Blinde Göttin / Hanne Wilhelmsen Bd.1
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BlindeGöttin von Anne Holt
LESEPROBE
MONTAG, 28. SEPTEMBER, MIT RÜCKBLICK
Polizeigebäude,Oslo, Grønlandsleiret 44. Eine Adresse ohne das Brausen der Geschichte. Grønlandsleiret44 klang müde, grau und modern, mit einem Unterton von öffentlicher Unfähigkeitund internen Streitereien. Gross und leicht gebogen, als könne es den Windstössennicht widerstehen, lag es eingeklemmt zwischen Gotteshaus und Gefängnis, hatteim Rücken das kahlsanierte Wohnviertel Enerhaugen und als Schutz gegen denverdrecktesten und verkehrsreichsten Stadtteil gegenüber nur eine riesigeRasenfläche. Die Eingangspartie wirkte abweisend und war viel zu klein für diezweihundert Meter lange Fassade, wirkte geduckt und fehl am Platz und fast versteckt- als ob sie das Kommen schwierig und das Fliehen unmöglich machen sollte.
DieAnwältin Karen Borg wanderte am Montagmorgen um halb zehn die gepflasterteStrasse hoch, auf den Eingang zu. Der Hang war gerade lang genug, um ihr einenschweissnassen Rücken zu bescheren.
Sieüberlegte sich, dass der Hang mit Bedacht angelegt worden sein musste; allebetraten das Osloer Polizeigebäude mit schweissnassen Kleidern.
Sie drücktegegen die schweren Metalltüren und betrat das Foyer.
Wenn siemehr Zeit gehabt hätte, dann wäre ihr dort die unsichtbare Grenze aufgefallen.Reiselustige Norweger warteten auf der hellen Seite der riesigen Halle auf ihreroten Reisepässe. Im Norden, unter der Galerie, sassen die Dunkelhäutigenängstlich und stundenlang mit schweissnassen Händen bei den Schindern von derFremdenpolizei.
Aber KarenBorg war spät dran. Sie warf einen Blick zu den Galerien hinauf; eine Seitehatte blaue Türen und Linoleumboden, die andere, die Südseite, war gelb. ImWesten schliesslich dominierten Rot und Grün. Der offene Raum erstreckte sich
über sechsStockwerke in die Höhe. Später sollte sie feststellen, dass hier enorm vielPlatz verschwendet wurde; die Büros waren winzig klein. Nachdem sie sich mitdem Bau vertraut gemacht hatte, erfuhr sie, dass die wichtigsten Räumlichkeitenim sechsten Stock lagen: die Kantine und das Büro des Polizeichefs. Darüberwiederum, vom Foyer aus und für den Herrn in der Höhe unsichtbar, hauste derÜberwachungsdienst.
Wie ineinem Kindergarten, dachte Karen Borg, als ihr die Farbcodes auffielen. Als obsie sichergehen wollten, dass alle ihren Platz finden.
Sie musstein den zweiten Stock, die blaue Zone. Die drei Fahrstühle mit den Metalltürenhatten sie mehr oder weniger gezwungen, die Treppe zu benutzen.
Nachdem siezugesehen hatte, wie die Lichtpunkte an den Türen vier Minuten lang auf und abgeklettert waren, ohne je das Erdgeschoss zu berühren, war sie überzeugt. Sieging zu Fuss nach oben.
Dievierstellige Zimmernummer war auf einen Zettel gekritzelt. Es war leicht, dasZimmer zu finden. Die blaue Tür war übersät von den Überresten alter Aufkleber.Micky Maus und Donald hatten sich der Ausrottung hartnäckig widersetzt und grinstensie, ohne Beine, aus halben Gesichtern an. Es hätte wohl besser ausgesehen,wenn man sie in Ruhe gelassen hätte. Karen Borg klopfte.
Sie hörte:»Herein«, und öffnete die Tür.
Håkon Sandwirkte nicht gerade begeistert. Es roch nach Rasierwasser, und über einem Stuhl- dem einzigen im Zimmer ausser dem, auf dem Sand sass - hing ein feuchtes Handtuch.Sie sah, dass seine Haare nass waren.
Er warf dasHandtuch in eine Ecke und bat sie, Platz zu nehmen. Die Sitzfläche des Stuhlswar feucht. Sie setzte sich trotzdem.
Håkon Sandund Karen Borg waren alte Freunde, die sich nie trafen. Sie tauschtenabgenutzte Phrasen aus, im Stil von: »Wie geht es dir«, »Lange nicht mehrgesehen«, »Wir müssen mal zusammen essen gehen.« Diese Floskeln wiederholtensie bei zufälligen Begegnungen, auf der Strasse oder bei gemeinsamen Bekannten,die ihre Kontakte besser pflegten als die beiden.
»Schön, dassdu da bist. Das freut mich«, sagte er plötzlich. Ihr kam es nicht so vor. SeinWillkommenslächeln war ziemlich dürftig nach vierundzwanzig Stunden Dienst.»Der Typ will einfach nichts sagen. Er wiederholt immer nur, dass er dich alsAnwältin will.«
Karen Borghatte sich eine Zigarette angezündet. Sie trotzte allen Warnungen und rauchtePrince in der Originalversion, mit dem Maximum an Nikotin und Teer und demknallroten Etikett, auf dem die erschreckende Warnung des Gesundheitsministeriumsstand. Niemand schnorrte bei Karen Borg Zigaretten.
»Ihr müsstihm doch klarmachen können, dass das nicht möglich ist. Erstens bin ich Zeuginin diesem Fall, schliesslich habe ich die Leiche gefunden. Und zweitens habe ichkeine Ahnung mehr vom Strafrecht. Ich hab' mich seit dem Examen nicht mehrdarum gekümmert, und das ist sieben Jahre her.«
»Acht«,korrigierte er. »Wir haben vor acht Jahren Examen gemacht. Du warst dieDrittbeste unter Hundertvierzehn. Ich war Nummer fünf von hinten. Klar kannstdu Strafrecht, wenn du willst.«
Er schiengereizt, und das war ansteckend. Plötzlich spürte sie die Stimmung, die sichwährend ihrer Studienzeit manchmal eingestellt hatte. Ihre stetshervorragenden Noten im strahlenden Kontrast zu seinem holpernden Gang durchsStudium, unterwegs zu einem Examen, das er ohne ihre Hilfe niemals bestandenhätte. Sie hatte ihn durch das ganze Studium gelockt, gezerrt und getrieben,als wäre ihr eigener Erfolg mit dieser Bürde leichter zu ertragen gewesen. Ausirgendeinem Grunde - sie hatten ihn nie ermitteln können, vielleicht, weil sienie darüber sprachen - hatten sie beide das Gefühl gehabt, dass sie ihm dankbar sein müsste und nichtumgekehrt. Dieses
Gefühl, ihmetwas schuldig zu sein, hatte sie später immer geärgert. Warum sie während desgesamten Studiums unzertrennlich gewesen waren, hatte niemand begreifenkönnen. Sie hatten nie etwas miteinander gehabt, höchstens mal eine RundeKnutschen im Suff; sie waren ein ungleiches Freundespaar gewesen,unzertrennlich, streitsüchtig, aber immer voller gegenseitiger Fürsorge, diesie vor den vielen tiefen Fallgruben des Studiums bewahrte.
»Und wasdeinen Status als Zeugin angeht, auf den scheiss' ich im Moment, ehrlich gesagt.Das wichtigste ist, dass der Typ endlich die Klappe aufmacht. Mit demZeuginnenkram befassen wir uns eingehender, wenn irgendwer das nötig findet. Unddas dauert sicher noch lange.«
»Zeuginnenkram.«Sein juristischer Sprachgebrauch war nie sonderlich präzise gewesen, aber KarenBorg konnte das trotzdem nicht so ganz schlucken. Håkon Sand war Polizeiadjutantund offiziell ein Hüter von Gesetz und Ordnung. Karen Borg wollte gernweiterhin glauben, dass die Polizei die Juristerei ernst nahm.
»Kannst dunicht wenigstens mit ihm reden?«
»Untereiner Bedingung. Du lieferst mir eine glaubwürdige Erklärung dafür, dass erweiss, wer ich bin.«
»Das warmein Fehler.«
Håkon Sand lächelte mit der Erleichterung, die er immer empfundenhatte, wenn sie ihm etwas erklären konnte, das er zehnmal gelesen und dochnicht begriffen hatte. Er holte zwei Tassen Kaffee aus dem Vorzimmer. (...)
© Piper Verlag GmbH
Übersetzung: Gabriele Haefs
- Autor: Anne Holt
- 2019, 66. Aufl., 320 Seiten, Masse: 12,1 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492236022
- ISBN-13: 9783492236027
- Erscheinungsdatum: 01.08.2002
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