Baudolino
Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, lenken seine irrwitzigen Ideen von nun...
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Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, lenken seine irrwitzigen Ideen von nun an den Lauf der Weltgeschichte. Von den Liebesbriefen an die Kaiserin, den undurchsichtigen Machenschaften bei der Belagerung Alessandrias und dem rätselhaften Tod Barbarossas gar nicht zu reden.
Informationen über die historischen Hintergründe zu »Baudolino« finden Sie im Special des Carl Hanser Verlags ...
Konstantinopel brennt! Die prachtvolle Hauptstadt des Byzantinischen Reiches - erobert, geplündert und in Brand gesetzt von den Rittern des Vierten Kreuzzuges. Einer von ihnen ist ein gewisser Baudolino aus dem Piemont. Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, führt er uns durch ein historisches Panorama von überwältigender Breite.
Er erzählt, wie er als 13jähriger Bauernsohn den im Nebel herumirrenden Kaiser Barbarossa aufgabelt, der Gefallen an dem naseweisen Jungen findet und ihn daraufhin adoptiert; wie er den Kaiser auf seinen Italienzügen gegen die aufmüpfigen oberitalienischen Städte begleitet und auf den grossen Kreuzzug ins Heilige Land, immer auf der Suche nach dem mythischen Reich des Priesterkönigs Johannes im fernen Orient. Und natürlich wie er, Baudolino, mit seinen aberwitzigen Ideen ganz nebenbei den Lauf der Weltgeschichte lenkt, ob nun bei der Heiligsprechung Karls des Grossen 1165 oder bei der Erfindung der Legende der Heiligen Drei Könige, um dem Erzbischof von Köln, Rainald von Dassel, einen überwältigenden Einzug in seine Domkirche zu sichern.
Alles hat Baudolino miterlebt, doch ein Geheimnis kennt nur er ganz allein: Barbarossa, der angeblich im Fluss ertrank, ist mysteriöserweise bereits in der Nacht zuvor ums Leben gekommen. Unfall? Herzversagen? Nein, Mord! Baudolino ahnt, wer der Mörder sein könnte ...
"Was ist das?" fragte Niketas, nachdem er das Pergament in den Händen herumgedreht und einige Zeilen zu lesen versucht hatte.
"Das war meine erste Schreibübung", antwortete Baudolino. "Seit ich das geschrieben habe - ich war vielleicht vierzehn und noch kaum mehr als ein Waldbauernbub -, trage ich es überall mit mir herum wie ein Amulett. Danach habe ich noch viele andere Pergamente beschrieben, in manchen Zeiten Tag für Tag. Es kam mir so vor, als ob ich überhaupt nur existierte, um abends aufzuschreiben, was mir tagsüber widerfahren war. Später genügten mir knappe monatliche Notizen, wenige Zeilen, um mich an die wichtigsten Geschehnisse zu erinnern. Und ich sagte mir, wenn ich einmal in fortgeschrittenem Alter sein würde - wie man es jetzt sagen könnte -, würde ich anhand dieser Aufzeichnungen die 'Gesta Baudolini' verfassen. So trug ich auf meinen Reisen die Geschichte meines Lebens mit mir herum. Doch bei der Flucht aus dem Reich des Priesters Johannes ..."
"Priester Johannes? Nie gehört ...""Ich werde noch von ihm sprechen, vielleicht sogar zuviel. Was ich sagen wollte, bei jener Flucht habe ich meine Aufzeichnungen verloren. Es war, als hätte ich mein Leben selbst verloren."
"Erzähl mir, woran du dich erinnerst. Ich sammle Bruchstücke von Geschehnissen, Splitter von Begebenheiten und gewinne daraus eine Geschichte, die sich anhört, als sei sie durchwirkt von einem Plan der Vorsehung. Du hast mich gerettet und mir dadurch das bisschen Zukunft gegeben, das mir noch verbleibt. Zum Dank will ich dir die Vergangenheit wiedergeben, die du verloren hast."
"Aber vielleicht ist meine Geschichte ja sinnlos ...""Keine Geschichte ist sinnlos. Und ich bin einer von denen, die den Sinn auch dort zu finden wissen, wo die anderen ihn übersehen. Danach wird die Geschichte zu einem Buch der Lebenden, wie eine helltönende Posaune, deren Klang die Toten aus den Gräbern auferstehen lässt ... Ich brauche nur etwas Zeit, ich muss die
Niketas Choniates, vormals Redner am Hofe, oberster Richter des Reiches, Richter des Velums und Logothet der Sekreta oder - wie man bei den Lateinern sagen würde - Kanzler des Kaisers von Byzanz, zugleich Geschichtsschreiber vieler Komnenen sowie der Angeloi, betrachtete neugierig den Mann, der da vor ihm stand. Baudolino hatte ihm gesagt, sie seien sich schon einmal in Kalliupolis am Hellespont begegnet, zur Zeit Kaiser Friedrichs, aber wenn Baudolino damals dabeigewesen war, dann musste er unauffällig zwischen den Ministerialen gestanden haben, wahrend Niketas, der im Namen des Basileus verhandelt hatte, viel schwerer zu übersehen war. Log dieser Lateiner? Jedenfalls hatte er ihn vor der Wut der Invasoren gerettet, hatte ihn an einen sicheren Ort gebracht, ihn wieder mit seiner Familie vereinigt und versprochen, ihn heil aus Konstantinopel hinauszubringen.
Niketas betrachtete seinen Retter. Der Mann sah weniger wie ein Christ denn wie ein Sarazene aus. Ein sonnenverbranntes Gesicht, eine bleiche Narbe quer über die ganze Wange, ein Kranz noch rotblonder Haare, der seinem Kopf etwas Löwenhaftes verlieh. Niketas wäre wohl recht erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, dass dieser Mann bereits über sechzig Jahre alt war. Er hatte sehr grosse Hände, und wenn er sie verschränkt im Schosse hielt, sah man sofort die knotigen Knöchel. Bauernhände, mehr für die Hacke als für das Schwert gemacht.
Gleichwohl sprach er ein flüssiges Griechisch, ohne bei jedem Wort feine Tröpfchen zu spucken, wie es die Fremden gewöhnlich taten, und Niketas hatte ihn erst vor kurzem mit den Invasoren in ihrer rauhen Sprache reden hören, die er schnell und trocken sprach, wie einer, der sie auch zum Schimpfen und Beleidigen zu gebrauchen weiss. Im übrigen hatte ihm Baudolino am Abend zuvor gesagt, dass er eine Gabe besitze: Es genüge ihm, zwei Leute in irgendeiner Sprache miteinander reden zu hören, und nach kurzer Zeit sei er in der Lage, mit ihnen zu sprechen. Eine einzigartige Gabe, von der Niketas gedacht hätte, sie sei nur den Aposteln gewährt.
Das Leben am Hofe, zumal an diesem, hatte Niketas gelehrt, die Menschen mit stillem Misstrauen zu taxieren. Was ihm an Baudolino auffiel, war, dass dieser Lateiner bei allem, was er sagte, sein Gegenüber mit einer verhaltenen Ironie ansah, als wolle er ihm bedeuten, seine Worte nicht allzu ernst zu nehmen. Eine schlechte Angewohnheit, die man jedem beliebigen zubilligen mochte, nur nicht einem, von dem man eine wahrheitsgemässe Aussage erwartete, um sie dann in Geschichtsschreibung zu übersetzen. Andererseits war Niketas von Natur aus neugierig. Er liebte es, andere erzählen zu hören, und nicht nur von Dingen, die ihm noch unbekannt waren. Auch was er bereits mit eigenen Augen gesehen hatte, kam ihm, wenn er einen anderen darüber reden horte, ganz neu vor, so als sehe er es aus einem neuen Blickwinkel, als befände er sich auf dem Gipfel eines jener Berge, die auf den Ikonen gemalt sind, und sähe die Steine so, wie sie die Apostel auf dem Gipfel sahen, und nicht wie die Gläubigen unten. Ausserdem machte es ihm Vergnügen, die Lateiner zu befragen, die in allem so anders als die Griechen waren, angefangen bei ihren ganz neuen, untereinander so verschiedenen Sprachen.
Niketas und Baudolino sassen einander gegenüber in einem Turmzimmer, das doppelte Spitzbogenfenster nach drei Seiten hatte. Durch eines sah man auf das Goldene Horn und das gegenüberliegende Ufer von Pera mit dem Turm von Galata, der sich aus seiner Umgebung von eng zusammengedrängten Häusern und Hütten erhob; durch das andere sah man den Hafenkanal in den Sankt-Georgs-Arm einmünden; das dritte ging nach Westen, und dort hätte man ganz Konstantinopel sehen müssen. Doch an jenem Morgen war die zarte Farbe des Himmels verdunkelt vom dichten Rauch aus den Palästen und Kirchen, die vom Feuer verzehrt wurden.
Es war die dritte Feuersbrunst, von der die Stadt in den letzten neun Monaten heimgesucht wurde. Die erste hatte die Lager- und Vorratshäuser des Hofes zerstört, vom Blachernenpalast im Nordosten bis hinunter zur Konstantinsmauer, die zweite hatte sämtliche Warenhäuser der Venezianer, Amalfitaner, Pisaner und Juden vernichtet, von Perama bis fast an die Küste, ausgenommen allein jenes Viertel der Genueser unterhalb der Akropolis, in dem sie sich befanden, und die dritte wütete jetzt in der ganzen Stadt.
Unten tobte ein wahres Flammenmeer, die Arkaden brachen zusammen, die Paläste stürzten ein, die Säulen knickten um, die Feuerkugeln, die aus dem Zentrum des Brandes hervorstoben, verzehrten die weiter entfernten Häuser, wonach die Flammen, getrieben von launischen Winden, die das Inferno genussvoll nährten, zurückkehrten, um zu verschlingen, was sie zuvor noch ausgespart hatten. Darüber ballten sich dichte Wolken, an der Unterseite noch rötlich vom Widerschein des Feuers, aber sonst von einer anderen Farbe, bei der man nicht zu sagen vermochte, ob sie auf einer Täuschung durch die Strahlen der aufgehenden Sonne beruhte oder auf der Natur der Spezereien, der Hölzer und anderen Materialien, die dort verbrannten. Überdies kamen je nach der Windrichtung aus verschiedenen Teilen der Stadt Gerüche von Muskatnuss, Zimt, Pfeffer und Safran, Senf oder Ingwer - so dass die schönste Stadt der Welt zwar brannte, aber wie eine Räucherpfanne voller Duftstoffe.
Baudolino stand mit dem Rücken zum dritten Fenster und sah aus wie ein dunkler Schatten, umgeben vom zwiefachen Schein des anbrechenden Tages und der Feuersbrunst. Niketas hörte ihm teils zu, teils vergegenwärtigte er sich noch einmal die Geschehnisse der vergangenen Tage ...
Autoren-Porträt von UmbertoEco
UmbertoEco wurde 1932 in Alessandria geboren und lebt heutein Mailand. Er studierte Pädagogik und Philosophie und promovierte 1954 an derUniversität Turin. Anschliessend arbeitete er beim Italienischen Fernsehen undwar als freier Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation in Turin, Mailandund Florenz tätig. Seit 1971 unterrichtet er Semiotik in Bologna. Eco erhieltneben zahlreichen Auszeichnungen den Premio Strega (1981) und wurde 1988 zum Ehrendoktor der Pariser Sorbonne ernannt.
Er verfasste zahlreiche Schriften zur Theorie und Praxisder Zeichen, der Literatur, der Kunst und nicht zuletzt der Ästhetik desMittelalters. Seine Romane "Der Name der Rose" und "Das Foucaultsche Pendel"sind Welterfolge geworden.
- Autor: Umberto Eco
- 2003, 640 Seiten, Masse: 12 x 19,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Burkhart Kroeber
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423131381
- ISBN-13: 9783423131384
- Erscheinungsdatum: 01.11.2003
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