Chill mal, Frau Freitag
Aus dem Alltag einer unerschrockenen Lehrerin. Originalausgabe
Frau Freitag hat es wirklich nicht leicht. An ihrer Brennpunktschule ist sie die Lehrerin von Blutdruck-Yusuf, dem hyperaktiven Dschingis, der neurotischen Christine und vielen anderen, die nicht genau wissen, was ihnen lieber ist: die deutsche Heimat...
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Produktinformationen zu „Chill mal, Frau Freitag “
Frau Freitag hat es wirklich nicht leicht. An ihrer Brennpunktschule ist sie die Lehrerin von Blutdruck-Yusuf, dem hyperaktiven Dschingis, der neurotischen Christine und vielen anderen, die nicht genau wissen, was ihnen lieber ist: die deutsche Heimat oder ihr türkisches Herz. Schulalltag als absurd-komische Realsatire!
Klappentext zu „Chill mal, Frau Freitag “
»Hitler hat die Mauer gebaut«, glauben Abdul und Ronnie. Esra stylt sich im Disco-Islam: rosa oder türkis mit Glitzer und natürlich Kopftuch. Und Samira, die Klassenqueen, kann sich keine Sekunde von ihrem Handy trennen und hält hyperaktive Siebtklässler in Schach. An Frau Freitags Schule geht es immer voll ab. Ihr Alltag als Lehrerin ist absurd-komische Realsatire - verrückt, anrührend und vor allem sehr lustig. Aber Frau Freitag findet: Ich habe den schönsten Beruf der Welt.Lese-Probe zu „Chill mal, Frau Freitag “
Chill mal, Frau Freitag von Frau FreitagFrau Freitag wurde 1968 geboren und wollte schon immer Lehrerin werden.
Seit zehn Jahren arbeitet sie an Schulen mit schwieriger Kund-
schaft. Derzeit unterrichtet Frau Freitag Englisch und Kunst an
einer Gesamt schule. Sie ist Klassenlehrerin einer überdrehten,
dafür recht leistungsschwachen 10. Klasse. Ihr Traum ist es, eine
ganze Unter richts stunde freestyle zu rappen sowie aus dem Stand
einen Salto rückwärts zu machen. Frau Freitag lebt mit ihrem
Freund, dem einzigen Nichtlehrer, den sie noch kennt, in einer
deutschen Groß stadt.
Das rappende Klassenzimmer
Elterngespräche auf Türkisch, skurrile Bildungsergebnisse (»Hitler
hat die Mauer gebaut«) oder gerappte Entschuldigungszettel: an
Frau Freitags Schule geht es immer voll ab. Abdul und Mehmet
haben keinen Plan von englischen Vokabeln, aber wissen alles
über Klingeltöne und Menowin. Christine malt lieber mit Mascara
statt mit Tusche. Esra stylt sich im Disco-Islam: rosa oder türkis mit
Glitzer und natürlich Kopftuch. Und Samira, die Klassenqueen,
kann sich keine Sekunde von ihrem Handy trennen und hält Frau
Freitags hyperaktive Siebtklässler in Schach.
Aber Frau Freitag findet: Ich habe den schönsten Beruf der Welt.
Ihr Alltag ist absurd-komische Realsatire - verrückt, anrührend und
vor allem sehr lustig.
... mehr
Schimpfwörterkunde
Die Schüler haben ein neues Wort. Das Wort heißt: Knecht. Wer
früher ein Opfer, ein Hund, eine Missgeburt oder ein Spast war, ist
heute ein Knecht. Gebraucht wird dieser Ausdruck einfach nur als
eine Art Feststellung.
Erol zu Mohamad: »Hakan glaubt, dass es World of Warcraft auf
Türkisch gibt.« Mohamad: »Knecht.«
Oder Kevin zu Sabine: »Stefan geht zu Mathe.« Sabine: »Knecht.«
Nun könnte man denken, schön, dass die Schüler wieder alte
deutsche Begrifflichkeiten benutzen. Nach Knecht kommt vielleicht
noch Magd, Abt oder Amme. Sind sie also endlich in Deutschland
angekommen. Benutzen mittelalterliche Worte, vermutlich ohne es
zu merken. Ich schätze, dass meine Schüler gar nicht wissen, was
ein Knecht ist. Leider habe ich sie noch nicht gefragt, aber ich bin
schon sehr gespannt, welche Definitionen sie mir anbieten werden.
Unsere Schüler haben nämlich die Angewohnheit Wörter zu verwenden,
deren Bedeutung sie nicht kennen oder noch besser: die
sie völlig falsch deuten.
Eine der Lieblingsbeschimpfungen aller Schüler ist ja Spast. Jedes
Mal, wenn ich das Wort höre, frage ich die Schüler: »Weißt du
denn, was ein Spast ist?« Und ich bekomme immer die gleiche
Antwort: »Ja, klar. Ein Spast ist ein kleiner Vogel.«
Da steht ein riesiger arabischer Schüler vor mir, wahrscheinlich mit
Totschläger und Messer in der Tasche und einer kiloschweren
Schüler- und Polizeiakte, und denkt, ein Spast sei ein kleiner Vogel.
Und dann benutzt er »kleiner Vogel« auch noch allen Ernstes als
Schimpfwort.
»Soso, meinst du wirklich, dieses Schimpfwort ist so schlimm,
dass sich jemand darüber ärgert?«
Meistens fällt ihnen darauf nichts mehr ein, und sie fragen etwas
verunsichert: »Was heißt es denn?«
»Na, kleiner Vogel heißt es jedenfalls nicht. Aber benutz ruhig weiter
Wörter, deren Bedeutung du nicht kennst, das zeugt von unheim -
licher Intelligenz.«
Damit lasse ich sie stehen, und wahrscheinlich flüstern sie mir ein
»Ist die hässlich!« oder »Hurentochter!« hinterher. Was eine Huren -
tochter ist, wissen sie alle.
Integration fetzt!
An meiner Schule haben wir mit der Integration überhaupt kein
Problem. Fröhlich integrieren wir seit Jahren und sind damit sehr
erfolgreich. Beim letzten Ramadan übergab sich Susi in der Mathestunde,
weil ihr vom Fasten schlecht geworden war, und Rainer
kam im März vor dem Unterricht mit den Worten auf mich zu: »Ich
heiße ab jetzt Mohamed.« Stoisch reagierte er nicht mehr auf seinen
Kartoffelnamen, spielte unentwegt mit seinem Gebetskettchen
und las ständig in einer deutschen Übersetzung des Korans.
Deutsche heißen in unserer Schule übrigens grundsätzlich Kartoffeln.
Die Schüler nennen uns zwar nicht dauernd so, aber wenn jemand
sagt: »Das war die Kartoffel in Ihrer Klasse«, dann weiß jeder, dass
der Schüler keinen Migrationshintergrund vorweisen kann.
Mein Kollege Herr Werner sagte neulich: »Ich bin der einzige
Deutsche in meiner Klasse.« Also, ich weiß gar nicht, was alle haben.
Integrieren ist doch easy. Der Trick ist einfach, eine moslemische
Mehrheitsgesellschaft zu schaffen.
7. Klasse, Vertretungsunterricht. Ich lasse die Schüler was zeichnen.
Ein Gruppentisch ist ziemlich laut. Ich höre mehrfach die arabischen
Wörter »Chara« (Scheiße) und »Scharmuta« (Hure). Irgendwann reicht
es mir. Ich stürze an den Tisch und schreie »Challas!« (Lass das). Die
Jungen gucken mich verwirrt an. Ich sage: »Istrele!« (Arbeitet).
Keiner reagiert. »Was ist, verstehst du das nicht?«, frage ich einen
von ihnen und gucke böse. »Ich kann kein Arabisch, ich bin Kurde.«
»Aber du«, wende ich mich an den Nächsten. »Du verstehst das doch.«
»Nee, ich bin aus Polen.«
Der Dritte war Türke, und dann saß an dem Tisch noch der Sohn
einer thailändischen Mutter, der jedoch nur Deutsch sprach. Aber
auf Arabisch fluchen, das geht. Wenn wir die Schüler nicht da ab -
holen, wo sie sind, dann machen das eben die Mitschüler. Und
irgendwie ist es doch auch schön, wenn sie was lernen. Wie könnte
ich mich als Fremdsprachenlehrerin nicht dafür begeistern, wenn
sich meine Schüler freiwillig mit anderen Kulturen auseinandersetzen?
Mein Türkisch wird von Tag zu Tag besser und mit dem Arabisch -
na ja, ich arbeite dran. Is auch schwer, vallah! Diese ch-Laute sind
eher was für Schweizer. Elterngespräche auf Türkisch klappen
aber schon ganz gut. Übersetzt gehen die ungefähr so:
»Öretmen Erhan.« (Ich Lehrerin Erhan.)
»Erhan hayir cok güzel English.« (Erhan nein sehr schön Englisch.)
»Erhan Englisch hayir, hayir.« (Erhan Englisch nein, nein. »Schlecht«
kenne ich noch nicht.)
»Erhan immer Handy.« (Handy ist universal verständlich.)
»Erhan Kunst cok güzel.« (Erhan Kunst sehr schön.)
Ich mache ein trauriges Gesicht. Mutter Erhan auch.
»Aber Erhan guter Junge.« (Ersguterjunge heißt Bushidos Platten -
label.)
»Memnum oldum Erhan.« (Sagt man eigentlich zur Begrüßung und
heißt soviel wie »ebenfalls angenehm«.)
Mutter wieder happy. Frau Freitag auch happy. Erhan auch happy.
Fertig.
Man kann sogar mit noch weniger Wörtern ein zufriedenstellendes
Elterngespräch am Telefon führen. Als Derya, ein Mädchen aus
meiner letzten Klasse, wieder einmal schwänzte, rief ich wütend
bei ihr zu Hause an und hatte gleich ihren Vater an der Strippe:
»Efendim.«
Ich war Arzt
Schlimm wird es bei Frau Freitag jedoch, wenn man nicht macht,
was sie sagt, oder wenn man gar nicht erst kommt. Wären wir
ein Betrieb, ich hätte nur noch einen Angestellten. Alle anderen
schwänzen, dass es nicht mehr feierlich ist. Meine Klasse besteht
aus chronisch Kranken, die außerdem ständig ganz wichtige
Termine auf jedem nur erdenklichen Amt haben. Natürlich immer
donnerstags, denn da haben sie zehn Stunden.
Freitag, zweite Stunde: »Mehmet, wo warst du gestern?«
»Ich hab Entschuldigung. Ich war Ausländerbehörde.«
»Behörde« und »Amt« - ihre Lieblingsworte, ach ja, und natürlich
Arzt. Aber irgendwann reicht's auch mal. »Mehmet, gib mir mal die
Telefonnummer von der Ausländerbehörde.«
»Hä?«
»Ich will da anrufen und mich beschweren, die dürfen dich da nicht
zehn Stunden festhalten. Das ist ein Skandal!« Mehmet gibt zu, dass
er nur am Vormittag dort war. Mittlerweile weiß ich, auf welchen
Ämtern man »voll lange warten musste, ich schwöre«, und wo man
einen Termin braucht: »Wir haben drei Stunden gewartet, und
dann mussten wir wieder gehen, weil wir keinen Termin hatten.«
Und natürlich der Arztbesuch. Den lieben sie. Warum sagt nie
jemand in der mündlichen Prüfung für den Realschulabschluss: »My
favourite hobby is football and Arztbesuch«?
Ich glaube, ich war in meiner eigenen Schulzeit vielleicht dreimal
beim Arzt - von Zahnarztterminen und Kieferorthopädenbesuchen
mal abgesehen. Aber meine lieben Kleinen bevölkern die Warte-
zimmer. Meine Klasse - ein Rentnerverein. Auch Arzttermine liegen
bei den Schülern meiner Klasse grundsätzlich donnerstags und
dauern dann den gesamten Vor- und Nachmittag.
»Warum gehst du nicht Montagnachmittag nach der Schule?«
»Da muss man so lange warten.«
Und da meine Klasse außerdem nachmittags so viel zu tun hat -
wahrscheinlich warten da noch viele weitere Behördengänge auf
sie -, können sie sich ihre Arzttermine nur auf die Vormittage legen.
Natürlich bin ich für eine ärztliche RundumdieUhr-Betreuung von
Schulkindern und um die Kosten für das Gesundheitssystem geht
es mir auch nicht, ich will einfach nur, dass meine Schüler im
Unterricht erscheinen. Aber die Kosten für die Allgemeinheit sind
auf jeden Fall ein beliebtes Thema im Lehrerzimmer. Lehrer haben
ja eigentlich zwei Jobs - im Klassenraum sind sie Lehrer, doch im
Lehrerzimmer sind sie vor allem Steuerzahler und Kosten über-
wacher. Schön, dass sich meine verbeamteten Kollegen so um die
gesetzliche Krankenkasse sorgen, denn ich bezweifle, dass meine
Schüler privat versichert sind.
War ein Schüler nicht beim Arzt oder bei einer Behörde, heißt das
noch lange nicht, dass er nicht fehlen kann. Und die selbstverfassten
Entschuldigungen sind doch sowieso schöner als nichtssagende
Atteste. Bei den Begründungen führen natürlich die starken Kopf -
schmerzen, gefolgt von Bauch- und Magenschmerzen, Schwindel,
Übelkeit und Fieber. Gerne genannt werden auch die Bein- und
Handschmerzen oder der starke Sonnenbrand. Meine absoluten
Favoriten sind allerdings die schon im Voraus angekündigten
Ferienverlängerungen.
»Frau Freitag, wir fahren aber schon am Montag nach Türkei.«
»In die Türkei. Aber Emre, da sind doch noch gar keine Sommer -
ferien.«
»Is doch egal.«
Und es geht auch mitten im Schuljahr. Reinhold, der mit seinen
Eltern als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen ist, erzählte
mir mitten im ersten Halbjahr: »Ich fahre morgen drei Wochen mit
meinem Vater nach Russland.«
»Aber Reinhold, wir haben doch gar keine Ferien.«
»Na und?«
Wenn die Schüler dann wieder in der Schule auftauchen, kommen
sie mit den schärfsten Entschuldigungen: »Mein Vater hat unsere
Pässe versteckt, und wir mussten zur Botschaft, und wir haben
keinen Rückflug aus Russland nach Deutschland bekommen.«
Und immer wieder gehen verschiedenste Fluggesellschaften pleite.
Schön auch: »Ich habe nicht unentschuldigt gefehlt. Ich habe
verschlafen. Was kann ich dafür?« Dann gibt es natürlich noch den
Scheißbus, die Scheiß-U-Bahn, die vergessene Tasche hier und
die liegengelassene Jacke dort. Oder den verlorenen Schlüssel
und die Geschwister, die immerzu irgendwohin gebracht oder
abgeholt werden müssen. Und das berühmte »Ich musste was
klären.« »Was klären« heißt nie was Gutes. Meistens werden
Differenzen mit den Fäusten »geklärt«, und darüber möchte man
als Lehrer eigentlich nichts Genaueres wissen.
Meine armen Schüler, die haben so viel zu tun. Ich wäre dafür,
ihnen die Anzahl der Wochenstunden zu kürzen. Oder sie sollen
einfach mal sagen, wie es wirklich ist: »Frau Freitag, ich schwör, ich
hatte echt kein Bock auf Schule.«
Fehlzeitenspitzenreiter in meiner Klasse ist Emre. Er fehlt eigentlich
mehr Stunden, als er da ist. In den letzten Jahren hat er nie irgendeine
Entschuldigung abgegeben, und dementsprechend sah auch
sein Zeugnis aus. Da er ziemlich schlau ist, schafft er trotzdem
immer mit Ach und Krach die Versetzung. Dieses Jahr habe ich ihn
endlich soweit, dass ich für die Hälfte seiner Absentien eine schriftliche
Entschuldigung erhalte. Er schreibt sie, und Mama setzt ein
krakeliges Geschmiere drunter. Emre gehört zu den Coolen meiner
Klasse. Er schreibt immer mit schwarzem Fineliner und bewegt
sich in Zeitlupe. Er denkt, er sei Tony Montana aus Scarface.
Am Mittwoch und Donnerstag war er nicht in der Schule. Freitag
kommt er in der ersten Stunde wortlos auf mich zu und überreicht
mir einen zehnmal gefalteten Zettel. Ah, denke ich, die Entschuldi-
gung für gestern und vorgestern. Aber weil ich mit dem Unterricht
beginnen möchte, stecke ich den Zettel erst mal ungelesen in die
Hosentasche.
In der Pause entfalte ich ihn und erwarte einen ausführlichen
Bericht, warum es Emre nicht möglich war, in den letzten zwei
Tagen das Bildungsangebot wahrzunehmen. Emre nimmt es mit
seinen Erklärungen immer sehr genau, und die Entschuldigungen
können sich schon mal über ein DIN-A4-Blatt erstrecken.
Ich lese und lese, aber statt der üblichen »Bauchschmerzen,
Schwindel und hohes Fieber« entziffere ich in Emres typischer
Fineliner-Schrift einen Entwurf für einen Raptext. »Nicht mit mir« -
eine Abrechnung mit Möchtegern-Rappern, die namentlich
genannt werden, mir aber unbekannt sind.
Ich lese den Text dreimal. Nichts reimt sich. »Scheine« und »bleibe«
ist doch kein sauberer Endreim. Kein klassisches Reimschema »ab
ab« oder »aa bb«. Alles »abcdefgh« und dann »jgkadftu«. Wie will
er das denn vortragen? Geht Rap auch ohne Reime? Sind die
Reime in der Mitte der Zeilen versteckt und erschließen sich nur bei
bestimmter Betonung? Ich lese den Text noch mal laut. Wippe mit
dem Kopf, leider habe ich keine Beats. Dann klingelt es, und ich
stecke den Zettel erst mal wieder ein.
Abends habe ich Besuch, ein Haufen Lehrerfreunde kommt
zum Essen. Als wir vollgefressen am Tisch rumhängen, fällt mir
der Text wieder ein, und ich zeige ihn meinen Freunden. Zum
Glück sind auch Musik- und Deutschlehrer dabei. Nachdem wir
den Inhalt ausführlich analysiert haben, wird wild über moderne
Reimformen diskutiert: »Emre fehlt noch der HOOK!«, stellt der
Musiklehrer fest.
Der Deutschlehrerfreund nimmt sich einen Stift und verbessert
die Rechtschreibfehler: »Ich nehme grün, das wirkt nicht so demotivierend.
Mach ich immer so.« Der Musiklehrer schlägt auf dem
Esstisch einen Beat und versucht wieder und wieder, den Text zu
rappen: »Da stimmt was nicht mit der Silbenanzahl. Vielleicht
sollte man die letzten beiden Wörter in der ersten Zeile weg -
lassen.« Nach einer Stunde haben wir das Lied fertig. Stolz lassen
wir es vom Musikkollegen vortragen. Wir sind mit unserem Ergeb-
nis sehr zufrieden. Emre wird sich freuen.
Fräulein Krise fragt: »Ob er schon gemerkt hat, dass ihm sein Text fehlt?«
»Bestimmt«, antwortet der Deutschlehrer. »Der sitzt jetzt zu Hause
und rappt seinen Entschuldigungszettel.«
Das Handy ist kein Herzschrittmacher!
»Niemand nimmt mir mein Handy ab! Niemand!«
»Aber wenn Frau Schwalle sagt, du sollst ihr das Handy geben,
dann musst du das auch machen!«, sage ich - betont ruhig. Frau
Schwalle steht neben mir vor dem Lehrerzimmer. Sie hat Samira
nach ihrer Stunde mitgeschleift, um sich bei mir zu beschweren.
Frau Schwalle unterrichtet in meiner Klasse Physik und bekommt
einfach kein Bein auf den Boden. Das Klingeln von Samiras Handy
- mitten in der Stunde - war nur der Tropfen, der das Fass von
diversen Physikkatastrophen endgültig zum Überlaufen brachte.
»Ich geb mein Handy aber nicht ab. Mir egal. Ich brauche mein
Handy immer bei mir. Ich kann ohne mein Handy nicht leben!«
Frau Schwalle sagt: »Ich hatte Samira zum Direktor geschickt, weil
sie sich weigerte das Handy abzugeben.«
»Samira warst du beim Schulleiter?«, frage ich. (Was soll sie da?,
frage ich mich.)
»Nein. War ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Was sollte ich denn da?«
»Tja, also...?« Ich weiß es auch nicht so genau.
Frau Schwalle triumphiert: Ȇber das Handyverbot sprechen und
über deinen Verstoß gegen die Schulordnung!«
Samira: »Ich gebe mein Handy niemandem. Nicht mal dem Schul -
leiter! Ist mir doch egal, was in der Hausordnung steht.«
Ich gucke Frau Schwalle an, dann Samira: »Also pass auf. Du hast
zwei Möglichkeiten: Entweder du gibst jetzt Frau Schwalle das
Handy und wenn du dich in der nächsten Stunde gut verhältst,
bekommst du es vielleicht zurück.«
Ich grinse Frau Schwalle an, die mit versteinertem Gesicht neben
mir steht. »Oder der Schulleiter muss dich in der nächsten Stunde
aus dem Unterricht holen und dir dein Handy abnehmen. Das hat
dann natürlich Konsequenzen: Suspendierung, Anruf zu Hause,
Tadel.«
Samira guckt auf den Boden. Grimmig. Wer Samira besser kennt,
würde ihr nie ein Handy oder überhaupt irgendetwas abnehmen.
An ihr kann man kein Exempel statuieren. Sie ist stur und eigensinnig,
und man darf sie nicht zur Feindin haben. Ja, man will es gar nicht
und muss es auch nicht. Samira ist eigentlich ein sehr vernünftiges
Mädchen. Cool und stark, sehr ehrgeizig, aber eben auch stur.
»Ich gebe mein Handy nicht ab«, sagt Samira und geht ohne uns
noch einmal anzusehen.
»Tja, Frau Schwalle, was nun?«
Ich bezweifle, dass der Schulleiter Samira in der folgenden Stunde
aus dem Unterricht holen wird. Wenn das in seiner Arbeitsplatz -
beschreibung stünde, dann müsste er wahrscheinlich den ganzen
Tag durchs Schulgebäude rennen. Da habe ich wohl etwas zu hoch
gepokert, aber etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Warum ist
Frau Schwalle auch so unsensibel und lässt sich auf diesen doofen
Streit ein. Jeder Konflikt mit Handys ist echt nervenaufreibend.
Als wir uns gerade umdrehen wollen, um ins Lehrerzimmer zu gehen,
steht plötzlich Samira vor uns. Sie sieht uns nicht an, steckt mir wortlos
das Handy in die Jackentasche und rennt weg. Ich über reiche es
glücklich strahlend Frau Schwalle: »Wenn Samira sich jetzt in der
nächsten Stunde benimmt, kannste ihr das Handy ja wiedergeben.
Würde ich so machen, aber das musst du entscheiden.«
Zufrieden gehe ich eine rauchen. Manchmal kommt es eben doch
anders, als man denkt.
Diese stÄÄndigen Überraschungen
machen mich echt fertig
Es regnet in Strömen. Ich denke: Na, wird wohl keiner zur ersten
Stunde kommen - es regnet, da könnten sie ja nass werden. Aber
um acht sind alle da und die Hälfte der Schüler hat einen Regen -
schirm, die andere trägt wasserdichte Übergangsjacken. Sonst
kommen meine Schüler bei Regen immer nur im Kapuzenpulli,
wenn sie denn überhaupt kommen.
In der ersten großen Pause berichtet mir Herr Werner, wie toll
meine Klasse gestern mitgemacht habe. Nicht nur vom Verhalten
her, auch ihre Beiträge seien super gewesen. Frau Hinrich steht
daneben und bekräftigt, dass alle pünktlich und lieb waren.
Normaler weise werde ich von Frau Hinrich, die meine Klasse in
Deutsch unterrichtet, immer mit der Anzahl der fehlenden Schüler
begrüßt. »Guten Morgen Frau Hinrich.»-« Frau Freitag, wieder haben
sieben Schüler gefehlt, und drei kamen zu spät.«
In der zweiten großen Pause führe ich ein Elterngespräch mit einer
Mutter, die sich selber eingeladen hat und mir damit leider meine
Pause nimmt. Allerdings verläuft das Gespräch gut und endet
mit vielen Versprechungen und gegenseitig vereinbarten Kontroll-
mechanismen: Ich soll in Zukunft immer sofort anrufen, wenn was
ist. Der Sohn wirkt in der Schule so, als hätte er keine Eltern, aber
die Mutter ist sehr interessiert am schulischen Werdegang ihres
Kindes - trotz großer Verständigungsprobleme. Sie spricht kaum
Deutsch, hat dafür aber gleich eine Übersetzerin zum Gespräch
mitgebracht. Das ist bei uns an der Schule nichts Außer gewöhn-
liches. Man freut sich besonders, wenn die Übersetzer schon
volljährig sind.
Aber dann der krönende Abschluss des Tages - Kunstunterricht in
meiner Klasse. Während die anderen arbeiten, hockt sich Esra
neben das Lehrerpult. Esra trägt Kopftuch, aber nicht dasselbe,
sondern jeden Tag ein anderes und immer mit Glitzer und farblich
abgestimmtem Schmuck dazu. Mein Freund nennt diesen Stil
Disco-Islam.
»Frau Freitag, Samira und ich lesen doch gerade Anne Frank und
das ist ja sooo schrecklich, wie die die Juden behandelt haben.«
Ich erinnere mich dunkel daran, dass die Deutschlehrerin mit
meiner Klasse ein neues Buch anfangen wollte: »Lest ihr das jetzt
in Deutsch?«
»Nein, das haben wir uns aus der Bücherei ausgeliehen. Und das
ist so ein gutes Buch. Aber alles so schrecklich. Die Juden durften
ja nicht mehr rausgehen abends.«
»Ja, ich weiß. Esra, verstehst du jetzt, warum wir nicht wollen,
dass ihr ›Jude‹ als Schimpfwort benutzt? Weil die Deutschen doch
damals so gemein zu den Juden waren.«
»Ja, ich mach das auch nicht mehr.« Damit trottet sie wieder an
ihren Platz. Ich starre ihr verwirrt hinterher. »Weil die so gemein
waren« - habe ich das eben echt gesagt? Leicht untertrieben, aber
egal, Hauptsache sie lesen. Und dann auch noch Anne Frank und
zwar freiwillig - wer hätte das gedacht?
Ist Luxemburg ein Bundesland??
Geschichtlich scheine ich aber auch nicht alles zu verstehen, denn
auf die Frage »Wer hat denn die Mauer gebaut?« bekomme ich in
jeder Klasse immer die gleiche Antwort. »Hitler hat die Mauer
gebaut.«
In der zweiten großen Pause bin ich endgültig verwirrt. Können
sich so viele Schüler irren? Habe ich irgendwas falsch verstanden?
Hat Hitler die Mauer gebaut? Ist Luxemburg ein Bundesland? Sind
München und Stuttgart Bundesländer? Wie kommen die Schüler
darauf? Warum müssen sie die deutschen Bundesländer nicht
auswendig lernen? Sollen meine Schüler wirklich dumm sterben?
Machen wir Lehrer uns nicht strafbar, wenn wir sie so unwissend
entlassen und ihnen auch noch bescheinigen, dass sie zehn Jahre
unsere Schule besucht haben?
In einer 10. Klasse: »So, Erdal, was weißt du denn über den Mauer fall?«
»Gar nix. Interessiert mich nicht.«
»Aber du wohnst doch in Deutschland. Das ist unsere Geschichte.
Da musst du doch was drüber wissen. Stell dir mal vor, du bist
irgendwo im Ausland und sagst, du kommst aus Deutschland.
Und dann fragt dich jemand nach der Mauer, und du hast keine
Ahnung, das wäre doch total peinlich.«
»Frau Freitag. Da war ich noch gar nicht geboren!«
Ich versuche es wieder einmal mit den Bundesländern. »Miriam,
komm, sag mal ein paar Bundesländer.«
»Bayern.«
»Ja, super. Bayern, gut. Komm, dir fallen doch bestimmt noch
mehr ein.« Nix.
»Mann, Frau Freitag!«
»Ja, was denn, Miriam. Stell dir mal vor, du wirst das beim Ein-
stellungsgespräch gefragt. Du kriegst doch gar keinen Job, wenn
du so was nicht weißt.«
»Kein Problem, Frau Freitag, ich heirate einen reichen Mann.«
Langsam bin ich genervt: »Aber Miriam, welcher reiche Mann
möchte denn eine dumme Frau heiraten.« Miriam schmollt. Ich bin
mir auch gar nicht sicher, ob sich da nicht der eine oder andere
reiche Mann finden ließe. Miriam ist sehr hübsch und kann
un heimlich verführerisch gucken, da stünden ihre Aktien auf dem
Heiratsmarkt bestimmt gut.
Wenn es Kampf gibt
Wenn es Kampf gibt, dann liegt was in der Luft. Wenn es Kampf
gibt, dann wird getuschelt. Wenn es Kampf gibt, sind alle todernst,
niemand lacht. Wenn es Kampf gibt, ist was los.
Wenn Mädchen kämpfen, schwelen Konflikte. Wenn Mädchen
kämpfen, werden alte Sachen aufgekocht. Wenn es Kampf gibt,
dann weil die eine Scheiße labert, weil sie hinterm Rücken redet,
weil sie Mütter beleidigt, weil sie uns sagt, wir seien die größten
Bitches auf der Schule, weil sie mir Missgeburt und Hurentochter
sagt.
Wenn Mädchen streiten, müssen sich alle einmischen, weil sie
meine beste Freundin ist, weil ich sie zurückhalten wollte, weil sie
mich auch beleidigt hat. Ich wollte nur mit ihr reden, warum sie so
macht. Sie kennt mich doch gar nicht. Ich kenne diese Mädchen
gar nicht. Warum erzählt sie so Scheiße über mich? Ich wollte nur
reden, sie hat mir eine geklatscht. Sie hat mir Schelle gegeben. Ich
habe ihr nur ein Box verpasst. Ich wollte keinen Streit. Ich wollte
nur reden. Warum hat die sich eingemischt. Die hatte gar nichts
mit der ganzen Sache zu tun.
Wenn es Kampf gibt, dann in der Pause. Kampf ohne Zuschauer
gibt es nicht. Kampf zieht magnetisch an, alle stehen außen rum
und schreien: »Kampf, Kampf, Kampf!«
Die eine stand da und hat auch zugetreten, die hatte gar nichts
damit zu tun. Wir wollten nur reden, dann hat sie meine Haare
gezogen. Ich wollte nur meine Freundin helfen.
Wenn es Kampf gibt, sitze ich stundenlang mit der Schulleitung
zusammen. Je mehr man hört, desto verwirrender wird alles.
Wenn es Kampf gibt, dann wollten alle nur schlichten, und ein
Mädchen liegt weinend im Krankenhaus.
Körperliche Auseinandersetzungen finden meistens in den großen
Pausen auf dem Hof statt, während wir Lehrer gemütlich bei
Kaffee und Salamibrötchen über unsere Rückenschmerzen klagen
oder vom Urlaub erzählen. Leider kann man aus dem Lehrer -
zimmer direkt auf den Hof gucken. Ab und zu kommt es dann
eben vor, dass sich plötzlich eine riesengroße Menschentraube
bildet. Alle Schüler rennen dann über den Hof dorthin. Ich denke
immer: Vielleicht machen die ein Breakdancebattle und stehen nur
um die Tänzer rum.
Wer die Schülermasse zuerst sieht, muss auch handeln: »Oh, da
braut sich was zusammen.« Einige Kollegen lassen sich nie aus
der Ruhe bringen: »Ich hab Pause.« Als Klassenlehrer betet man
sofort: Bitte, lass es nicht Mehmet sein oder Abdul, bitte, lieber
Gott, mach, dass Samira den Streit von neulich bereits friedlich mit
den Mädchen aus der Parallelklasse geklärt hat.
Und dann gehen wir raus. Gemeinsam mit den Kollegen, die auf
dem Hof Aufsicht haben, nähern sich von allen Seiten die Lehr-
körper. Einige Schüler weichen bereits bei unserem Anblick
zurück. Aus Erfahrung wissen sie, jetzt ist die Action gleich vorbei.
Dann schieben wir Lehrer uns durch die Schülermasse und sehen
entweder in sich verknotete Kämpfer auf dem Boden oder zwei
Kontrahenten, die sich mit wutverzerrtem Blick Gemeinheiten entgegenschleudern:
»Ich bring dich um!« - »Warte nur bis nachher,
ich hole meine Brüder und Kusengs!«
Festgehalten werden die beiden Kämpfer von ruhigen, starken
Tonangebern. Klassenchefs, die Autorität haben auf dem Hof.
Diese Schüler wissen genau, wann sie die Kämpfenden aus ein-
anderzerren müssen. Sie beobachten den Kampf eine Weile, und
wenn es zu brutal wird oder wenn sich Lehrer nähern, dann
trennen sie die Streitenden voneinander.
Sobald wir Lehrer die Kontrahenten erreicht haben, klären wir, wer
in den Konflikt verwickelt war. Ob es Verletzte gibt und so weiter.
Wir nehmen die Beteiligten mit, manchmal auch ein paar Zeugen
und gehen mit ihnen ins Sekretariat. Damit ist für die anderen
Schüler die Sache beendet und sie erinnern sich daran, dass in
der Zwischenzeit bereits der Unterricht begonnen hat.
Findet man die armen Klassenlehrer der Beteiligten, übergibt man
die Kampfhähne und freut sich, nichts weiter mit der Sache zu tun
zu haben. Ist man selbst der Klassenlehrer, verflucht man dieses
Amt und schwört sich, dass man nie wieder eine Klasse übernehmen
wird, denn für den Klassenlehrer folgen endlose
Befragungen, Telefonate mit Eltern, mit der Polizei, man muss dann
Aktennotizen anfertigen und Zeugenaussagen aufschreiben. Das
kostet Kraft und frisst jede Pause und Freistunde. Und das
Schlimme: Die, die sich gestern noch geschlagen haben, sieht
man am nächsten Tag wieder lachend gemeinsam über den Hof
schlendern.
Einfach mal ein Krankenhaus Besuchen
Wenn man sich mit der Klasse aus dem Schulgebäude wagt,
bleibt es nicht aus, dass etwas passiert. Wir sind einen Tag lang zu
Besuch in Werkstätten, in denen den Schülern die raue Arbeitswelt
näher gebracht werden soll.
Eigentlich hatte ich mich schon auf das Mittagessen gefreut, da
kommt Mehmet plötzlich blutend an. Geschulte Augen stellen fest,
dass er auch einen kleinen Fuß marsch aushalten wird, und so
gehen wir los zum Kranken haus. Mehmet ist noch nicht so lange
in meiner Klasse. Erst war er auf einer Gymnasiumschule, dann an
einer Realschule, dann an einer anderen Realschule, und jetzt ist
er bei uns gelandet. So ganz schlau werde ich noch nicht aus ihm.
Ich habe den Eindruck, dass er nicht ganz sauber ist.
Mit seiner Lehrerin alleine unterwegs zu sein - diese Situation ist
für ihn wahrscheinlich unangenehmer als für mich. Spätestens im
Warteraum wird klar: Ich bin nicht Mehmets Mutter. Und das liegt
nicht nur daran, dass er mich siezt, sondern auch daran, dass wir
uns angeregt unterhalten. Ich beginne unseren kleinen Ausflug
mehr und mehr zu genießen.
Das Krankenhauspersonal guckt Mehmet an, als sei er ein Außer -
irdischer. Wahrscheinlich verarzten die dort nicht viele Jugendliche
mit Migrationshintergrund. Gemäß der Gepflogenheiten lässt man
uns lange warten. Dann bringt uns eine Schwester in einen sterilen
Untersuchungsraum. Mehmet: »Voll Operationssaal und so. Mit
Fernseher und so.«
Ich sage der Schwester, dass mir schlecht wird in diesem Raum.
Ich schlage vor, dass Mehmet sich auf die Liege legt, damit ich
mich auf den einzigen Stuhl im Raum setzen kann. Nun liegt er da,
und ich sitze an seinem Fußende. Es entsteht eine therapeutische
Atmosphäre, in der wir über Gott und die Welt plaudern. Streng
genommen könnte man sagen, dass ich ihn ausfrage, da ich die
Gesprächsthemen bestimme. In der Stunde, die wir in diesem
Raum zusammen warten, verändert sich mein bisheriges Bild von
Mehmet.
Ich hätte nie gedacht, dass er gut kochen kann und sogar backt.
Er erklärt mir die Zubereitung eines Pilzgerichtes mit Sahne so
detailliert, dass ich ihn bitten muss über etwas anderes zu reden,
da ich dem Hungertod nahe bin.
Wir reden über Mode. Mehmet beschreibt, nach welchen Gesichtspunkten
er seine Klamotten kauft. »Also, die Schuhe müssen zu
den Hosen passen und die Jacke zum Käppi.« Wir reden über
Mädchen. »Mit den Mädchens kann man sich viel besser unterhalten
als wie mit den Jungs. Wir gehen immer spazieren, dies, das.«
Wir reden über die Pokerräuber. Das waren mehrere Jugendliche
mit Migrationshintergrund, die eigentlich auch auf unsere Schule
hätten gehen können. In die Presse kamen sie, weil sie mit Pistolen
und Macheten ein großes Pokerturnier überfielen und sich dabei
unheimlich blöd anstellten. Die Polizei sagte damals: »Die Dumm -
heit hat eine neue Dimension erreicht.«
Ich sage: »Einen roten Pulli anzuziehen, wenn man einen Überfall
plant, ist doch wohl sehr bekloppt, oder? Vielleicht haben die sich
ja auch noch Namensschilder gemacht.«
Mehmet erstaunt: »Ja, haben sie?«
Ich erfahre interessante Details: »Wir haben auch eine Machete.
Für die Küche. Meine Mutter kocht damit.« Ich sehe Mehmets
Mutter vor mir, wie sie mit Kopftuch und langem Mantel in einer
kleinen Küche steht und eine Machete über dem Kopf schwingt.
Wir einigen uns darauf, dass sie ein Hackebeil benutzt und keine
Machete.
Ich spreche noch seinen missglückten Solariumbesuch von
neulich an. Mehmet hatte danach Verbrennungen dritten Grades.
Er sagt, jetzt muss man seinen Ausweis vorzeigen. Eigentlich darf
man ja erst ab achtzehn unters Solarium.
Mehmet erzählt mir, dass er zurzeit vom Unglück verfolgt sei. »Ich hatte
diese Marco-Polo-Jacke, kennen Sie? Und die habe ich in M gekauft.
Und dann hat meine Mutter die gewaschen mit 70 Grad oder 170
Grad, und dann war sie XS. Und dann das mit dem Solarium und dann
beim Friseur, er schneidet mir die Augenbrauen mit der Maschine, und
alles wird voll schief. Und Frau Freitag, gestern, ich kaufe mir ein Eis,
mach es auf, und das ganze Eis fällt runter.«
Und jetzt liegt er verletzt auf diesem Krankenhausbett und muss
sich stundenlang mit seiner Lehrerin abgeben. Er ist wirklich vom
Pech verfolgt.
Irgendwann kommt ein Arzt und guckt Mehmet kurz an. Dann
versorgt eine Schwester Mehmets Wunde. Der Arzt verabschiedet
sich mit den Worten: »Danke, dass Sie nicht mit der Feuerwehr
gekommen sind und somit das Gesundheitssystem nicht unnötig
belastet haben.«
Ich sage, dass ich versucht hätte, einen Hubschrauber zu bestellen,
und das würde ich jederzeit wieder tun, denn ich möchte nicht
später verklagt werden, weil der ganze Arm meines Schülers
amputiert werden musste.
Frau Freitag hat voll Bodyguard
Nach den langweiligsten Ferien freue ich mich immer auf den ersten
Schultag. Und auch diesmal muss ich sagen: Hat Spaß gemacht.
Ich war gleich wieder voll drin.
»Frau Freitag, wen finden Sie besser: Mehrzad oder Menowin?«
»Ich habe keinen Bleistift mit.«
»Können wir nicht was anderes machen? Die Aufgabe ist langweilig.«
»Kann ich aufs Klo?«
Als wäre nichts gewesen. Nur war ich vielleicht etwas erholter als
sonst und habe dementsprechend wenig rumgemeckert. Aller -
dings kam ich in der letzten Stunde schon ganz nah an meine
Grenzen. Jeden Donnerstag unterrichte ich in der sechsten und
siebten Stunde Kunst in einer lebhaften 7. Klasse. Die sind alle sehr
süß, aber gehen mir wahnsinnig auf die Nerven. Siebte Stunde und
siebte Klasse sind nicht kompatibel. Vorsorglich hatte ich mir
schon Putzzeug besorgt, um am Ende der Doppelstunde einen
Phasenwechsel einzubauen. Ein guter Lehrer baut viele Phasen -
wechsel in seinen Unterricht ein. Also erst was Mündliches, dann
was Schriftliches und so weiter. Und eine gute Stunde hat auch
immer ein Lernziel. Lernziel heute: Tische von Frau Freitag saubermachen.
Allerdings kam alles ganz anders.
Plötzlich geht die Tür auf, und Samira aus meiner Klasse kommt
rein. Die 7. Klasse, die ich noch die letzten zwanzig Minuten im
Zaum zu halten versuche, gibt ein grauenhaftes Bild ab: lautes
Rumgekreische, Murat am Straftisch direkt neben der Tafel schaukelt
mit dem Oberkörper vor und zurück und rappt dabei. Alle
Mädchen stecken die Köpfe zusammen und quasseln ohne Pause.
Der adipöse Dirk hat sein dickes Bein auf dem Nachbarstuhl
gelegt, sich zurückgelehnt und diskutiert lautstark mit der ganze
Klasse. Dschingis und Ali unterhalten sich quer durch den Raum
über ihre Penisgrößen. Hassan latscht durch die Klasse und
schmeißt Federtaschen runter.
Samira setzt sich neben mich ans Pult und erzählt, dass sie aus
dem Chemieunterricht geflogen sei. Dann beobachtet sie stumm
das bunte Treiben. Plötzlich springt sie auf und schreit: »SEID
DOCH MAL LEISE! SPINNT IHR? IHR HABT UNTERRICHT. WAS
SEID IHR FÜR EINE KLASSE?«
Die Schüler sind sofort mucksmäuschenstill. Dann zeigt sie auf
den dicken Dirk: »Ey, du da hinten. Du denkst wohl, du wärst voll
der Coole.«
Dirk: »Meinst du mich?«
»Nein, ich meine nicht dich, ich meine den hinter dir.« Hinter Dirk
sitzen Susi und Emma. »Natürlich meine ich dich! Sag mal, wie
benimmst du dich hier eigentlich?«
Zu mir: »Frau Freitag, ist der immer so?« Ich nicke.
Zu Dirk: »Merkst du nicht, dass du die ganze Klasse kaputt
machst? Du denkst, du wärst cool? Cool bist du, wenn du hier in
der 10. Klasse den Realschulabschluss geschafft hast.«
Dann zu allen: »Ihr könnt euch doch nicht so benehmen! Denkt ihr,
nur weil Frau Freitag nett ist, könnt ihr hier so einen Larry machen?
Wenn man in der 7. Klasse schlecht ist, schafft man auch die
andern Klassen nicht. Was wollt ihr denn mal werden? Ihr braucht
doch einen Schulabschluss.« Allgemeines Schweigen.
»Sie müsste voll in unserer Klasse sein, abó«, flüstert ein Mädchen.
Dschingis sieht mein Grinsen: »Guck, wie Frau Freitag grinst. Sie
hat voll Bodyguard.« Und Recht hat er.
Ich lasse Samira die Klasse bis zum Klingeln in Schach halten.
Inklusive: »Frau Freitag hat den Unterricht noch nicht beendet!
Also, setzt euch alle wieder hin!« Beim Rausgehen werfen die
Siebtklässler noch einen ehrfürchtigen Blick auf Samira, die ihren
Auftritt genossen hat.
Wir gehen gemeinsam die Treppe runter: »Sag mal, Samira, willst
du nicht Lehrerin werden? Das hast du so gut gemacht eben.«
»Ich Lehrerin? Abó! Mit solchen Spastenkindern - niemals!«
Schimpfwörterkunde
Die Schüler haben ein neues Wort. Das Wort heißt: Knecht. Wer
früher ein Opfer, ein Hund, eine Missgeburt oder ein Spast war, ist
heute ein Knecht. Gebraucht wird dieser Ausdruck einfach nur als
eine Art Feststellung.
Erol zu Mohamad: »Hakan glaubt, dass es World of Warcraft auf
Türkisch gibt.« Mohamad: »Knecht.«
Oder Kevin zu Sabine: »Stefan geht zu Mathe.« Sabine: »Knecht.«
Nun könnte man denken, schön, dass die Schüler wieder alte
deutsche Begrifflichkeiten benutzen. Nach Knecht kommt vielleicht
noch Magd, Abt oder Amme. Sind sie also endlich in Deutschland
angekommen. Benutzen mittelalterliche Worte, vermutlich ohne es
zu merken. Ich schätze, dass meine Schüler gar nicht wissen, was
ein Knecht ist. Leider habe ich sie noch nicht gefragt, aber ich bin
schon sehr gespannt, welche Definitionen sie mir anbieten werden.
Unsere Schüler haben nämlich die Angewohnheit Wörter zu verwenden,
deren Bedeutung sie nicht kennen oder noch besser: die
sie völlig falsch deuten.
Eine der Lieblingsbeschimpfungen aller Schüler ist ja Spast. Jedes
Mal, wenn ich das Wort höre, frage ich die Schüler: »Weißt du
denn, was ein Spast ist?« Und ich bekomme immer die gleiche
Antwort: »Ja, klar. Ein Spast ist ein kleiner Vogel.«
Da steht ein riesiger arabischer Schüler vor mir, wahrscheinlich mit
Totschläger und Messer in der Tasche und einer kiloschweren
Schüler- und Polizeiakte, und denkt, ein Spast sei ein kleiner Vogel.
Und dann benutzt er »kleiner Vogel« auch noch allen Ernstes als
Schimpfwort.
»Soso, meinst du wirklich, dieses Schimpfwort ist so schlimm,
dass sich jemand darüber ärgert?«
Meistens fällt ihnen darauf nichts mehr ein, und sie fragen etwas
verunsichert: »Was heißt es denn?«
»Na, kleiner Vogel heißt es jedenfalls nicht. Aber benutz ruhig weiter
Wörter, deren Bedeutung du nicht kennst, das zeugt von unheim -
licher Intelligenz.«
Damit lasse ich sie stehen, und wahrscheinlich flüstern sie mir ein
»Ist die hässlich!« oder »Hurentochter!« hinterher. Was eine Huren -
tochter ist, wissen sie alle.
Integration fetzt!
An meiner Schule haben wir mit der Integration überhaupt kein
Problem. Fröhlich integrieren wir seit Jahren und sind damit sehr
erfolgreich. Beim letzten Ramadan übergab sich Susi in der Mathestunde,
weil ihr vom Fasten schlecht geworden war, und Rainer
kam im März vor dem Unterricht mit den Worten auf mich zu: »Ich
heiße ab jetzt Mohamed.« Stoisch reagierte er nicht mehr auf seinen
Kartoffelnamen, spielte unentwegt mit seinem Gebetskettchen
und las ständig in einer deutschen Übersetzung des Korans.
Deutsche heißen in unserer Schule übrigens grundsätzlich Kartoffeln.
Die Schüler nennen uns zwar nicht dauernd so, aber wenn jemand
sagt: »Das war die Kartoffel in Ihrer Klasse«, dann weiß jeder, dass
der Schüler keinen Migrationshintergrund vorweisen kann.
Mein Kollege Herr Werner sagte neulich: »Ich bin der einzige
Deutsche in meiner Klasse.« Also, ich weiß gar nicht, was alle haben.
Integrieren ist doch easy. Der Trick ist einfach, eine moslemische
Mehrheitsgesellschaft zu schaffen.
7. Klasse, Vertretungsunterricht. Ich lasse die Schüler was zeichnen.
Ein Gruppentisch ist ziemlich laut. Ich höre mehrfach die arabischen
Wörter »Chara« (Scheiße) und »Scharmuta« (Hure). Irgendwann reicht
es mir. Ich stürze an den Tisch und schreie »Challas!« (Lass das). Die
Jungen gucken mich verwirrt an. Ich sage: »Istrele!« (Arbeitet).
Keiner reagiert. »Was ist, verstehst du das nicht?«, frage ich einen
von ihnen und gucke böse. »Ich kann kein Arabisch, ich bin Kurde.«
»Aber du«, wende ich mich an den Nächsten. »Du verstehst das doch.«
»Nee, ich bin aus Polen.«
Der Dritte war Türke, und dann saß an dem Tisch noch der Sohn
einer thailändischen Mutter, der jedoch nur Deutsch sprach. Aber
auf Arabisch fluchen, das geht. Wenn wir die Schüler nicht da ab -
holen, wo sie sind, dann machen das eben die Mitschüler. Und
irgendwie ist es doch auch schön, wenn sie was lernen. Wie könnte
ich mich als Fremdsprachenlehrerin nicht dafür begeistern, wenn
sich meine Schüler freiwillig mit anderen Kulturen auseinandersetzen?
Mein Türkisch wird von Tag zu Tag besser und mit dem Arabisch -
na ja, ich arbeite dran. Is auch schwer, vallah! Diese ch-Laute sind
eher was für Schweizer. Elterngespräche auf Türkisch klappen
aber schon ganz gut. Übersetzt gehen die ungefähr so:
»Öretmen Erhan.« (Ich Lehrerin Erhan.)
»Erhan hayir cok güzel English.« (Erhan nein sehr schön Englisch.)
»Erhan Englisch hayir, hayir.« (Erhan Englisch nein, nein. »Schlecht«
kenne ich noch nicht.)
»Erhan immer Handy.« (Handy ist universal verständlich.)
»Erhan Kunst cok güzel.« (Erhan Kunst sehr schön.)
Ich mache ein trauriges Gesicht. Mutter Erhan auch.
»Aber Erhan guter Junge.« (Ersguterjunge heißt Bushidos Platten -
label.)
»Memnum oldum Erhan.« (Sagt man eigentlich zur Begrüßung und
heißt soviel wie »ebenfalls angenehm«.)
Mutter wieder happy. Frau Freitag auch happy. Erhan auch happy.
Fertig.
Man kann sogar mit noch weniger Wörtern ein zufriedenstellendes
Elterngespräch am Telefon führen. Als Derya, ein Mädchen aus
meiner letzten Klasse, wieder einmal schwänzte, rief ich wütend
bei ihr zu Hause an und hatte gleich ihren Vater an der Strippe:
»Efendim.«
Ich war Arzt
Schlimm wird es bei Frau Freitag jedoch, wenn man nicht macht,
was sie sagt, oder wenn man gar nicht erst kommt. Wären wir
ein Betrieb, ich hätte nur noch einen Angestellten. Alle anderen
schwänzen, dass es nicht mehr feierlich ist. Meine Klasse besteht
aus chronisch Kranken, die außerdem ständig ganz wichtige
Termine auf jedem nur erdenklichen Amt haben. Natürlich immer
donnerstags, denn da haben sie zehn Stunden.
Freitag, zweite Stunde: »Mehmet, wo warst du gestern?«
»Ich hab Entschuldigung. Ich war Ausländerbehörde.«
»Behörde« und »Amt« - ihre Lieblingsworte, ach ja, und natürlich
Arzt. Aber irgendwann reicht's auch mal. »Mehmet, gib mir mal die
Telefonnummer von der Ausländerbehörde.«
»Hä?«
»Ich will da anrufen und mich beschweren, die dürfen dich da nicht
zehn Stunden festhalten. Das ist ein Skandal!« Mehmet gibt zu, dass
er nur am Vormittag dort war. Mittlerweile weiß ich, auf welchen
Ämtern man »voll lange warten musste, ich schwöre«, und wo man
einen Termin braucht: »Wir haben drei Stunden gewartet, und
dann mussten wir wieder gehen, weil wir keinen Termin hatten.«
Und natürlich der Arztbesuch. Den lieben sie. Warum sagt nie
jemand in der mündlichen Prüfung für den Realschulabschluss: »My
favourite hobby is football and Arztbesuch«?
Ich glaube, ich war in meiner eigenen Schulzeit vielleicht dreimal
beim Arzt - von Zahnarztterminen und Kieferorthopädenbesuchen
mal abgesehen. Aber meine lieben Kleinen bevölkern die Warte-
zimmer. Meine Klasse - ein Rentnerverein. Auch Arzttermine liegen
bei den Schülern meiner Klasse grundsätzlich donnerstags und
dauern dann den gesamten Vor- und Nachmittag.
»Warum gehst du nicht Montagnachmittag nach der Schule?«
»Da muss man so lange warten.«
Und da meine Klasse außerdem nachmittags so viel zu tun hat -
wahrscheinlich warten da noch viele weitere Behördengänge auf
sie -, können sie sich ihre Arzttermine nur auf die Vormittage legen.
Natürlich bin ich für eine ärztliche RundumdieUhr-Betreuung von
Schulkindern und um die Kosten für das Gesundheitssystem geht
es mir auch nicht, ich will einfach nur, dass meine Schüler im
Unterricht erscheinen. Aber die Kosten für die Allgemeinheit sind
auf jeden Fall ein beliebtes Thema im Lehrerzimmer. Lehrer haben
ja eigentlich zwei Jobs - im Klassenraum sind sie Lehrer, doch im
Lehrerzimmer sind sie vor allem Steuerzahler und Kosten über-
wacher. Schön, dass sich meine verbeamteten Kollegen so um die
gesetzliche Krankenkasse sorgen, denn ich bezweifle, dass meine
Schüler privat versichert sind.
War ein Schüler nicht beim Arzt oder bei einer Behörde, heißt das
noch lange nicht, dass er nicht fehlen kann. Und die selbstverfassten
Entschuldigungen sind doch sowieso schöner als nichtssagende
Atteste. Bei den Begründungen führen natürlich die starken Kopf -
schmerzen, gefolgt von Bauch- und Magenschmerzen, Schwindel,
Übelkeit und Fieber. Gerne genannt werden auch die Bein- und
Handschmerzen oder der starke Sonnenbrand. Meine absoluten
Favoriten sind allerdings die schon im Voraus angekündigten
Ferienverlängerungen.
»Frau Freitag, wir fahren aber schon am Montag nach Türkei.«
»In die Türkei. Aber Emre, da sind doch noch gar keine Sommer -
ferien.«
»Is doch egal.«
Und es geht auch mitten im Schuljahr. Reinhold, der mit seinen
Eltern als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen ist, erzählte
mir mitten im ersten Halbjahr: »Ich fahre morgen drei Wochen mit
meinem Vater nach Russland.«
»Aber Reinhold, wir haben doch gar keine Ferien.«
»Na und?«
Wenn die Schüler dann wieder in der Schule auftauchen, kommen
sie mit den schärfsten Entschuldigungen: »Mein Vater hat unsere
Pässe versteckt, und wir mussten zur Botschaft, und wir haben
keinen Rückflug aus Russland nach Deutschland bekommen.«
Und immer wieder gehen verschiedenste Fluggesellschaften pleite.
Schön auch: »Ich habe nicht unentschuldigt gefehlt. Ich habe
verschlafen. Was kann ich dafür?« Dann gibt es natürlich noch den
Scheißbus, die Scheiß-U-Bahn, die vergessene Tasche hier und
die liegengelassene Jacke dort. Oder den verlorenen Schlüssel
und die Geschwister, die immerzu irgendwohin gebracht oder
abgeholt werden müssen. Und das berühmte »Ich musste was
klären.« »Was klären« heißt nie was Gutes. Meistens werden
Differenzen mit den Fäusten »geklärt«, und darüber möchte man
als Lehrer eigentlich nichts Genaueres wissen.
Meine armen Schüler, die haben so viel zu tun. Ich wäre dafür,
ihnen die Anzahl der Wochenstunden zu kürzen. Oder sie sollen
einfach mal sagen, wie es wirklich ist: »Frau Freitag, ich schwör, ich
hatte echt kein Bock auf Schule.«
Fehlzeitenspitzenreiter in meiner Klasse ist Emre. Er fehlt eigentlich
mehr Stunden, als er da ist. In den letzten Jahren hat er nie irgendeine
Entschuldigung abgegeben, und dementsprechend sah auch
sein Zeugnis aus. Da er ziemlich schlau ist, schafft er trotzdem
immer mit Ach und Krach die Versetzung. Dieses Jahr habe ich ihn
endlich soweit, dass ich für die Hälfte seiner Absentien eine schriftliche
Entschuldigung erhalte. Er schreibt sie, und Mama setzt ein
krakeliges Geschmiere drunter. Emre gehört zu den Coolen meiner
Klasse. Er schreibt immer mit schwarzem Fineliner und bewegt
sich in Zeitlupe. Er denkt, er sei Tony Montana aus Scarface.
Am Mittwoch und Donnerstag war er nicht in der Schule. Freitag
kommt er in der ersten Stunde wortlos auf mich zu und überreicht
mir einen zehnmal gefalteten Zettel. Ah, denke ich, die Entschuldi-
gung für gestern und vorgestern. Aber weil ich mit dem Unterricht
beginnen möchte, stecke ich den Zettel erst mal ungelesen in die
Hosentasche.
In der Pause entfalte ich ihn und erwarte einen ausführlichen
Bericht, warum es Emre nicht möglich war, in den letzten zwei
Tagen das Bildungsangebot wahrzunehmen. Emre nimmt es mit
seinen Erklärungen immer sehr genau, und die Entschuldigungen
können sich schon mal über ein DIN-A4-Blatt erstrecken.
Ich lese und lese, aber statt der üblichen »Bauchschmerzen,
Schwindel und hohes Fieber« entziffere ich in Emres typischer
Fineliner-Schrift einen Entwurf für einen Raptext. »Nicht mit mir« -
eine Abrechnung mit Möchtegern-Rappern, die namentlich
genannt werden, mir aber unbekannt sind.
Ich lese den Text dreimal. Nichts reimt sich. »Scheine« und »bleibe«
ist doch kein sauberer Endreim. Kein klassisches Reimschema »ab
ab« oder »aa bb«. Alles »abcdefgh« und dann »jgkadftu«. Wie will
er das denn vortragen? Geht Rap auch ohne Reime? Sind die
Reime in der Mitte der Zeilen versteckt und erschließen sich nur bei
bestimmter Betonung? Ich lese den Text noch mal laut. Wippe mit
dem Kopf, leider habe ich keine Beats. Dann klingelt es, und ich
stecke den Zettel erst mal wieder ein.
Abends habe ich Besuch, ein Haufen Lehrerfreunde kommt
zum Essen. Als wir vollgefressen am Tisch rumhängen, fällt mir
der Text wieder ein, und ich zeige ihn meinen Freunden. Zum
Glück sind auch Musik- und Deutschlehrer dabei. Nachdem wir
den Inhalt ausführlich analysiert haben, wird wild über moderne
Reimformen diskutiert: »Emre fehlt noch der HOOK!«, stellt der
Musiklehrer fest.
Der Deutschlehrerfreund nimmt sich einen Stift und verbessert
die Rechtschreibfehler: »Ich nehme grün, das wirkt nicht so demotivierend.
Mach ich immer so.« Der Musiklehrer schlägt auf dem
Esstisch einen Beat und versucht wieder und wieder, den Text zu
rappen: »Da stimmt was nicht mit der Silbenanzahl. Vielleicht
sollte man die letzten beiden Wörter in der ersten Zeile weg -
lassen.« Nach einer Stunde haben wir das Lied fertig. Stolz lassen
wir es vom Musikkollegen vortragen. Wir sind mit unserem Ergeb-
nis sehr zufrieden. Emre wird sich freuen.
Fräulein Krise fragt: »Ob er schon gemerkt hat, dass ihm sein Text fehlt?«
»Bestimmt«, antwortet der Deutschlehrer. »Der sitzt jetzt zu Hause
und rappt seinen Entschuldigungszettel.«
Das Handy ist kein Herzschrittmacher!
»Niemand nimmt mir mein Handy ab! Niemand!«
»Aber wenn Frau Schwalle sagt, du sollst ihr das Handy geben,
dann musst du das auch machen!«, sage ich - betont ruhig. Frau
Schwalle steht neben mir vor dem Lehrerzimmer. Sie hat Samira
nach ihrer Stunde mitgeschleift, um sich bei mir zu beschweren.
Frau Schwalle unterrichtet in meiner Klasse Physik und bekommt
einfach kein Bein auf den Boden. Das Klingeln von Samiras Handy
- mitten in der Stunde - war nur der Tropfen, der das Fass von
diversen Physikkatastrophen endgültig zum Überlaufen brachte.
»Ich geb mein Handy aber nicht ab. Mir egal. Ich brauche mein
Handy immer bei mir. Ich kann ohne mein Handy nicht leben!«
Frau Schwalle sagt: »Ich hatte Samira zum Direktor geschickt, weil
sie sich weigerte das Handy abzugeben.«
»Samira warst du beim Schulleiter?«, frage ich. (Was soll sie da?,
frage ich mich.)
»Nein. War ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Was sollte ich denn da?«
»Tja, also...?« Ich weiß es auch nicht so genau.
Frau Schwalle triumphiert: Ȇber das Handyverbot sprechen und
über deinen Verstoß gegen die Schulordnung!«
Samira: »Ich gebe mein Handy niemandem. Nicht mal dem Schul -
leiter! Ist mir doch egal, was in der Hausordnung steht.«
Ich gucke Frau Schwalle an, dann Samira: »Also pass auf. Du hast
zwei Möglichkeiten: Entweder du gibst jetzt Frau Schwalle das
Handy und wenn du dich in der nächsten Stunde gut verhältst,
bekommst du es vielleicht zurück.«
Ich grinse Frau Schwalle an, die mit versteinertem Gesicht neben
mir steht. »Oder der Schulleiter muss dich in der nächsten Stunde
aus dem Unterricht holen und dir dein Handy abnehmen. Das hat
dann natürlich Konsequenzen: Suspendierung, Anruf zu Hause,
Tadel.«
Samira guckt auf den Boden. Grimmig. Wer Samira besser kennt,
würde ihr nie ein Handy oder überhaupt irgendetwas abnehmen.
An ihr kann man kein Exempel statuieren. Sie ist stur und eigensinnig,
und man darf sie nicht zur Feindin haben. Ja, man will es gar nicht
und muss es auch nicht. Samira ist eigentlich ein sehr vernünftiges
Mädchen. Cool und stark, sehr ehrgeizig, aber eben auch stur.
»Ich gebe mein Handy nicht ab«, sagt Samira und geht ohne uns
noch einmal anzusehen.
»Tja, Frau Schwalle, was nun?«
Ich bezweifle, dass der Schulleiter Samira in der folgenden Stunde
aus dem Unterricht holen wird. Wenn das in seiner Arbeitsplatz -
beschreibung stünde, dann müsste er wahrscheinlich den ganzen
Tag durchs Schulgebäude rennen. Da habe ich wohl etwas zu hoch
gepokert, aber etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Warum ist
Frau Schwalle auch so unsensibel und lässt sich auf diesen doofen
Streit ein. Jeder Konflikt mit Handys ist echt nervenaufreibend.
Als wir uns gerade umdrehen wollen, um ins Lehrerzimmer zu gehen,
steht plötzlich Samira vor uns. Sie sieht uns nicht an, steckt mir wortlos
das Handy in die Jackentasche und rennt weg. Ich über reiche es
glücklich strahlend Frau Schwalle: »Wenn Samira sich jetzt in der
nächsten Stunde benimmt, kannste ihr das Handy ja wiedergeben.
Würde ich so machen, aber das musst du entscheiden.«
Zufrieden gehe ich eine rauchen. Manchmal kommt es eben doch
anders, als man denkt.
Diese stÄÄndigen Überraschungen
machen mich echt fertig
Es regnet in Strömen. Ich denke: Na, wird wohl keiner zur ersten
Stunde kommen - es regnet, da könnten sie ja nass werden. Aber
um acht sind alle da und die Hälfte der Schüler hat einen Regen -
schirm, die andere trägt wasserdichte Übergangsjacken. Sonst
kommen meine Schüler bei Regen immer nur im Kapuzenpulli,
wenn sie denn überhaupt kommen.
In der ersten großen Pause berichtet mir Herr Werner, wie toll
meine Klasse gestern mitgemacht habe. Nicht nur vom Verhalten
her, auch ihre Beiträge seien super gewesen. Frau Hinrich steht
daneben und bekräftigt, dass alle pünktlich und lieb waren.
Normaler weise werde ich von Frau Hinrich, die meine Klasse in
Deutsch unterrichtet, immer mit der Anzahl der fehlenden Schüler
begrüßt. »Guten Morgen Frau Hinrich.»-« Frau Freitag, wieder haben
sieben Schüler gefehlt, und drei kamen zu spät.«
In der zweiten großen Pause führe ich ein Elterngespräch mit einer
Mutter, die sich selber eingeladen hat und mir damit leider meine
Pause nimmt. Allerdings verläuft das Gespräch gut und endet
mit vielen Versprechungen und gegenseitig vereinbarten Kontroll-
mechanismen: Ich soll in Zukunft immer sofort anrufen, wenn was
ist. Der Sohn wirkt in der Schule so, als hätte er keine Eltern, aber
die Mutter ist sehr interessiert am schulischen Werdegang ihres
Kindes - trotz großer Verständigungsprobleme. Sie spricht kaum
Deutsch, hat dafür aber gleich eine Übersetzerin zum Gespräch
mitgebracht. Das ist bei uns an der Schule nichts Außer gewöhn-
liches. Man freut sich besonders, wenn die Übersetzer schon
volljährig sind.
Aber dann der krönende Abschluss des Tages - Kunstunterricht in
meiner Klasse. Während die anderen arbeiten, hockt sich Esra
neben das Lehrerpult. Esra trägt Kopftuch, aber nicht dasselbe,
sondern jeden Tag ein anderes und immer mit Glitzer und farblich
abgestimmtem Schmuck dazu. Mein Freund nennt diesen Stil
Disco-Islam.
»Frau Freitag, Samira und ich lesen doch gerade Anne Frank und
das ist ja sooo schrecklich, wie die die Juden behandelt haben.«
Ich erinnere mich dunkel daran, dass die Deutschlehrerin mit
meiner Klasse ein neues Buch anfangen wollte: »Lest ihr das jetzt
in Deutsch?«
»Nein, das haben wir uns aus der Bücherei ausgeliehen. Und das
ist so ein gutes Buch. Aber alles so schrecklich. Die Juden durften
ja nicht mehr rausgehen abends.«
»Ja, ich weiß. Esra, verstehst du jetzt, warum wir nicht wollen,
dass ihr ›Jude‹ als Schimpfwort benutzt? Weil die Deutschen doch
damals so gemein zu den Juden waren.«
»Ja, ich mach das auch nicht mehr.« Damit trottet sie wieder an
ihren Platz. Ich starre ihr verwirrt hinterher. »Weil die so gemein
waren« - habe ich das eben echt gesagt? Leicht untertrieben, aber
egal, Hauptsache sie lesen. Und dann auch noch Anne Frank und
zwar freiwillig - wer hätte das gedacht?
Ist Luxemburg ein Bundesland??
Geschichtlich scheine ich aber auch nicht alles zu verstehen, denn
auf die Frage »Wer hat denn die Mauer gebaut?« bekomme ich in
jeder Klasse immer die gleiche Antwort. »Hitler hat die Mauer
gebaut.«
In der zweiten großen Pause bin ich endgültig verwirrt. Können
sich so viele Schüler irren? Habe ich irgendwas falsch verstanden?
Hat Hitler die Mauer gebaut? Ist Luxemburg ein Bundesland? Sind
München und Stuttgart Bundesländer? Wie kommen die Schüler
darauf? Warum müssen sie die deutschen Bundesländer nicht
auswendig lernen? Sollen meine Schüler wirklich dumm sterben?
Machen wir Lehrer uns nicht strafbar, wenn wir sie so unwissend
entlassen und ihnen auch noch bescheinigen, dass sie zehn Jahre
unsere Schule besucht haben?
In einer 10. Klasse: »So, Erdal, was weißt du denn über den Mauer fall?«
»Gar nix. Interessiert mich nicht.«
»Aber du wohnst doch in Deutschland. Das ist unsere Geschichte.
Da musst du doch was drüber wissen. Stell dir mal vor, du bist
irgendwo im Ausland und sagst, du kommst aus Deutschland.
Und dann fragt dich jemand nach der Mauer, und du hast keine
Ahnung, das wäre doch total peinlich.«
»Frau Freitag. Da war ich noch gar nicht geboren!«
Ich versuche es wieder einmal mit den Bundesländern. »Miriam,
komm, sag mal ein paar Bundesländer.«
»Bayern.«
»Ja, super. Bayern, gut. Komm, dir fallen doch bestimmt noch
mehr ein.« Nix.
»Mann, Frau Freitag!«
»Ja, was denn, Miriam. Stell dir mal vor, du wirst das beim Ein-
stellungsgespräch gefragt. Du kriegst doch gar keinen Job, wenn
du so was nicht weißt.«
»Kein Problem, Frau Freitag, ich heirate einen reichen Mann.«
Langsam bin ich genervt: »Aber Miriam, welcher reiche Mann
möchte denn eine dumme Frau heiraten.« Miriam schmollt. Ich bin
mir auch gar nicht sicher, ob sich da nicht der eine oder andere
reiche Mann finden ließe. Miriam ist sehr hübsch und kann
un heimlich verführerisch gucken, da stünden ihre Aktien auf dem
Heiratsmarkt bestimmt gut.
Wenn es Kampf gibt
Wenn es Kampf gibt, dann liegt was in der Luft. Wenn es Kampf
gibt, dann wird getuschelt. Wenn es Kampf gibt, sind alle todernst,
niemand lacht. Wenn es Kampf gibt, ist was los.
Wenn Mädchen kämpfen, schwelen Konflikte. Wenn Mädchen
kämpfen, werden alte Sachen aufgekocht. Wenn es Kampf gibt,
dann weil die eine Scheiße labert, weil sie hinterm Rücken redet,
weil sie Mütter beleidigt, weil sie uns sagt, wir seien die größten
Bitches auf der Schule, weil sie mir Missgeburt und Hurentochter
sagt.
Wenn Mädchen streiten, müssen sich alle einmischen, weil sie
meine beste Freundin ist, weil ich sie zurückhalten wollte, weil sie
mich auch beleidigt hat. Ich wollte nur mit ihr reden, warum sie so
macht. Sie kennt mich doch gar nicht. Ich kenne diese Mädchen
gar nicht. Warum erzählt sie so Scheiße über mich? Ich wollte nur
reden, sie hat mir eine geklatscht. Sie hat mir Schelle gegeben. Ich
habe ihr nur ein Box verpasst. Ich wollte keinen Streit. Ich wollte
nur reden. Warum hat die sich eingemischt. Die hatte gar nichts
mit der ganzen Sache zu tun.
Wenn es Kampf gibt, dann in der Pause. Kampf ohne Zuschauer
gibt es nicht. Kampf zieht magnetisch an, alle stehen außen rum
und schreien: »Kampf, Kampf, Kampf!«
Die eine stand da und hat auch zugetreten, die hatte gar nichts
damit zu tun. Wir wollten nur reden, dann hat sie meine Haare
gezogen. Ich wollte nur meine Freundin helfen.
Wenn es Kampf gibt, sitze ich stundenlang mit der Schulleitung
zusammen. Je mehr man hört, desto verwirrender wird alles.
Wenn es Kampf gibt, dann wollten alle nur schlichten, und ein
Mädchen liegt weinend im Krankenhaus.
Körperliche Auseinandersetzungen finden meistens in den großen
Pausen auf dem Hof statt, während wir Lehrer gemütlich bei
Kaffee und Salamibrötchen über unsere Rückenschmerzen klagen
oder vom Urlaub erzählen. Leider kann man aus dem Lehrer -
zimmer direkt auf den Hof gucken. Ab und zu kommt es dann
eben vor, dass sich plötzlich eine riesengroße Menschentraube
bildet. Alle Schüler rennen dann über den Hof dorthin. Ich denke
immer: Vielleicht machen die ein Breakdancebattle und stehen nur
um die Tänzer rum.
Wer die Schülermasse zuerst sieht, muss auch handeln: »Oh, da
braut sich was zusammen.« Einige Kollegen lassen sich nie aus
der Ruhe bringen: »Ich hab Pause.« Als Klassenlehrer betet man
sofort: Bitte, lass es nicht Mehmet sein oder Abdul, bitte, lieber
Gott, mach, dass Samira den Streit von neulich bereits friedlich mit
den Mädchen aus der Parallelklasse geklärt hat.
Und dann gehen wir raus. Gemeinsam mit den Kollegen, die auf
dem Hof Aufsicht haben, nähern sich von allen Seiten die Lehr-
körper. Einige Schüler weichen bereits bei unserem Anblick
zurück. Aus Erfahrung wissen sie, jetzt ist die Action gleich vorbei.
Dann schieben wir Lehrer uns durch die Schülermasse und sehen
entweder in sich verknotete Kämpfer auf dem Boden oder zwei
Kontrahenten, die sich mit wutverzerrtem Blick Gemeinheiten entgegenschleudern:
»Ich bring dich um!« - »Warte nur bis nachher,
ich hole meine Brüder und Kusengs!«
Festgehalten werden die beiden Kämpfer von ruhigen, starken
Tonangebern. Klassenchefs, die Autorität haben auf dem Hof.
Diese Schüler wissen genau, wann sie die Kämpfenden aus ein-
anderzerren müssen. Sie beobachten den Kampf eine Weile, und
wenn es zu brutal wird oder wenn sich Lehrer nähern, dann
trennen sie die Streitenden voneinander.
Sobald wir Lehrer die Kontrahenten erreicht haben, klären wir, wer
in den Konflikt verwickelt war. Ob es Verletzte gibt und so weiter.
Wir nehmen die Beteiligten mit, manchmal auch ein paar Zeugen
und gehen mit ihnen ins Sekretariat. Damit ist für die anderen
Schüler die Sache beendet und sie erinnern sich daran, dass in
der Zwischenzeit bereits der Unterricht begonnen hat.
Findet man die armen Klassenlehrer der Beteiligten, übergibt man
die Kampfhähne und freut sich, nichts weiter mit der Sache zu tun
zu haben. Ist man selbst der Klassenlehrer, verflucht man dieses
Amt und schwört sich, dass man nie wieder eine Klasse übernehmen
wird, denn für den Klassenlehrer folgen endlose
Befragungen, Telefonate mit Eltern, mit der Polizei, man muss dann
Aktennotizen anfertigen und Zeugenaussagen aufschreiben. Das
kostet Kraft und frisst jede Pause und Freistunde. Und das
Schlimme: Die, die sich gestern noch geschlagen haben, sieht
man am nächsten Tag wieder lachend gemeinsam über den Hof
schlendern.
Einfach mal ein Krankenhaus Besuchen
Wenn man sich mit der Klasse aus dem Schulgebäude wagt,
bleibt es nicht aus, dass etwas passiert. Wir sind einen Tag lang zu
Besuch in Werkstätten, in denen den Schülern die raue Arbeitswelt
näher gebracht werden soll.
Eigentlich hatte ich mich schon auf das Mittagessen gefreut, da
kommt Mehmet plötzlich blutend an. Geschulte Augen stellen fest,
dass er auch einen kleinen Fuß marsch aushalten wird, und so
gehen wir los zum Kranken haus. Mehmet ist noch nicht so lange
in meiner Klasse. Erst war er auf einer Gymnasiumschule, dann an
einer Realschule, dann an einer anderen Realschule, und jetzt ist
er bei uns gelandet. So ganz schlau werde ich noch nicht aus ihm.
Ich habe den Eindruck, dass er nicht ganz sauber ist.
Mit seiner Lehrerin alleine unterwegs zu sein - diese Situation ist
für ihn wahrscheinlich unangenehmer als für mich. Spätestens im
Warteraum wird klar: Ich bin nicht Mehmets Mutter. Und das liegt
nicht nur daran, dass er mich siezt, sondern auch daran, dass wir
uns angeregt unterhalten. Ich beginne unseren kleinen Ausflug
mehr und mehr zu genießen.
Das Krankenhauspersonal guckt Mehmet an, als sei er ein Außer -
irdischer. Wahrscheinlich verarzten die dort nicht viele Jugendliche
mit Migrationshintergrund. Gemäß der Gepflogenheiten lässt man
uns lange warten. Dann bringt uns eine Schwester in einen sterilen
Untersuchungsraum. Mehmet: »Voll Operationssaal und so. Mit
Fernseher und so.«
Ich sage der Schwester, dass mir schlecht wird in diesem Raum.
Ich schlage vor, dass Mehmet sich auf die Liege legt, damit ich
mich auf den einzigen Stuhl im Raum setzen kann. Nun liegt er da,
und ich sitze an seinem Fußende. Es entsteht eine therapeutische
Atmosphäre, in der wir über Gott und die Welt plaudern. Streng
genommen könnte man sagen, dass ich ihn ausfrage, da ich die
Gesprächsthemen bestimme. In der Stunde, die wir in diesem
Raum zusammen warten, verändert sich mein bisheriges Bild von
Mehmet.
Ich hätte nie gedacht, dass er gut kochen kann und sogar backt.
Er erklärt mir die Zubereitung eines Pilzgerichtes mit Sahne so
detailliert, dass ich ihn bitten muss über etwas anderes zu reden,
da ich dem Hungertod nahe bin.
Wir reden über Mode. Mehmet beschreibt, nach welchen Gesichtspunkten
er seine Klamotten kauft. »Also, die Schuhe müssen zu
den Hosen passen und die Jacke zum Käppi.« Wir reden über
Mädchen. »Mit den Mädchens kann man sich viel besser unterhalten
als wie mit den Jungs. Wir gehen immer spazieren, dies, das.«
Wir reden über die Pokerräuber. Das waren mehrere Jugendliche
mit Migrationshintergrund, die eigentlich auch auf unsere Schule
hätten gehen können. In die Presse kamen sie, weil sie mit Pistolen
und Macheten ein großes Pokerturnier überfielen und sich dabei
unheimlich blöd anstellten. Die Polizei sagte damals: »Die Dumm -
heit hat eine neue Dimension erreicht.«
Ich sage: »Einen roten Pulli anzuziehen, wenn man einen Überfall
plant, ist doch wohl sehr bekloppt, oder? Vielleicht haben die sich
ja auch noch Namensschilder gemacht.«
Mehmet erstaunt: »Ja, haben sie?«
Ich erfahre interessante Details: »Wir haben auch eine Machete.
Für die Küche. Meine Mutter kocht damit.« Ich sehe Mehmets
Mutter vor mir, wie sie mit Kopftuch und langem Mantel in einer
kleinen Küche steht und eine Machete über dem Kopf schwingt.
Wir einigen uns darauf, dass sie ein Hackebeil benutzt und keine
Machete.
Ich spreche noch seinen missglückten Solariumbesuch von
neulich an. Mehmet hatte danach Verbrennungen dritten Grades.
Er sagt, jetzt muss man seinen Ausweis vorzeigen. Eigentlich darf
man ja erst ab achtzehn unters Solarium.
Mehmet erzählt mir, dass er zurzeit vom Unglück verfolgt sei. »Ich hatte
diese Marco-Polo-Jacke, kennen Sie? Und die habe ich in M gekauft.
Und dann hat meine Mutter die gewaschen mit 70 Grad oder 170
Grad, und dann war sie XS. Und dann das mit dem Solarium und dann
beim Friseur, er schneidet mir die Augenbrauen mit der Maschine, und
alles wird voll schief. Und Frau Freitag, gestern, ich kaufe mir ein Eis,
mach es auf, und das ganze Eis fällt runter.«
Und jetzt liegt er verletzt auf diesem Krankenhausbett und muss
sich stundenlang mit seiner Lehrerin abgeben. Er ist wirklich vom
Pech verfolgt.
Irgendwann kommt ein Arzt und guckt Mehmet kurz an. Dann
versorgt eine Schwester Mehmets Wunde. Der Arzt verabschiedet
sich mit den Worten: »Danke, dass Sie nicht mit der Feuerwehr
gekommen sind und somit das Gesundheitssystem nicht unnötig
belastet haben.«
Ich sage, dass ich versucht hätte, einen Hubschrauber zu bestellen,
und das würde ich jederzeit wieder tun, denn ich möchte nicht
später verklagt werden, weil der ganze Arm meines Schülers
amputiert werden musste.
Frau Freitag hat voll Bodyguard
Nach den langweiligsten Ferien freue ich mich immer auf den ersten
Schultag. Und auch diesmal muss ich sagen: Hat Spaß gemacht.
Ich war gleich wieder voll drin.
»Frau Freitag, wen finden Sie besser: Mehrzad oder Menowin?«
»Ich habe keinen Bleistift mit.«
»Können wir nicht was anderes machen? Die Aufgabe ist langweilig.«
»Kann ich aufs Klo?«
Als wäre nichts gewesen. Nur war ich vielleicht etwas erholter als
sonst und habe dementsprechend wenig rumgemeckert. Aller -
dings kam ich in der letzten Stunde schon ganz nah an meine
Grenzen. Jeden Donnerstag unterrichte ich in der sechsten und
siebten Stunde Kunst in einer lebhaften 7. Klasse. Die sind alle sehr
süß, aber gehen mir wahnsinnig auf die Nerven. Siebte Stunde und
siebte Klasse sind nicht kompatibel. Vorsorglich hatte ich mir
schon Putzzeug besorgt, um am Ende der Doppelstunde einen
Phasenwechsel einzubauen. Ein guter Lehrer baut viele Phasen -
wechsel in seinen Unterricht ein. Also erst was Mündliches, dann
was Schriftliches und so weiter. Und eine gute Stunde hat auch
immer ein Lernziel. Lernziel heute: Tische von Frau Freitag saubermachen.
Allerdings kam alles ganz anders.
Plötzlich geht die Tür auf, und Samira aus meiner Klasse kommt
rein. Die 7. Klasse, die ich noch die letzten zwanzig Minuten im
Zaum zu halten versuche, gibt ein grauenhaftes Bild ab: lautes
Rumgekreische, Murat am Straftisch direkt neben der Tafel schaukelt
mit dem Oberkörper vor und zurück und rappt dabei. Alle
Mädchen stecken die Köpfe zusammen und quasseln ohne Pause.
Der adipöse Dirk hat sein dickes Bein auf dem Nachbarstuhl
gelegt, sich zurückgelehnt und diskutiert lautstark mit der ganze
Klasse. Dschingis und Ali unterhalten sich quer durch den Raum
über ihre Penisgrößen. Hassan latscht durch die Klasse und
schmeißt Federtaschen runter.
Samira setzt sich neben mich ans Pult und erzählt, dass sie aus
dem Chemieunterricht geflogen sei. Dann beobachtet sie stumm
das bunte Treiben. Plötzlich springt sie auf und schreit: »SEID
DOCH MAL LEISE! SPINNT IHR? IHR HABT UNTERRICHT. WAS
SEID IHR FÜR EINE KLASSE?«
Die Schüler sind sofort mucksmäuschenstill. Dann zeigt sie auf
den dicken Dirk: »Ey, du da hinten. Du denkst wohl, du wärst voll
der Coole.«
Dirk: »Meinst du mich?«
»Nein, ich meine nicht dich, ich meine den hinter dir.« Hinter Dirk
sitzen Susi und Emma. »Natürlich meine ich dich! Sag mal, wie
benimmst du dich hier eigentlich?«
Zu mir: »Frau Freitag, ist der immer so?« Ich nicke.
Zu Dirk: »Merkst du nicht, dass du die ganze Klasse kaputt
machst? Du denkst, du wärst cool? Cool bist du, wenn du hier in
der 10. Klasse den Realschulabschluss geschafft hast.«
Dann zu allen: »Ihr könnt euch doch nicht so benehmen! Denkt ihr,
nur weil Frau Freitag nett ist, könnt ihr hier so einen Larry machen?
Wenn man in der 7. Klasse schlecht ist, schafft man auch die
andern Klassen nicht. Was wollt ihr denn mal werden? Ihr braucht
doch einen Schulabschluss.« Allgemeines Schweigen.
»Sie müsste voll in unserer Klasse sein, abó«, flüstert ein Mädchen.
Dschingis sieht mein Grinsen: »Guck, wie Frau Freitag grinst. Sie
hat voll Bodyguard.« Und Recht hat er.
Ich lasse Samira die Klasse bis zum Klingeln in Schach halten.
Inklusive: »Frau Freitag hat den Unterricht noch nicht beendet!
Also, setzt euch alle wieder hin!« Beim Rausgehen werfen die
Siebtklässler noch einen ehrfürchtigen Blick auf Samira, die ihren
Auftritt genossen hat.
Wir gehen gemeinsam die Treppe runter: »Sag mal, Samira, willst
du nicht Lehrerin werden? Das hast du so gut gemacht eben.«
»Ich Lehrerin? Abó! Mit solchen Spastenkindern - niemals!«
... weniger
Autoren-Porträt von Frau Freitag
Freitag, FrauFrau Freitag, geboren 1968, wollte schon immer Lehrerin werden. Seit über zehn Jahren unterrichtet sie Englisch und Kunst in lauter überdrehten, dafür recht leistungsschwachen Klassen. Sie lebt in einer deutschen Grossstadt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Frau Freitag
- 2011, 26. Aufl., 336 Seiten, Masse: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548373992
- ISBN-13: 9783548373997
- Erscheinungsdatum: 11.03.2011
Rezension zu „Chill mal, Frau Freitag “
»Eine absurd-komische Realsatire - verrückt, anrührend und immer wieder lustig.« Thüringer Allgemeine, Angelika Reiser-Fischer, 19.03.11 »Mit liebevoll-spöttischem Blick auf die Marotten ihrer Schüler, viel Witz und Selbstironie nimmt uns Frau Freitag mit ins Krisengebiet Klassenzimmer, zu Lehrern am Rand des Wahnsinns. Amüsant, ehrlich, aufschlussreich.« Berliner Kurier, Monika Funk, 03.04.11 »Das Buch ist zum Schreien komisch und der Wirklichkeit derart nah, dass es wahlweise rührend, witzig oder schmerzhaft ist - so muss gute Satire sein.« FRANKFURTER RUNDSCHAU, Sylviy Meise, 08.09.11
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