Bernsteinheilerin
Roman
Lübeck zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die kleine Johanna wächst bei ihren Großeltern auf. Nun soll das Mädchen eine Ausbildung als Bernsteinschnitzerin machen, was sie nicht versteht. Hat dies etwas mit dem Bernsteinanhänger zu tun, den ihr die Mutter hinterließ?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Bernsteinheilerin “
Lübeck zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die kleine Johanna wächst bei ihren Großeltern auf. Nun soll das Mädchen eine Ausbildung als Bernsteinschnitzerin machen, was sie nicht versteht. Hat dies etwas mit dem Bernsteinanhänger zu tun, den ihr die Mutter hinterließ?
Klappentext zu „Bernsteinheilerin “
Der Zauber des Bernsteins und eine Frau, die mutig ihren Weg gehtLübeck zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die kleine Johanna wächst wohlbehütet bei ihren Grosseltern auf. Von ihren Eltern weiss sie nur, dass die Mutter wenige Tage nach Johannas Geburt gestorben ist. Als Johanna erwachsen wird, soll sie eine Ausbildung als Bernsteinschnitzerin machen - und versteht absolut nicht, warum sie als Mädchen in eine handwerkliche Lehre gehen muss. Sollte ihr Schicksal wirklich an den geheimnisvollen Bernsteinanhänger gebunden sein, den ihre Mutter ihr hinterlassen hat?
Lese-Probe zu „Bernsteinheilerin “
Die Bernsteinheilerin von Lena JohannsonProlog
Sie war hungrig. Sehr hungrig. Schon viel zu lange hatte sie nicht mehr gegessen. Jedenfalls nicht genug. Nicht so viel, dass ihr Körper kräftig und voller Energie hätte sein können. Es war heiß. Die Sonne brannte an diesem Tag besonders erbarmungslos auf den Wald nieder. Nicht weit von dem Platz, an dem sie sich vor den sengenden Strahlen verbarg, plätscherte ein Fluss. Schon der Klang war die Verheißung von Abkühlung und Erfrischung. Doch sie fühlte sich nicht stark genug, um die mehreren hundert Meter zurückzulegen. Es wäre gewiss klug gewesen, in einer Höhle Schutz zu suchen, bis der Abend dämmerte. Nur musste sie essen, und zwar bald. Also ging sie auf die Jagd. Sie beobachtete aufmerksam die Ahornbäume, Stechpalmen und Kiefern um sich herum und den weichen Waldboden, auf dem niedrige Myrte und haarige Brennnessel wuchs, ob sich irgendwo etwas bewegte, ob sich eine lohnende Beute sehen ließ. Sie konnte nur regungslos verharren in der Hoffnung, eine Kreatur, vielleicht auf dem Weg zum Fluss, käme an ihr vorüber. War die leichtsinnig genug, sich in ihre Nähe zu wagen, wäre ihre Stunde gekommen. Blitzschnell würde sie zuschlagen, wie sie es schon oft getan hatte. Sie war eine gute Jägerin, die es bisher stets verstanden hatte, sich reichlich zu versorgen, und der es gleichzeitig immer gelungen war, den Gefahren des Waldes aus dem Weg zu gehen. Und die gab es nicht zu knapp. Es waren mehr Räuber unterwegs, als ihr lieb sein konnte. Auch war die Zahl derer groß, die auf die gleiche Beute aus waren wie sie selbst. Sie gehörte keiner Gemeinschaft an, die sie in schlechten Zeiten hätte ernähren können. Sie war allein und ganz auf sich selbst und ihre Fähigkeiten gestellt. So war es schon immer.
Die Hitze war kaum mehr zu ertragen. Ohne den
... mehr
Wald mit seinem Schatten wäre sie verloren. Ihr war, als würde sie innerlich ausdorren, als würde ihr die Haut auf dem Leib brennen. Sie hatte kein Empfinden dafür, wie lange sie bereits wartete, und es kümmerte sie auch nicht. Sie lauerte, matt, von der Entbehrung gezeichnet und dennoch aufmerksam. Sie würde so lange aushalten, bis sich eine Gelegenheit ergab.
Endlich war diese gekommen. Eine fette Made kroch über die Rinde einer Kiefer nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. In dem Moment, in dem sie die Insektenlarve entdeckte, wusste sie, dass diese ihr nicht entrinnen konnte. Mit ihren kurzen, kaum erkennbaren Beinen, mit denen sie sich vorwärtsschob, war sie viel zu langsam.
Die Eidechse würde leichtes Spiel haben, die Made endlich wieder eine lohnende Mahlzeit abgeben. Vögel zwitscherten, der Fluss klang mit einem Mal munter und fröhlich, und kam da nicht auch ein laues Lüftchen auf, das in den Blättern rauschte und Abkühlung versprach? Nur noch wenige Sekunden, dann konnte sie sich am Fleisch ihrer Beute laben. Die Augen der Eidechse, kupferfarben und erhaben wie die Köpfe kleiner Nägel, schnellten von einer Seite zur anderen, kontrollierten die Umgebung. Jetzt durfte niemand mehr den Fang gefährden. Der geschuppte Körper regte sich keinen Deut. In dem Moment, als er sich anspannte, um sich mit einem Satz auf die Made zu stürzen, wurde er vom Baum geschleudert. Ein dicker Tropfen, zäh wie fester Honig, hüllte den Kopf der Eidechse ein. Die Zunge, schon vorgestreckt, um die Larve zu fangen, ließ sich nicht mehr bewegen. Das kleine Herz pochte wild, die Knöpfchenaugen waren weit aufgerissen, als die Eidechse im Harz der Kiefer ganz langsam zu ersticken begann.
1
Johanna Luise streckte sich unter ihrem dicken Daunenbett. Sie mochte die Augen nicht öffnen, denn sie hatte einen herrlichen Traum gehabt, in dem sie gerne noch verweilen wollte. Sie war wieder zu Hause bei ihren Großeltern Hanna und Carsten Thurau in Lübeck. Der französische Weinhändler Luc Briand war mit seiner Frau und seinem Sohn Louis zu Besuch, und Johanna hatte ihm soeben das Versprechen abgenommen, die Familie bald auf dem Weingut vor den Toren von Bordeaux besuchen zu dürfen. Bei dem Gedanken an die geliebte Hansestadt, in der sie aufgewachsen war, seufzte sie tief und wurde vollends wach. Sie rieb sich die Augen. Ein weiterer Seufzer entwischte ihrer Brust. Wie sehr sie sich nach zu Hause sehnte. Johanna schlüpfte aus dem Bett, ging ans Fenster und öffnete es. Sie hörte den Vögeln zu, die den Tag mit zwitscherndem Gesang begrüßten, blinzelte in die Sonne und schaute über die Straße zur Marienkirche. Der Anblick schenkte ihr Trost, erinnerte sie das Gotteshaus doch ein wenig an die gleichnamige Kirche in Lübeck. Dort, in der Wehde zu St. Marien, war sie bis zu ihrer Konfirmation zur Lehranstalt für Mädchen gegangen. Vor allem Handarbeiten hatten auf dem Plan gestanden. Und auch über die Tiere und Pflanzen ihrer Heimat hatte Johanna viel gelernt. Sie wurde wehmütig bei dem Gedanken an die unbeschwerte Zeit, die sie mit ihren Freundinnen verbracht, und an die Abende mit ihrer Großmutter Hanna, die sie die französische Sprache gelehrt hatte.
Johanna schüttelte die Traurigkeit ab. Noch einmal führte sie sich ihren Traum vor Augen. Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet von Besuch aus Frankreich geträumt hatte. Es war schon lange her, dass sie Louis Briand zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war sie noch ein Kind von vierzehn Jahren gewesen. Louis war drei Jahre älter als sie. Sie erinnerte sich an sein störrisches dunkelblondes Haar und die grauen Augen, die ihr so gut gefielen. Viel geredet hatten sie bei keiner ihrer Begegnungen. Johanna hatte ihre Freundinnen und Louis kein Interesse an kleinen Mädchen.
Das Haus des Stolper Bernsteindrehers Johann-Baptist Becker, bei dem sie seit zwei Jahren in die Lehre ging, lag in der Neuthorschen Straße an der Ecke zur Kirchhofsstraße. Gerade rumpelte eine Droschke die Neuthorsche entlang und verschwand aus Johannas Blick in den Abschnitt, den man die goldene Gasse nannte, weil dort die Bernsteinmeister ansässig waren, die aus dem Gold der Ostsee feinsten Schmuck und auch Gegenstände des täglichen Lebens machten wie Schalen oder Brieföffner. Von ihrem Fenster konnte sie nicht nur die Kirche sehen, sondern auch das Haus des Brauers Scheffler. Seine Tochter wohnte ihr direkt vis-à-vis. Die Vorhänge waren an diesem Morgen aufgezogen. Ein gutes Zeichen. Johanna konnte Trautlind in ihrem Bett sitzen sehen. Sie wusste nicht viel von ihr, nur dass man sie meist hinter geschlossenen Vorhängen versteckte, weil sie angeblich eine hässliche Nervenkrankheit hatte, und dass sie derartig auf dem Klavier zu spielen vermochte wie kein Zweiter in der ganzen Stadt. Nur selten hatte Johanna einen freien Blick in Trautlinds Zimmer. Manchmal winkten die jungen Frauen sich kurz zu, dann wieder blieb es nur bei einem Lächeln. Gewiss würde Trautlind an diesem Tag noch musizieren, und Johanna konnte ihr ein wenig zuhören, wenn sie in der Gasse die Frühlingssonne genoss, die bereits jetzt einige Kraft hatte.
Es muss schon spät sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Onkel Johann-Baptist würde enttäuscht sein, dass sie wieder einmal nicht mit ihm und seiner Frau Bruni gefrühstückt hatte. Er würde nicht verstehen, dass sie ihren Traum bis zum letzten Moment hatte auskosten wollen. Und er würde nie begreifen, dass es ihr einfach keine Freude machte, Tag für Tag in seine Werkstatt zu kommen und aus unförmigen Bernsteinbrocken die abenteuerlichsten Figuren zu schnitzen. Sosehr sie sich auch mühte, gelangen ihr doch nicht die Kunstwerke, die man offenbar von ihr erwartete. Warum also sollte sie es immer wieder aufs Neue probieren? Welchen Grund gab es, jeden Morgen das warme Bett zu verlassen? Nur weil ihre Mutter eine Künstlerin gewesen war, musste sie nun ein Handwerk erlernen, das doch für gewöhnlich Männern vorbehalten blieb. Keine ihrer Freundinnen in Lübeck musste in eine Lehre gehen. Sie wurden von ihren Müttern oder Ammen darauf vorbereitet, einen Haushalt zu führen. Johanna hatte nicht einmal eine Mutter. Die war gleich nach ihrer Geburt gestorben. Doch kurz vor ihrem Tod, so predigte man es Johanna wieder und wieder, hatte sie den dringenden Wunsch geäußert, ihre Tochter möge bei dem Bernsteindreher in Stolp in die Lehre gehen. Johanna hatte sich mit aller Kraft dagegen gewehrt ohne Erfolg.
»Es ist so beschlossen«, hatte Großvater Carsten sie wissen lassen.
Und Großmutter Hanna hatte ergänzt: »Wir haben es deiner Mutter versprochen.«
Johanna steckte das lange braune Haar zu einem lockeren Knoten und kleidete sich an. In der Küche würde ihr das Dienstmädchen etwas Gutes zum Frühstück zubereiten, wie so oft, wenn Johanna wieder einmal spät dran war. In der Werkstatt dann würde Johann-Baptist sie schweigend und mit vorwurfsvollem Blick erwarten, doch es kümmerte sie nicht sehr. Sie wollte nicht hier sein. Und sie wollte nicht schnitzen. Wenn ihr mangelndes Talent und ihr fehlender Eifer ihrem Onkel so zu schaffen machten, sollte er sie doch endlich nach Hause schicken. Gerade wollte sie ihre Kammer verlassen, als es klopfte, gleich darauf die Tür aufflog, noch ehe Johanna etwas sagen konnte, und das Dienstmädchen Marija hereinkam.
Sie war klein, drall und hölzern in ihrer Bewegung. Marija machte einen umständlichen Knicks und verlor fast die Balance, so war sie in Eile. »Der Herr Becker wünscht Sie in der Stube zu sehen, Fräulein«, sagte sie.
»Er ist nicht in der Werkstatt?«, fragte Johanna erstaunt.
»Nein, er hat ausdrücklich gesagt, Sie sollen in die Stube kommen«, antwortete Marija und sah dabei aus, als müsste sie sich sehr konzentrieren, um sich an die Worte des Hausherrn zu erinnern.
»Na schön«, meinte Johanna leichthin. Sie fürchtete sich nicht vor einer Standpauke, die ihr bevorstehen mochte. Es wäre nicht die erste und gewiss auch nicht die letzte.
Die gute Stube war leer, als Johanna eintrat. Also nutzte sie die Zeit, um die neue Standuhr zu betrachten, die kürzlich aus Amsterdam geliefert worden war. Sie liebte das aus Messing gefertigte Zifferblatt. Dabei war es weder der Glanz des polierten Metalls, den sie so mochte, noch interessierte sie sich für die Anzeige von Datum und Wochentag, von Monat oder Sternbild. Ihr Blick war fest auf die bemalten Metallschiffe gerichtet, die in zwei Reihen oberhalb des Zifferblatts auf den Wellen erstarrt waren. Nur noch zwei Minuten, dann würde die Uhr die volle Stunde schlagen, und die Schiffe würden über das metallene Meer tanzen. Sooft sie das seit der Ankunft der Uhr auch schon gesehen hatte, so sehr konnte der Anblick sie immer wieder erfreuen und ihre Phantasie beflügeln, sich Geschichten über kühne Seefahrer und wilde Piraten auszudenken. Sie starrte gebannt hinauf. Schon war ihr, als würden sich die Segel im Wind blähen. Doch wenige Sekunden bevor der Minutenzeiger auf die Zwölf rückte und die Mechanik sich in Bewegung setzte, betrat Johann-Baptist den Raum, und Johanna fuhr zu ihm herum. Obwohl er längst ein alter Mann war, der sich zur Ruhe setzen sollte, machte er mit seiner kräftigen Statur und dem vollen grauen Haar und ebensolchem Bart noch immer eine gute Figur, die einen jeden beeindruckte. Hinter Johanna schlug die Standuhr zehn, und ein leises Surren verriet, dass das Schauspiel der Schiffe begann. Sie ärgerte sich, dass sie es dieses Mal verpasste, verzichtete jedoch darauf, ihrem Onkel den Rücken zu kehren.
»Setz dich, mein Kind«, sagte er. Er klang ein wenig müde, ließ aber nicht erkennen, ob er böse auf sie war.
Johanna nahm in einem Sessel nahe dem Kamin Platz und ließ sich von den Wandbehängen ablenken, die Gondeln auf den Kanälen Venedigs zeigten. Wenn wie jetzt Sonnenstrahlen auf dem feingearbeiteten Stoff tanzten, schienen auch die sonderbaren Schiffchen auf dem Wasser zu hüpfen. Johann-Baptist holte tief Luft und begann: »Du weißt, Johanna, dass du bei uns bist, weil deine Mutter, meine Nichte, es sich so gewünscht hat. Sie hat dir einen für eine Frau ungewöhnlichen Lebensweg aufgebürdet. Da sie aber ein so großes Talent für das Bernsteinschnitzen hatte, haben wir gehofft, du hättest dieses ebenfalls. Wir haben dich gern bei uns aufgenommen und waren allerbester Hoffnung.«
»Die ich nicht erfüllt habe«, sagte sie trotzig, als er Atem holte.
»Das ist wahr.« Johanna schnappte nach Luft, um sich zu rechtfertigen, doch sie ließ es gut sein. Viel zu oft schon hatten sie darüber gestritten. Diesmal sah ihr Onkel traurig und grau aus. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten, denn im Grunde hatte sie ihn gern. Er war stets gut zu ihr gewesen.
»Das ist wahr«, wiederholte er. »Nur darf ich dir daraus keinen Vorwurf machen. Ich hätte wissen müssen, dass das Talent deiner Mutter einzigartig war. Sie hatte es bereits von ihrer Mutter, meiner geliebten Schwester, geerbt, und es war bei der Tochter noch größer, noch wunderbarer als bei der Mutter. So glaubte ich wohl, bei dir würde sich die Reihe fortsetzen.« Er schwieg und sah sie an. In seinem Blick lag Erschöpfung, die Lider schienen ihm schwer zu sein. Doch auch die Liebe, die er für seine Nichte empfand, strahlte aus seinen Augen. »Du weißt, dass Vincent von Anfang an dagegen war, dich in die Lehre zu nehmen. Er sollte längst allein die Geschäfte führen. Einzig deinetwegen habe ich ihm das Zepter noch nicht in die Hand gegeben, denn ich bin sicher, ihr hättet einander das Leben zur Hölle gemacht.« Er lachte leise in sich hinein. Johanna und ihr Cousin Vincent waren wahrhaftig wie Hund und Katze. In ihm hatte sich ein Groll auf seine Tante entwickelt, den er vom ersten Tag an auf Johanna übertragen hatte. Und dann auch noch ein Mädchen in einem Handwerk, das schlug doch wohl dem Fass den Boden aus. Ihr mangelndes Talent und fehlendes Interesse taten das Übrige. Vincent wollte nur eins, Johanna loswerden. Sie wiederum war gegen ihren Willen in Stolp. Da war ihr einer, der ihr offen seine Abneigung zeigte, nur recht, um ihren Zorn gegen ihn zu richten. Onkel und Tante waren stets freundlich, ließen ihr vieles durchgehen und verwöhnten sie. Ihnen konnte Johanna nicht zornig begegnen. Also galt dem Cousin all ihre Ablehnung.
»Es ist so schön, dich hier zu haben«, sagte Johann-Baptist. »Deine Großmutter habe ich verloren, und die Zeit mit deiner Mutter war gar zu kurz.« Er seufzte bei der Erinnerung und machte wieder eine lange Pause.
Für Johanna war Hanna Thurau aus Lübeck ihre Großmutter, doch sie wusste, dass sie nicht ihre leibliche Großmutter war. Das nämlich war Luise gewesen, die Schwester von JohannBaptist, die mit jungen Jahren von der Familie fortgegangen war und deren Namen sie als zweiten Namen trug. Luise hatte irgendwann ein Mädchen zur Welt gebracht, Johannas Mutter. So viel immerhin wusste sie. Doch das war schon fast alles. Viel mehr erzählte man ihr nicht.
»Warum ist meine Großmutter damals fortgegangen, und warum war meine Mutter nur kurze Zeit bei euch?«, fragte sie darum in der Hoffnung, endlich Antworten zu erhalten.
»Das sind lange Geschichten, mein Kind.«
»Ich weiß, denn das ist jedes Mal deine Antwort. Warum erzählst du mir diese Geschichten nicht endlich? Denkst du nicht, ich bin alt genug?« Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten, doch wie so oft ereiferte sie sich immer mehr.
»Es ist keine Frage des Alters«, beschied Johann-Baptist sie. Seine Stimme verriet, dass auch sein Ärger und seine Ungeduld wuchsen.
»Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, doch auch mit achtundzwanzig würdest du es nicht verstehen. Es ist keine Geschichte für eine junge Frau.«
»Aber es ist meine Geschichte«, beharrte sie.
»Sei endlich still!« Er hatte die Stimme erhoben und musste aufgrund der plötzlichen Anstrengung husten. Etwas leiser fuhr er fort: »Bruni und ich haben uns gestern beraten und beschlossen, dass es keinen Zweck hat, dich weiter hierzubehalten.«
Johanna sah ihren Onkel mit großen Augen an. Sollte das wirklich heißen, dass sie zurück nach Lübeck gehen durfte? Würde sie ihre Großeltern und die geliebte Hansestadt bald wiedersehen, so wie in ihrem Traum? Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
»Wir sind dem Wunsch deiner Mutter nachgekommen, aber dir fehlt das Talent zum Schnitzen. Warum also sollten wir dich weiter quälen? Du wirst es nie zu mehr bringen als zur gewöhnlichen Paternostermacherin. Du kannst einfache Arbeiten erledigen, ja, aber dabei wird es auch bleiben.« »Es tut mir leid, dass ich euch so enttäuscht habe«, sagte Johanna aufrichtig. Wenn sie auch die Zusammenhänge nicht kannte, so war ihr doch seit langem klar, wie groß die Hoffnung war, die ihr Onkel in sie gesetzt hatte. Es musste ihm sehr weh tun, diese Hoffnung nun in Scherben zu sehen. Doch neben dem Bedauern keimte ein anderes Gefühl in Johanna auf. Es musste herrlich sein, ein besonderes Talent zu haben. Sie verfügte über keinerlei Talent, sie war nur gewöhnlich, wie ihr Onkel gesagt hatte. Ohne erklären zu können, warum sie so betrübt darüber war, spürte sie, wie diese Aussage an ihr zu nagen begann. Sehr schwer fiel es ihr freilich nicht, den Stachel zu ignorieren, der nun in ihrem Fleisch steckte. Die Freude über die baldige Abreise ließ alle anderen Empfindungen in den Hintergrund treten. »Es ist nicht deine Schuld, mein Kind.« Johann-Baptist fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wie auch immer, Vincent wird endlich die Geschäfte übernehmen, du gehst zurück nach Lübeck, und ich kann mir mit Bruni die Zeit angenehm gestalten, die uns noch bleibt.«
Nun hielt es Johanna nicht mehr in dem Sessel. Sie sprang auf, fiel ihm um den Hals und drückte ihn fest an sich. »Ich danke dir, Onkel. Ganz gewiss ist das die richtige Entscheidung. Meine Mutter hätte sicher ebenso entschieden«, fügte sie hinzu, ohne auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was ihre Mutter getan oder gelassen hätte. Sie kannte sie ja nicht, wusste kaum etwas von ihr. So oft hatte sie als Kind am Grab gestanden und gehofft, bald wieder spielen gehen zu können. Sie hatte keine Trauer empfunden und keine Sehnsucht. Ihre Mutter war nur ein Name für sie. Ihr Onkel dagegen vermisste seine Nichte schmerzlich. Er hatte sie gekannt und ihr ihren letzten Wunsch erfüllt. Für ihn war es von Bedeutung, ob sie seine Entscheidung gutgeheißen hätte oder nicht. Statt etwas darauf zu erwidern, seufzte er nur und tätschelte Johanna die Wange.
»Wann werde ich reisen?«, fragte sie aufgeregt.
»Der Wagen ist morgen früh für dich bereit, wenn du willst.«
»Und ob ich will«, jubelte sie. Als sie seinen betrübten Blick sah, fügte sie schnell hinzu: »Ich komme euch ganz bestimmt besuchen. Das verspreche ich.«
»Ja, gewiss«, sagte Johann-Baptist und lächelte nachsichtig.
Sie blinzelte in die Sonne, als sie aus dem Haus trat. Noch musste man einen leichten Mantel über dem Kleid tragen, doch der Sommer des Jahres 1824 schickte schon seinen Duft voraus und würde bald in die Stadt kommen. Johanna wollte sich von den Gassen verabschieden, die ihr für zwei Jahre ein Zuhause, aber niemals eine Heimat geworden waren. In der Sonne zeigten die roten Backsteine, aus denen die meisten Häuser gemacht waren, ihre ganze Pracht. Sie schimmerten orange, gelb, braun und sogar violett, was ihr besonders gut gefiel. Wie schön würde es sein, schon bald die Backsteingebäude von Lübeck begrüßen zu können.
Auch Marcus Runge, dem Apotheker, wollte sie Lebewohl sagen. Er war ihr einziger Freund in Stolp. Nie würde sie vergessen, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Johanna war kaum zwei Wochen bei ihrem Onkel gewesen, als es zum ersten Streit gekommen war. Vincent hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich ungeschickt anstelle, wie ein Esel, dem man das Tanzen beibringen wolle, ein Wort hatte das andere gegeben, bis sie schließlich auf und davon gelaufen war. Nicht ohne einen Brocken Bernstein und ein Schnitzmesser in die Tasche ihrer Schürze verschwinden zu lassen. Sie würde es ihrem hochnäsigen Cousin schon zeigen. Wenn ihre Mutter eine solch grandiose Künstlerin war, wie man ihr stets unter die Nase hielt, dann musste sie doch wenigstens einen Funken dieses Talents in sich tragen.
Sie stand am Brunnen vor dem Haus von Brauer Scheffler und lächelte bei dem Gedanken an damals. Wie starrköpfig sie doch gewesen war. Sie war die Kirchhofsstraße entlanggerannt, um das Spritzenhaus herum bis zur Mittelstraße, von wo sie schließlich den Marienkirchhof betreten hatte. In einer Nische, die der mächtige Kirchenbau bildete, blieb sie stehen, holte Bernstein und Messer hervor und begann mit ihrem törichten Tun. Ihre Hände zitterten von der Aufregung, und ihre Konzentration war nicht bei dem Material, wie ihr Onkel sie immer wieder ermahnt hatte, sondern bei der dreisten Beleidigung ihres Cousins. Sie mit einem Esel zu vergleichen war eine Frechheit, die sie sich nicht gefallen lassen musste. Sie würde ihm schon zeigen, wer hier der Esel war. Mit aller Wut setzte sie das Messer an und trieb es ohne jegliches Fingerspitzengefühl in den dunkelbraunen Klumpen in ihrer linken Hand.
»Niemals den Stein in der Luft halten«, hörte sie ihren Onkel predigen. »Der Bernstein muss immer fest aufliegen, wenn du ihn bearbeiten willst.«
Johanna wusste es besser. Für sie galten die Regeln nicht, denn sie hatte die einzigartige Begabung ihrer Mutter geerbt. Es musste so sein. Mit dem Amulett, in dem eine Eidechse eingeschlossen war und das einmal ihrer Mutter gehört hatte, musste sie auch das Talent geerbt haben.
Dass Bernstein ein weiches Material sein sollte, wollte ihr nicht in den Kopf. Dieser Brocken hier war es jedenfalls nicht. Keinen Millimeter drang die scharfe Klinge vor. Auch diesem sturen Stein würde sie es zeigen. Sie würde ihn in genau die Form zwingen, die sie sich ausgedacht hatte. Wieder setzte sie das Messer an, legte alle Kraft hinein, rutschte ab und spürte einen brennenden Schmerz zwischen Mittel- und Zeigefinger. Das Werkzeug steckte in ihrer Hand, Blut quoll an beiden Seiten der Klinge hervor. Ihr wurde übel und schwarz vor den Augen.
»Ein junges Mädchen und ein so scharfes Messer, das konnte nicht gutgehen.«
Johanna fragte sich, woher der Mann mit den runden Augengläsern und dem schütteren schwarzen Haar auf einmal gekommen war.
»Was erlauben Sie sich?«, sagte sie noch immer aufgebracht, während er ein großes Leinentuch um ihre Hand wickelte. »Warum hacken überhaupt alle auf mir herum? Ich bin ja erst seit zwei Wochen hier. Da kann man doch nicht erwarten, dass ich schon eine Meisterin bin!«
»Da haben Sie allerdings recht. Kommen Sie, und halten Sie die linke Hand schön hoch, wenn Sie können.« Er brachte sie zu einem kleinen Gebäude, dessen Rückseite direkt auf den Marienkirchhof ging. Vor dem Haus verlief die Mittelstraße. Er schob sie zwei Stufen hinauf und führte sie in einen Raum, der nach Kamille, Minze und Hoffmannstropfen roch. Johanna ließ sich auf einen Stuhl fallen und kämpfte gegen die Übelkeit.
»Es wird gleich ein bisschen weh tun«, kündigte der Mann an.
»Es tut jetzt schon sehr weh«, gab sie zurück. »Ja, das kann ich mir denken. Wollen Sie etwas haben, auf das Sie beißen können?« Er nahm ihre Hand und legte drei Finger um den hölzernen Griff des Messers. »Wird es so schlimm?«, fragte sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Sie hatte noch gar nicht ausgesprochen, da hatte er mit einem Ruck das Messer aus ihrer Hand gezogen. Johanna schrie auf.
»Schon geschafft«, beruhigte er sie. Doch das war eine glatte Untertreibung, denn nun holte er eine Schüssel, hielt die verletzte Hand darüber und goss aus einem Krug kaltes sauberes Wasser über die Wunde. Das brannte, war jedoch gar nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den Johanna ertragen musste, als er den Schnitt mit einem in einer scharf riechenden Flüssigkeit getränkten Tuch betupfte.
Originalausgabe April 2010
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch
Endlich war diese gekommen. Eine fette Made kroch über die Rinde einer Kiefer nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. In dem Moment, in dem sie die Insektenlarve entdeckte, wusste sie, dass diese ihr nicht entrinnen konnte. Mit ihren kurzen, kaum erkennbaren Beinen, mit denen sie sich vorwärtsschob, war sie viel zu langsam.
Die Eidechse würde leichtes Spiel haben, die Made endlich wieder eine lohnende Mahlzeit abgeben. Vögel zwitscherten, der Fluss klang mit einem Mal munter und fröhlich, und kam da nicht auch ein laues Lüftchen auf, das in den Blättern rauschte und Abkühlung versprach? Nur noch wenige Sekunden, dann konnte sie sich am Fleisch ihrer Beute laben. Die Augen der Eidechse, kupferfarben und erhaben wie die Köpfe kleiner Nägel, schnellten von einer Seite zur anderen, kontrollierten die Umgebung. Jetzt durfte niemand mehr den Fang gefährden. Der geschuppte Körper regte sich keinen Deut. In dem Moment, als er sich anspannte, um sich mit einem Satz auf die Made zu stürzen, wurde er vom Baum geschleudert. Ein dicker Tropfen, zäh wie fester Honig, hüllte den Kopf der Eidechse ein. Die Zunge, schon vorgestreckt, um die Larve zu fangen, ließ sich nicht mehr bewegen. Das kleine Herz pochte wild, die Knöpfchenaugen waren weit aufgerissen, als die Eidechse im Harz der Kiefer ganz langsam zu ersticken begann.
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Johanna Luise streckte sich unter ihrem dicken Daunenbett. Sie mochte die Augen nicht öffnen, denn sie hatte einen herrlichen Traum gehabt, in dem sie gerne noch verweilen wollte. Sie war wieder zu Hause bei ihren Großeltern Hanna und Carsten Thurau in Lübeck. Der französische Weinhändler Luc Briand war mit seiner Frau und seinem Sohn Louis zu Besuch, und Johanna hatte ihm soeben das Versprechen abgenommen, die Familie bald auf dem Weingut vor den Toren von Bordeaux besuchen zu dürfen. Bei dem Gedanken an die geliebte Hansestadt, in der sie aufgewachsen war, seufzte sie tief und wurde vollends wach. Sie rieb sich die Augen. Ein weiterer Seufzer entwischte ihrer Brust. Wie sehr sie sich nach zu Hause sehnte. Johanna schlüpfte aus dem Bett, ging ans Fenster und öffnete es. Sie hörte den Vögeln zu, die den Tag mit zwitscherndem Gesang begrüßten, blinzelte in die Sonne und schaute über die Straße zur Marienkirche. Der Anblick schenkte ihr Trost, erinnerte sie das Gotteshaus doch ein wenig an die gleichnamige Kirche in Lübeck. Dort, in der Wehde zu St. Marien, war sie bis zu ihrer Konfirmation zur Lehranstalt für Mädchen gegangen. Vor allem Handarbeiten hatten auf dem Plan gestanden. Und auch über die Tiere und Pflanzen ihrer Heimat hatte Johanna viel gelernt. Sie wurde wehmütig bei dem Gedanken an die unbeschwerte Zeit, die sie mit ihren Freundinnen verbracht, und an die Abende mit ihrer Großmutter Hanna, die sie die französische Sprache gelehrt hatte.
Johanna schüttelte die Traurigkeit ab. Noch einmal führte sie sich ihren Traum vor Augen. Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet von Besuch aus Frankreich geträumt hatte. Es war schon lange her, dass sie Louis Briand zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war sie noch ein Kind von vierzehn Jahren gewesen. Louis war drei Jahre älter als sie. Sie erinnerte sich an sein störrisches dunkelblondes Haar und die grauen Augen, die ihr so gut gefielen. Viel geredet hatten sie bei keiner ihrer Begegnungen. Johanna hatte ihre Freundinnen und Louis kein Interesse an kleinen Mädchen.
Das Haus des Stolper Bernsteindrehers Johann-Baptist Becker, bei dem sie seit zwei Jahren in die Lehre ging, lag in der Neuthorschen Straße an der Ecke zur Kirchhofsstraße. Gerade rumpelte eine Droschke die Neuthorsche entlang und verschwand aus Johannas Blick in den Abschnitt, den man die goldene Gasse nannte, weil dort die Bernsteinmeister ansässig waren, die aus dem Gold der Ostsee feinsten Schmuck und auch Gegenstände des täglichen Lebens machten wie Schalen oder Brieföffner. Von ihrem Fenster konnte sie nicht nur die Kirche sehen, sondern auch das Haus des Brauers Scheffler. Seine Tochter wohnte ihr direkt vis-à-vis. Die Vorhänge waren an diesem Morgen aufgezogen. Ein gutes Zeichen. Johanna konnte Trautlind in ihrem Bett sitzen sehen. Sie wusste nicht viel von ihr, nur dass man sie meist hinter geschlossenen Vorhängen versteckte, weil sie angeblich eine hässliche Nervenkrankheit hatte, und dass sie derartig auf dem Klavier zu spielen vermochte wie kein Zweiter in der ganzen Stadt. Nur selten hatte Johanna einen freien Blick in Trautlinds Zimmer. Manchmal winkten die jungen Frauen sich kurz zu, dann wieder blieb es nur bei einem Lächeln. Gewiss würde Trautlind an diesem Tag noch musizieren, und Johanna konnte ihr ein wenig zuhören, wenn sie in der Gasse die Frühlingssonne genoss, die bereits jetzt einige Kraft hatte.
Es muss schon spät sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Onkel Johann-Baptist würde enttäuscht sein, dass sie wieder einmal nicht mit ihm und seiner Frau Bruni gefrühstückt hatte. Er würde nicht verstehen, dass sie ihren Traum bis zum letzten Moment hatte auskosten wollen. Und er würde nie begreifen, dass es ihr einfach keine Freude machte, Tag für Tag in seine Werkstatt zu kommen und aus unförmigen Bernsteinbrocken die abenteuerlichsten Figuren zu schnitzen. Sosehr sie sich auch mühte, gelangen ihr doch nicht die Kunstwerke, die man offenbar von ihr erwartete. Warum also sollte sie es immer wieder aufs Neue probieren? Welchen Grund gab es, jeden Morgen das warme Bett zu verlassen? Nur weil ihre Mutter eine Künstlerin gewesen war, musste sie nun ein Handwerk erlernen, das doch für gewöhnlich Männern vorbehalten blieb. Keine ihrer Freundinnen in Lübeck musste in eine Lehre gehen. Sie wurden von ihren Müttern oder Ammen darauf vorbereitet, einen Haushalt zu führen. Johanna hatte nicht einmal eine Mutter. Die war gleich nach ihrer Geburt gestorben. Doch kurz vor ihrem Tod, so predigte man es Johanna wieder und wieder, hatte sie den dringenden Wunsch geäußert, ihre Tochter möge bei dem Bernsteindreher in Stolp in die Lehre gehen. Johanna hatte sich mit aller Kraft dagegen gewehrt ohne Erfolg.
»Es ist so beschlossen«, hatte Großvater Carsten sie wissen lassen.
Und Großmutter Hanna hatte ergänzt: »Wir haben es deiner Mutter versprochen.«
Johanna steckte das lange braune Haar zu einem lockeren Knoten und kleidete sich an. In der Küche würde ihr das Dienstmädchen etwas Gutes zum Frühstück zubereiten, wie so oft, wenn Johanna wieder einmal spät dran war. In der Werkstatt dann würde Johann-Baptist sie schweigend und mit vorwurfsvollem Blick erwarten, doch es kümmerte sie nicht sehr. Sie wollte nicht hier sein. Und sie wollte nicht schnitzen. Wenn ihr mangelndes Talent und ihr fehlender Eifer ihrem Onkel so zu schaffen machten, sollte er sie doch endlich nach Hause schicken. Gerade wollte sie ihre Kammer verlassen, als es klopfte, gleich darauf die Tür aufflog, noch ehe Johanna etwas sagen konnte, und das Dienstmädchen Marija hereinkam.
Sie war klein, drall und hölzern in ihrer Bewegung. Marija machte einen umständlichen Knicks und verlor fast die Balance, so war sie in Eile. »Der Herr Becker wünscht Sie in der Stube zu sehen, Fräulein«, sagte sie.
»Er ist nicht in der Werkstatt?«, fragte Johanna erstaunt.
»Nein, er hat ausdrücklich gesagt, Sie sollen in die Stube kommen«, antwortete Marija und sah dabei aus, als müsste sie sich sehr konzentrieren, um sich an die Worte des Hausherrn zu erinnern.
»Na schön«, meinte Johanna leichthin. Sie fürchtete sich nicht vor einer Standpauke, die ihr bevorstehen mochte. Es wäre nicht die erste und gewiss auch nicht die letzte.
Die gute Stube war leer, als Johanna eintrat. Also nutzte sie die Zeit, um die neue Standuhr zu betrachten, die kürzlich aus Amsterdam geliefert worden war. Sie liebte das aus Messing gefertigte Zifferblatt. Dabei war es weder der Glanz des polierten Metalls, den sie so mochte, noch interessierte sie sich für die Anzeige von Datum und Wochentag, von Monat oder Sternbild. Ihr Blick war fest auf die bemalten Metallschiffe gerichtet, die in zwei Reihen oberhalb des Zifferblatts auf den Wellen erstarrt waren. Nur noch zwei Minuten, dann würde die Uhr die volle Stunde schlagen, und die Schiffe würden über das metallene Meer tanzen. Sooft sie das seit der Ankunft der Uhr auch schon gesehen hatte, so sehr konnte der Anblick sie immer wieder erfreuen und ihre Phantasie beflügeln, sich Geschichten über kühne Seefahrer und wilde Piraten auszudenken. Sie starrte gebannt hinauf. Schon war ihr, als würden sich die Segel im Wind blähen. Doch wenige Sekunden bevor der Minutenzeiger auf die Zwölf rückte und die Mechanik sich in Bewegung setzte, betrat Johann-Baptist den Raum, und Johanna fuhr zu ihm herum. Obwohl er längst ein alter Mann war, der sich zur Ruhe setzen sollte, machte er mit seiner kräftigen Statur und dem vollen grauen Haar und ebensolchem Bart noch immer eine gute Figur, die einen jeden beeindruckte. Hinter Johanna schlug die Standuhr zehn, und ein leises Surren verriet, dass das Schauspiel der Schiffe begann. Sie ärgerte sich, dass sie es dieses Mal verpasste, verzichtete jedoch darauf, ihrem Onkel den Rücken zu kehren.
»Setz dich, mein Kind«, sagte er. Er klang ein wenig müde, ließ aber nicht erkennen, ob er böse auf sie war.
Johanna nahm in einem Sessel nahe dem Kamin Platz und ließ sich von den Wandbehängen ablenken, die Gondeln auf den Kanälen Venedigs zeigten. Wenn wie jetzt Sonnenstrahlen auf dem feingearbeiteten Stoff tanzten, schienen auch die sonderbaren Schiffchen auf dem Wasser zu hüpfen. Johann-Baptist holte tief Luft und begann: »Du weißt, Johanna, dass du bei uns bist, weil deine Mutter, meine Nichte, es sich so gewünscht hat. Sie hat dir einen für eine Frau ungewöhnlichen Lebensweg aufgebürdet. Da sie aber ein so großes Talent für das Bernsteinschnitzen hatte, haben wir gehofft, du hättest dieses ebenfalls. Wir haben dich gern bei uns aufgenommen und waren allerbester Hoffnung.«
»Die ich nicht erfüllt habe«, sagte sie trotzig, als er Atem holte.
»Das ist wahr.« Johanna schnappte nach Luft, um sich zu rechtfertigen, doch sie ließ es gut sein. Viel zu oft schon hatten sie darüber gestritten. Diesmal sah ihr Onkel traurig und grau aus. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten, denn im Grunde hatte sie ihn gern. Er war stets gut zu ihr gewesen.
»Das ist wahr«, wiederholte er. »Nur darf ich dir daraus keinen Vorwurf machen. Ich hätte wissen müssen, dass das Talent deiner Mutter einzigartig war. Sie hatte es bereits von ihrer Mutter, meiner geliebten Schwester, geerbt, und es war bei der Tochter noch größer, noch wunderbarer als bei der Mutter. So glaubte ich wohl, bei dir würde sich die Reihe fortsetzen.« Er schwieg und sah sie an. In seinem Blick lag Erschöpfung, die Lider schienen ihm schwer zu sein. Doch auch die Liebe, die er für seine Nichte empfand, strahlte aus seinen Augen. »Du weißt, dass Vincent von Anfang an dagegen war, dich in die Lehre zu nehmen. Er sollte längst allein die Geschäfte führen. Einzig deinetwegen habe ich ihm das Zepter noch nicht in die Hand gegeben, denn ich bin sicher, ihr hättet einander das Leben zur Hölle gemacht.« Er lachte leise in sich hinein. Johanna und ihr Cousin Vincent waren wahrhaftig wie Hund und Katze. In ihm hatte sich ein Groll auf seine Tante entwickelt, den er vom ersten Tag an auf Johanna übertragen hatte. Und dann auch noch ein Mädchen in einem Handwerk, das schlug doch wohl dem Fass den Boden aus. Ihr mangelndes Talent und fehlendes Interesse taten das Übrige. Vincent wollte nur eins, Johanna loswerden. Sie wiederum war gegen ihren Willen in Stolp. Da war ihr einer, der ihr offen seine Abneigung zeigte, nur recht, um ihren Zorn gegen ihn zu richten. Onkel und Tante waren stets freundlich, ließen ihr vieles durchgehen und verwöhnten sie. Ihnen konnte Johanna nicht zornig begegnen. Also galt dem Cousin all ihre Ablehnung.
»Es ist so schön, dich hier zu haben«, sagte Johann-Baptist. »Deine Großmutter habe ich verloren, und die Zeit mit deiner Mutter war gar zu kurz.« Er seufzte bei der Erinnerung und machte wieder eine lange Pause.
Für Johanna war Hanna Thurau aus Lübeck ihre Großmutter, doch sie wusste, dass sie nicht ihre leibliche Großmutter war. Das nämlich war Luise gewesen, die Schwester von JohannBaptist, die mit jungen Jahren von der Familie fortgegangen war und deren Namen sie als zweiten Namen trug. Luise hatte irgendwann ein Mädchen zur Welt gebracht, Johannas Mutter. So viel immerhin wusste sie. Doch das war schon fast alles. Viel mehr erzählte man ihr nicht.
»Warum ist meine Großmutter damals fortgegangen, und warum war meine Mutter nur kurze Zeit bei euch?«, fragte sie darum in der Hoffnung, endlich Antworten zu erhalten.
»Das sind lange Geschichten, mein Kind.«
»Ich weiß, denn das ist jedes Mal deine Antwort. Warum erzählst du mir diese Geschichten nicht endlich? Denkst du nicht, ich bin alt genug?« Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten, doch wie so oft ereiferte sie sich immer mehr.
»Es ist keine Frage des Alters«, beschied Johann-Baptist sie. Seine Stimme verriet, dass auch sein Ärger und seine Ungeduld wuchsen.
»Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, doch auch mit achtundzwanzig würdest du es nicht verstehen. Es ist keine Geschichte für eine junge Frau.«
»Aber es ist meine Geschichte«, beharrte sie.
»Sei endlich still!« Er hatte die Stimme erhoben und musste aufgrund der plötzlichen Anstrengung husten. Etwas leiser fuhr er fort: »Bruni und ich haben uns gestern beraten und beschlossen, dass es keinen Zweck hat, dich weiter hierzubehalten.«
Johanna sah ihren Onkel mit großen Augen an. Sollte das wirklich heißen, dass sie zurück nach Lübeck gehen durfte? Würde sie ihre Großeltern und die geliebte Hansestadt bald wiedersehen, so wie in ihrem Traum? Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
»Wir sind dem Wunsch deiner Mutter nachgekommen, aber dir fehlt das Talent zum Schnitzen. Warum also sollten wir dich weiter quälen? Du wirst es nie zu mehr bringen als zur gewöhnlichen Paternostermacherin. Du kannst einfache Arbeiten erledigen, ja, aber dabei wird es auch bleiben.« »Es tut mir leid, dass ich euch so enttäuscht habe«, sagte Johanna aufrichtig. Wenn sie auch die Zusammenhänge nicht kannte, so war ihr doch seit langem klar, wie groß die Hoffnung war, die ihr Onkel in sie gesetzt hatte. Es musste ihm sehr weh tun, diese Hoffnung nun in Scherben zu sehen. Doch neben dem Bedauern keimte ein anderes Gefühl in Johanna auf. Es musste herrlich sein, ein besonderes Talent zu haben. Sie verfügte über keinerlei Talent, sie war nur gewöhnlich, wie ihr Onkel gesagt hatte. Ohne erklären zu können, warum sie so betrübt darüber war, spürte sie, wie diese Aussage an ihr zu nagen begann. Sehr schwer fiel es ihr freilich nicht, den Stachel zu ignorieren, der nun in ihrem Fleisch steckte. Die Freude über die baldige Abreise ließ alle anderen Empfindungen in den Hintergrund treten. »Es ist nicht deine Schuld, mein Kind.« Johann-Baptist fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wie auch immer, Vincent wird endlich die Geschäfte übernehmen, du gehst zurück nach Lübeck, und ich kann mir mit Bruni die Zeit angenehm gestalten, die uns noch bleibt.«
Nun hielt es Johanna nicht mehr in dem Sessel. Sie sprang auf, fiel ihm um den Hals und drückte ihn fest an sich. »Ich danke dir, Onkel. Ganz gewiss ist das die richtige Entscheidung. Meine Mutter hätte sicher ebenso entschieden«, fügte sie hinzu, ohne auch nur eine Ahnung von dem zu haben, was ihre Mutter getan oder gelassen hätte. Sie kannte sie ja nicht, wusste kaum etwas von ihr. So oft hatte sie als Kind am Grab gestanden und gehofft, bald wieder spielen gehen zu können. Sie hatte keine Trauer empfunden und keine Sehnsucht. Ihre Mutter war nur ein Name für sie. Ihr Onkel dagegen vermisste seine Nichte schmerzlich. Er hatte sie gekannt und ihr ihren letzten Wunsch erfüllt. Für ihn war es von Bedeutung, ob sie seine Entscheidung gutgeheißen hätte oder nicht. Statt etwas darauf zu erwidern, seufzte er nur und tätschelte Johanna die Wange.
»Wann werde ich reisen?«, fragte sie aufgeregt.
»Der Wagen ist morgen früh für dich bereit, wenn du willst.«
»Und ob ich will«, jubelte sie. Als sie seinen betrübten Blick sah, fügte sie schnell hinzu: »Ich komme euch ganz bestimmt besuchen. Das verspreche ich.«
»Ja, gewiss«, sagte Johann-Baptist und lächelte nachsichtig.
Sie blinzelte in die Sonne, als sie aus dem Haus trat. Noch musste man einen leichten Mantel über dem Kleid tragen, doch der Sommer des Jahres 1824 schickte schon seinen Duft voraus und würde bald in die Stadt kommen. Johanna wollte sich von den Gassen verabschieden, die ihr für zwei Jahre ein Zuhause, aber niemals eine Heimat geworden waren. In der Sonne zeigten die roten Backsteine, aus denen die meisten Häuser gemacht waren, ihre ganze Pracht. Sie schimmerten orange, gelb, braun und sogar violett, was ihr besonders gut gefiel. Wie schön würde es sein, schon bald die Backsteingebäude von Lübeck begrüßen zu können.
Auch Marcus Runge, dem Apotheker, wollte sie Lebewohl sagen. Er war ihr einziger Freund in Stolp. Nie würde sie vergessen, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Johanna war kaum zwei Wochen bei ihrem Onkel gewesen, als es zum ersten Streit gekommen war. Vincent hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich ungeschickt anstelle, wie ein Esel, dem man das Tanzen beibringen wolle, ein Wort hatte das andere gegeben, bis sie schließlich auf und davon gelaufen war. Nicht ohne einen Brocken Bernstein und ein Schnitzmesser in die Tasche ihrer Schürze verschwinden zu lassen. Sie würde es ihrem hochnäsigen Cousin schon zeigen. Wenn ihre Mutter eine solch grandiose Künstlerin war, wie man ihr stets unter die Nase hielt, dann musste sie doch wenigstens einen Funken dieses Talents in sich tragen.
Sie stand am Brunnen vor dem Haus von Brauer Scheffler und lächelte bei dem Gedanken an damals. Wie starrköpfig sie doch gewesen war. Sie war die Kirchhofsstraße entlanggerannt, um das Spritzenhaus herum bis zur Mittelstraße, von wo sie schließlich den Marienkirchhof betreten hatte. In einer Nische, die der mächtige Kirchenbau bildete, blieb sie stehen, holte Bernstein und Messer hervor und begann mit ihrem törichten Tun. Ihre Hände zitterten von der Aufregung, und ihre Konzentration war nicht bei dem Material, wie ihr Onkel sie immer wieder ermahnt hatte, sondern bei der dreisten Beleidigung ihres Cousins. Sie mit einem Esel zu vergleichen war eine Frechheit, die sie sich nicht gefallen lassen musste. Sie würde ihm schon zeigen, wer hier der Esel war. Mit aller Wut setzte sie das Messer an und trieb es ohne jegliches Fingerspitzengefühl in den dunkelbraunen Klumpen in ihrer linken Hand.
»Niemals den Stein in der Luft halten«, hörte sie ihren Onkel predigen. »Der Bernstein muss immer fest aufliegen, wenn du ihn bearbeiten willst.«
Johanna wusste es besser. Für sie galten die Regeln nicht, denn sie hatte die einzigartige Begabung ihrer Mutter geerbt. Es musste so sein. Mit dem Amulett, in dem eine Eidechse eingeschlossen war und das einmal ihrer Mutter gehört hatte, musste sie auch das Talent geerbt haben.
Dass Bernstein ein weiches Material sein sollte, wollte ihr nicht in den Kopf. Dieser Brocken hier war es jedenfalls nicht. Keinen Millimeter drang die scharfe Klinge vor. Auch diesem sturen Stein würde sie es zeigen. Sie würde ihn in genau die Form zwingen, die sie sich ausgedacht hatte. Wieder setzte sie das Messer an, legte alle Kraft hinein, rutschte ab und spürte einen brennenden Schmerz zwischen Mittel- und Zeigefinger. Das Werkzeug steckte in ihrer Hand, Blut quoll an beiden Seiten der Klinge hervor. Ihr wurde übel und schwarz vor den Augen.
»Ein junges Mädchen und ein so scharfes Messer, das konnte nicht gutgehen.«
Johanna fragte sich, woher der Mann mit den runden Augengläsern und dem schütteren schwarzen Haar auf einmal gekommen war.
»Was erlauben Sie sich?«, sagte sie noch immer aufgebracht, während er ein großes Leinentuch um ihre Hand wickelte. »Warum hacken überhaupt alle auf mir herum? Ich bin ja erst seit zwei Wochen hier. Da kann man doch nicht erwarten, dass ich schon eine Meisterin bin!«
»Da haben Sie allerdings recht. Kommen Sie, und halten Sie die linke Hand schön hoch, wenn Sie können.« Er brachte sie zu einem kleinen Gebäude, dessen Rückseite direkt auf den Marienkirchhof ging. Vor dem Haus verlief die Mittelstraße. Er schob sie zwei Stufen hinauf und führte sie in einen Raum, der nach Kamille, Minze und Hoffmannstropfen roch. Johanna ließ sich auf einen Stuhl fallen und kämpfte gegen die Übelkeit.
»Es wird gleich ein bisschen weh tun«, kündigte der Mann an.
»Es tut jetzt schon sehr weh«, gab sie zurück. »Ja, das kann ich mir denken. Wollen Sie etwas haben, auf das Sie beißen können?« Er nahm ihre Hand und legte drei Finger um den hölzernen Griff des Messers. »Wird es so schlimm?«, fragte sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Sie hatte noch gar nicht ausgesprochen, da hatte er mit einem Ruck das Messer aus ihrer Hand gezogen. Johanna schrie auf.
»Schon geschafft«, beruhigte er sie. Doch das war eine glatte Untertreibung, denn nun holte er eine Schüssel, hielt die verletzte Hand darüber und goss aus einem Krug kaltes sauberes Wasser über die Wunde. Das brannte, war jedoch gar nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den Johanna ertragen musste, als er den Schnitt mit einem in einer scharf riechenden Flüssigkeit getränkten Tuch betupfte.
Originalausgabe April 2010
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Lena Johannson
Lena Johannson wurde 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach der Schulzeit auf dem Gymnasium machte sie zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie sich der Tourismusbranche zuwandte. Ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen konnte sie später in ihrem Beruf als Reisejournalistin miteinander verbinden. Vor einiger Zeit erfüllte sich Lena Johannson einen Traum und zog an die Ostsee.»Die Bernsteinsammlerin« ist nach »Das Marzipanmädchen« ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lena Johannson
- 2010, 7. Aufl., 496 Seiten, Masse: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Gisela Menza
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426505096
- ISBN-13: 9783426505090
- Erscheinungsdatum: 05.03.2010
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