Stossgebete / Baltasar Senner Bd.2
Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald. Originalausgabe
Baltasar Senner, katholischer Pfarrer mit einem Riecher für dunkle Machenschaften, fürchtet um den Gemeindefrieden: Ein Ministrant findet nicht nur einen gestohlenen Rosenkranz, sondern auch noch das Skelett einer Frau. Ein Verbrechen? Die Dorfbewohner schweigen.
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Produktinformationen zu „Stossgebete / Baltasar Senner Bd.2 “
Baltasar Senner, katholischer Pfarrer mit einem Riecher für dunkle Machenschaften, fürchtet um den Gemeindefrieden: Ein Ministrant findet nicht nur einen gestohlenen Rosenkranz, sondern auch noch das Skelett einer Frau. Ein Verbrechen? Die Dorfbewohner schweigen.
Klappentext zu „Stossgebete / Baltasar Senner Bd.2 “
Himmel Herrgott! In einer kleinen niederbayerischen Gemeinde löst ein Skelettfund allerlei merkwürdige Reaktionen aus ...Baltasar Senner, katholischer Pfarrer mit einem besonderen Riecher für Weihrauch und dunkle Machenschaften, sieht grosse Gefahren für den Gemeindefrieden am Horizont heraufziehen: Auf dem Kartoffelacker seiner niederbayerischen Wirkungsstätte findet ein Ministrant einen Rosenkranz, der vor zwanzig Jahren aus der Dorfkirche entwendet wurde. Neben dem kostbaren Fund liegt das Skelett einer Frau. Die Dorfgemeinschaft hüllt sich in Schweigen. Doch Hochwürden wittert ein Verbrechen und stürzt sich in die Ermittlungen.
Lese-Probe zu „Stossgebete / Baltasar Senner Bd.2 “
Stoßgebete von Wolf Schreiner... mehr
1
Irgendetwas hatte seinen Schlaf gestört. Ein Geräusch. Irgendwo bellte ein Hund. Dann wieder Stille. War er wach, oder träumte er? Baltasar Senner versuchte sich zu erinnern, was er geträumt hatte. Vergebens. Seine Sinne begannen, wieder normal zu arbeiten. Er spürte die Kühle des Zimmers in seinem Gesicht, roch kalte Asche und Baumharz, lauschte. Alles war ruhig. Noch einige Minuten regungslos liegen. An nichts denken. Die Nestwärme des Betts genießen. Ein bisschen dösen.
Das Unterbewusstsein hinderte Baltasar daran, in Träume¬ abzutauchen. Wie spat war es? Welcher Tag? Sein Gehirn rekonstruierte, dass es Sonntag sein musste. Arbeitstag. Baltasar seufzte. Er zwang sich, seine Augen zu öffnen. Das Grau des Morgens verwandelte die Gegenstände des Zimmers in Schemen und Schatten, er konnte seine Hose am Boden erkennen, neben dem Hemd und den Socken. Wie war er ins Bett gekommen? Der Kopf schmerzte. Mühsam richtete Baltasar sich auf. Es half nichts, er musste aufstehen. Mit den Zehen fischte er nach der Hose, hob sie auf und legte sie übers Bett. Er tastete sich mit wackligen Schritten über den Holzboden, als befürchtete er, auf einer Eisschicht einzubrechen.
Die Morgenhygiene erledigte er wie in Trance, ein Schluck Orangensaft aus dem Kühlschrank, das Frühstück
musste warten. Baltasar schloss die Haustüre hinter sich, hielt einen Moment inne und sog die Luft ein. Der Herbst meldete sich im Bayerischen Wald mit dem Geruch von frischem Laub und Moos. Baltasar mochte diesen Geruch, diese einzigartige Würze, die nur die Berge entlang der Grenze hervorbrachten.
Noch dazu diese Stille. Das Schweben zwischen Nacht und Tag, als hielte die Natur den Atem an. Ein Zustand, in dem die Welt noch zu schlafen schien. Keine leise Radiomusik hinter den Vorhingen der Nachbarn, kein Brummen von Automotoren, nicht einmal das sonst übliche Rattern der Melkmaschinen aus den Ställen war zu hören. Stattdessen eine Ruhe, die Baltasar wie ein Geschenk des Himmels erschien, selten und kostbar.
Er ging die paar Schritte hinüber zur Kirche. Der Altarraum lag im Halbdunkel, nur die Jesusfigur am Kreuz erstrahlte bereits im Morgenlicht und verlieh dem Ort et-was Mystisches. Baltasar bewunderte die Kunst der alten Baumeister, die Gebäude und Kirchenfenster so geschickt angeordnet hatten, um diesen dramatischen Effekt zu erzeugen, der auch nach Jahrhunderten seine Wirkung nicht verfehlte. Zumindest für diejenigen, die es tatsächlich in aller Herrgottsfrühe in die Kirche schafften.
Baltasar zündete die Kerzen an, überprüfte die Weihwasserkessel, legte die Gesangbücher aus. Er setzte sich in die erste Reihe und ließ die Altarszene auf sich wirken, das Kruzifix, den Tabernakel auf dem Altar, umfasst von ¬Marmorsäulen und überkrönt von einem Gemälde, das Christi Himmelfahrt darstellte. Das Arrangement, seit Ewigkeiten bewährt, war eine Einladung an den Betrachter, sich Zeit zu nehmen und sich unvoreingenommen in die Szene zu ver-
senken. Eine Meditation. Eine Obung im Sehen und Fühlen. Eine Prüfung im Glauben. Baltasar pflegte den Glauben auf seine ganz personliche Weise auszulegen. Ebenso hatte er eine persönliche Auffassung von Genuss und Sünde und Vergebung. Gott hatte die Freuden des Daseins in die Welt gebracht. Wer sich diesen Freuden verschloss, verschloss sich der Gnade Gottes. Und die Sünde wurde einem am Ende vergeben. Meistens jedenfalls.
Dem Idealbild eines katholischen Pfarrers entsprach Baltasar gewiss nicht, das wusste er. Nicht bloß, weil er sich zu diesem Beruf erst spit entschieden hatte. Er hatte auch einen eigenen Kopf. Seine Vorstellung von Gerechtigkeit etwa besagte, dass Menschen darauf nicht bis zum Jüngsten Tag warten sollten. Vielmehr musste jemand im Zweifel nachhelfen - und wenn es Hochwürden höchstpersönlich war. Baltasar dachte daran, wie seine Neugierde ihn in der Vergangenheit schon mehrmals in brenzlige Situationen gebracht hatte.
Andere Schwächen, wie die Leidenschaft fürs Essen und Trinken, konnte man in diesem Amt gut verbergen. Bei Hochzeiten, Taufen und beim Leichenschmaus gebot es schon die Hoflichkeit, eine Einladung ins Wirtshaus anzunehmen. Vor allem, wenn es sich um die Gaststätte einer gewissen Frau handelte ...
Das Knarren des Kirchenportals ließ ihn herumfahren. Eine Gestalt huschte herein, drückte sich an der Wand entlang. Baltasar rührte sich nicht. Hatte die Person ihn bemerkt? Die Meldung aus der Nachbarpfarrei von letzter Woche kam ihm in den Sinn, wo ein Unbekannter den Opferstock aufgebrochen hatte. Er duckte sich unter die Rückenlehne und schlich langsam zum Ende der
Sitzbank. Die Statue der Heiligen Jungfrau Maria sah auf ihn herab, sie schien zu lächeln fiber sein Gehabe wie ein Indianer auf Kriegspfad. Baltasar spahte in den Gang, konnte im schwachen Kerzenschein aber nichts erkennen. Er hielt die Luft an. Nichts. Wo steckte der Eindring- ling?
Baltasar stahl sich zur nachsten Säule, wartete. Noch immer sah er niemanden. Der Opferstock am Eingang war unbeschädigt. Ein Geräusch, ein Kratzen, kam aus der letzten Reihe. Dann wieder Stille. Totenstille. Er versuchte, sich den hinteren Bänken von der Seite zu nahern. Der Dieb musste sich dort versteckt haben. Baltasar war nur noch drei Reihen entfernt. Er konzentrierte sich darauf, ihn gleich zu packen.
Da spUrte er einen Luftzug von der Seite, von der Ecke des Beichtstuhls. Da hatte sich der Übeltäter also verborgen. Zu einem weiteren Gedanken kam er nicht. Bevor er sich auch nur halb dem Versteck zugewandt hatte, traf ihn ein Schlag am Oberarm und ließ ihn zurucktaumeln.
»Verbrecher!«
Eine schrille Stimme. Baltasar sah einen Stock auf seinen Kopf niedersausen, duckte sich weg und wurde an der Schulter getroffen. Ein Stromstoß schien durch seinen Korper zu schießen.
»Dass di traust, du Lump!«
Er fixierte den Angreifer. Eine zierliche Person, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem schwarzen Kopftuch. Eine Frau. Leicht gebückt stand sie da und holte gerade zu einem neuen Schlag aus.
»Gibst jetzt auf?«
Baltasar schaffte es gerade noch, das Handgelenk der
Frau zu fassen. Sie trat nach ihm und traf sein Schienbein. Er war überrascht, welche Kraft sie aufbrachte.
»Lass mi los, du Grattla!«
Er griff ihren anderen Arm und versuchte den Tritten auszuweichen. »Schluss jetzt, wir sind hier nicht im Wirtshaus! « Seine Stimme hallte in der Kirche nach.
Die Angreiferin ließ ihren Gehstock fallen, gab allen Widerstand auf. Er zog sie ans Licht. Unter dem Kopftuch lugte das tief gefurchte Gesicht einer alten Frau hervor.
»Mein Gott, Sie sind's, Hochwürden.« Die Stimme der Alten hatte sich in ein Flüstern verwandelt. »Ich ... Ich hab Sie im Dunkeln gar ... gar nicht erkannt. Noch dazu in diesem Aufzug.« Sie schlug die Hinde vors Gesicht. »Bei der Jungfrau Maria, das habe ich nicht gewollt. Gott ist mein Zeuge. Einen Priester schlagen. Noch dazu in der Kirche! Oh Gott, oh mein Gott!«
»Nun beruhigen Sie sich doch wieder, es ist ja nichts Schlimmes passiert.« Baltasar rieb sich seinen Oberarm. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Ich ... ich wollt ganz früh in die Kirch ... damit ich in Ruhe beten kann. Da hab ich eine verdächtige Gestalt gesehen, die sich versteckte ... also ... ich meine natürlich, ich ... ich wusste ja nicht, dass Sie es waren, Hochwürden.«
»Aber selbst wenn Sie mich nicht erkannt haben - auf Fremde prügelt man für gewöhnlich nicht mit dem Gehstock ein.«
»In der Zeitung hab ich von dem Einbruch in der andern Kirch gelesen. Da hab ich gedacht, der Bazi treibt sich jetzt bei uns rum und versucht's schon wieder. Ich hab mich beim Beichtstuhl versteckt und gewartet, was der Dachara ... ich meine natürlich nicht Sie ... da treibt. Und
weil er auf dem Weg zum Opferstock war, wollt ich ihn aufhalten. Zur Jungfrau Maria hab ich gebetet, wie ich da in der Eckn stand, gebetet hab ich, Jungfrau Maria, hilf, gib mir Kraft gegen den Deifi, bitte gib mir Kraft. Aber dass gerade Sie daherkommen ...«
»Nun, das ist meine Aufgabe als Pfarrer. Ich muss die Frühmesse vorbereiten. Sie sind herzlich dazu eingeladen.«
»Nun ja. Ich muss mal schau'n. Ich hoff, Sie sind mir nicht bös, Hochwürden, ich bitt Sie vielmals um Entschuldigung, es war a Sünd, ich weiß, a schlimme Sünd. Vergeben Sie mir?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie hatten keine bösen Absichten. Im Gegenteil - Sie wollten einen Dieb stellen. Das war mutig. Bleiben Sie ruhig hier und beten Sie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich hab zu tun.«
Baltasar ging in die Sakristei und schloss den Schrank auf. Er kannte die Frau vom Sehen. Sie kam ofter allein in die Kirche, blieb hiufig stundenlang auf der Bank sitzen, wobei unklar war, ob sie betete oder schlief. Sie musste weit über achtzig Jahre alt sein, ihr Name war Walburga Bichlmeier. Sie lebte allein außerhalb des Ortes und wenn sie sich mal sehen ließ, dann nur komplett in Schwarz gekleidet. Den Leuten war sie unheimlich, auch weil es hieß, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Klatsch und Tratsch eben. Genaues wusste keiner. Nur dass sie weder Freunde noch Verwandte hatte, darüber war man sich einig.
In der Kirche waren die ersten Besucher zu hören. Baltasar zog sein Hemd aus, sein Oberarm war geschwollen, an der Schulter hatte sich ein Bluterguss gebildet. Er streifte sich die Albe und Kasel, das Messgewand, über. Seine Laune war nach dem Vorfall gesunken. Auf was für Ideen die
alte Frau kam! ZugegebenermaQen hatte ihn die Nachricht über den jüngsten Kirchendiebstahl auch ein wenig beunruhigt. Bisher hatte er die Kirchentüre immer offen gelassen und nie die Befürchtung gehabt, jemand könne sich an den paar Wertgegenständen seiner kleinen Pfarrei vergreifen. Was wollte jemand mit Gesangbüchern, vergoldeten Kerzenleuchtern oder Heiligenfiguren aus Holz?
Aus einer Kommode holte Baltasar die Zutaten für das Turibulum: sudanesischer Weihrauch, etwas Sandelholz und eine Kräutermischung, die er frisch aus dem Jemen bezogen hatte. Er zerstieQ sie in einem Morser und füllte sie in das Weihrauchfass. Er roch daran. Perfektes Aroma. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es Zeit war für den Gottesdienst. Aber noch immer war der Ministrant nicht eingetroffen. Baltasar legte die Altarschellen bereit, sah wieder auf die Uhr. Er zündete die Kohletablette an und legte sie ins Turibulum. Der Duft seiner Spezialmixtur erfüllte den Raum. Wo blieb der Junge nur?
Gerade wollte sich Baltasar allein auf den Weg machen, als er den Buben hereinhuschen sah.
»Tschuldigung, Herr Pfarrer, ich bin spat dran.« Die Haare des Ministranten standen in alle Richtungen ab, das Hemd war falsch zugeknopft, ein Schnürsenkel streifte am Boden. »Ich hab noch was erledigen müssen, was Dringendes.«
»Ich glaube eher, du bist nicht rechtzeitig aus dem Bett gekommen. Zieh dich um, Sebastian, aber schnell! Was war denn so dringend?«
»Ich wollt Sie was fragen, wenn ich darf, Herr Pfarrer.« Der Junge legte seinen Rucksack auf den Tisch.
»Nur zu.«
»Nun, nur mal angenommen, also rein theoretisch: Ist es erlaubt, etwas zu behalten, was einem nicht gehört?«
»Wenn es einem nicht gehort, muss man es selbstverständlich¬ dem Eigentümer zurückgeben.«
»Aber wenn es keinen Eigentümer gibt, wenn man etwas findet, oder so.«
»Dann sollte man es im Fundbüro abgeben. Der, der es verloren hat, vermisst es sicher.«
Der Junge schlüpfte in sein Messgewand. Er schien zu überlegen, ob er fortfahren sollte. »Aber wenn man etwas findet, wo man sicher ist, dass es niemandem gehört? Was ist dann?«
Baltasar runzelte die Stirn. »Hast du etwas gefunden, Sebastian? Etwas Wertvolles?«
»Sie verraten aber nichts meinen Eltern, versprochen? Die werden immer so schnell grantig.«
»Ich müsste erst wissen, um was es überhaupt geht.«
»Ich hab's dabei.« Der Bub öffnete seinen Rucksack und holte einen verdreckten Lappen heraus. Behutsam deponierte er ihn auf dem Tisch, als hantiere er mit Nitroglyzerin. »Aber niemandem etwas davon erzahlen, ich bitt Sie.« Er entfaltete den Stoff, eine Kette kam zum Vorschein. Baltasar nahm sie in die Hand. Es war eine silberne Kette mit Gliedern aus Halbedelsteinen. Erde klebte an mehreren Stellen, als Anhänger dienten Reste eines Kreuzes aus Horn. »Das ist ein Rosenkranz. Wo hast du ihn gefunden?«
»Gleich bei uns am Weg. In der Erde. Gehört der nun mir? Ist er was wert?«
»Das weiß ich nicht. Sieht auf jeden Fall sehr alt aus. Wo genau hast du ihn gefunden, sagst du?«
»Im Acker. War Zufall. Darf ich den Rosenkranz nun behalten oder nicht? Den vermisst niemand mehr.«
»Wieso bist du dir so sicher? Zumindest sieht er so aus, als sei er schon linger in der Erde gelegen, das stimmt.«
»Genau, der ist uralt, der geht keinem mehr ab. Dann ist er doch meiner, schon allein wegen der Verjährung und so.«
»Das klären wir später. Jetzt geht's zur Messe, mach schon, nimm den Weihrauchbehälter.«
»Der Rosenkranz ist nicht das Einzige, was ich gefunden hab.« Der Junge zog ein Zeitungspapier hervor, in dem etwas eingewickelt war. »Sieht komisch aus. Wollen's sich anschauen?«
Baltasar wickelte den Gegenstand aus. Vor Schreck ließ er ihn auf den Tisch fallen und betrachtete ihn dann näher. Ein Knochenstdck. Die Form, die Zähne - kein Zweifel.
Es war der Unterkiefer eines Menschen.
2
Er hatte nun schon das zweite Mal seinen Einsatz verpasst. Es war die Stelle, wo er sich eigentlich aufrichten und die Arme heben müsste. Stattdessen starrte Baltasar auf die Hostie, als erwarte er von dort die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Sie war weiß wie der Menschenknochen, den der Junge gebracht hatte. Was hatte der makabre Fund zu bedeuten? Es war keine Gelegenheit mehr gewesen, Sebastian zur Rede zu stellen, die Messe hätte längst beginnen sollen. Der menschliche Unterkiefer lag noch auf dem Tisch in der Sakristei, Baltasar hatte in der Eile nicht gewusst, wohin
damit. Wo war der dazugehorige Schädel, wo das Skelett? Baltasar schüttelte sich. Er blickte vom Altar auf und sah in die Kirche.
Der Raum war nur zur Hälfte gefüllt. Die Besucher drängten sich in den vorderen Bänken, ihre Gesichter spiegelten Ratlosigkeit, einige unterdrückten ein Gähnen oder vertieften sich in ihr Gesangbuch. Nun denn - er hatte einen Job zu erledigen. Doch Baltasar konnte sich nicht darauf konzentrieren, weil ihm das Bild des Knochens ständig vor Augen stand. Er nahm die Schale mit der Hostie und hob sie hoch.
»Er hat sterbend die Arme ausgebreitet am Holze des Kreuzes.
Er hat die Macht des Todes gebrochen und die Auferstehung kundgetan.«
Die Hostie hielt er in beiden Händen. Er machte eine Kniebeuge und stellte die Schale auf das Korporale, wahrend alle Augen auf ihm ruhten. Immer noch funktionierte dieses uralte Ritual, ein Zauber, der die Zuschauer jedes Mal aufs Neue in seinen Bann zog, obwohl jeder den Ablauf kannte. Eigentlich war es nur eine Oblate, ähnlich der, die Hausfrauen in der Küche verwendeten. Durch die kirchliche Weihe jedoch verwandelte sie sich in ein Symbol für das Leben und das Sterben - und die Wiederauferstehung. Das Sakrament des Abendmahls. Baltasar brach die Hostie in der Mitte auseinander und hielt inne. Er legte sich die Oblate auf die Zunge, schloss den Mund. Auch wenn die Katholiken glaubten, dass sich das Brot in diesem Moment in den Leib Christi verwandelte, fühlte Baltasar sich jedes
Mal - der Herr möge ihm verzeihen - ans Plätzchenbacken seiner Mutter zu Weihnachten erinnert, an den Geruch von Rumaroma und gemahlenen Haselnüssen, an den Geschmack des Teiges, nachdem er heimlich seinen Finger in die Schüssel getaucht hatte.
»Nehmt und esst alle davon:
Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.«
Zu welchem Leib mochte der Knochen gehören? Stammte er aus einem Grab? Baltasar nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Fund ließ ihm keine Ruhe. Er drehte sich zu Sebastian, der neben ihm mit dem Weihrauchkessel stand. Ihre Blicke trafen sich. Der Bub schien zu erschrecken, er schwenkte das Turibulum, eine Verlegenheitsgeste, und der Rauch verteilte sich. Baltasar sog die Luft ein. Wunderbar! Diese Würze. Weihrauch zu inhalieren begeisterte ihn immer wieder aufs Neue, vor allem, wenn er ihn mit besonderen Zutaten aufgepeppt hatte. Es half nichts, die Pflicht rief. Baltasar straffte sich und füllte Wein in den Kelch.
»Gedenke aller, die entschlafen sind in der Hoffnung, dass sie auferstehen,
nimm alle, die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden sind, in dein Reich auf.«
Er nahm einen Schluck und rollte ihn unauffällig im Mund. Den Wein hatte er sich aus einem Kloster im Badischen kommen lassen, ein Trollinger. Ein Hauch von Kardamom, eine Ahnung von Zimt und Beeren. Ausgewogenes Bouquet. Baltasar musste sich beherrschen, nicht noch einen zweiten Schluck zu probieren. Er forderte die Kirchenbesucher auf, nach vorne zu kommen.
»Nehmt und trinkt alle daraus:
Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
Der Bürgermeister und seine Frau knieten vor ihm nieder. Fur einen Moment genoss Baltasar diese Demutshaltung der Lokalprominenz, gerade bei Personen wie Xaver Wohlrab, die in dienstlichen Dingen oft sehr herrisch auftraten. Das Amt des Pfarrers zahlte eben noch etwas im Bayerischen Wald. Die Leute erwiesen ihm Respekt und demonstrierten dabei gerne, dass sie gute Christen waren, genauer gesagt, gute Katholiken, eine andere Religion zahlte nicht in diesem Landstrich. Was bigottes Verhalten nicht ausschloss, im Gegenteil. Er erinnerte sich an die Aufzeichnungen des königlich-bayrischen Beamten Joseph von Hazzi aus dem 19. Jahrhundert, wohl die erste zusammenfassende Dokumentation fiber die Gegend: »Den Rosenkranz, das Amulett, das Weihwasser und anderes verehrt man als Heiligtümer, Uberall stößt man auf Bilder, Figuren und andere Zeichen von Religionsschwärmerei. Die Menschen zeichnen sich durch Hartnäckigkeit, Bigotterie, Aberglaube und den Glauben an Hexereien aus«, notierte damals der Mann aus Munchen und brachte zugleich seine Verwunderung über manch andere Sitten zu Papier: » Treue in der Liebe und Vaterpflicht scheint dem unverheirateten Volk ganz gleichgültig, denn häufig leugnen sie Vaterschaft und entziehen sich der Alimentationsbürde [...].
1. Auflage Originalausgabe November 2012
Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
1
Irgendetwas hatte seinen Schlaf gestört. Ein Geräusch. Irgendwo bellte ein Hund. Dann wieder Stille. War er wach, oder träumte er? Baltasar Senner versuchte sich zu erinnern, was er geträumt hatte. Vergebens. Seine Sinne begannen, wieder normal zu arbeiten. Er spürte die Kühle des Zimmers in seinem Gesicht, roch kalte Asche und Baumharz, lauschte. Alles war ruhig. Noch einige Minuten regungslos liegen. An nichts denken. Die Nestwärme des Betts genießen. Ein bisschen dösen.
Das Unterbewusstsein hinderte Baltasar daran, in Träume¬ abzutauchen. Wie spat war es? Welcher Tag? Sein Gehirn rekonstruierte, dass es Sonntag sein musste. Arbeitstag. Baltasar seufzte. Er zwang sich, seine Augen zu öffnen. Das Grau des Morgens verwandelte die Gegenstände des Zimmers in Schemen und Schatten, er konnte seine Hose am Boden erkennen, neben dem Hemd und den Socken. Wie war er ins Bett gekommen? Der Kopf schmerzte. Mühsam richtete Baltasar sich auf. Es half nichts, er musste aufstehen. Mit den Zehen fischte er nach der Hose, hob sie auf und legte sie übers Bett. Er tastete sich mit wackligen Schritten über den Holzboden, als befürchtete er, auf einer Eisschicht einzubrechen.
Die Morgenhygiene erledigte er wie in Trance, ein Schluck Orangensaft aus dem Kühlschrank, das Frühstück
musste warten. Baltasar schloss die Haustüre hinter sich, hielt einen Moment inne und sog die Luft ein. Der Herbst meldete sich im Bayerischen Wald mit dem Geruch von frischem Laub und Moos. Baltasar mochte diesen Geruch, diese einzigartige Würze, die nur die Berge entlang der Grenze hervorbrachten.
Noch dazu diese Stille. Das Schweben zwischen Nacht und Tag, als hielte die Natur den Atem an. Ein Zustand, in dem die Welt noch zu schlafen schien. Keine leise Radiomusik hinter den Vorhingen der Nachbarn, kein Brummen von Automotoren, nicht einmal das sonst übliche Rattern der Melkmaschinen aus den Ställen war zu hören. Stattdessen eine Ruhe, die Baltasar wie ein Geschenk des Himmels erschien, selten und kostbar.
Er ging die paar Schritte hinüber zur Kirche. Der Altarraum lag im Halbdunkel, nur die Jesusfigur am Kreuz erstrahlte bereits im Morgenlicht und verlieh dem Ort et-was Mystisches. Baltasar bewunderte die Kunst der alten Baumeister, die Gebäude und Kirchenfenster so geschickt angeordnet hatten, um diesen dramatischen Effekt zu erzeugen, der auch nach Jahrhunderten seine Wirkung nicht verfehlte. Zumindest für diejenigen, die es tatsächlich in aller Herrgottsfrühe in die Kirche schafften.
Baltasar zündete die Kerzen an, überprüfte die Weihwasserkessel, legte die Gesangbücher aus. Er setzte sich in die erste Reihe und ließ die Altarszene auf sich wirken, das Kruzifix, den Tabernakel auf dem Altar, umfasst von ¬Marmorsäulen und überkrönt von einem Gemälde, das Christi Himmelfahrt darstellte. Das Arrangement, seit Ewigkeiten bewährt, war eine Einladung an den Betrachter, sich Zeit zu nehmen und sich unvoreingenommen in die Szene zu ver-
senken. Eine Meditation. Eine Obung im Sehen und Fühlen. Eine Prüfung im Glauben. Baltasar pflegte den Glauben auf seine ganz personliche Weise auszulegen. Ebenso hatte er eine persönliche Auffassung von Genuss und Sünde und Vergebung. Gott hatte die Freuden des Daseins in die Welt gebracht. Wer sich diesen Freuden verschloss, verschloss sich der Gnade Gottes. Und die Sünde wurde einem am Ende vergeben. Meistens jedenfalls.
Dem Idealbild eines katholischen Pfarrers entsprach Baltasar gewiss nicht, das wusste er. Nicht bloß, weil er sich zu diesem Beruf erst spit entschieden hatte. Er hatte auch einen eigenen Kopf. Seine Vorstellung von Gerechtigkeit etwa besagte, dass Menschen darauf nicht bis zum Jüngsten Tag warten sollten. Vielmehr musste jemand im Zweifel nachhelfen - und wenn es Hochwürden höchstpersönlich war. Baltasar dachte daran, wie seine Neugierde ihn in der Vergangenheit schon mehrmals in brenzlige Situationen gebracht hatte.
Andere Schwächen, wie die Leidenschaft fürs Essen und Trinken, konnte man in diesem Amt gut verbergen. Bei Hochzeiten, Taufen und beim Leichenschmaus gebot es schon die Hoflichkeit, eine Einladung ins Wirtshaus anzunehmen. Vor allem, wenn es sich um die Gaststätte einer gewissen Frau handelte ...
Das Knarren des Kirchenportals ließ ihn herumfahren. Eine Gestalt huschte herein, drückte sich an der Wand entlang. Baltasar rührte sich nicht. Hatte die Person ihn bemerkt? Die Meldung aus der Nachbarpfarrei von letzter Woche kam ihm in den Sinn, wo ein Unbekannter den Opferstock aufgebrochen hatte. Er duckte sich unter die Rückenlehne und schlich langsam zum Ende der
Sitzbank. Die Statue der Heiligen Jungfrau Maria sah auf ihn herab, sie schien zu lächeln fiber sein Gehabe wie ein Indianer auf Kriegspfad. Baltasar spahte in den Gang, konnte im schwachen Kerzenschein aber nichts erkennen. Er hielt die Luft an. Nichts. Wo steckte der Eindring- ling?
Baltasar stahl sich zur nachsten Säule, wartete. Noch immer sah er niemanden. Der Opferstock am Eingang war unbeschädigt. Ein Geräusch, ein Kratzen, kam aus der letzten Reihe. Dann wieder Stille. Totenstille. Er versuchte, sich den hinteren Bänken von der Seite zu nahern. Der Dieb musste sich dort versteckt haben. Baltasar war nur noch drei Reihen entfernt. Er konzentrierte sich darauf, ihn gleich zu packen.
Da spUrte er einen Luftzug von der Seite, von der Ecke des Beichtstuhls. Da hatte sich der Übeltäter also verborgen. Zu einem weiteren Gedanken kam er nicht. Bevor er sich auch nur halb dem Versteck zugewandt hatte, traf ihn ein Schlag am Oberarm und ließ ihn zurucktaumeln.
»Verbrecher!«
Eine schrille Stimme. Baltasar sah einen Stock auf seinen Kopf niedersausen, duckte sich weg und wurde an der Schulter getroffen. Ein Stromstoß schien durch seinen Korper zu schießen.
»Dass di traust, du Lump!«
Er fixierte den Angreifer. Eine zierliche Person, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem schwarzen Kopftuch. Eine Frau. Leicht gebückt stand sie da und holte gerade zu einem neuen Schlag aus.
»Gibst jetzt auf?«
Baltasar schaffte es gerade noch, das Handgelenk der
Frau zu fassen. Sie trat nach ihm und traf sein Schienbein. Er war überrascht, welche Kraft sie aufbrachte.
»Lass mi los, du Grattla!«
Er griff ihren anderen Arm und versuchte den Tritten auszuweichen. »Schluss jetzt, wir sind hier nicht im Wirtshaus! « Seine Stimme hallte in der Kirche nach.
Die Angreiferin ließ ihren Gehstock fallen, gab allen Widerstand auf. Er zog sie ans Licht. Unter dem Kopftuch lugte das tief gefurchte Gesicht einer alten Frau hervor.
»Mein Gott, Sie sind's, Hochwürden.« Die Stimme der Alten hatte sich in ein Flüstern verwandelt. »Ich ... Ich hab Sie im Dunkeln gar ... gar nicht erkannt. Noch dazu in diesem Aufzug.« Sie schlug die Hinde vors Gesicht. »Bei der Jungfrau Maria, das habe ich nicht gewollt. Gott ist mein Zeuge. Einen Priester schlagen. Noch dazu in der Kirche! Oh Gott, oh mein Gott!«
»Nun beruhigen Sie sich doch wieder, es ist ja nichts Schlimmes passiert.« Baltasar rieb sich seinen Oberarm. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Ich ... ich wollt ganz früh in die Kirch ... damit ich in Ruhe beten kann. Da hab ich eine verdächtige Gestalt gesehen, die sich versteckte ... also ... ich meine natürlich, ich ... ich wusste ja nicht, dass Sie es waren, Hochwürden.«
»Aber selbst wenn Sie mich nicht erkannt haben - auf Fremde prügelt man für gewöhnlich nicht mit dem Gehstock ein.«
»In der Zeitung hab ich von dem Einbruch in der andern Kirch gelesen. Da hab ich gedacht, der Bazi treibt sich jetzt bei uns rum und versucht's schon wieder. Ich hab mich beim Beichtstuhl versteckt und gewartet, was der Dachara ... ich meine natürlich nicht Sie ... da treibt. Und
weil er auf dem Weg zum Opferstock war, wollt ich ihn aufhalten. Zur Jungfrau Maria hab ich gebetet, wie ich da in der Eckn stand, gebetet hab ich, Jungfrau Maria, hilf, gib mir Kraft gegen den Deifi, bitte gib mir Kraft. Aber dass gerade Sie daherkommen ...«
»Nun, das ist meine Aufgabe als Pfarrer. Ich muss die Frühmesse vorbereiten. Sie sind herzlich dazu eingeladen.«
»Nun ja. Ich muss mal schau'n. Ich hoff, Sie sind mir nicht bös, Hochwürden, ich bitt Sie vielmals um Entschuldigung, es war a Sünd, ich weiß, a schlimme Sünd. Vergeben Sie mir?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie hatten keine bösen Absichten. Im Gegenteil - Sie wollten einen Dieb stellen. Das war mutig. Bleiben Sie ruhig hier und beten Sie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich hab zu tun.«
Baltasar ging in die Sakristei und schloss den Schrank auf. Er kannte die Frau vom Sehen. Sie kam ofter allein in die Kirche, blieb hiufig stundenlang auf der Bank sitzen, wobei unklar war, ob sie betete oder schlief. Sie musste weit über achtzig Jahre alt sein, ihr Name war Walburga Bichlmeier. Sie lebte allein außerhalb des Ortes und wenn sie sich mal sehen ließ, dann nur komplett in Schwarz gekleidet. Den Leuten war sie unheimlich, auch weil es hieß, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Klatsch und Tratsch eben. Genaues wusste keiner. Nur dass sie weder Freunde noch Verwandte hatte, darüber war man sich einig.
In der Kirche waren die ersten Besucher zu hören. Baltasar zog sein Hemd aus, sein Oberarm war geschwollen, an der Schulter hatte sich ein Bluterguss gebildet. Er streifte sich die Albe und Kasel, das Messgewand, über. Seine Laune war nach dem Vorfall gesunken. Auf was für Ideen die
alte Frau kam! ZugegebenermaQen hatte ihn die Nachricht über den jüngsten Kirchendiebstahl auch ein wenig beunruhigt. Bisher hatte er die Kirchentüre immer offen gelassen und nie die Befürchtung gehabt, jemand könne sich an den paar Wertgegenständen seiner kleinen Pfarrei vergreifen. Was wollte jemand mit Gesangbüchern, vergoldeten Kerzenleuchtern oder Heiligenfiguren aus Holz?
Aus einer Kommode holte Baltasar die Zutaten für das Turibulum: sudanesischer Weihrauch, etwas Sandelholz und eine Kräutermischung, die er frisch aus dem Jemen bezogen hatte. Er zerstieQ sie in einem Morser und füllte sie in das Weihrauchfass. Er roch daran. Perfektes Aroma. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es Zeit war für den Gottesdienst. Aber noch immer war der Ministrant nicht eingetroffen. Baltasar legte die Altarschellen bereit, sah wieder auf die Uhr. Er zündete die Kohletablette an und legte sie ins Turibulum. Der Duft seiner Spezialmixtur erfüllte den Raum. Wo blieb der Junge nur?
Gerade wollte sich Baltasar allein auf den Weg machen, als er den Buben hereinhuschen sah.
»Tschuldigung, Herr Pfarrer, ich bin spat dran.« Die Haare des Ministranten standen in alle Richtungen ab, das Hemd war falsch zugeknopft, ein Schnürsenkel streifte am Boden. »Ich hab noch was erledigen müssen, was Dringendes.«
»Ich glaube eher, du bist nicht rechtzeitig aus dem Bett gekommen. Zieh dich um, Sebastian, aber schnell! Was war denn so dringend?«
»Ich wollt Sie was fragen, wenn ich darf, Herr Pfarrer.« Der Junge legte seinen Rucksack auf den Tisch.
»Nur zu.«
»Nun, nur mal angenommen, also rein theoretisch: Ist es erlaubt, etwas zu behalten, was einem nicht gehört?«
»Wenn es einem nicht gehort, muss man es selbstverständlich¬ dem Eigentümer zurückgeben.«
»Aber wenn es keinen Eigentümer gibt, wenn man etwas findet, oder so.«
»Dann sollte man es im Fundbüro abgeben. Der, der es verloren hat, vermisst es sicher.«
Der Junge schlüpfte in sein Messgewand. Er schien zu überlegen, ob er fortfahren sollte. »Aber wenn man etwas findet, wo man sicher ist, dass es niemandem gehört? Was ist dann?«
Baltasar runzelte die Stirn. »Hast du etwas gefunden, Sebastian? Etwas Wertvolles?«
»Sie verraten aber nichts meinen Eltern, versprochen? Die werden immer so schnell grantig.«
»Ich müsste erst wissen, um was es überhaupt geht.«
»Ich hab's dabei.« Der Bub öffnete seinen Rucksack und holte einen verdreckten Lappen heraus. Behutsam deponierte er ihn auf dem Tisch, als hantiere er mit Nitroglyzerin. »Aber niemandem etwas davon erzahlen, ich bitt Sie.« Er entfaltete den Stoff, eine Kette kam zum Vorschein. Baltasar nahm sie in die Hand. Es war eine silberne Kette mit Gliedern aus Halbedelsteinen. Erde klebte an mehreren Stellen, als Anhänger dienten Reste eines Kreuzes aus Horn. »Das ist ein Rosenkranz. Wo hast du ihn gefunden?«
»Gleich bei uns am Weg. In der Erde. Gehört der nun mir? Ist er was wert?«
»Das weiß ich nicht. Sieht auf jeden Fall sehr alt aus. Wo genau hast du ihn gefunden, sagst du?«
»Im Acker. War Zufall. Darf ich den Rosenkranz nun behalten oder nicht? Den vermisst niemand mehr.«
»Wieso bist du dir so sicher? Zumindest sieht er so aus, als sei er schon linger in der Erde gelegen, das stimmt.«
»Genau, der ist uralt, der geht keinem mehr ab. Dann ist er doch meiner, schon allein wegen der Verjährung und so.«
»Das klären wir später. Jetzt geht's zur Messe, mach schon, nimm den Weihrauchbehälter.«
»Der Rosenkranz ist nicht das Einzige, was ich gefunden hab.« Der Junge zog ein Zeitungspapier hervor, in dem etwas eingewickelt war. »Sieht komisch aus. Wollen's sich anschauen?«
Baltasar wickelte den Gegenstand aus. Vor Schreck ließ er ihn auf den Tisch fallen und betrachtete ihn dann näher. Ein Knochenstdck. Die Form, die Zähne - kein Zweifel.
Es war der Unterkiefer eines Menschen.
2
Er hatte nun schon das zweite Mal seinen Einsatz verpasst. Es war die Stelle, wo er sich eigentlich aufrichten und die Arme heben müsste. Stattdessen starrte Baltasar auf die Hostie, als erwarte er von dort die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Sie war weiß wie der Menschenknochen, den der Junge gebracht hatte. Was hatte der makabre Fund zu bedeuten? Es war keine Gelegenheit mehr gewesen, Sebastian zur Rede zu stellen, die Messe hätte längst beginnen sollen. Der menschliche Unterkiefer lag noch auf dem Tisch in der Sakristei, Baltasar hatte in der Eile nicht gewusst, wohin
damit. Wo war der dazugehorige Schädel, wo das Skelett? Baltasar schüttelte sich. Er blickte vom Altar auf und sah in die Kirche.
Der Raum war nur zur Hälfte gefüllt. Die Besucher drängten sich in den vorderen Bänken, ihre Gesichter spiegelten Ratlosigkeit, einige unterdrückten ein Gähnen oder vertieften sich in ihr Gesangbuch. Nun denn - er hatte einen Job zu erledigen. Doch Baltasar konnte sich nicht darauf konzentrieren, weil ihm das Bild des Knochens ständig vor Augen stand. Er nahm die Schale mit der Hostie und hob sie hoch.
»Er hat sterbend die Arme ausgebreitet am Holze des Kreuzes.
Er hat die Macht des Todes gebrochen und die Auferstehung kundgetan.«
Die Hostie hielt er in beiden Händen. Er machte eine Kniebeuge und stellte die Schale auf das Korporale, wahrend alle Augen auf ihm ruhten. Immer noch funktionierte dieses uralte Ritual, ein Zauber, der die Zuschauer jedes Mal aufs Neue in seinen Bann zog, obwohl jeder den Ablauf kannte. Eigentlich war es nur eine Oblate, ähnlich der, die Hausfrauen in der Küche verwendeten. Durch die kirchliche Weihe jedoch verwandelte sie sich in ein Symbol für das Leben und das Sterben - und die Wiederauferstehung. Das Sakrament des Abendmahls. Baltasar brach die Hostie in der Mitte auseinander und hielt inne. Er legte sich die Oblate auf die Zunge, schloss den Mund. Auch wenn die Katholiken glaubten, dass sich das Brot in diesem Moment in den Leib Christi verwandelte, fühlte Baltasar sich jedes
Mal - der Herr möge ihm verzeihen - ans Plätzchenbacken seiner Mutter zu Weihnachten erinnert, an den Geruch von Rumaroma und gemahlenen Haselnüssen, an den Geschmack des Teiges, nachdem er heimlich seinen Finger in die Schüssel getaucht hatte.
»Nehmt und esst alle davon:
Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.«
Zu welchem Leib mochte der Knochen gehören? Stammte er aus einem Grab? Baltasar nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Fund ließ ihm keine Ruhe. Er drehte sich zu Sebastian, der neben ihm mit dem Weihrauchkessel stand. Ihre Blicke trafen sich. Der Bub schien zu erschrecken, er schwenkte das Turibulum, eine Verlegenheitsgeste, und der Rauch verteilte sich. Baltasar sog die Luft ein. Wunderbar! Diese Würze. Weihrauch zu inhalieren begeisterte ihn immer wieder aufs Neue, vor allem, wenn er ihn mit besonderen Zutaten aufgepeppt hatte. Es half nichts, die Pflicht rief. Baltasar straffte sich und füllte Wein in den Kelch.
»Gedenke aller, die entschlafen sind in der Hoffnung, dass sie auferstehen,
nimm alle, die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden sind, in dein Reich auf.«
Er nahm einen Schluck und rollte ihn unauffällig im Mund. Den Wein hatte er sich aus einem Kloster im Badischen kommen lassen, ein Trollinger. Ein Hauch von Kardamom, eine Ahnung von Zimt und Beeren. Ausgewogenes Bouquet. Baltasar musste sich beherrschen, nicht noch einen zweiten Schluck zu probieren. Er forderte die Kirchenbesucher auf, nach vorne zu kommen.
»Nehmt und trinkt alle daraus:
Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«
Der Bürgermeister und seine Frau knieten vor ihm nieder. Fur einen Moment genoss Baltasar diese Demutshaltung der Lokalprominenz, gerade bei Personen wie Xaver Wohlrab, die in dienstlichen Dingen oft sehr herrisch auftraten. Das Amt des Pfarrers zahlte eben noch etwas im Bayerischen Wald. Die Leute erwiesen ihm Respekt und demonstrierten dabei gerne, dass sie gute Christen waren, genauer gesagt, gute Katholiken, eine andere Religion zahlte nicht in diesem Landstrich. Was bigottes Verhalten nicht ausschloss, im Gegenteil. Er erinnerte sich an die Aufzeichnungen des königlich-bayrischen Beamten Joseph von Hazzi aus dem 19. Jahrhundert, wohl die erste zusammenfassende Dokumentation fiber die Gegend: »Den Rosenkranz, das Amulett, das Weihwasser und anderes verehrt man als Heiligtümer, Uberall stößt man auf Bilder, Figuren und andere Zeichen von Religionsschwärmerei. Die Menschen zeichnen sich durch Hartnäckigkeit, Bigotterie, Aberglaube und den Glauben an Hexereien aus«, notierte damals der Mann aus Munchen und brachte zugleich seine Verwunderung über manch andere Sitten zu Papier: » Treue in der Liebe und Vaterpflicht scheint dem unverheirateten Volk ganz gleichgültig, denn häufig leugnen sie Vaterschaft und entziehen sich der Alimentationsbürde [...].
1. Auflage Originalausgabe November 2012
Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Wolf Schreiner
Wolf Schreiner wurde 1958 in Nürnberg geboren. Er wuchs in Oberbayern in der Nachbarschaft zum katholischen Wallfahrtsort Altötting auf und studierte in München Politik, Volkswirtschaft und Kommunikationswissenschaft. Wolf Schreiner arbeitete als Journalist für Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, bevor er seine Leidenschaft für Krimis entdeckte. Er lebt heute in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolf Schreiner
- 2012, Originalausgabe, 348 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475708
- ISBN-13: 9783442475704
- Erscheinungsdatum: 12.10.2012
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