Big Girl
Der neue berührende Roman von Bestsellerautorin Danielle Steel - exklusiv bei Weltbild!
Victoria kann es ihren Eltern schon als Kind nicht recht machen: Sie ist ihnen zu groß, zu kräftig - und außerdem will sie...
Victoria kann es ihren Eltern schon als Kind nicht recht machen: Sie ist ihnen zu groß, zu kräftig - und außerdem will sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Big Girl “
Der neue berührende Roman von Bestsellerautorin Danielle Steel - exklusiv bei Weltbild!
Victoria kann es ihren Eltern schon als Kind nicht recht machen: Sie ist ihnen zu groß, zu kräftig - und außerdem will sie Lehrerin werden! So wächst Victoria mit Selbstzweifeln auf und plagt sich mit Diäten. Im weit entfernten New York versucht sie, ein eigenes Leben aufzubauen. Und dann ist da noch die Suche nach dem Märchenprinzen, die sich schwierig gestaltet.
Victoria kann es ihren Eltern schon als Kind nicht recht machen: Sie ist ihnen zu groß, zu kräftig - und außerdem will sie Lehrerin werden! So wächst Victoria mit Selbstzweifeln auf und plagt sich mit Diäten. Im weit entfernten New York versucht sie, ein eigenes Leben aufzubauen. Und dann ist da noch die Suche nach dem Märchenprinzen, die sich schwierig gestaltet.
Lese-Probe zu „Big Girl “
Big Girl von Danielle SteelAus dem Amerikanischen von Silvia Kinkel
Kapitel 1
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Im Dawson kam als bildhübsches Baby auf die Welt. Als man seiner Mutter das Kind zum ersten Mal in den Arm legte, betrachtete sie den Kleinen stolz. Seine Eltern waren bei seiner Geburt beide über vierzig und hatten längst die Hoffnung aufgegeben, jemals ein Kind zu bekommen. Jim war für sie Überraschung und Segen zugleich. Er blieb ein Einzelkind und bildete für seine Eltern den Mittelpunkt der Welt. Jim wuchs zu einem hübschen Jungen heran. Er war stets groß für sein Alter, von perfekter Statur und eine wahre Sportskanone. Sein Vater liebte es, mit ihm Ball zu spielen, und es dauerte nicht lange, da war Jim der Star seines Little League Teams. Bereits in der Schule umschwärmten ihn die Mädchen. Mit seinem dunklen Haar, den samtigen braunen Augen und dem markanten Grübchen am Kinn sah er aus wie ein Filmstar. Auf dem College avancierte er zum Kapitän des Footballteams, und es überraschte niemanden, dass er mit dem hübschesten Mädchen der Universität zusammen war. Ihre Familie war gerade erst von Atlanta nach Südkalifornien gezogen. Christine war zierlich, hatte einen hellen Teint wie Schneewittchen, schwarzes Haar und braune Augen. Zudem besaß sie ein freundliches, sanftes Wesen und blickte bewundernd zu Jim auf. Am Tag ihrer Abschlussfeier verlobten sich die beiden, und noch im selben Jahr heirateten sie an Weihnachten.
Jim hatte zu dem Zeitpunkt bereits einen Job in einer Agentur, während Christine in den sechs Monaten nach dem Examen die Hochzeit vorbereitete. Sie hatte ebenfalls einen Hochschulabschluss, aber ihr einziges Interesse während des vierjährigen Studiums bestand darin, einen passenden Mann zu finden und zu heiraten. Die beiden ergänzten sich wunderbar und hätten gut für das Cover einer Illustrierten als amerikanisches Traumpaar posieren können.
Nach der Hochzeit überlegte Christine, zu modeln, aber Jim war dagegen. Dank seines gutbezahlten Jobs brauchte seine Frau schließlich nicht zu arbeiten. Was würden die Leute von ihm denken? Dass er nicht in der Lage war, sie zu ernähren? Sie sollte zu Hause bleiben und jeden Abend auf ihn warten. Genau das tat Christine dann auch.
Es gab nie einen Zweifel, wer in der Familie das Sagen hatte. Jim stellte die Regeln auf, und Christine fühlte sich damit wohl. Ihre eigene Mutter war früh gestorben, und Jims Mutter, die Christine »Mutter Dawson« nannte, sang ununterbrochen Loblieder auf ihren Sohn. Christine verehrte ihn nicht weniger. Jim sah gut aus, war ein liebevoller Ehemann und kletterte stetig die Karriereleiter in der Werbeagentur hinauf. Er schloss schnell Freundschaften und war zu jedermann charmant und nett, solange man ihn nicht kritisierte. Dazu bestand aber auch selten Anlass. Seine Frau stellte er auf ein Podest und kümmerte sich rührend um sie. Als Gegenleistung erwartete er jedoch, dass sie ihn bewunderte und ihm das Kommando überließ. Ihr Vater vertrat ähnliche Vorstellungen, so dass Christine dazu erzogen worden war, für einen Mann wie Jim eine hingebungsvolle Ehefrau zu sein. Ihr Leben entsprach dem, was sie sich immer erhofft hatte. Mit Jim gab es keine unangenehmen Überraschungen oder Enttäuschungen, denn er beschützte sie und gewährleistete ihr ein sorgenfreies Leben. Die Rollen in ihrer Beziehung waren klar verteilt.
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie es nicht eilig, ein Kind zu bekommen. Übers Wochenende verreisten sie oft, und Jim führte seine Frau mindestens einmal wöchentlich zum Dinner aus - obwohl Christine eine gute Köchin war und sich seine Lieblingsgerichte schnell angeeignet hatte. Sie wollten beide irgendwann Kinder bekommen, aber noch vermissten sie nichts. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren genossen sie das Leben in vollen Zügen. Fünf Jahre nach ihrer Hochzeit begannen selbst Jims Eltern, sich Gedanken zu machen. Da sie zwanzig Jahre auf Nachwuchs hatten warten müssen, befürchteten sie nun, dass es bei dem jungen Paar ähnliche Probleme geben würde. Jim und Christine hätten vermutlich noch länger gewartet. Aber als die Leute anfingen, sich zu wundern, empfand Jim das als Kritik, wenn nicht gar als Andeutung, dass er versagte.
Die ständigen Fragen und Sticheleien gingen ihm schließlich auf die Nerven, und er teilte Christine mit, dass es Zeit sei, eine Familie zu gründen. Wie üblich stimmte sie zu. Was auch immer Jim für das Beste hielt, erschien ihr ebenfalls richtig. Christine wurde schneller schwanger, als sie beide erwartet hatten. Sie waren davon ausgegangen, dass es mindestens sechs Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr dauern würde, bis es klappte. Und trotz aller Bedenken von Jims Mutter verlief die Schwangerschaft völlig problemlos. Als die Wehen einsetzten, fuhr Jim seine Frau ins Krankenhaus und entschied, nicht bei der Geburt dabei zu sein. Christine hielt das für die richtige Entscheidung. Er sollte keinesfalls etwas tun, wobei er sich nicht wohl fühlte. Jim hoffte, dass es ein Junge sein würde, und Christine hoffte das natürlich auch, schon allein, um ihn zufriedenzustellen. So kam es beiden gar nicht in den Sinn, dass ihr Baby ein Mädchen sein könnte. Voller Zuversicht wollten sie das Geschlecht des Kindes während der Schwangerschaft nicht erfahren. So männlich, wie Jim war, konnte sein erstes Kind schließlich nur ein Sohn sein, und Christine dekorierte das Kinderzimmer in Blautönen.
Aufgrund einer Steißlage musste das Kind per Kaiserschnitt geholt werden. Christine war noch nicht aus der Narkose erwacht, als Jim sein Kind zum ersten Mal sah. Die Schwester hielt es hinter der Scheibe des Säuglingszimmers hoch, und als Jim das Baby erblickte, war er sicher, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Das Neugeborene hatte ein rundes Gesicht mit Pausbäckchen, hellblondes Haar und ähnelte weder ihm noch seiner Frau. Erschreckender war jedoch etwas anderes: Es war ein Mädchen. Das war nicht das Kind, das Jim erwartet hatte, und als es ihn durch die Scheibe ansah, erinnerte ihn das Gesicht der Kleinen spontan an das der britischen Queen Victoria. Das sagte er auch einer der Schwestern, die daraufhin empört reagierte und ihm vorhielt, dass seine Tochter wunderschön sei. Jim war anderer Ansicht. Die Kleine sah aus wie das Kind von fremden Eltern, sie ähnelte weder ihm noch Christine. Enttäuscht und mürrisch saß er im Wartezimmer, bis er zu Christine durfte. Sobald sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass sie in den Augen ihres Mannes versagt hatte.
»Ist es ein Mädchen?«, flüsterte sie, noch ganz benommen von der Narkose. Jim nickte. Wie sollte er seinen Freunden beibringen, dass der sicher geglaubte Sohn nun doch ein Mädchen war? Das war ein harter Schlag für sein Ego - und auch für sein Image. Diese eine Angelegenheit hatte sich seiner Kontrolle entzogen, und das gefiel ihm gar nicht. Schließlich war er es gewohnt, alles zu bestimmen, und Christine war stets bereit, mitzuspielen.
»Ja, es ist ein Mädchen«, brachte er schließlich mühsam über die Lippen, während eine Träne aus Christines Augenwinkel kullerte. »Sie sieht aus wie Queen Victoria.« Und dann grinste er wehmütig und fügte hinzu: »Ich weiß wirklich nicht, wer der Vater ist. Sie hat blaue Augen und blonde Haare.« In Jims Familie war niemand blond und blauäugig, abgesehen von seiner Großmutter, aber das schien ihm weit hergeholt. Da er andererseits von Christines Treue überzeugt war, mussten es wohl längst verloren geglaubte Merkmale vergangener Generationen sein, die sich bei diesem Kind ausprägten. Die Schwestern behaupteten zwar, die Kleine sei süß, aber dem konnte Jim nicht zustimmen. Erst Stunden nach der Geburt wurde das Kind zu Christine gebracht. Staunend betrachtete sie ihre in eine rosa Decke gehüllte Tochter und betastete die winzigen Hände. Christine hatte gerade erst eine Spritze gegen den Milcheinschuss bekommen, da sie nicht stillen wollte. Jim hielt nichts vom Stillen, und sie selbst hatte auch kein großes Interesse daran. Christine wollte so schnell wie möglich ihre gute Figur zurückerlangen. Jim mochte sie schlank und zierlich und hatte ihre Rundungen während der Schwangerschaft wenig attraktiv gefunden. Deshalb hatte sich Christine auch bemüht, nicht viel zuzunehmen. Dass dieses Kind ihre gemeinsame Tochter sein sollte, fiel ihr genauso schwer zu glauben wie Jim.
Als Mutter Dawson ihr Enkelkind zum ersten Mal sah, stimmte sie ihrem Sohn sofort zu. Die Kleine hatte zwar die langen Beine von Jim, aber ansonsten ähnelte sie allenfalls seiner Großmutter väterlicherseits, was sich hoffentlich bald legte. Besagte Großmutter war ihr Leben lang eine rundliche, korpulente Person gewesen, die zwar für ihre Koch- und Nähkünste gerühmt wurde, aber nie für ihr Aussehen.
Einen Tag nach der Geburt hatte sich der Schrecken, dass es ein Mädchen war, ein wenig gelegt. Allerdings zogen Jims Freunde im Büro ihn auf, dass er für einen Sohn wohl noch ein bisschen üben müsse. Christine sorgte sich, dass Jim wütend auf sie sein könnte, aber er versicherte ihr seine Freude darüber, dass es ihr und dem Kind gutginge. Sie würden eben das Beste aus der Situation machen. Die Art, wie er das sagte, vermittelte Christine das Gefühl, nur den Trostpreis bekommen zu haben. Sie wusste nur zu gut, dass sich Jim als Bestätigung seiner Männlichkeit einen Sohn gewünscht hatte. Daher hatten sie für dieses pausbäckige, blonde Baby in Christines Armen nicht einmal einen Namen parat.
Jim hatte über die Ähnlichkeit mit Queen Victoria zwar nur Witze gemacht, doch der Name gefiel ihnen beiden. Jim ging noch einen Schritt weiter und schlug Regina als Zweitnamen vor. Victoria Regina Dawson. Der Name wirkte seltsam passend für die Kleine, und Christine stimmte zu. Ihr Mann sollte wenigstens mit der Namenswahl zufrieden sein, denn sie wurde das Gefühl nicht los, ihn enttäuscht zu haben. Aber als sie fünf Tage nach der Geburt aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schien er ihr vergeben zu haben.
Victoria war ein unproblematisches, liebes Kind, stets gut gelaunt und anspruchslos. Sie konnte schon früh laufen und sprechen, und die Leute sagten ständig, was für ein süßes Kind sie doch sei. Ihr Haar blieb hell. Der weißblonde Schopf, den sie bei der Geburt gehabt hatte, entwickelte sich zu goldblonden Löckchen. Sie besaß einen hellen Teint und große blaue Augen. Viele sagten, dass sie sehr britisch aussehe, und Jim erwähnte dann stets, dass sie nach Queen Victoria benannt war, weil sie so eine königliche Ausstrahlung hatte. Die Leute lachten darüber jedes Mal herzhaft, und es wurde zu seinem Lieblingswitz über das Kind, den er bereitwillig jedem erzählte. Christine kicherte dann immer leicht verlegen. Sie liebte ihre Tochter, aber die Liebe ihres Lebens war nun einmal ihr Mann. Im Unterschied zu manchen Frauen, die völlig auf ihre Kinder fokussiert sind, kam bei ihr Jim an erster Stelle und dann erst Victoria. Christine war die perfekte Partnerin für einen Narzissten wie Jim. Sie hatte nur Augen für ihn. Und obwohl sich Jim immer noch einen Sohn wünschte, um seine Männlichkeit zu demonstrieren, hatten die beiden keine Eile, ein zweites Kind zu bekommen.
Victoria fügte sich problemlos in das Leben ihrer Eltern ein. Die beiden fürchteten jedoch, dass es mit zwei Kindern, vor allem, wenn sie kurz aufeinanderfolgten, anstrengender werden würde. Mutter Dawson rieb ständig Salz in die Wunde und betonte, dass sie gar kein zweites Kind in Erwägung ziehen müssten, wenn sie anstelle von Victoria einen Jungen bekommen hätten. Ihrer Meinung nach waren Einzelkinder von Natur aus fröhlicher und cleverer.
Als Victoria heranwuchs, entpuppte sie sich tatsächlich als überaus intelligent und wortgewandt. Bereits als Dreijährige führte sie Gespräche wie eine Erwachsene. Sie besaß Humor, war aufgeweckt und interessierte sich für alles, was um sie herum passierte. Als sie vier Jahre alt war, brachte Christine ihr das Lesen bei, und als sie fünf war, erzählte ihr Vater ihr, dass sie nach einer Königin namens Victoria benannt sei. Victoria wusste aus ihren Märchenbüchern, wie Königinnen aussehen. Sie waren wunderschön und trugen hübsche Kleider. Manchmal verfügten sie sogar über Zauberkräfte. Deshalb strahlte sie jedes Mal, wenn er davon sprach. Angeblich ähnelte sie auch der Großmutter ihres Vaters, aber auch von ihr hatte sie nie ein Foto zu Gesicht bekommen, und so fragte sie sich, ob ihre Großmutter vielleicht auch eine Königin gewesen sei.
Im Alter von sechs Jahren war Victoria ein pausbäckiger Wonneproppen. Sie hatte kräftige, lange Beine und war groß für ihr Alter. Mittlerweile besuchte sie die erste Klasse und überragte die meisten ihrer Mitschüler - und wog auch mehr als die meisten. Die Leute nannten sie immer »das große Mädchen«, was Victoria als Kompliment empfand.
Eines Tages, sie war immer noch im ersten Schuljahr, sah sie sich zusammen mit ihrer Mutter ein Buch an und entdeckte zum ersten Mal ein Bild jener Königin, nach der sie benannt worden war. Der Name stand gut lesbar unter dem Bild: Victoria Regina, so wie sie selbst auch hieß.
Die Monarchin hielt einen Mops im Arm, der ihr erstaunlich ähnelte. Das Foto war entstanden, als die Königin schon recht alt war. Eine Weile lang betrachte Victoria das Bild schweigend.
»Ist sie das?«, fragte sie schließlich ihre Mutter, wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit ihren großen blauen Augen an. Christine nickte lächelnd. Letzten Endes war es ja nur ein Scherz. Victoria ähnelte Jims Großmutter - und sonst niemandem.
»Sie war vor langer Zeit eine bedeutende Königin in England«, erklärte Christine.
»Sie ist angezogen wie ein Clown und trägt nicht einmal ein hübsches Kleid. Sogar ihr Hund ist hässlich.« Victoria wirkte am Boden zerstört.
»Sie war zu dem Zeitpunkt schon sehr alt«, versuchte ihre Mutter den Schrecken, den das Foto ausgelöst hatte, zu mildern. Sie sah ihrer Tochter an, dass sie tief bestürzt war, und das ging auch ihr nahe. Christine wusste, dass Jim es nicht böse gemeint hatte, aber offenbar ging sein Scherz nach hinten los. Noch immer starrte die Kleine auf das Bild. Tränen liefen ihr über die Wangen. Wortlos blätterte Christine um und hoffte, dass Victoria das Bild wieder vergessen würde. Aber es brannte sich für immer in Victorias Erinnerung ein. Und dass ihr Vater sie wie diese Königin betrachtete, hatte plötzlich einen bitteren Nachgeschmack.
Kapitel 2
In Jahr, nachdem der Blick auf das Foto ihrer Namensgeberin Victorias Selbstbild für immer verändert hatte, erzählten ihre Eltern ihr, dass ein Geschwisterchen unterwegs sei. Victoria freute sich riesig. Etliche ihrer Schulkameraden hatten bereits Geschwister, während sie zu den wenigen Einzelkindern zählte. Ihr gefiel die Vorstellung von einem Baby, mit dem sie spielen konnte wie mit einer lebendigen Puppe. Als ihre Eltern sie mit dieser Neuigkeit überraschten, war Victoria in der zweiten Klasse. Eines Nachts hörte sie die beiden darüber reden, während sie dachten, dass Victoria schon schlief. Ihr Vater verwendete die seltsame Formulierung, dass das neue Baby ein Unfall gewesen sei. Victoria wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie fürchtete, ihr Geschwisterchen könnte verletzt worden sein, käme ohne Arme oder Beine auf die Welt oder würde vielleicht niemals laufen können. Victoria konnte nicht einschätzen, wie schlimm dieser Unfall gewesen war, und sie mochte nicht fragen. Ihre Mutter hatte deswegen geweint, und auch ihr Vater wirkte unglücklich. Sie sagten beide, dass es doch gut sei, wie es war, nur mit Victoria. Mit ihren sieben Jahren fügte sie sich nach wie vor unkompliziert in den Alltag ihrer Eltern ein.
Während der Schwangerschaft erwähnte ihr Vater immer wieder, dass er auf einen Jungen hoffe. Ihre Mutter schien sich das ebenfalls zu wünschen, aber dieses Mal dekorierte sie das Kinderzimmer in neutralem Weiß statt in Blau. Sie hatte ihre Lektion bei der Geburt von Victoria gelernt. Mutter Dawson meinte, dass sie wieder ein Mädchen bekamen, und Victoria hoffte das sehr. Ihre Eltern entschieden sich auch dieses Mal dafür, das Geschlecht des Kindes erst bei der Geburt zu erfahren. Christine fürchtete sich vor einer möglichen unangenehmen Überraschung und klammerte sich so lange wie möglich an die Hoffnung, dass es ein Junge werden würde.
Victoria verstand nicht, woran es lag, aber ihre Eltern schienen sich weniger auf das Baby zu freuen als sie selbst. Ihre Mutter klagte ständig, wie dick sie sei, und ihr Vater neckte sie, indem er sagte, er hoffe, das zweite Baby sähe nicht aus wie Victoria. Er erinnerte sie häufig an die Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter. Es gab nur wenige Fotos von ihr, und als Victoria endlich einige davon zu Gesicht bekam, sah sie darauf eine große Frau in einer Schürze, die anscheinend keine Taille hatte, dafür aber ausladende Hüften und eine Knollennase. Victoria wusste nicht, was schlimmer war - auszusehen wie diese Großmutter oder wie die hässliche Königin mit dem Mops.
Nachdem sie das Foto ihrer Großmutter gesehen hatte, war sie geradezu besessen von der Größe ihrer Nase. Sie war klein, rundlich und erinnerte Victoria an eine Zwiebel, die mitten in ihrem Gesicht klebte. Sie hoffte, dass das Baby nicht ebenfalls diese Nase geerbt hatte. Aber da dieses Kind ja ein »Unfall« war, musste man sich vermutlich um weitaus ernstere Dinge Gedanken machen als um eine Nase. Victoria hatte das Gespräch ihrer Eltern nie vergessen. Und da ihr niemand erklärte, was es mit diesem »Unfall« auf sich hatte, war sie in größter Sorge und entschlossen, sich für dieses Kind aufzuopfern. Sie konnte nur hoffen, dass die von dem »Unfall« verursachte Verletzung nicht allzu schwer war. Vielleicht hatte es ja nur den Arm gebrochen oder eine Beule am Kopf.
Dieses Mal war der Kaiserschnitt bei Christine geplant, und ihre Eltern erklärten Victoria, dass ihre Mutter eine Woche im Krankenhaus bleiben würde. Victoria durfte das Baby erst sehen, wenn sie wieder nach Hause kam. Die Eltern stellten klar, dass dies die Regeln seien, und Victoria fragte sich, ob während dieser Zeit die Verletzung behandelt werden musste, die das Baby bei dem »Unfall« erlitten hatte.
An dem Tag, als das Baby geboren wurde, kam ihr Vater abends um sechs Uhr nach Hause. Die Großmutter bereitete gerade das Abendessen für Victoria zu. Als die beiden ihn erwartungsvoll ansahen, verkündete er etwas enttäuscht, dass es wieder ein Mädchen sei. Aber dann lächelte er und fügte erleichtert hinzu, dass sie wunderschön sei und aussähe wie Christine und er. Und weil die Kleine so hübsch war, hatten sie sich für den Namen Grace entschieden. Großmutter Dawson lächelte und war stolz, dass sie das Geschlecht des Kindes korrekt vorhergesagt hatte. Jim erzählte, dass Grace schwarze Haare, dunkle Augen und den hellen Teint ihrer Mutter sowie perfekt geformte zartrosa Lippen habe. Er schwärmte, dass sie hübsch genug sei, um für Werbefotos zu posieren. Offenbar machte das sogar wett, dass sie kein Junge war. Den Unfall erwähnte er mit keinem Wort, worüber Victoria sehr froh war. Es klang so, als wäre mit dem Baby alles in Ordnung.
Am nächsten Tag riefen sie gemeinsam ihre Mutter im Krankenhaus an. Sie klang müde, und Victoria war entschlossener denn je, ihr unermüdlich zu helfen, sobald die beiden zu Hause waren.
Als Victoria ihre kleine Schwester zum ersten Mal sah, fand sie sie noch entzückender, als die Erwachsenen sie beschrieben hatten. Grace sah aus wie ein Baby aus einem Bilderbuch oder eben, wie ihr Vater es formuliert hatte, auf einer Werbeanzeige.
Großmutter Dawson stürzte sich wie eine Glucke auf die Kleine und nahm Christine das winzige Bündel aus dem Arm, während Jim seiner Frau half, es sich in einem Sessel bequem zu machen. Victoria reckte sich, um besser sehen zu können. Sie verzehrte sich danach, die Kleine im Arm zu halten, sie auf die zarten Wangen zu küssen und die winzigen Zehen zu berühren. Sie war nicht eine Sekunde lang eifersüchtig, sondern glücklich und stolz.
»Sie ist hinreißend, nicht wahr?«, sagte Jim zu seiner Mutter, die sofort zustimmte. Dieses Mal wurde die Großmutter mit keinem Wort erwähnt, und dazu gab es auch keinen Anlass. Baby Grace wirkte wie eine Porzellanpuppe und hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer großen Schwester. Tatsächlich war schwer vorstellbar, dass Victoria überhaupt in diese Familie gehörte. Nicht nur ihre Haar- und Augenfarbe fiel aus der Reihe, auch ihr kräftiger Körperbau ähnelte überhaupt nicht dem ihrer Eltern. Queen Victoria oder Großmutters Knollennase waren kein Thema. Grace hatte wie ihre Mutter die Nase einer Elfe, und es war vom ersten Moment an klar, dass sie eine von ihnen war, während man bei Victoria auf die Idee kommen mochte, dass Fremde sie einst vor die Tür gelegt hatten. Bewundernd betrachtete Victoria das kleine Bündel im Arm ihrer Großmutter und wartete sehnsüchtig darauf, sie selbst einmal halten zu dürfen. Victoria hatte die Kleine schon geliebt, lange bevor sie auf der Welt war. Und jetzt war sie endlich da.
Jim konnte auch jetzt nicht widerstehen, seine ältere Tochter wie gewohnt aufzuziehen. Er machte gern Witze auf Kosten anderer. Solange es sie nicht selbst traf, fanden seine Freunde das unheimlich lustig. Jeder konnte zur Zielscheibe seines Spotts werden.
Und so wandte er sich Victoria mit ironischem Grinsen zu, während sie liebevoll das Baby bestaunte.
»Du warst wohl unser kleiner Testkuchen«, sagte er und strich ihr liebevoll übers Haar. »Aber dieses Mal stimmte das Rezept«, verkündete er strahlend, während Großmutter Dawson Victoria erklärte, dass man mit einem Testkuchen die Zutaten und die Backzeit ausprobiere. Beim ersten Versuch würde es nie klappen. Der Testkuchen landete für gewöhnlich im Müll, und man versuchte es noch einmal. Victoria bekam fürchterliche Angst. Wurde sie jetzt weggeworfen, nachdem Grace so gut gelungen war? Aber davon sagte niemand etwas. Stattdessen gingen ihre Mutter und die Großmutter mit dem Baby nach oben. Victoria folgte ihnen ehrfürchtig, hielt sich in gebührendem Abstand und beobachtete jeden Handgriff der beiden Frauen. Sie wollte alles lernen, um das Baby auch versorgen zu können. Bestimmt durfte sie das, sobald ihre Großmutter gegangen war. Victoria hatte ihre Mutter während der Schwangerschaft gefragt, und Christine hatte es ihr versprochen.
Sie zogen dem Baby einen winzigen weißen Schlafanzug an und wickelten es in eine Decke. Dann fütterte Christine die Kleine mit Muttermilchersatz, den man ihr im Krankenhaus mitgegeben hatte. Anschließend machte Grace ein Bäuerchen und wurde in ihre Korbwiege gelegt. Endlich bekam Victoria Gelegenheit, sich den Neuankömmling in Ruhe anzusehen. Grace war das süßeste Baby, das Victoria je gesehen hatte. Aber auch wenn die Kleine ausgesehen hätte wie Queen Victoria mit der Knollennase der Urgroßmutter, hätte sie ihre kleine Schwester geliebt. Im Gegensatz zu ihrer Familie spielte für Victoria Schönheit keine Rolle.
Während ihre Mutter und die Großmutter sich unterhielten, hielt Victoria vorsichtig den Finger in die Wiege und berührte behutsam die Hand des Babys. Die Kleine sah zu ihr hoch und umklammerte mit ihrer winzigen Hand Victorias Finger. Das war für Victoria der bisher aufregendste Moment ihres Lebens. Sie spürte auf Anhieb die starke Bindung zwischen ihnen beiden und wusste, dass diese für immer halten und noch fester werden würde. Da leistete Victoria einen stummen Schwur, dass sie ihr Leben lang auf Grace aufpassen und nie zulassen würde, dass ihr jemand weh tat oder sie zum Weinen brachte.
Grace sollte ein glückliches Leben führen, und Victoria war bereit, dafür alles zu tun, was nötig war. Grace schloss die Augen und schlief ein. Victoria blieb noch eine Weile an dem Bettchen stehen und betrachtete ihre Schwester. Sie war so froh, dass von dem Unfall keine Schäden zurückgeblieben waren und dass sie ihre kleine Schwester endlich bei sich hatte.
Victoria fiel ein, was ihr Vater über sie als Testkuchen gesagt hatte, und fragte sich, ob es stimmte. Vielleicht hatten ihre Eltern sie nur bekommen, um sicherzustellen, dass sie bei Grace alles richtig machten? Wenn dem so war, dann hatten sie Erfolg gehabt. Grace war das süßeste Wesen, das Victoria je gesehen hatte, und alle anderen teilten offenbar ihre Meinung. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie jedoch, nicht sie wäre der Testkuchen gewesen, und alle hätten bei ihrem Anblick so gefühlt wie jetzt bei Grace. Aber warum auch immer sie zuerst gekommen war, sie hoffte inständig, dass ihre Eltern nie den Entschluss fassen würden, sie wegzuwerfen. Victoria wollte den Rest ihres Lebens mit Grace verbringen und die beste große Schwester der Welt sein. Und sie freute sich, dass die Kleine nicht die Nase der Urgroßmutter bekommen hatte.
Während das Baby friedlich schlief, ging Victoria nach unten, um mit den anderen zu Abend zu essen. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass Grace in den ersten Wochen viel schlafen würde. Beim Essen redete ihre Mutter darüber, dass sie so schnell wie möglich wieder schlank sein wolle. Ihr Vater schenkte den Erwachsenen Champagner ein und lächelte Victoria an. Das Lächeln, mit dem er seine Tochter bedachte, hatte stets etwas Ironisches. Victoria wusste nie mit Sicherheit, ob er sie an- oder auslachte. Trotzdem mochte sie es, wenn er sie anschaute. Und jetzt war sie einfach glücklich, Grace zu haben. Ihr Leben lang hatte sie von einer kleinen Schwester geträumt, hatte sich jemanden gewünscht, den sie lieben konnte, und der sie genauso sehr liebte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Im Dawson kam als bildhübsches Baby auf die Welt. Als man seiner Mutter das Kind zum ersten Mal in den Arm legte, betrachtete sie den Kleinen stolz. Seine Eltern waren bei seiner Geburt beide über vierzig und hatten längst die Hoffnung aufgegeben, jemals ein Kind zu bekommen. Jim war für sie Überraschung und Segen zugleich. Er blieb ein Einzelkind und bildete für seine Eltern den Mittelpunkt der Welt. Jim wuchs zu einem hübschen Jungen heran. Er war stets groß für sein Alter, von perfekter Statur und eine wahre Sportskanone. Sein Vater liebte es, mit ihm Ball zu spielen, und es dauerte nicht lange, da war Jim der Star seines Little League Teams. Bereits in der Schule umschwärmten ihn die Mädchen. Mit seinem dunklen Haar, den samtigen braunen Augen und dem markanten Grübchen am Kinn sah er aus wie ein Filmstar. Auf dem College avancierte er zum Kapitän des Footballteams, und es überraschte niemanden, dass er mit dem hübschesten Mädchen der Universität zusammen war. Ihre Familie war gerade erst von Atlanta nach Südkalifornien gezogen. Christine war zierlich, hatte einen hellen Teint wie Schneewittchen, schwarzes Haar und braune Augen. Zudem besaß sie ein freundliches, sanftes Wesen und blickte bewundernd zu Jim auf. Am Tag ihrer Abschlussfeier verlobten sich die beiden, und noch im selben Jahr heirateten sie an Weihnachten.
Jim hatte zu dem Zeitpunkt bereits einen Job in einer Agentur, während Christine in den sechs Monaten nach dem Examen die Hochzeit vorbereitete. Sie hatte ebenfalls einen Hochschulabschluss, aber ihr einziges Interesse während des vierjährigen Studiums bestand darin, einen passenden Mann zu finden und zu heiraten. Die beiden ergänzten sich wunderbar und hätten gut für das Cover einer Illustrierten als amerikanisches Traumpaar posieren können.
Nach der Hochzeit überlegte Christine, zu modeln, aber Jim war dagegen. Dank seines gutbezahlten Jobs brauchte seine Frau schließlich nicht zu arbeiten. Was würden die Leute von ihm denken? Dass er nicht in der Lage war, sie zu ernähren? Sie sollte zu Hause bleiben und jeden Abend auf ihn warten. Genau das tat Christine dann auch.
Es gab nie einen Zweifel, wer in der Familie das Sagen hatte. Jim stellte die Regeln auf, und Christine fühlte sich damit wohl. Ihre eigene Mutter war früh gestorben, und Jims Mutter, die Christine »Mutter Dawson« nannte, sang ununterbrochen Loblieder auf ihren Sohn. Christine verehrte ihn nicht weniger. Jim sah gut aus, war ein liebevoller Ehemann und kletterte stetig die Karriereleiter in der Werbeagentur hinauf. Er schloss schnell Freundschaften und war zu jedermann charmant und nett, solange man ihn nicht kritisierte. Dazu bestand aber auch selten Anlass. Seine Frau stellte er auf ein Podest und kümmerte sich rührend um sie. Als Gegenleistung erwartete er jedoch, dass sie ihn bewunderte und ihm das Kommando überließ. Ihr Vater vertrat ähnliche Vorstellungen, so dass Christine dazu erzogen worden war, für einen Mann wie Jim eine hingebungsvolle Ehefrau zu sein. Ihr Leben entsprach dem, was sie sich immer erhofft hatte. Mit Jim gab es keine unangenehmen Überraschungen oder Enttäuschungen, denn er beschützte sie und gewährleistete ihr ein sorgenfreies Leben. Die Rollen in ihrer Beziehung waren klar verteilt.
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie es nicht eilig, ein Kind zu bekommen. Übers Wochenende verreisten sie oft, und Jim führte seine Frau mindestens einmal wöchentlich zum Dinner aus - obwohl Christine eine gute Köchin war und sich seine Lieblingsgerichte schnell angeeignet hatte. Sie wollten beide irgendwann Kinder bekommen, aber noch vermissten sie nichts. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren genossen sie das Leben in vollen Zügen. Fünf Jahre nach ihrer Hochzeit begannen selbst Jims Eltern, sich Gedanken zu machen. Da sie zwanzig Jahre auf Nachwuchs hatten warten müssen, befürchteten sie nun, dass es bei dem jungen Paar ähnliche Probleme geben würde. Jim und Christine hätten vermutlich noch länger gewartet. Aber als die Leute anfingen, sich zu wundern, empfand Jim das als Kritik, wenn nicht gar als Andeutung, dass er versagte.
Die ständigen Fragen und Sticheleien gingen ihm schließlich auf die Nerven, und er teilte Christine mit, dass es Zeit sei, eine Familie zu gründen. Wie üblich stimmte sie zu. Was auch immer Jim für das Beste hielt, erschien ihr ebenfalls richtig. Christine wurde schneller schwanger, als sie beide erwartet hatten. Sie waren davon ausgegangen, dass es mindestens sechs Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr dauern würde, bis es klappte. Und trotz aller Bedenken von Jims Mutter verlief die Schwangerschaft völlig problemlos. Als die Wehen einsetzten, fuhr Jim seine Frau ins Krankenhaus und entschied, nicht bei der Geburt dabei zu sein. Christine hielt das für die richtige Entscheidung. Er sollte keinesfalls etwas tun, wobei er sich nicht wohl fühlte. Jim hoffte, dass es ein Junge sein würde, und Christine hoffte das natürlich auch, schon allein, um ihn zufriedenzustellen. So kam es beiden gar nicht in den Sinn, dass ihr Baby ein Mädchen sein könnte. Voller Zuversicht wollten sie das Geschlecht des Kindes während der Schwangerschaft nicht erfahren. So männlich, wie Jim war, konnte sein erstes Kind schließlich nur ein Sohn sein, und Christine dekorierte das Kinderzimmer in Blautönen.
Aufgrund einer Steißlage musste das Kind per Kaiserschnitt geholt werden. Christine war noch nicht aus der Narkose erwacht, als Jim sein Kind zum ersten Mal sah. Die Schwester hielt es hinter der Scheibe des Säuglingszimmers hoch, und als Jim das Baby erblickte, war er sicher, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Das Neugeborene hatte ein rundes Gesicht mit Pausbäckchen, hellblondes Haar und ähnelte weder ihm noch seiner Frau. Erschreckender war jedoch etwas anderes: Es war ein Mädchen. Das war nicht das Kind, das Jim erwartet hatte, und als es ihn durch die Scheibe ansah, erinnerte ihn das Gesicht der Kleinen spontan an das der britischen Queen Victoria. Das sagte er auch einer der Schwestern, die daraufhin empört reagierte und ihm vorhielt, dass seine Tochter wunderschön sei. Jim war anderer Ansicht. Die Kleine sah aus wie das Kind von fremden Eltern, sie ähnelte weder ihm noch Christine. Enttäuscht und mürrisch saß er im Wartezimmer, bis er zu Christine durfte. Sobald sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass sie in den Augen ihres Mannes versagt hatte.
»Ist es ein Mädchen?«, flüsterte sie, noch ganz benommen von der Narkose. Jim nickte. Wie sollte er seinen Freunden beibringen, dass der sicher geglaubte Sohn nun doch ein Mädchen war? Das war ein harter Schlag für sein Ego - und auch für sein Image. Diese eine Angelegenheit hatte sich seiner Kontrolle entzogen, und das gefiel ihm gar nicht. Schließlich war er es gewohnt, alles zu bestimmen, und Christine war stets bereit, mitzuspielen.
»Ja, es ist ein Mädchen«, brachte er schließlich mühsam über die Lippen, während eine Träne aus Christines Augenwinkel kullerte. »Sie sieht aus wie Queen Victoria.« Und dann grinste er wehmütig und fügte hinzu: »Ich weiß wirklich nicht, wer der Vater ist. Sie hat blaue Augen und blonde Haare.« In Jims Familie war niemand blond und blauäugig, abgesehen von seiner Großmutter, aber das schien ihm weit hergeholt. Da er andererseits von Christines Treue überzeugt war, mussten es wohl längst verloren geglaubte Merkmale vergangener Generationen sein, die sich bei diesem Kind ausprägten. Die Schwestern behaupteten zwar, die Kleine sei süß, aber dem konnte Jim nicht zustimmen. Erst Stunden nach der Geburt wurde das Kind zu Christine gebracht. Staunend betrachtete sie ihre in eine rosa Decke gehüllte Tochter und betastete die winzigen Hände. Christine hatte gerade erst eine Spritze gegen den Milcheinschuss bekommen, da sie nicht stillen wollte. Jim hielt nichts vom Stillen, und sie selbst hatte auch kein großes Interesse daran. Christine wollte so schnell wie möglich ihre gute Figur zurückerlangen. Jim mochte sie schlank und zierlich und hatte ihre Rundungen während der Schwangerschaft wenig attraktiv gefunden. Deshalb hatte sich Christine auch bemüht, nicht viel zuzunehmen. Dass dieses Kind ihre gemeinsame Tochter sein sollte, fiel ihr genauso schwer zu glauben wie Jim.
Als Mutter Dawson ihr Enkelkind zum ersten Mal sah, stimmte sie ihrem Sohn sofort zu. Die Kleine hatte zwar die langen Beine von Jim, aber ansonsten ähnelte sie allenfalls seiner Großmutter väterlicherseits, was sich hoffentlich bald legte. Besagte Großmutter war ihr Leben lang eine rundliche, korpulente Person gewesen, die zwar für ihre Koch- und Nähkünste gerühmt wurde, aber nie für ihr Aussehen.
Einen Tag nach der Geburt hatte sich der Schrecken, dass es ein Mädchen war, ein wenig gelegt. Allerdings zogen Jims Freunde im Büro ihn auf, dass er für einen Sohn wohl noch ein bisschen üben müsse. Christine sorgte sich, dass Jim wütend auf sie sein könnte, aber er versicherte ihr seine Freude darüber, dass es ihr und dem Kind gutginge. Sie würden eben das Beste aus der Situation machen. Die Art, wie er das sagte, vermittelte Christine das Gefühl, nur den Trostpreis bekommen zu haben. Sie wusste nur zu gut, dass sich Jim als Bestätigung seiner Männlichkeit einen Sohn gewünscht hatte. Daher hatten sie für dieses pausbäckige, blonde Baby in Christines Armen nicht einmal einen Namen parat.
Jim hatte über die Ähnlichkeit mit Queen Victoria zwar nur Witze gemacht, doch der Name gefiel ihnen beiden. Jim ging noch einen Schritt weiter und schlug Regina als Zweitnamen vor. Victoria Regina Dawson. Der Name wirkte seltsam passend für die Kleine, und Christine stimmte zu. Ihr Mann sollte wenigstens mit der Namenswahl zufrieden sein, denn sie wurde das Gefühl nicht los, ihn enttäuscht zu haben. Aber als sie fünf Tage nach der Geburt aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schien er ihr vergeben zu haben.
Victoria war ein unproblematisches, liebes Kind, stets gut gelaunt und anspruchslos. Sie konnte schon früh laufen und sprechen, und die Leute sagten ständig, was für ein süßes Kind sie doch sei. Ihr Haar blieb hell. Der weißblonde Schopf, den sie bei der Geburt gehabt hatte, entwickelte sich zu goldblonden Löckchen. Sie besaß einen hellen Teint und große blaue Augen. Viele sagten, dass sie sehr britisch aussehe, und Jim erwähnte dann stets, dass sie nach Queen Victoria benannt war, weil sie so eine königliche Ausstrahlung hatte. Die Leute lachten darüber jedes Mal herzhaft, und es wurde zu seinem Lieblingswitz über das Kind, den er bereitwillig jedem erzählte. Christine kicherte dann immer leicht verlegen. Sie liebte ihre Tochter, aber die Liebe ihres Lebens war nun einmal ihr Mann. Im Unterschied zu manchen Frauen, die völlig auf ihre Kinder fokussiert sind, kam bei ihr Jim an erster Stelle und dann erst Victoria. Christine war die perfekte Partnerin für einen Narzissten wie Jim. Sie hatte nur Augen für ihn. Und obwohl sich Jim immer noch einen Sohn wünschte, um seine Männlichkeit zu demonstrieren, hatten die beiden keine Eile, ein zweites Kind zu bekommen.
Victoria fügte sich problemlos in das Leben ihrer Eltern ein. Die beiden fürchteten jedoch, dass es mit zwei Kindern, vor allem, wenn sie kurz aufeinanderfolgten, anstrengender werden würde. Mutter Dawson rieb ständig Salz in die Wunde und betonte, dass sie gar kein zweites Kind in Erwägung ziehen müssten, wenn sie anstelle von Victoria einen Jungen bekommen hätten. Ihrer Meinung nach waren Einzelkinder von Natur aus fröhlicher und cleverer.
Als Victoria heranwuchs, entpuppte sie sich tatsächlich als überaus intelligent und wortgewandt. Bereits als Dreijährige führte sie Gespräche wie eine Erwachsene. Sie besaß Humor, war aufgeweckt und interessierte sich für alles, was um sie herum passierte. Als sie vier Jahre alt war, brachte Christine ihr das Lesen bei, und als sie fünf war, erzählte ihr Vater ihr, dass sie nach einer Königin namens Victoria benannt sei. Victoria wusste aus ihren Märchenbüchern, wie Königinnen aussehen. Sie waren wunderschön und trugen hübsche Kleider. Manchmal verfügten sie sogar über Zauberkräfte. Deshalb strahlte sie jedes Mal, wenn er davon sprach. Angeblich ähnelte sie auch der Großmutter ihres Vaters, aber auch von ihr hatte sie nie ein Foto zu Gesicht bekommen, und so fragte sie sich, ob ihre Großmutter vielleicht auch eine Königin gewesen sei.
Im Alter von sechs Jahren war Victoria ein pausbäckiger Wonneproppen. Sie hatte kräftige, lange Beine und war groß für ihr Alter. Mittlerweile besuchte sie die erste Klasse und überragte die meisten ihrer Mitschüler - und wog auch mehr als die meisten. Die Leute nannten sie immer »das große Mädchen«, was Victoria als Kompliment empfand.
Eines Tages, sie war immer noch im ersten Schuljahr, sah sie sich zusammen mit ihrer Mutter ein Buch an und entdeckte zum ersten Mal ein Bild jener Königin, nach der sie benannt worden war. Der Name stand gut lesbar unter dem Bild: Victoria Regina, so wie sie selbst auch hieß.
Die Monarchin hielt einen Mops im Arm, der ihr erstaunlich ähnelte. Das Foto war entstanden, als die Königin schon recht alt war. Eine Weile lang betrachte Victoria das Bild schweigend.
»Ist sie das?«, fragte sie schließlich ihre Mutter, wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit ihren großen blauen Augen an. Christine nickte lächelnd. Letzten Endes war es ja nur ein Scherz. Victoria ähnelte Jims Großmutter - und sonst niemandem.
»Sie war vor langer Zeit eine bedeutende Königin in England«, erklärte Christine.
»Sie ist angezogen wie ein Clown und trägt nicht einmal ein hübsches Kleid. Sogar ihr Hund ist hässlich.« Victoria wirkte am Boden zerstört.
»Sie war zu dem Zeitpunkt schon sehr alt«, versuchte ihre Mutter den Schrecken, den das Foto ausgelöst hatte, zu mildern. Sie sah ihrer Tochter an, dass sie tief bestürzt war, und das ging auch ihr nahe. Christine wusste, dass Jim es nicht böse gemeint hatte, aber offenbar ging sein Scherz nach hinten los. Noch immer starrte die Kleine auf das Bild. Tränen liefen ihr über die Wangen. Wortlos blätterte Christine um und hoffte, dass Victoria das Bild wieder vergessen würde. Aber es brannte sich für immer in Victorias Erinnerung ein. Und dass ihr Vater sie wie diese Königin betrachtete, hatte plötzlich einen bitteren Nachgeschmack.
Kapitel 2
In Jahr, nachdem der Blick auf das Foto ihrer Namensgeberin Victorias Selbstbild für immer verändert hatte, erzählten ihre Eltern ihr, dass ein Geschwisterchen unterwegs sei. Victoria freute sich riesig. Etliche ihrer Schulkameraden hatten bereits Geschwister, während sie zu den wenigen Einzelkindern zählte. Ihr gefiel die Vorstellung von einem Baby, mit dem sie spielen konnte wie mit einer lebendigen Puppe. Als ihre Eltern sie mit dieser Neuigkeit überraschten, war Victoria in der zweiten Klasse. Eines Nachts hörte sie die beiden darüber reden, während sie dachten, dass Victoria schon schlief. Ihr Vater verwendete die seltsame Formulierung, dass das neue Baby ein Unfall gewesen sei. Victoria wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie fürchtete, ihr Geschwisterchen könnte verletzt worden sein, käme ohne Arme oder Beine auf die Welt oder würde vielleicht niemals laufen können. Victoria konnte nicht einschätzen, wie schlimm dieser Unfall gewesen war, und sie mochte nicht fragen. Ihre Mutter hatte deswegen geweint, und auch ihr Vater wirkte unglücklich. Sie sagten beide, dass es doch gut sei, wie es war, nur mit Victoria. Mit ihren sieben Jahren fügte sie sich nach wie vor unkompliziert in den Alltag ihrer Eltern ein.
Während der Schwangerschaft erwähnte ihr Vater immer wieder, dass er auf einen Jungen hoffe. Ihre Mutter schien sich das ebenfalls zu wünschen, aber dieses Mal dekorierte sie das Kinderzimmer in neutralem Weiß statt in Blau. Sie hatte ihre Lektion bei der Geburt von Victoria gelernt. Mutter Dawson meinte, dass sie wieder ein Mädchen bekamen, und Victoria hoffte das sehr. Ihre Eltern entschieden sich auch dieses Mal dafür, das Geschlecht des Kindes erst bei der Geburt zu erfahren. Christine fürchtete sich vor einer möglichen unangenehmen Überraschung und klammerte sich so lange wie möglich an die Hoffnung, dass es ein Junge werden würde.
Victoria verstand nicht, woran es lag, aber ihre Eltern schienen sich weniger auf das Baby zu freuen als sie selbst. Ihre Mutter klagte ständig, wie dick sie sei, und ihr Vater neckte sie, indem er sagte, er hoffe, das zweite Baby sähe nicht aus wie Victoria. Er erinnerte sie häufig an die Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter. Es gab nur wenige Fotos von ihr, und als Victoria endlich einige davon zu Gesicht bekam, sah sie darauf eine große Frau in einer Schürze, die anscheinend keine Taille hatte, dafür aber ausladende Hüften und eine Knollennase. Victoria wusste nicht, was schlimmer war - auszusehen wie diese Großmutter oder wie die hässliche Königin mit dem Mops.
Nachdem sie das Foto ihrer Großmutter gesehen hatte, war sie geradezu besessen von der Größe ihrer Nase. Sie war klein, rundlich und erinnerte Victoria an eine Zwiebel, die mitten in ihrem Gesicht klebte. Sie hoffte, dass das Baby nicht ebenfalls diese Nase geerbt hatte. Aber da dieses Kind ja ein »Unfall« war, musste man sich vermutlich um weitaus ernstere Dinge Gedanken machen als um eine Nase. Victoria hatte das Gespräch ihrer Eltern nie vergessen. Und da ihr niemand erklärte, was es mit diesem »Unfall« auf sich hatte, war sie in größter Sorge und entschlossen, sich für dieses Kind aufzuopfern. Sie konnte nur hoffen, dass die von dem »Unfall« verursachte Verletzung nicht allzu schwer war. Vielleicht hatte es ja nur den Arm gebrochen oder eine Beule am Kopf.
Dieses Mal war der Kaiserschnitt bei Christine geplant, und ihre Eltern erklärten Victoria, dass ihre Mutter eine Woche im Krankenhaus bleiben würde. Victoria durfte das Baby erst sehen, wenn sie wieder nach Hause kam. Die Eltern stellten klar, dass dies die Regeln seien, und Victoria fragte sich, ob während dieser Zeit die Verletzung behandelt werden musste, die das Baby bei dem »Unfall« erlitten hatte.
An dem Tag, als das Baby geboren wurde, kam ihr Vater abends um sechs Uhr nach Hause. Die Großmutter bereitete gerade das Abendessen für Victoria zu. Als die beiden ihn erwartungsvoll ansahen, verkündete er etwas enttäuscht, dass es wieder ein Mädchen sei. Aber dann lächelte er und fügte erleichtert hinzu, dass sie wunderschön sei und aussähe wie Christine und er. Und weil die Kleine so hübsch war, hatten sie sich für den Namen Grace entschieden. Großmutter Dawson lächelte und war stolz, dass sie das Geschlecht des Kindes korrekt vorhergesagt hatte. Jim erzählte, dass Grace schwarze Haare, dunkle Augen und den hellen Teint ihrer Mutter sowie perfekt geformte zartrosa Lippen habe. Er schwärmte, dass sie hübsch genug sei, um für Werbefotos zu posieren. Offenbar machte das sogar wett, dass sie kein Junge war. Den Unfall erwähnte er mit keinem Wort, worüber Victoria sehr froh war. Es klang so, als wäre mit dem Baby alles in Ordnung.
Am nächsten Tag riefen sie gemeinsam ihre Mutter im Krankenhaus an. Sie klang müde, und Victoria war entschlossener denn je, ihr unermüdlich zu helfen, sobald die beiden zu Hause waren.
Als Victoria ihre kleine Schwester zum ersten Mal sah, fand sie sie noch entzückender, als die Erwachsenen sie beschrieben hatten. Grace sah aus wie ein Baby aus einem Bilderbuch oder eben, wie ihr Vater es formuliert hatte, auf einer Werbeanzeige.
Großmutter Dawson stürzte sich wie eine Glucke auf die Kleine und nahm Christine das winzige Bündel aus dem Arm, während Jim seiner Frau half, es sich in einem Sessel bequem zu machen. Victoria reckte sich, um besser sehen zu können. Sie verzehrte sich danach, die Kleine im Arm zu halten, sie auf die zarten Wangen zu küssen und die winzigen Zehen zu berühren. Sie war nicht eine Sekunde lang eifersüchtig, sondern glücklich und stolz.
»Sie ist hinreißend, nicht wahr?«, sagte Jim zu seiner Mutter, die sofort zustimmte. Dieses Mal wurde die Großmutter mit keinem Wort erwähnt, und dazu gab es auch keinen Anlass. Baby Grace wirkte wie eine Porzellanpuppe und hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer großen Schwester. Tatsächlich war schwer vorstellbar, dass Victoria überhaupt in diese Familie gehörte. Nicht nur ihre Haar- und Augenfarbe fiel aus der Reihe, auch ihr kräftiger Körperbau ähnelte überhaupt nicht dem ihrer Eltern. Queen Victoria oder Großmutters Knollennase waren kein Thema. Grace hatte wie ihre Mutter die Nase einer Elfe, und es war vom ersten Moment an klar, dass sie eine von ihnen war, während man bei Victoria auf die Idee kommen mochte, dass Fremde sie einst vor die Tür gelegt hatten. Bewundernd betrachtete Victoria das kleine Bündel im Arm ihrer Großmutter und wartete sehnsüchtig darauf, sie selbst einmal halten zu dürfen. Victoria hatte die Kleine schon geliebt, lange bevor sie auf der Welt war. Und jetzt war sie endlich da.
Jim konnte auch jetzt nicht widerstehen, seine ältere Tochter wie gewohnt aufzuziehen. Er machte gern Witze auf Kosten anderer. Solange es sie nicht selbst traf, fanden seine Freunde das unheimlich lustig. Jeder konnte zur Zielscheibe seines Spotts werden.
Und so wandte er sich Victoria mit ironischem Grinsen zu, während sie liebevoll das Baby bestaunte.
»Du warst wohl unser kleiner Testkuchen«, sagte er und strich ihr liebevoll übers Haar. »Aber dieses Mal stimmte das Rezept«, verkündete er strahlend, während Großmutter Dawson Victoria erklärte, dass man mit einem Testkuchen die Zutaten und die Backzeit ausprobiere. Beim ersten Versuch würde es nie klappen. Der Testkuchen landete für gewöhnlich im Müll, und man versuchte es noch einmal. Victoria bekam fürchterliche Angst. Wurde sie jetzt weggeworfen, nachdem Grace so gut gelungen war? Aber davon sagte niemand etwas. Stattdessen gingen ihre Mutter und die Großmutter mit dem Baby nach oben. Victoria folgte ihnen ehrfürchtig, hielt sich in gebührendem Abstand und beobachtete jeden Handgriff der beiden Frauen. Sie wollte alles lernen, um das Baby auch versorgen zu können. Bestimmt durfte sie das, sobald ihre Großmutter gegangen war. Victoria hatte ihre Mutter während der Schwangerschaft gefragt, und Christine hatte es ihr versprochen.
Sie zogen dem Baby einen winzigen weißen Schlafanzug an und wickelten es in eine Decke. Dann fütterte Christine die Kleine mit Muttermilchersatz, den man ihr im Krankenhaus mitgegeben hatte. Anschließend machte Grace ein Bäuerchen und wurde in ihre Korbwiege gelegt. Endlich bekam Victoria Gelegenheit, sich den Neuankömmling in Ruhe anzusehen. Grace war das süßeste Baby, das Victoria je gesehen hatte. Aber auch wenn die Kleine ausgesehen hätte wie Queen Victoria mit der Knollennase der Urgroßmutter, hätte sie ihre kleine Schwester geliebt. Im Gegensatz zu ihrer Familie spielte für Victoria Schönheit keine Rolle.
Während ihre Mutter und die Großmutter sich unterhielten, hielt Victoria vorsichtig den Finger in die Wiege und berührte behutsam die Hand des Babys. Die Kleine sah zu ihr hoch und umklammerte mit ihrer winzigen Hand Victorias Finger. Das war für Victoria der bisher aufregendste Moment ihres Lebens. Sie spürte auf Anhieb die starke Bindung zwischen ihnen beiden und wusste, dass diese für immer halten und noch fester werden würde. Da leistete Victoria einen stummen Schwur, dass sie ihr Leben lang auf Grace aufpassen und nie zulassen würde, dass ihr jemand weh tat oder sie zum Weinen brachte.
Grace sollte ein glückliches Leben führen, und Victoria war bereit, dafür alles zu tun, was nötig war. Grace schloss die Augen und schlief ein. Victoria blieb noch eine Weile an dem Bettchen stehen und betrachtete ihre Schwester. Sie war so froh, dass von dem Unfall keine Schäden zurückgeblieben waren und dass sie ihre kleine Schwester endlich bei sich hatte.
Victoria fiel ein, was ihr Vater über sie als Testkuchen gesagt hatte, und fragte sich, ob es stimmte. Vielleicht hatten ihre Eltern sie nur bekommen, um sicherzustellen, dass sie bei Grace alles richtig machten? Wenn dem so war, dann hatten sie Erfolg gehabt. Grace war das süßeste Wesen, das Victoria je gesehen hatte, und alle anderen teilten offenbar ihre Meinung. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie jedoch, nicht sie wäre der Testkuchen gewesen, und alle hätten bei ihrem Anblick so gefühlt wie jetzt bei Grace. Aber warum auch immer sie zuerst gekommen war, sie hoffte inständig, dass ihre Eltern nie den Entschluss fassen würden, sie wegzuwerfen. Victoria wollte den Rest ihres Lebens mit Grace verbringen und die beste große Schwester der Welt sein. Und sie freute sich, dass die Kleine nicht die Nase der Urgroßmutter bekommen hatte.
Während das Baby friedlich schlief, ging Victoria nach unten, um mit den anderen zu Abend zu essen. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass Grace in den ersten Wochen viel schlafen würde. Beim Essen redete ihre Mutter darüber, dass sie so schnell wie möglich wieder schlank sein wolle. Ihr Vater schenkte den Erwachsenen Champagner ein und lächelte Victoria an. Das Lächeln, mit dem er seine Tochter bedachte, hatte stets etwas Ironisches. Victoria wusste nie mit Sicherheit, ob er sie an- oder auslachte. Trotzdem mochte sie es, wenn er sie anschaute. Und jetzt war sie einfach glücklich, Grace zu haben. Ihr Leben lang hatte sie von einer kleinen Schwester geträumt, hatte sich jemanden gewünscht, den sie lieben konnte, und der sie genauso sehr liebte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Danielle Steel
Danielle Steel ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt - mit rund 600 Millionen verkauften Büchern, die in knapp 50 Ländern erschienen sind. Nahezu jeder ihrer 78 Romane schaffte es auf die New-York-Times-Bestsellerliste. Neben dem Schreiben widmet sich die Mutter von neun Kindern intensiv ihrer Familie und engagiert sich für verschiedene soziale Stiftungen. Danielle Steel lebt heute in San Francisco und verbringt mehrere Monate des Jahres in Frankreich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Danielle Steel
- 367 Seiten, Masse: 14 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651030
- ISBN-13: 9783863651039
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