenn man ein Mensch war.
Sin frottierte sich die Haare. Es war sinnlos, heute Nacht daran zu denken. Er hatte die Tafel des Schicksals gefunden. Morgen würde er den Vergessenen Mond suchen, und bis dahin konnte er ein paar Stunden Ruhe brauchen.
Er streckte sich nackt auf dem Bett aus und versuchte, die Ereignisse der vergangenen Nacht aus dem Kopf zu bekommen, aber es war sinnlos. Er konnte sich vorstellen, wie die Gallu sich versammelten und wie sie die Menschen in Gallu verwandelten. Es würde nicht lange dauern, bis sie die gesamte Welt übernommen hätten. Mütter würden sich gegen ihre Kinder wenden, Brüder gegen Brüder - all das mit einer Blutrünstigkeit, die keine Befriedigung kannte. Sie waren eine vollendete Waffe - und dabei waren sie ursprünglich dazu geschaffen worden, die Feinde der sumerischen Götter zu bekämpfen.
Ganz besonders waren die Gallu dafür geschaffen worden, gegen die Charonte-Dämonen zu kämpfen, denn Sins Vater war davon überzeugt gewesen, dass sie eines Tages alles zerstören würden. Allerdings hatten seine Götter sich nie träumen lassen, dass Atlantis eines Tages zerstört werden würde - und damit auch alle Charonte-Dämonen. Da es jetzt keine Dämonen mehr gab, die sie in Schach halten konnten, hatten die Gallu ihre Aufmerksamkeit und ihr Begehren auf die Menschen gerichtet.
Sie hatten ganze Städte zerstört, ehe Sin, Ishtar und Zakar es schafften, sie einzupferchen. Sin konnte noch immer die Körper der geschlachteten Menschen sehen, die als willenlose Dämonen wiedererstanden und kämpften.
Aber schlimmer noch, er sah, wie sich seine eigenen Kinder gegen ihn wandten ...
Sin knurrte und drängte die Erinnerungen zurück. Sie würden ihn nur noch tiefer verletzen. Und er hatte schon genug mitgemacht. Die Vergangenheit war vergangen.
Er hatte eine Zukunft, für die er kämpfte, und dafür brauchte er seine ganze Kraft. Er schloss die Augen und zwang sich, an nichts zu denken und nichts zu fühlen. Er durfte nicht zulassen, dass so etwas Belangloses wie Rache oder Hass ihn erschöpften. Er hatte zu viel zu tun.
Kat lief durch die Straßen von New York und versuchte, eine Spur von Sin zu finden. Er war vielleicht schon gar nicht mehr in der Stadt, aber weil er in der Nacht zuvor hier gewesen war, war es doch immerhin wahrscheinlich, dass er noch da war. Ein kalter Wind ließ sie frösteln, als sie sich ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte.
Sie liebte New York zur Weihnachtszeit und konnte gut verstehen, warum ihr Vater in dieser Zeit so gern hier war. Zugegeben, es war kalt, aber hier tobte das Leben, die Menschen eilten durch die Straßen, kauften ein, arbeiteten und lebten.
Am meisten liebte sie die geschmückten Schaufenster und die lustigen Szenen, die die Dekorateure ausgewählt hatten. Sie waren etwas ganz Besonderes und erfreuten das Kind in ihr, besonders, wenn sie andere Kinder sah, die vor Vergnügen kreischten, während sie auf ein Schaufenster zeigten und dann zum nächsten weiterrannten, vorbei an den genervten Erwachsenen.
Kat war noch nie so sorglos gewesen. Obwohl sie behütet aufgewachsen war, war ihre Kindheit nie unschuldig gewesen. Sie hatte Dinge gesehen, die ein Kind nicht hätte sehen sollen, und es war schwierig, davon nicht abzustumpfen.
Aber diese lachenden, ausgelassenen Kinder, die keine Vorstellung davon hatten, wie hässlich die Welt sein konnte - das waren diejenigen, für die sie kämpfte. Und dieser Kinder wegen musste sie Sin finden und ihn aufhalten. Er durfte sie nicht als Beute aufs Korn nehmen.
Nicht nach dem, was er in der vergangenen Nacht dieser armen Frau angetan hatte. Warum hatte er einen menschlichen Leichnam entweiht? Kat kam darüber noch immer nicht hinweg. Es traf sie hart, und sie konnte nichts tun, als für diese Frau Trauer zu empfinden - und für ihre Familie, die nie erfahren würde, was ihr zugestoßen war.
Es war niederträchtig, und es war schrecklich. Mehr noch, es war schlicht und einfach falsch.
Kat hielt inne und ließ ein kleines Mädchen an sich vorbeilaufen, als ein großer Mann sie von hinten anrempelte. Kat knurrte ihn an, als er vorbeiging und etwas in seinen Bart murmelte. Er warf einen Blick auf das Kind und fauchte wie eine Katze. Dann starrte er das Kind an wie ein wildes Tier, das seine nächste Beute anvisiert.
Aber gerade als er die Hand nach dem Kind ausstreckte, wurde es von seiner Mutter zurückgerissen und ausgeschimpft, weil es einfach davongelaufen war.
Der Mann richtete auf die beiden einen hungrigen Blick, bei dem es Kat kalt über den Rücken lief. Das war einfach unnatürlich. Mehr noch, in seinen Augen blitzte es unmenschlich rot auf.
So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Mit einem letzten spöttischen Grinsen schien er es sich anders zu überlegen, griff Mutter und Kind nicht an und ging weiter.
Kat war neugierig geworden, wer er war und was er im Schilde führte. Sie folgte ihm unauffällig, und wenn es nicht helllichter Tag gewesen wäre, hätte sie gedacht, er wäre ein Daimon auf der Suche nach einer menschlichen Seele, die er stehlen konnte, um sein Leben zu verlängern. Aber das war unmöglich, denn wegen des Fluchs des Apollo, der auf ihrem Volk lag, konnte kein Daimon hervorkommen, solange die Sonne schien. Taten sie es doch, gingen sie in Flammen auf.
Aber was war er dann?
Welchem Göttergeschlecht gehörte er an? Wenn er kein Mensch und kein Daimon war, dann hatte ihn ein Gott erschaffen. Die Frage war nur: zu welchem Zweck?
Kat ließ ihre Kräfte schweifen, aber alles, was sie erspüren konnte, waren sein menschlicher Geist und seine Wut, während er weitertappte.
Vielleicht war er auch einfach nur verrückt ...
Er bog in eine Seitenstraße ab, in der keine Menschen waren. Irgendetwas zwang Kat, ihn zu ignorieren und weiter nach Sin zu suchen.
Aber es war nicht Kats Art, eine Sache einfach so fallen zu lassen. Wenn der Mann etwas Übles vorhatte, war sie eine der wenigen, die ihn aufhalten konnten. Sie würde nie so sein wie ihre Mutter, die den Schmerz der Menschen einfach ignorierte. Nicht, wenn sie ihn verhindern konnte.
Also folgte sie dem Mann in die menschenleere Straße. Sie war noch nicht weit gekommen, als er sich mit einem wilden Knurren umwandte.
Diesmal waren seine Augen um die schwarzen Pupillen flammend rot. Er öffnete den Mund, und sie sah eine doppelte Reihe von Fangzähnen. Dann packte er sie bei den Schultern und schleuderte sie gegen die Ziegelmauer.
Sie war von seinem Aussehen und seinem Angriff schockiert und holte zum Schlag aus. Er schnappte ihre Hand, packte sie an der Kehle und drückte sie mit einer solchen Kraft gegen die Wand, dass sie es bis ins Mark spürte. Wäre sie ein Mensch gewesen, dann wäre sie jetzt entweder bewusstlos oder tot.
So tat es ihr nur höllisch weh - und ihn machte es stinksauer.
»Was bist du?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, während er sie hochhob - und das war eine Leistung, denn sie war über einen Meter achtzig groß und kräftig -, und warf sie gegen ein Auto, das dort geparkt stand. Sie krachte auf die Motorhaube, und die Verriegelung sprang auf. Die Windschutzscheibe zersplitterte unter ihr, und die Alarmanlage des Autos begann zu heulen. Kat bekam kaum noch Luft und schmeckte Blut.
Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihr Arm war gebrochen, und sie schien in der zersplitterten Windschutzscheibe festzustecken. Mit roten Augen, die zu wirbeln schienen, kam der Mann auf sie zu.
Gerade als er sie erreichte, sah sie etwas vom Dach des Gebäudes vor sich herunterfallen. Sie erkannte lediglich einen schwarzen Fleck, der so hart auf dem Boden landete, dass der Beton splitterte.
Kat brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was es war - und als sie es erkannt hatte, schockierte es sie sogar noch mehr als das Wesen, das sie angegriffen hatte.
Es war Sin, ganz in schwarzes Leder gekleidet. Er richtete sich aus der Hocke langsam auf, bereit zum Kampf. Seine Augen waren auf den Mann vor ihr gerichtet.
»Gallu«, sagte er mit tiefer, ernster Stimme, »such dir doch mal jemanden aus, der sich wehren kann.«
Der Gallu ließ von Kat ab und griff Sin an. Er rannte auf ihn zu, aber Sin hob den Arm und fing den Schlag mit seiner silbernen Armschiene ab, ehe er ihm einen wohlgezielten Schlag aufs Kinn versetzte. Der Mann taumelte zurück. Sin stieß ihn hart gegen die Brust und trieb ihn einen weiteren Schritt zurück.
Während der Mann unter den Schlägen erzitterte, schlug Sin seinen langen Mantel zurück und zog einen großen Dolch hervor. Der Mann kam mit offenem Mund auf Sin zu und versuchte, ihn zu beißen. Sin ließ sich zu Boden fallen und zog dem Mann die Füße unter dem Körper weg, sodass er hart auf dem Beton aufschlug. Dann trieb er ihm das Messer zwischen die Augen.
Der Mann schrie auf, wand sich auf dem Bürgersteig, schlug mit den Armen um sich und trat nach Sin.
»Halt die Schnauze«, knurrte Sin, zog den Dolch aus der Wunde und stach erneut zu.
Kat glitt vom Auto herunter, hielt sich den gebrochenen Arm, und ehe sie ihn daran hindern konnte, köpfte Sin den toten Mann und verbrannte ihn an Ort und Stelle auf dem Bürgersteig. Sie wich schaudernd zurück. Es war mitten am helllichten Tag - doch Sin schien es nichts auszumachen.
Jedermann konnte es sehen.
Ehe sie sich rühren konnte, stand Sin schon vor ihr und packte sie. »Hat er Sie gebissen?«
Er schaute ihr nicht einmal ins Gesicht, ehe er anfing, sie abzutasten. Sie zischte, als er ihren gebrochenen Arm berührte, aber er hielt in seiner Untersuchung nicht inne.
Als er ihr Hemd hochzog, um ihren Bauch zu untersuchen, schlug sie seine Hand weg. »Nehmen Sie die Pfoten von mir!«
»Hat er Sie gebissen?«, knurrte er und betonte jedes Wort.
Erst dann schaute er ihr ins Gesicht und erstarrte.
Nur Sekundenbruchteile später packte er sie an der Kehle und würgte sie.
Copyright © 1. Auflage Deutsche Erstausgabe Februar 2014 bei Blanvalet Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
»Er muss zur Strecke gebracht werden. Und wenn es nach mir geht, dann schmerzhaft und schnell, aber letztlich ist alles, was zu seinem Tod führt, in Ordnung.«
Acheron Parthenopaeus wandte den Kopf und erblickte die griechische Göttin Artemis, die auf ihn zukam. Seit Jahrhunderten waren die beiden nun schon aneinandergebunden, und in Momenten wie diesem glaubte die Göttin tatsächlich, sie hätte ihn unter Kontrolle.
In Wirklichkeit jedoch sah es ganz anders aus.
Acheron saß, mit einer schwarzen Lederhose bekleidet, auf der steinernen Brüstung ihres Tempelbalkons. Mit dem Rücken lehnte er an einer der Säulen aus glänzendem weißem Marmor, die den Balkon umgaben. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf einen Wasserfall, hinter dem ein Regenbogen leuchtete, und auf eine perfekte Waldlandschaft. Andererseits hätte man auf dem Berg Olymp, wo die griechischen Götter residierten, auch nichts anderes erwartet ...
Artemis wäre mit ihrem fliegenden roten Haar, ihrer makellosen porzellanfarbenen Haut und ihren scharf blickenden, grünen Augen wunderschön gewesen, wenn Ash nicht einen Widerwillen gegen jeden einzelnen ihrer Atemzüge gehabt hätte.
»Warum hast du denn plötzlich Hummeln im Hintern, wenn es um Sin geht?«
Sie verzog den Mund. »Ich kann es nicht leiden, wenn du so redest.«
Und genau deswegen redete er auch so. Die Götter sollten verhüten, dass er je etwas tat, das ihr gefiel. Damit hatte er schon genug Probleme. »Du lenkst vom Thema ab.«
Sie antwortete beleidigt: »Ich habe ihn immer schon gehasst. Er hätte eigentlich sterben sollen. Erinnerst du dich? Aber du hast ja eingegriffen.«
Damit vereinfachte sie die Abfolge der Ereignisse ganz erheblich. »Er hat ganz von selbst überlebt. Ich habe dem Kerl nur eine Stelle beschafft, nachdem du ihn fertiggemacht hattest.«
»Ja, und jetzt ist er verrückt geworden. Hast du nicht gesehen, dass er letzte Nacht in ein Museum eingebrochen, drei Wachen k. o. geschlagen und ein bekanntes Kunstwerk gestohlen hat? Damit setzt er deine wertvollen Dark-Hunter der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aus. Ich schwöre dir, das hat er mit Absicht gemacht. Er hofft, dass er geschnappt wird, sodass er den Menschen von uns berichten kann. Er ist eine Bedrohung für uns alle.«
Ash nahm ihre Wut nicht ernst, obwohl er mit ihr darin übereinstimmte, dass Sin sich sehr waghalsig verhalten hatte. Normalerweise hatte der antike Exgott mehr gesunden Menschenverstand. »Ich bin mir sicher, dass er nur ein Stück Heimat berühren wollte. Zum Henker, was auch immer er sich da an Kunstwerken genommen hat - wahrscheinlich hat es ihm oder jemandem aus seiner Familie gehört. Ich werde niemanden töten, nur weil er Heimweh hat, Artie, das wäre ja, als ob man jemanden umbringt, während er auf dem Pott sitzt. Es ist einfach falsch.«
Sie legte die Hände auf ihre Hüften und starrte ihn an. »Heißt das etwa, du tust das als belanglos ab?«
»Meinst du damit, dass es nach meiner Auffassung nicht eine sofortige Hinrichtung rechtfertigt? Du magst mich ja für verrückt halten, aber ja, ich tue es als belanglos ab.«
Sie schaute ihn mit schmalen Augen an. »Du wirst streichfähig.«
Ash runzelte die Stirn, bis er begriff, was sie meinte. »Weich, Artie. Du wolltest sagen, dass ich weich werde. «
»Wie auch immer.« Sie baute sich neben ihm auf. »Der Archeron, den ich mal kannte, hätte ihn schon für eine kleinere Sache geschält.«
Er stieß einen entnervten Seufzer aus, ehe er antwortete. »Das Fell über die Ohren gezogen, Artie, verdammt, lerne doch endlich, wie man spricht. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich immer herausfinden muss, was, zum Teufel, du sagen willst. Und nie im Leben hätte ich jemandem für eine solche Tat das Fell über die Ohren gezogen.«
»Doch, das hättest du.«
Er dachte einen Moment darüber nach. Aber wie üblich hatte sie unrecht. »Nein. Ganz bestimmt nicht. Nur du würdest mich für eine so unbedeutenden Sache zu einer derartigen Gewalttätigkeit drängen.«
»Du bist ein richtiger Mistkerl.«
Zumindest hatte sie diesmal recht.
Er lehnte den Kopf gegen die Säule, sodass er zu ihr aufblicken konnte. »Warum? Weil ich deinem Gebot nicht nachkomme?«
»Ja. Das bist du mir schuldig. Du hast mich dazu gebracht, mich von den gedungenen Mördern zu trennen, und jetzt habe ich keine Kontrolle mehr über die Wesen ...«
»Die du geschaffen hast«, unterbrach er ihren Wutanfall. »Etwas Wichtiges solltest du hierbei aber nicht vergessen. Die Dark-Hunter müsste es eigentlich gar nicht geben. Und weil du nicht genug Verstand hast, werde ich es dir noch einmal erklären: Du hast mir die Kräfte geraubt, mit denen ich die Toten zurückholen konnte. Ich brauchte die Dark-Hunter eigentlich nicht, damit sie mir helfen, gegen die Daimons zu kämpfen und die Menschen zu beschützen. Das habe ich alles sehr gut allein erledigt. Aber du konntest das nicht ertragen. Du hast sie geschaffen, und dann hast du mir die Verantwortung für sie aufgehalst. Das ist eine Verantwortung, die ich äußerst ernst nehme, also musst du schon entschuldigen, wenn ich dich davon abhalte, sie zu töten, nur weil du deine umgekehrte PMS hast.«
Sie schaute ihn finster an. »Umgekehrte PMS?«
»Ja, anders als normale Frauen bist du jeden Monat achtundzwanzig Tage lang unausstehlich.«
Sie holte aus, um ihn zu schlagen, aber er packte ihr Handgelenk. »Das Recht, mich zu schlagen, ist in unserem Pakt nicht mit inbegriffen.«
Sie entzog ihm ihren Arm. »Ich will ihn tot sehen.«
»Ich lasse mich in dieser Angelegenheit nicht zu deinem Werkzeug machen.« Zum Glück für Sin gab es Ash. Und das war der einzige Grund, weshalb Artemis Sin nicht tötete. Vor vielen Jahrhunderten hatten Ash und Artemis einen Pakt geschlossen. Sie hatte einen Dark- Hunter flambiert, der eine einzige falsche Bemerkung gemacht hatte. Danach hatten sie vereinbart, dass Artemis ohne die Erlaubnis von Ash nie wieder einen Dark- Hunter anrühren würde.
Ihre Augen sprühten vor Wut. »Sin hat etwas vor, das spüre ich.«
»Das bezweifle ich nicht. Seit dem Tag, an dem du ihn seiner Göttlichkeit beraubt hast, will er dich ermorden. Zum Glück für dich stehe ich dem im Weg, und Sin weiß das.«
Sie kniff wieder wütend die Augen zusammen. »Ich bin überrascht, dass du ihm nicht dabei hilfst, mich umzubringen. «
Das überraschte ihn selbst auch. Aber er wusste schließlich, dass er mit so etwas nichts zu tun haben durfte. Er brauchte Artemis, um zu überleben, und wenn er sterben müsste, würde es auf der Welt noch mehr Angst geben, als es ohnehin schon gab.
Zu schade. Denn ehrlich gesagt hätte er nichts lieber getan, als ihr endlich den Rücken zuzukehren und sich nie wieder umzuschauen.
Artemis drängte sich an sein Knie. »Willst du ihn nicht wenigstens fragen, warum er im Museum gewesen ist und diese Wachleute angegriffen hat?«
Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte ihn. »Lässt du mich gehen, damit ich das tun kann?«
»Du schuldest mir deine Dienste noch für drei Tage.«
So viel zum Thema Hoffnung. Er hätte es wissen müssen. Das Miststück hatte nicht die Absicht, ihn aus ihrem Tempel zu entlassen, ehe die zwei Wochen vorbei waren. Es war ein bitterer Handel, den er mit ihr abgeschlossen hatte. Zwei Wochen lang war er ihr Sexsklave, und damit erkaufte er sich zwei Monate Freiheit, in denen sie nicht einschritt. Er hasste diese Spielchen, aber er wusste keinen anderen Ausweg.
Auch wenn es ihm wirklich verdammt zuwider war.
»Dann sieht es so aus, als ob die Sache noch Zeit hätte.«
Artemis knurrte ihn an und ballte die Hände zu Fäusten. Acheron würde noch einmal ihr Ende bedeuten. Sie wusste nicht, warum sie es überhaupt mit ihm aushielt.
Aber eigentlich wusste sie es doch. Obwohl er so stur war, war er doch immer noch der Mann mit dem meisten Sex-Appeal, der ihr je begegnet war. Nichts genoss sie mehr, als zuzuschauen, wie er sich bewegte. Sogar wenn er saß, wie jetzt gerade. Er hatte den perfektesten Körper, den ein Mann je gehabt hatte. Sein langes blondes Haar war zu einem Zopf geflochten und über eine Schulter geworfen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte sich zurück, wobei sein linker nackter Fuß zu einem Rhythmus wippte, den nur er hören konnte.
Er war stark und kühn und beugte sich ihrem Willen nur, wenn sie ihn dazu zwang. Und selbst dann tat er es nur murrend und widerwillig. Er war wie ein wildes Tier, das niemand zähmen konnte.
Außerdem konnte er zubeißen und knurrte jeden an, der versuchte, ihm nahe zu kommen.
Und die Götter waren Zeugen, dass sie seit Jahrhunderten versuchte, ihn entweder für sich zu gewinnen oder ihn zu besiegen, sodass er sich ergab. Aber weder das eine noch das andere klappte. Er war stets in der Nähe und doch gleichzeitig unerreichbar, und das machte sie zornig.
Sie zog einen Schmollmund. »Es würde dir gefallen, wenn er mich umbringt, hab ich recht?«
Er lachte leicht. »Himmel, nein. Diese Ehre will ich schon selbst in Anspruch nehmen.«
Wie konnte er es wagen! »Du erbärmlicher ...«
»Keine Beleidigungen, Artie«, schnitt er ihr gereizt das Wort ab. »Wir wissen beide, dass du es nicht so meinst. Diese Lippenbekenntnisse bin ich wirklich leid.«
Bei dieser Wortwahl überlief sie ein Schauer. »Merkwürdig. Von deinen Lippen kann ich gar nicht genug bekommen.« Sie beugte sich vor und berührte sie. Sein Mund war der einzige Körperteil an ihm, der weich war - weich wie die Blütenblätter einer Rose -, und sie war völlig fasziniert von ihm. »Du hast wirklich wunderbare Lippen, Acheron, vor allem, wenn sie über meinen Körper gleiten.«
Ash stöhnte, als er die Hitze in ihren smaragdgrünen Augen sah, und bekam eine Gänsehaut. »Kriegst du denn nie genug? Ich schwöre dir, wenn ich ein Sterblicher wäre, würde ich von unserer letzten Runde noch schlapp in der Ecke hängen. Falls ich nicht schon längst tot wäre. Wir müssen für dich wirklich ein anderes Hobby finden, damit du nicht ständig auf mir herumturnst.«
Aber es war zu spät, sie drückte bereits sein Knie herunter und setzte sich rittlings auf seine Hüften.
Er knirschte mit den Zähnen und lehnte den Kopf zurück, als sie begann, an seinem Hals zu knabbern. Er neigte den Kopf, denn er wusste schon, was jetzt kam, während sie seine Haut ableckte. Ihr Herz schlug bereits schneller, als sie sich näher an ihn drückte.
Und dann spürte er, wie ihre scharfen Schneidezähne sich in seine Haut bohrten, und im nächsten Augenblick trank sie sein Blut ...
»Katra!«
Kat Agrotera schoss kerzengerade in ihrem Bett hoch, als sie die schrille Stimme in ihrem Kopf hörte. »Was hab ich denn gemacht?«, fragte sie. Warum war Artemis jetzt wohl wieder wütend auf sie?
»Hast du schon geschlafen?«
Sie blinzelte, als Artemis neben dem Bett in ihrem Zimmer erschien. Der Raum war stockdunkel, abgesehen von dem unheimlichen blauen Licht, das von Artemis' Körper ausging.
Kat saß in ihrem pinkfarbenen Schlafanzug auf dem Bett, die Haare zerzaust, und sie entschied, dass sie ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen und ihren Sarkasmus unterdrücken sollte. »Jetzt bin ich wach.«
»Gut. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Kat musste ein Lachen unterdrücken. »Ich erinnere dich ja nur ungern daran, aber weißt du noch, dass du meine Dienste Apollymi weitergegeben hast? Und die große böse Göttin aus Atlantis, die du so fürchtest, verbietet mir jetzt, irgendetwas von dem zu tun, was du sagst. Sie findet es ziemlich lustig, dass sie dich auf diese Art und Weise reizen kann.«
Artemis kniff drohend die Augen zusammen. »Katra ...«
»Matisera ...«, sagte sie und ahmte Artemis' aufgebrachten Tonfall nach. »Ich habe mich nicht darum gerissen. Du bist diejenige, die den Pakt mit Apollymi geschlossen hat, mit dem ich jetzt leben muss. Mich persönlich ärgert es wahnsinnig, dass du mich behandelst wie eine Manga-Sammelkarte, die du nicht mehr im Haus haben willst. Aber du hast mich eingetauscht. Tut mir leid - ich spiele jetzt in der gegnerischen Mannschaft. «
Artemis trat einen Schritt vor, und Kat merkte plötzlich, dass sie wirklich Angst hatte.
»Stimmt etwas nicht?«
Artemis nickte und flüsterte: »Er wird mich töten.«
»Acheron?« Er kam dafür am ehesten infrage.
»Nein«, sagte sie scharf, »Acheron würde mir nie etwas tun, er droht nur damit. Erinnerst du dich noch daran, als du ein junges Mädchen warst?«
Wenn man die Tatsache bedachte, dass das so etwa zehn-oder elftausend Jahre her war, so war das eine ganz schöne Zeitspanne. »Einige Dinge sehe ich noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Warum?«
Artemis setzte sich auf Kats Bett und zog ihr Stofftier, einen Tiger, zu sich heran. »Erinnerst du dich an den sumerischen Gott Sin?«
Kat runzelte die Stirn. »Ist das der, der vor Äonen in deinen Tempel eingedrungen ist und versucht hat, dir deine Kräfte zu nehmen und dich zu töten?«
Artemis' Hand krallte sich um den Tiger. »Ja. Er ist zurück und versucht wieder, mich umzubringen.«
Wie war das nur möglich? Kat hatte sich persönlich um diesen Feind gekümmert. »Ich dachte, er wäre tot?«
»Nein, Acheron hat ihn gerettet, ehe er sterben konnte, und hat ihn zu einem Dark-Hunter gemacht. Sin glaubt, dass ich diejenige bin, die ihm seine Kräfte geraubt und ihn, als wäre er tot, zurückgelassen hat.« Artemis' Augen brannten vor Entsetzen. »Er wird mich umbringen, Katra, das weiß ich. Die ganze Welt wird untergehen. Wir steuern auf die sumerische apokalypsi zu ...«
»Ich glaube nicht, dass sie damals schon dieses Wort verwendet haben.«
»Wen interessiert es, welches Wort sie verwendet haben? «, rief Artemis. »Das Ende der Welt bleibt das Ende der Welt, egal, wie man es nennt. Es geht um Folgendes: Sin wird jetzt wieder versuchen, mich zu stürzen und meinen Platz einzunehmen. Weißt du, was das bedeutet? «
»Es wird großer Jubel ausbrechen?«
»Katra!«
Ernüchtert sagte sie: »Tut mir leid. Ich hab's schon kapiert: Er will Rache.«
»Ja, für etwas, das ich gar nicht getan habe. Ich brauche deine Hilfe, Katra, bitte.«
Kat saß einen Augenblick da und dachte nach. Es sah Artemis gar nicht ähnlich, um etwas zu bitten. Sie forderte nur - und allein deshalb begriff Kat, wie sehr Artemis Sin fürchtete. Ganz offensichtlich hatte die Göttin große Angst vor ihm, aber trotzdem beschlich Kat der Verdacht, dass an dieser Geschichte noch mehr dran war als das, was Artemis verriet. So war es nämlich immer. »Und was verschweigst du mir?«
Artemis starrte sie ausdruckslos an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Natürlich weißt du das.« Artemis sagte niemals die ganze Wahrheit über irgendetwas. »Und ehe ich mich auf ein Unheil einlasse, will ich alles wissen.«
Artemis' Gesicht verhärtete sich. »Willst du damit sagen, dass du dich weigerst, mir zu helfen - nach allem, was ich dir angetan habe?«
Das traf es eigentlich recht gut. »Ich glaube, du wolltest sagen ›nach allem, was ich für dich getan habe‹, und nicht ›was ich dir angetan habe‹, Matisera.«
»Das ist mir völlig egal, antworte mir lieber!«
Wow. Für eine Frau, die um Hilfe bat, hatte Artemis eine wunderbare Art, sich auszudrücken. Aber so war sie nun mal, und Kat wäre misstrauisch geworden, wenn Artemis nicht gebieterisch gewesen wäre. »Was soll ich für dich tun?«
»Was denkst du denn? Ihn umbringen!«
Kat verschlug es die Sprache. »Matisera! Was verlangst du da von mir!«
»Ich verlange von dir, dass du mir das Leben rettest«, knurrte sie, »und das ist ja wohl das Mindeste, was du für mich tun kannst. Besonders nach allem, was ich dir gegeben habe. Sin wird mich töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt, und mir meine gesamten Kräfte rauben. Wer weiß, was er der Menschheit antut, wenn er erst wieder ein Gott ist - wie er sie leiden lassen wird. Ich bin schon bei Acheron gewesen, und er hat sich geweigert, mir zu helfen. Du bist meine einzige Hoffnung.«
»Warum tötest du ihn denn nicht selbst? Ich weiß, dass du dazu in der Lage wärst.«
Artemis lehnte sich beleidigt zurück. »Er hat die Tuppi Shimati. Du weißt doch noch, was das ist, oder?«
»Die sumerische Tafel des Schicksals - ja, das weiß ich noch.« Wer sie besaß, konnte einen anderen Gott lahmlegen. Sie konnte auch dazu verwendet werden, einem anderen Gott seine gesamten Kräfte zu rauben, und sie ermöglichte es somit ihrem Besitzer, jeden Gott zu töten. Die Tafel war also nicht unbedingt etwas, das die Götter in den falschen Händen sehen wollten.
Artemis schluckte. »Was glaubst du, was Sin jetzt, da er sie hat, machen wird?«
Kinderspiel, Artemis. »Und damit hast du meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Mach dir keine Sorgen, Matisera, ich werde sie ihm abjagen.«
Artemis sah tatsächlich erleichtert aus. »Ich will nicht, dass irgendjemand von unserer Vergangenheit erfährt. Du vor allem verstehst doch, wie wichtig es ist, dass man sich verborgen hält. Lass mich diesmal nicht im Stich, Katra. Du musst dein Versprechen mir gegenüber halten. «
Kat zuckte zusammen, als sie an das erste und einzige Mal in ihrem Leben dachte, wo sie bei einem Auftrag für Artemis versagt hatte. »Das werde ich.«
Artemis neigte den Kopf und verschwand.
Kat legte sich wieder ins Bett und dachte über das nach, was sich soeben abgespielt hatte. Auf der einen Seite hatte sie keinerlei Zweifel daran, dass Artemis die Wahrheit über die Tafel des Schicksals sagte. Die Götterwelt von Sin hatte diese Tafel erschaffen. Wenn irgendjemand wusste, wie er sie finden und benutzen konnte, dann Sin.
Aber Artemis war immer noch Artemis.
Und das bedeutete, dass in dieser Geschichte wahrscheinlich einige wichtige Teile fehlten, und ehe Kat Jagd auf einen anderen Gott machte, sogar auf einen gestürzten, wollte sie so viel über ihn wissen wie nur möglich.
Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag, klappte es auf und schaute auf die Uhr. Bei ihr war es ein Uhr früh, aber in Minneapolis war es erst Mitternacht. Sie drückte die Ziffer 6 und wartete, bis eine weiche weibliche Stimme erklang.
Kat lächelte, als sie ihre Freundin hörte. »Hallo, Cassandra, wie geht's dir?« Früher einmal war sie Cassandras Beschützerin gewesen. Aber seit Cassandra unsterblich geworden und mit dem ehemaligen Dark-Hunter Wulf verheiratet war, war Kat eine andere Aufgabe zugefallen. Artemis hatte ihre Dienste an die atlantäische Göttin Apollymi abgetreten.
Doch noch immer war Kat gut mit Cassandra befreundet und besuchte sie so oft wie möglich.
»Hallo, Baby«, sagte Cassandra lachend. »Uns geht's gut. Wir sind gerade fast am Ende eines Films. Aber deine Stimme und der Zeitpunkt dieses Anrufs verraten mir, dass du mehr auf dem Herzen hast, als nur zu fragen, wie's mir geht.«
Kat lächelte über die Intuition ihrer Freundin. »In Ordnung, erwischt. Ich habe einen bestimmten Grund für meinen Anruf. Kannst du mir mal deinen Göttergatten geben? Ich habe ein paar Fragen zum Thema Dark- Hunter, die ich ihm stellen möchte.«
»Klar, einen Moment.«
Kat fuhr sich mit der Hand durch ihre zerzausten Locken, als Wulf ans Telefon kam. Sie war ihm zum ersten Mal begegnet, als er noch ein Dark-Hunter gewesen war, einer der unsterblichen Beschützer, die in Artemis' Diensten standen und im Gegenzug dafür Racheakte ausführen durften. Ihre Aufgabe bestand darin, Daimons zu töten, die Jagd auf menschliche Seelen machten, und sie verbrachten die Ewigkeit in Diensten der Artemis und schützten die Menschheit.
Aber Wulf war Freiheit gewährt worden, und jetzt lebte er glücklich mit seinem Sohn, seiner Tochter und seiner Frau in Minneapolis. Und er überwachte die Daimons nur, wenn die Dark-Hunter in seinem Bezirk Verstärkung brauchten.
»Hallo, Kat. Du wolltest mich sprechen?« Auch nach all diesen vielen Jahrhunderten hatte seine Stimme noch einen starken nordischen Akzent.
»Ja. Kennst du zufällig einen Dark-Hunter namens Sin?«
»Ich kenne einige, die so heißen - welchen meinst du denn?«
»Einen Sumerer.«
»Den gestürzten Gott?«
»Das muss er sein.«
Wulf seufzte am anderen Ende der Leitung. »Persönlich kenne ich ihn nicht, aber ich habe Gerüchte über ihn gehört. Es heißt, er ist völlig verrückt.«
»Wer sagt das?«
»Das sagen alle. Jeder Dark-Hunter, der je in seinem Bezirk gewesen ist. Jeder Squire, der je den Fehler begangen hat, ihm über den Weg zu laufen. Er ist ein gemeiner Dreckskerl, der absolut niemanden neben sich duldet.«
Das klang nicht besonders vielversprechend. Aber es bekräftigte Artemis' Angst. »Kennst du irgendjemanden, der ihn persönlich kennt und den ich vielleicht mal anrufen könnte?«
»Ash.«
Ja. Da gab es allerdings ein großes Problem: Artemis würde ausflippen, wenn Kat sich dem atlantäischen Gott je näherte.
»Sonst kennst du keinen?«
»Nein«, sagte Wulf mit fester Stimme. »Ich möchte wiederholen, dass er vollkommen unsozial ist und mit niemandem verkehrt. Es heißt, er habe einmal zugesehen, wie ein Dark-Hunter unter den Händen eines Daimons umgekommen ist, und habe dabei gelacht. Du kannst dich ja mal bei dailyinquisitor.com/bbs einloggen und an dem Schwarzen Brett der Dark-Hunter gucken, ob du jemanden finden kannst, mit dem er vielleicht enger bekannt ist. Ich hege da große Zweifel, nach dem, was ich bisher über ihn gehört habe, aber das ist die beste Chance, die du hast.«
Na toll. »Super, vielen Dank für deine Hilfe. Dann lass ich dich mal zu eurem Film zurückkehren. Macht's gut!«
»Du auch.«
Kat beendete das Gespräch und griff nach ihrem Laptop, der unter dem Bett lag. Sie folgte Wulfs Rat, aber nachdem sie einige Stunden damit zugebracht hatte, die Schwarzen Bretter zu durchforsten und auf der Dark Hunter.com-Webseite Profile gelesen hatte, gab sie auf. Sie hatte nichts Neues erfahren, außer der Tatsache, dass Sin ein Einzelgänger und ein Psychopath war.
Offenbar jagte er nicht einmal Daimons. Einer Geschichte zufolge war er mal an einer Gruppe Daimons vorbeigekommen, die gerade einen Menschen aussaugten, und hatte keine Miene verzogen. Außerdem gab es einige Geschichten über ihn, die besagten, dass er sich selbst Brandwunden zufügte und jeden Einzelnen verfluchte, der ihm zu nahe kam.
Oje, das klang wirklich nach einem warmherzigen, flauschigen Kuscheltier. Sie konnte es gar nicht erwarten, ihn kennenzulernen. Offenbar hatte er es nicht gerade mit Geselligkeit - das fand sie grundsätzlich in Ordnung. Sie war ein Einzelkind und auch nicht immer gut mit anderen ausgekommen.
Aber die Geschichten über seine Selbstverstümmelung beschäftigten sie. Was für eine Art von Geschöpf war er, dass er so etwas tat? Hatte er zusammen mit seinen göttlichen Kräften auch seinen Verstand verloren - oder war er immer schon so gewesen?
Sie seufzte, klappte den Laptop zu und zwang sich, aus ihrem bequemen Bett aufzustehen und dem Schlafanzug herauszukommen. Es war erst drei Uhr früh ... also noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang, und das bedeutete, Sin wäre wahrscheinlich auf den Straßen unterwegs und wanderte ziellos herum, während er an Daimons vorbeikam, die den Tod verdient hatten.
Kat schloss die Augen und konzentrierte sich, bis sie das fand, wonach sie suchte ...
Sin.
Aber sie fand ihn nicht da, wo sie es erwartet hatte. Statt in Las Vegas war er in New York ... im Central Park, um genau zu sein. Sie schwebte nun als durchsichtige Form in die Schatten. Niemand konnte sie sehen - nur wenn das Licht sie mit voller Wucht traf, würde man die leuchtenden Umrisse ihres Körpers erkennen. Sie hielt sich im Schatten, völlig außer Sicht-und Reichweite des wahnsinnigen Exgottes.
Nach ihren Recherchen war Sin in Las Vegas stationiert.
Was machte er dann mitten in der Nacht in New York?
Wie und wann war er dorthin gelangt?
Aber das war nicht das Wichtigste. Es war die Art und Weise, wie er durch den spärlich beleuchteten Bereich des Parks ging. »Stalking« traf es ganz gut. Er wirkte wie ein blutrünstiges Tier, das der Spur seiner Beute folgt: Er hatte den Kopf gesenkt, und seine Augen waren kaum mehr als Schlitze, mit denen er die Gegend um sich herum betrachtete. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel, der mit seinen Bewegungen mitschwang und sich blähte. Sin bot einen eindrucksvollen Anblick. Er hatte breite Schultern, und sein kurzes, lockiges pechschwarzes Haar reichte ihm kaum bis zum Kragen. Im Gegensatz zu vielen anderen Dark-Hunter hatte er keine schwarzen Augen - sie waren goldbraun wie die Augen eines Löwen. Wie gelbbrauner Topas. Und im Kontrast zu seiner dunklen gebräunten Haut glitzerten sie wie Eis.
Seine Gesichtszüge waren perfekt, aber da er als Gott geboren war, war das zu erwarten. Es war eine Regel, dass Götter niemals hässlich waren. Und selbst wenn sie es wären, würden sie ihre Kräfte dazu benutzen, um das zu korrigieren. Es stand im Zusammenhang mit der ganzen göttlichen Eitelkeitskiste, was manchmal ganz schön unangenehm sein konnte.
Sin schien nicht älter zu sein als Mitte dreißig, und er bewegte sich mit flüssiger, zeitloser Grazie. Er hatte seine schwarzen Augenbrauen zusammengezogen und runzelte ernst die Stirn, und ein mindestens zwei Tage alter Bart bedeckte sein Gesicht.
Er war wirklich ausgesucht schön, und ein Teil von ihr, den sie gar nicht kannte, bemerkte ganz besonders, wie gefährlich männlich er sich bewegte. Es durchschoss sie heiß und stieg ihr zu Kopf wie ein starker Wein, als sie ihm zuschaute. Es machte sie schwindelig und nahm ihr den Atem.
Sie hätte gern die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn berührt, aber sie wusste, dass er sie sofort töten würde, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekam. Er war faszinierend und bezaubernd.
Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und neigte den Kopf in ihre Richtung. Kat hielt den Atem an, und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. Hatte er sie gehört? Oder ihre Anwesenheit wahrgenommen? Dazu sollte er eigentlich nicht in der Lage sein, aber schließlich war er ein Gott ... zumindest war er mal einer gewesen.
Vielleicht hatte er diese Kraft noch immer.
Aber als sie den kaum wahrnehmbaren Schatten zu ihrer Linken sah, begriff sie, dass er sich nicht auf sie konzentrierte, sondern auf die Bäume vor ihr. Was immer sich dort befand, sie hörte ein Flüstern in einer Sprache, die sie nie zuvor gehört hatte. Leise und unheilvoll wie eine merkwürdige Kombination aus knirschenden Zahnrädern und einem Quietschen, das einen bis ins Mark erschütterte.
»Erkutu«, flüsterte Sin mit kräftiger Stimme. Mit einer einzigen fließenden Bewegung ließ er den Mantel von den Schultern gleiten und entblößte einen Körper, der so kraftvoll aussah, dass es ihr regelrecht einen Schauer über den Rücken jagte.
Er trug ein schwarzes ärmelloses T-Shirt, eine schwarze Lederhose und Bikerstiefel mit Schnallen. Der ausgeprägte, perfekte Schwung seiner Muskeln war bemerkenswert, und noch auffallender waren die Messer, die an seinem Bizeps befestigt waren, und außerdem das Heft eines antiken Dolches, der in seinem linken Stiefel steckte. An den Unterarmen trug er silberne Armschienen, und während er sich den Schatten näherte, löste er eine lange Schnur von seinem rechten Handgelenk. An jedem Ende dieser Schnur war eine Metallkugel, die etwa die Größe eines Golfballs hatte. Sie blitzten im Licht und gaben ein metallisches Geräusch von sich, während er ging.
Es war offensichtlich, dass er sich zu einem Kampf rüstete, aber nirgendwo befanden sich Daimons in der Nähe. Wenn da welche gewesen wären, hätte sie es spüren müssen.
Und noch immer war das merkwürdige Flüstern zu hören.
Kat kroch durch die Bäume und versuchte zu erspähen, wohin er ging.
Ohne Vorwarnung wurde etwas nach Sins Kopf geschleudert. Er duckte sich, richtete sich wieder auf und schwang die Schnur über seinen Kopf wie ein Cowboy sein Lasso. Die Kugeln pfiffen einen Augenblick durch die Luft, ehe er die Schnur losließ und die Kugeln durchs Laub flogen.
Ein Schrei zerriss die Nacht.
Kat erstarrte, als sie erkannte, was Sin veranlasst hatte, seine Waffe zu werfen. Zuerst sah es aus wie eine schöne Menschenfrau, bis sie den Mund öffnete und eine doppelte Reihe von scharfen Fangzähnen sichtbar wurde. Doch noch schlimmer als die Fangzähne war das Blut, das ihr vom Kinn tropfte. Menschliches Blut, das genauso rot war wie die Augen dieses Wesens.
Und sie war nicht allein. Insgesamt waren sie zu dritt - die Frau und zwei stämmige Männer. Kat hatte solche Wesen wie diese noch nie gesehen. Sie gehörten ganz klar nicht zur menschlichen Rasse, obwohl sie die Körper von Menschen hatten. Sie kommunizierten miteinander in dieser merkwürdigen Sprache, die sich anhörte wie die Laute eines Frettchens oder eines Delfins.
Gemeinsam gingen sie auf Sin los. Er duckte sich und schleuderte den Ersten, der ihn erreichte, über seinen Rücken nach hinten. Mit einer weichen, fließenden Bewegung zog er den Dolch aus seinem Stiefel und stieß nach dem zweiten Mann. Der Dämon packte Sins Arm und schlug seine Fangzähne in dessen Hand.
Sin fluchte, stieß die Kreatur mit dem Knie in den Magen und drehte sich rasch um, um sich mit der Frau zu befassen. Die Dämonin zuckte zurück, nur Sekundenbruchteile, ehe sein Dolch ihr den Hals aufgeschlitzt hätte.
Der erste Mann rappelte sich hoch und wollte Sin von hinten angreifen, aber Sin drehte sich um und warf sich zu Boden, sodass der Dämon auf den anderen stürzte, der Sin gebissen hatte. Sin wickelte eine weitere Schnur von seinem linken Arm ab, erhob sich und schlang die Schnur der Frau um den Hals. Sie schrie kurz auf, dann wurde ihr Kopf vom Körper abgetrennt und fiel zu Boden.
Kat wandte sich ab und krümmte sich bei diesem Anblick, die Galle stieg ihr in die Kehle.
Die anderen beiden Dämonen schrien auf, dann rannten sie davon. Sin verschränkte die Arme vor der Brust, riss sich rechts und links die Messer vom Bizeps und warf sie den Fliehenden in den Rücken. Die beiden stürzten zu Boden, krümmten sich und schrien im Todeskampf.
Ein einzelner letzter Schrei - dann waren sie still.
Kat war schockiert von dem, was sie sah. Es war scheußlich und empörend, und etwas an Sin verriet, dass er das, was er tat, wesentlich mehr genoss, als er sollte. Es war, als sei er stolz darauf, den anderen so viel Schmerz zuzufügen, wie er nur konnte.
Der Mistkerl ist total krank.
Sin sah den Männern noch ein paar Augenblicke zu, dann ging er zu der Frau, die überfallen worden war. Aber für sie kam jede Hilfe zu spät. Sogar aus dieser Entfernung erkannte Kat, dass die Frau tot war, ihre glasigen Augen starrten hinauf zum sternenübersäten Himmel, und ihr Körper war von dem tödlichen Angriff gezeichnet.
Die arme Frau.
Mit grimmigem Gesicht drückte Sin der Frau die Augen zu und flüsterte ein altes sumerisches Gebet, damit ihre Seele trotz der Gewalt, die ihr das Leben genommen hatte, in Frieden ruhen möge. Seine Handlungsweise überraschte Kat. Das schien überhaupt nicht zu dem zu passen, was dieser Mann zuvor getan hatte.
Zumindest dachte sie das, bis er ein Messer aus dem Rücken eines der Dämonen zog. Aus seiner rechten Hand ließ er eine Flamme aufsteigen und erhitzte damit die Klinge, und als sie heiß war, drückte er sie auf die Bisswunde an seiner Hand. Kat zuckte mitfühlend zusammen, obwohl er nicht einmal wimmerte.
Er stand einfach nur da und biss die Zähne zusammen, während ihr von dem Gestank des verbrannten Fleisches fast übel wurde.
Aber er war noch nicht fertig. Sobald er die Blutung gestoppt hatte, ging er zu der Menschenfrau zurück und trennte ihr ohne jedes Mitleid den Kopf vom Körper ab.
Er ist wahnsinnig ... Kat krümmte sich vor Entsetzen.
Eine andere Erklärung gab es nicht. Warum sonst würde er einem unschuldigen Opfer so etwas antun? Es ergab einfach keinen Sinn.
Und noch immer war er nicht fertig. Er köpfte auch die beiden Dämonen, dann schichtete er alle vier Leichen übereinander und zündete ein Feuer an. Mit unbeweglichem Gesicht sah er zu, wie die Leichen verbrannten. Die Flammen beleuchteten seine kalten, emotionslosen Gesichtszüge. Die Schatten verdunkelten seine Augen und ließen ihn eher wie einen Dämon aussehen als die Dämonen, die er gerade getötet hatte.
Er sprach die ganze Zeit über kein einziges Wort und zeigte nicht eine Spur von Mitgefühl.
Nachdem die Leichen völlig verbrannt waren, verteilte Sin die Asche mit dem Fuß, bis man nichts mehr sehen konnte. Niemand würde je erfahren, was mit der armen Frau geschehen war.
Wieso durfte dieser Mann leben, wenn er dermaßen brutal war? Wusste Acheron nicht, was Sin nachts trieb? Dass er menschliche Überreste schändete? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Acheron ihm etwas so Entsetzliches ohne Weiteres vergab. Das lag nicht in seiner Natur, genauso wenig wie in ihrer.
Vielleicht hatte Artemis doch ein einziges Mal recht. Jemand wie Sin sollte nicht auf die Welt losgelassen werden. Er war zu gefährlich.
Aber ehe Kat sich auf das Ganze einließ, musste sie genau wissen, was für Kräfte er besaß. Nach dem, was sie gerade gesehen hatte, konnte er das Feuer kontrollieren und war versiert im Umgang mit Waffen und im Nahkampf.
Ihn außer Gefecht zu setzen, das würde schwierig werden. Vielleicht wäre es klüger, ihn erstarren zu lassen. Sie könnte ihn in Schlaf versetzen, sodass er niemandem schaden konnte - es würde so ein, als wäre er tot, aber er würde immer noch leben. Ja, das war wohl das Beste, was sie tun konnte, statt ihn auf der Stelle zu töten.
Und während sie über seinen Tod nachdachte, griff Sin nach seinem Mantel. Schwungvoll zog er ihn über und verschwand in einem schimmernden Nebel.
Verdammt!
Kat schloss die Augen und versuchte, ihn wieder zu spüren, sodass sie ihre Mission erfüllen könnte.
Aber sie spürte nichts. Nirgendwo eine Spur von ihm.
Sie runzelte die Stirn. Wie war das nur möglich? Er musste wie alle anderen eine Wesensart haben, und die würde immer eine Spur hinterlassen wie eine Art Visitenkarte. Sie versuchte noch einmal, ihn aufzuspüren - wieder nichts. Es war, als ob er nicht länger auf der Erde weilte. Sie hatte keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte.
Das war ihr noch nie passiert.
»Wo bist du, Sin?«
Aber die eigentliche Frage war nicht, wo er war, sondern, was er tat ...
2
Sin teleportierte sich in sein Hotelzimmer zurück, obwohl er sich ebenso gut gleich nach Hause hätte teleportieren können. Aber er wollte jetzt nicht von Kish oder Damien belästigt werden. Er brauchte ein wenig Platz und Zeit für sich, damit er sich geistig auf das vorbereiten konnte, was er tun musste.
Er war voller Blut, doch die Zeit, in der er seine wahre Freude daran gehabt hätte, war vorbei. Er war diese niemals enden wollenden Schlachten leid. Er war es müde, in einem Krieg zu kämpfen, von dem er wusste, dass er ihn niemals wirklich würde gewinnen können.
Es gab nur eine Person, deren Blut er gern an seinen Händen gesehen hätte. Wie würde er sich freuen, es an seiner Haut kleben zu fühlen!
Artemis.
Allein der Gedanke daran, ihr den Kopf vom Körper abzutrennen, ließ ihn lächeln, als er ins Badezimmer ging, wo er eine lange, heiße Dusche nehmen wollte.
Nachdem er das Wasser angestellt hatte, ließ er seine Waffen zu Boden fallen und zog sich aus, während er darauf wartete, dass das Wasser warm genug war. Sobald es siedend heiß war, stieg er unter den Strahl. Durch den Kampf war er voller Sand, Schweiß und Blut - sein eigenes Blut und das Blut seiner Feinde. Er senkte den Kopf und sah zu, wie es abgewaschen und im Wasser herumgewirbelt wurde und schließlich im Abfluss verschwand.
Das heiße Wasser tat seinem Körper gut. Aber an seinen unruhigen, besorgten Gedanken konnte es nichts ändern. Das Kerir oder die Abrechnung, wie manche es nannten, kam, und noch immer musste er den Hayar Bedr - den Vergessenen Mond - finden, ehe die Gallu- Dämonen ihn finden und zerstören konnten. Ohne den Mond hatte Sin nicht die geringste Chance, sie je zurückzutreiben.
Nicht dass die Chancen mit dem Vergessenen Mond viel besser gewesen wären, aber mit einem Fünkchen Hoffnung lebte es sich viel leichter.
Sin knirschte mit den Zähnen, als er sich das Kerir vorstellte. Um Mitternacht am Silvesterabend, wenn alle Welt feierte, würden die sieben Dimme-Dämonen befreit werden, die Anu geschaffen hatte, damit sie die gefallenen Götter rächen würden. Der Einzige, der sie bekämpfen konnte, war Sin, und weil er seine göttlichen Kräfte nicht mehr besaß, hatte er nicht die Spur einer Hoffnung, die Dimme zu schlagen.
Jetzt konnten nur noch die Götter, die alten und neuen, Mitleid mit ihnen allen haben.
»Verdammt sollst du sein, Artemis«, knurrte er. Das verdammte Miststück! Durch eine einzige selbstsüchtige Handlung hatte sie die ganze Welt zum Untergang verdammt - und es machte ihr noch nicht einmal etwas aus. Sie dachte, ihre eigene Göttlichkeit würde sie vor den Dämonen schützen.
Sie war eine Idiotin.
Warum kümmerst du dich überhaupt darum? Jede Art von Kampf würde nur dazu führen, den eigenen Tod hinauszuzögern. Aber es lag nicht in Sins Natur, einfach danebenzustehen und nichts zu tun, während unschuldige Menschen getötet wurden. Nichts zu tun, während die Erde überrannt und zerstört wurde. Nein, er hatte schon zu viele Jahrhunderte damit zugebracht, die Gallu- Dämonen zu bekämpfen, als dass er ihnen die Erde einfach so überlassen könnte. Er wollte so viele von ihnen mitnehmen, wie er nur konnte.
Sie waren nicht leicht zu besiegen, aber die Dimme- Dämonen erst ...
Sie würden ihn zerreißen und dabei nur lachen. Er seufzte, drehte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und zögerte kurz, als er die neue Narbe auf seiner Hand betrachtete. Verdammt sollten sie dafür sein! Anders als die Daimons, die der griechische Gott Apollo dazu verdammt hatte, davon zu leben, dass sie menschliche Seelen stahlen, konnten die Gallu einen Menschen in einen der ihren verwandeln. Das Gift, mit dem sie ihre Opfer durch einen Biss vergifteten, konnte sogar Sin infizieren und ihn auch zu einem Gallu machen. Deswegen musste er das Gift jedes Mal ausbrennen, wenn es in seinen Körper einzudringen drohte. Deswegen musste er auf Nummer sicher gehen, diese Kreaturen köpfen und ihre Leichen verbrennen. Es war der einzige Weg, ihr Gift vollständig zu zerstören und zu verhindern, dass sie sich wieder erholten.
Sie konnten sich ungeheuer schnell vermehren: ein Biss, ein bisschen Blutaustausch, mehr war nicht nötig. Sie mussten einen Menschen nicht einmal töten, um ihn in einen Dämon zu verwandeln. Aber die Gallu liebten das Töten so sehr, dass sie es einfach aus Spaß taten. Wenn ein Mensch einmal infiziert war, verlor er rasch die Kontrolle an die Gallu, die ihn dahingehend beeinflussen konnten, dass er alles tat, was sie von ihm verlangten, und zu einem hirnlosen Sklaven wurde.
Oder zu etwas noch Schlimmerem.
Vor elftausend Jahren hatte es Soldaten gegeben, die ausgebildet worden waren, die Gallu zu bekämpfen, und die von den sumerischen Göttern genau diesen Auftrag erhalten hatten. Als die Anzahl dieser Krieger immer weiter abgenommen hatte und sie schließlich alle ausgelöscht worden waren, hatten Sin, seine Tochter und sein Bruder die Gallu gefangen, um sie davon abzuhalten, Menschen als Beute zu nehmen. Aber im Lauf der Zeit und nach dem Sturz der sumerischen Götter hatten die Gallu begonnen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Sie waren mittlerweile klüger und besser organisiert.
Jetzt versuchten sie, die antiken Kunstwerke zu finden, die Sins Bruder versteckt hatte. Mit ihnen wollten sie den Dimme-Dämonen bei deren Erwachen helfen und hofften, dass die Dimme sich für diese Loyalität erkenntlich zeigen würden. Und das würden die Dimme vermutlich auch tun.
In drei Wochen würde es verdammt unangenehm werden, wenn man ein Mensch war.
Sin frottierte sich die Haare. Es war sinnlos, heute Nacht daran zu denken. Er hatte die Tafel des Schicksals gefunden. Morgen würde er den Vergessenen Mond suchen, und bis dahin konnte er ein paar Stunden Ruhe brauchen.
Er streckte sich nackt auf dem Bett aus und versuchte, die Ereignisse der vergangenen Nacht aus dem Kopf zu bekommen, aber es war sinnlos. Er konnte sich vorstellen, wie die Gallu sich versammelten und wie sie die Menschen in Gallu verwandelten. Es würde nicht lange dauern, bis sie die gesamte Welt übernommen hätten. Mütter würden sich gegen ihre Kinder wenden, Brüder gegen Brüder - all das mit einer Blutrünstigkeit, die keine Befriedigung kannte. Sie waren eine vollendete Waffe - und dabei waren sie ursprünglich dazu geschaffen worden, die Feinde der sumerischen Götter zu bekämpfen.
Ganz besonders waren die Gallu dafür geschaffen worden, gegen die Charonte-Dämonen zu kämpfen, denn Sins Vater war davon überzeugt gewesen, dass sie eines Tages alles zerstören würden. Allerdings hatten seine Götter sich nie träumen lassen, dass Atlantis eines Tages zerstört werden würde - und damit auch alle Charonte-Dämonen. Da es jetzt keine Dämonen mehr gab, die sie in Schach halten konnten, hatten die Gallu ihre Aufmerksamkeit und ihr Begehren auf die Menschen gerichtet.
Sie hatten ganze Städte zerstört, ehe Sin, Ishtar und Zakar es schafften, sie einzupferchen. Sin konnte noch immer die Körper der geschlachteten Menschen sehen, die als willenlose Dämonen wiedererstanden und kämpften.
Aber schlimmer noch, er sah, wie sich seine eigenen Kinder gegen ihn wandten ...
Sin knurrte und drängte die Erinnerungen zurück. Sie würden ihn nur noch tiefer verletzen. Und er hatte schon genug mitgemacht. Die Vergangenheit war vergangen.
Er hatte eine Zukunft, für die er kämpfte, und dafür brauchte er seine ganze Kraft. Er schloss die Augen und zwang sich, an nichts zu denken und nichts zu fühlen. Er durfte nicht zulassen, dass so etwas Belangloses wie Rache oder Hass ihn erschöpften. Er hatte zu viel zu tun.
Kat lief durch die Straßen von New York und versuchte, eine Spur von Sin zu finden. Er war vielleicht schon gar nicht mehr in der Stadt, aber weil er in der Nacht zuvor hier gewesen war, war es doch immerhin wahrscheinlich, dass er noch da war. Ein kalter Wind ließ sie frösteln, als sie sich ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte.
Sie liebte New York zur Weihnachtszeit und konnte gut verstehen, warum ihr Vater in dieser Zeit so gern hier war. Zugegeben, es war kalt, aber hier tobte das Leben, die Menschen eilten durch die Straßen, kauften ein, arbeiteten und lebten.
Am meisten liebte sie die geschmückten Schaufenster und die lustigen Szenen, die die Dekorateure ausgewählt hatten. Sie waren etwas ganz Besonderes und erfreuten das Kind in ihr, besonders, wenn sie andere Kinder sah, die vor Vergnügen kreischten, während sie auf ein Schaufenster zeigten und dann zum nächsten weiterrannten, vorbei an den genervten Erwachsenen.
Kat war noch nie so sorglos gewesen. Obwohl sie behütet aufgewachsen war, war ihre Kindheit nie unschuldig gewesen. Sie hatte Dinge gesehen, die ein Kind nicht hätte sehen sollen, und es war schwierig, davon nicht abzustumpfen.
Aber diese lachenden, ausgelassenen Kinder, die keine Vorstellung davon hatten, wie hässlich die Welt sein konnte - das waren diejenigen, für die sie kämpfte. Und dieser Kinder wegen musste sie Sin finden und ihn aufhalten. Er durfte sie nicht als Beute aufs Korn nehmen.
Nicht nach dem, was er in der vergangenen Nacht dieser armen Frau angetan hatte. Warum hatte er einen menschlichen Leichnam entweiht? Kat kam darüber noch immer nicht hinweg. Es traf sie hart, und sie konnte nichts tun, als für diese Frau Trauer zu empfinden - und für ihre Familie, die nie erfahren würde, was ihr zugestoßen war.
Es war niederträchtig, und es war schrecklich. Mehr noch, es war schlicht und einfach falsch.
Kat hielt inne und ließ ein kleines Mädchen an sich vorbeilaufen, als ein großer Mann sie von hinten anrempelte. Kat knurrte ihn an, als er vorbeiging und etwas in seinen Bart murmelte. Er warf einen Blick auf das Kind und fauchte wie eine Katze. Dann starrte er das Kind an wie ein wildes Tier, das seine nächste Beute anvisiert.
Aber gerade als er die Hand nach dem Kind ausstreckte, wurde es von seiner Mutter zurückgerissen und ausgeschimpft, weil es einfach davongelaufen war.
Der Mann richtete auf die beiden einen hungrigen Blick, bei dem es Kat kalt über den Rücken lief. Das war einfach unnatürlich. Mehr noch, in seinen Augen blitzte es unmenschlich rot auf.
So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Mit einem letzten spöttischen Grinsen schien er es sich anders zu überlegen, griff Mutter und Kind nicht an und ging weiter.
Kat war neugierig geworden, wer er war und was er im Schilde führte. Sie folgte ihm unauffällig, und wenn es nicht helllichter Tag gewesen wäre, hätte sie gedacht, er wäre ein Daimon auf der Suche nach einer menschlichen Seele, die er stehlen konnte, um sein Leben zu verlängern. Aber das war unmöglich, denn wegen des Fluchs des Apollo, der auf ihrem Volk lag, konnte kein Daimon hervorkommen, solange die Sonne schien. Taten sie es doch, gingen sie in Flammen auf.
Aber was war er dann?
Welchem Göttergeschlecht gehörte er an? Wenn er kein Mensch und kein Daimon war, dann hatte ihn ein Gott erschaffen. Die Frage war nur: zu welchem Zweck?
Kat ließ ihre Kräfte schweifen, aber alles, was sie erspüren konnte, waren sein menschlicher Geist und seine Wut, während er weitertappte.
Vielleicht war er auch einfach nur verrückt ...
Er bog in eine Seitenstraße ab, in der keine Menschen waren. Irgendetwas zwang Kat, ihn zu ignorieren und weiter nach Sin zu suchen.
Aber es war nicht Kats Art, eine Sache einfach so fallen zu lassen. Wenn der Mann etwas Übles vorhatte, war sie eine der wenigen, die ihn aufhalten konnten. Sie würde nie so sein wie ihre Mutter, die den Schmerz der Menschen einfach ignorierte. Nicht, wenn sie ihn verhindern konnte.
Also folgte sie dem Mann in die menschenleere Straße. Sie war noch nicht weit gekommen, als er sich mit einem wilden Knurren umwandte.
Diesmal waren seine Augen um die schwarzen Pupillen flammend rot. Er öffnete den Mund, und sie sah eine doppelte Reihe von Fangzähnen. Dann packte er sie bei den Schultern und schleuderte sie gegen die Ziegelmauer.
Sie war von seinem Aussehen und seinem Angriff schockiert und holte zum Schlag aus. Er schnappte ihre Hand, packte sie an der Kehle und drückte sie mit einer solchen Kraft gegen die Wand, dass sie es bis ins Mark spürte. Wäre sie ein Mensch gewesen, dann wäre sie jetzt entweder bewusstlos oder tot.
So tat es ihr nur höllisch weh - und ihn machte es stinksauer.
»Was bist du?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, während er sie hochhob - und das war eine Leistung, denn sie war über einen Meter achtzig groß und kräftig -, und warf sie gegen ein Auto, das dort geparkt stand. Sie krachte auf die Motorhaube, und die Verriegelung sprang auf. Die Windschutzscheibe zersplitterte unter ihr, und die Alarmanlage des Autos begann zu heulen. Kat bekam kaum noch Luft und schmeckte Blut.
Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihr Arm war gebrochen, und sie schien in der zersplitterten Windschutzscheibe festzustecken. Mit roten Augen, die zu wirbeln schienen, kam der Mann auf sie zu.
Gerade als er sie erreichte, sah sie etwas vom Dach des Gebäudes vor sich herunterfallen. Sie erkannte lediglich einen schwarzen Fleck, der so hart auf dem Boden landete, dass der Beton splitterte.
Kat brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was es war - und als sie es erkannt hatte, schockierte es sie sogar noch mehr als das Wesen, das sie angegriffen hatte.
Es war Sin, ganz in schwarzes Leder gekleidet. Er richtete sich aus der Hocke langsam auf, bereit zum Kampf. Seine Augen waren auf den Mann vor ihr gerichtet.
»Gallu«, sagte er mit tiefer, ernster Stimme, »such dir doch mal jemanden aus, der sich wehren kann.«
Der Gallu ließ von Kat ab und griff Sin an. Er rannte auf ihn zu, aber Sin hob den Arm und fing den Schlag mit seiner silbernen Armschiene ab, ehe er ihm einen wohlgezielten Schlag aufs Kinn versetzte. Der Mann taumelte zurück. Sin stieß ihn hart gegen die Brust und trieb ihn einen weiteren Schritt zurück.
Während der Mann unter den Schlägen erzitterte, schlug Sin seinen langen Mantel zurück und zog einen großen Dolch hervor. Der Mann kam mit offenem Mund auf Sin zu und versuchte, ihn zu beißen. Sin ließ sich zu Boden fallen und zog dem Mann die Füße unter dem Körper weg, sodass er hart auf dem Beton aufschlug. Dann trieb er ihm das Messer zwischen die Augen.
Der Mann schrie auf, wand sich auf dem Bürgersteig, schlug mit den Armen um sich und trat nach Sin.
»Halt die Schnauze«, knurrte Sin, zog den Dolch aus der Wunde und stach erneut zu.
Kat glitt vom Auto herunter, hielt sich den gebrochenen Arm, und ehe sie ihn daran hindern konnte, köpfte Sin den toten Mann und verbrannte ihn an Ort und Stelle auf dem Bürgersteig. Sie wich schaudernd zurück. Es war mitten am helllichten Tag - doch Sin schien es nichts auszumachen.
Jedermann konnte es sehen.
Ehe sie sich rühren konnte, stand Sin schon vor ihr und packte sie. »Hat er Sie gebissen?«
Er schaute ihr nicht einmal ins Gesicht, ehe er anfing, sie abzutasten. Sie zischte, als er ihren gebrochenen Arm berührte, aber er hielt in seiner Untersuchung nicht inne.
Als er ihr Hemd hochzog, um ihren Bauch zu untersuchen, schlug sie seine Hand weg. »Nehmen Sie die Pfoten von mir!«
»Hat er Sie gebissen?«, knurrte er und betonte jedes Wort.
Erst dann schaute er ihr ins Gesicht und erstarrte.
Nur Sekundenbruchteile später packte er sie an der Kehle und würgte sie.
Copyright © 1. Auflage Deutsche Erstausgabe Februar 2014 bei Blanvalet Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Sherrilyn Kenyon
Kenyon, SherrilynDie promovierte Historikerin Sherrilyn Kenyon schreibt seit ihrem zehnten Lebensjahr und ist mittlerweile eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit. Unter ihrem Pseudonym Kinley MacGregor veröffentlichte sie höchst erfolgreich Highland-Sagas. Doch vor allem mit ihren Dark-Hunter-Romanen begeistert sie ihre Leser und erobert seit Jahren regelmässig Spitzenplätze der New-York-Times-Bestsellerliste. Gemeinsam mit ihrem Mann und drei Söhnen lebt Sherrilyn Kenyon in Tennessee.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sherrilyn Kenyon
- 2014, 480 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Rabe, Larissa
- Übersetzer: Larissa Rabe
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442269679
- ISBN-13: 9783442269679
- Erscheinungsdatum: 20.01.2014
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