Babyjahre
Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Ausgezeichnet mit dem Mommy.Award 2010
Hunderttausende Eltern und Großeltern holten sich bei dem Schweizer Kinderarzt bereits fundierten Rat in Sachen Kinderbetreuung und Ernährung. Jetzt wurde das Standardwerk komplett neu überarbeitet, um hochaktuelle Forschungsergebnisse...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Babyjahre “
Hunderttausende Eltern und Großeltern holten sich bei dem Schweizer Kinderarzt bereits fundierten Rat in Sachen Kinderbetreuung und Ernährung. Jetzt wurde das Standardwerk komplett neu überarbeitet, um hochaktuelle Forschungsergebnisse erweitert und mit neuen Bildern ausgestattet.
Klappentext zu „Babyjahre “
Der erfahrene Kinderarzt Remo H. Largo hat mit seinem vollständig überarbeiteten Standardwerk ein Erziehungsbuch ganz anderer Art geschrieben: Er geht nicht von einer idealen Entwicklung oder festen Erziehungsprinzipien aus, sondern sieht das Kind so, wie es ist. Vor allem will er bei Eltern und Erziehern Verständnis wecken für die biologischen Voraussetzungen und die Vielfalt kindlichen Verhaltens. Dieses Buch ist längst ein Klassiker und gehört als das einzige Buch, das Eltern wirklich brauchen, in jede Erstausstattung. - Der Bestseller in vollständig überarbeiteter Neuausgabe
Lese-Probe zu „Babyjahre “
Babyjahre von Remo H. LargoVorwort
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Babyjahre hat seit seinem ersten Erscheinen 1993 bei Eltern und Fachleuten eine ständig wachsende Leserschaft und viel Zuspruch gefunden. Eine gründliche Überarbeitung des Buches ist nach 15 Jahren dennoch notwendig geworden. Was ist neu an dieser Ausgabe?
Die Neuauflage geht ausführlicher auf diejenigen Erziehungsfragen ein, die Eltern und Fachleute inzwischen weit mehr beschäftigen als Anfang der Neunzigerjahre: die Bewältigung von Elternschaft und Beruf, die Frage nach einer guten Kinderbetreuung, die Rolle des Vaters oder der richtige Umgang mit den Medien. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über die frühkindliche Entwicklung, die für den Umgang mit Kindern von Bedeutung sind, wurden ebenfalls berücksichtigt. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen hineinversetzen zu können. Sie tritt im Verlauf des 4. Lebensjahres auf und ist eine wichtige Voraussetzung für einfühlsames Verhalten. Um die Merkmale der frühkindlichen Entwicklungsperiode umfassend darzustellen, wurde der Altersbereich von 2 auf4 Jahre erweitert. In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind alle spezifischen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt. Was natürlich nicht bedeutet, dass seine Entwicklung damit abgeschlossen wäre. Die Ausdifferenzierung der Fähigkeiten nimmt noch viele Jahre in Anspruch, die wesentlichen Grundlagen eignet sich das Kind jedoch in den ersten 4 Lebensjahren an.
Das bewährte Konzept von Babyjahre wurde bei der Überarbeitung beibehalten. Das Buch will nach wie vor kein Ratgeber für Problemsituationen sein. Es möchte die Eltern vielmehr darin unterstützen, die Eigenheiten und die Bedürfnisse ihres Kindes besser wahrzunehmen und zu verstehen, damit sie möglichst entwicklungsgerecht auf es eingehen können. Ein Schwerpunkt des Buches liegt darin, auf die Vielfalt der kindlichen Entwicklung hinzuweisen. Diese Vielfalt wird anhand zahlreicher Grafiken in allen Entwicklungsbereichen wie Motorik, Sprache oder Schlafverhalten dargestellt. Die Grafiken beruhen auf den Daten der Zürcher Longitudinalstudien, in denen die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter bei mehr als 700 Kindern ausführlich untersucht worden ist. Die Grafiken verdeutlichen, wie groß die Vielfalt in allen Entwicklungsbereichen ist und dass Normvorstellungen den Kindern daher nicht entsprechen können. Der Individualität des Kindes in der Erziehung möglichst gerecht zu werden, stellt eine der großen Herausforderung für die Eltern dar.
Ein weiteres Anliegen von Babyjahre ist es, auf die jeweiligen altersspezifischen psychischen und körperlichen Bedürfnisse hinzuweisen, die es zu befriedigen gilt, damit sich das Kind möglichst gut entwickeln kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kind-Eltern-Beziehung, der Kinderbetreuung und den Erfahrungen, die Kinder miteinander machen, zu.
Ein drittes Anliegen ist es, den Eltern aufzuzeigen, dass sich jedes Kind entwickeln will. Damit es diesem inneren Drang folgen kann, muss es in seiner Umwelt die entsprechenden Erfahrungen machen können. Das Kind darin zu unterstützen, ohne es dabei zu über- noch zu unterfordern, gelingt Eltern umso leichter, je besser sie ihr Kind lesen und sein Verhalten verstehen können. Das Buch wurde nicht nur inhaltlich überarbeitet, sondern auch in seiner Erscheinungsform neu gestaltet. Das farbige Layout erleichtert eine rasche Orientierung und verbessert die Lesbarkeit insbesondere der Grafiken. Die farbigen Abbildungen, die mehrheitlich aus Familienalben stammen, geben typische Augenblicke des Lebensalltags von Kindern und Familien wieder. Zusätzlich wurden zahlreiche Abbildungen aus Filmmaterial der Zürcher Longitudinalstudien neu in das Buch mit aufgenommen, da sie charakteristische Merkmale des kindlichen Verhaltens besonders anschaulich darstellen.
Die Überarbeitung des Buches ist dann gelungen, wenn Babyjahre weiterhin dazu beiträgt, Eltern und Fachleuten Wesen und Welt des Kindes näher zu bringen sowie Freude und Faszination an der kindlichen Entwicklung zu vermitteln.
Remo H. Largo
Uetliburg, Juli 2007
EINFÜHRUNG
Sara ist vor wenigen Stunden auf die Welt gekommen. Sie ist 3,5 Kilogramm schwer, hat einen wohlgeformten Kopf und runde Wangen, Arme und Beinchen. Sie schreit kräftig und strampelt lebhaft. Mit großen Augen blickt sie Mutter und Vater an.
Die Eltern von Sara sind überglücklich: Sie haben ein gemeinsames Kind. Einige Zeit nach der Geburt sind die Eltern immer noch von Dankbarkeit überwältigt. Immer wieder schauen sie Sara an und erfreuen sich an jeder kleinsten ihrer Regungen. Für die Eltern gibt es in diesen Stunden nichts Wichtigeres als ihre Tochter.
In wenigen Tagen werden sie mit Sara nach Hause zurückkehren, und spätestens dann wird ihnen bewusst werden: Wir haben nun die alleinige Verantwortung für dieses kleine Wesen, und das etwa für die nächsten 20 Jahre. Werden wir Sara gerecht werden können? Fragen, die sie besonders beschäftigen, sind:
• Was hat Sara für Bedürfnisse? Wie können sie befriedigt werden? Wie viel Zuwendung braucht Sara? Wie können wir ihre Betreuung gewährleisten?
• Wie wird sich Sara entwickeln? Was müssen wir zu ihrer Entwicklung beitragen? Wie können wir unsere Tochter am besten fördern?
• Wie erziehen wir Sara? Wann bestimmt sie, und wann bestimmen wir?
• Was bedeutet Sara für uns als Eltern? Wie sehr wird sie unser Leben verändern?
In diesem einleitenden Kapitel wollen wir versuchen, auf diese Fragen Antworten zu finden, die dem Kind und seiner individuellen Entwicklung möglichst gerecht werden.
Grundbedürfnisse
Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv ist, müssen seine körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse befriedigt sein. Die Auswirkungen nachteiliger Lebensbedingungen und psychischer Vernachlässigung (Deprivation) für Säuglinge und Kleinkinder sind in zahlreichen Studien nachgewiesen worden (Rutter, Ernst). Kinder brauchen für ihr Gedeihen und ihre Entwicklung die körperliche Nähe und gefühlvolle Zuwendung der Eltern und anderer Bezugspersonen. Kinder, die psychisch vernachlässigt werden, sind in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
Körperliches Wohlbefinden setzt Gedeihen und Gesundheit voraus. Hunger und Durst, aber auch andere körperliche Bedürfnisse wie Schutz vor Kälte oder trockene und saubere Kleidung wollen zuverlässig befriedigt sein. Nur Kinder, die ausreichend ernährt, gepflegt und gesund sind, können sich auch normal entwickeln. Nachrichten aus Entwicklungsländern führen uns tagtäglich vor Augen, wie nachteilig sich Mangelernährung, Vernachlässigung und Krankheit auf die kindliche Entwicklung auswirken.
Eltern freuen sich über die Gesundheit ihres Kindes. Krankheiten, sei es auch nur eine harmlose Erkältung, können ihnen schnell große Sorgen bereiten. Ein Säugling, der viel trinkt, oder ein Kleinkind, das kräftig isst, bestätigt den Eltern, dass sie gut für ihr Kind sorgen. Ein appetitloses Kind hingegen ängstigt die ganze Verwandtschaft. Eltern fragen sich daher: Wie viel Milch muss ein Säugling trinken? Wann soll mit den Breimahlzeiten begonnen werden? Für alle diese Fragen gibt es Richtlinien, zum Beispiel auf den Packungen der Säuglingsmilch. Diese Richtlinien entsprechen den meisten Kindern aber nicht, weil jedes Kind seine eigenen Bedürfnisse hat. Manche Säuglinge trinken nur halb so
viel Milch wie andere gleichaltrige Kinder. Die Bereitschaft, Brei zu essen, setzt von Kind zu Kind in ganz unterschiedlichem Alter ein. Für die Ernährung gilt genauso wie für andere Entwicklungsbereiche: Ein Kind gedeiht dann am besten, wenn sich die Eltern an seinen Bedürfnissen orientieren. Mehr ist keineswegs immer besser, sondern häufig zu viel und daher nachteilig.
Die psychischen Bedürfnisse eines Kindes sind schwieriger wahrzunehmen und deshalb auch weniger leicht zu befriedigen als die körperlichen. Damit es einem Kind gut geht, muss es sich geborgen und angenommen fühlen. Geborgenheit setzt die Nähe vertrauter Personen voraus. Ein Kind kann, insbesondere in den ersten Lebensjahren, nicht alleine sein. Es braucht eine vertraute Person, die ihm jederzeit Nähe, Hilfe und Schutz geben kann.
Für die elterliche Zuwendung gilt das Gleiche wie für Ernährung und Pflege: Das Kind entwickelt sich nicht umso besser, je mehr Zuwendung es erhält. Auch das Umsorgtwerden hat seine Grenzen und bei deren Überschreiten nachteilige Folgen. Jeder begreift, dass ein Kind durch eine übermäßige Nahrungszufuhr keineswegs besser gedeiht, sondern nur fettleibig wird. Genauso wie mit der Überfütterung verhält es sich mit der Überbehütung: Sie vermehrt nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer gefühlsmäßigen Abhängigkeit und macht es unselbstständig. Unselbstständige Kinder sind verstimmt, je nach Temperament ängstlich oder aggressiv und zeigen wenig Neigung, eigene Erfahrungen zu machen.
Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und gefühlsmäßiger Zuwendung ist von Kind zu Kind unterschiedlich groß. Das richtige Maß an Nähe und Zuwendung für das einzelne Kind vermag keine Theorie anzugeben. Das Kind teilt uns mit seinem Verhalten und Befinden mit, wie viel Nähe und Zuwendung es braucht. Dieses Buch will Eltern darin unterstützen, ihr Kind richtig zu lesen.
Es ist eine der Hauptaufgaben der Eltern, die Betreuung für das Kind so zu gestalten, dass es sich jederzeit geborgen und angenommen fühlt. Diese Aufgabe ist von den meisten Eltern alleine nicht zu bewältigen. Sie brauchen Unterstützung, damit die Qualität und Kontinuität in der Kinderbetreuung gewährleistet ist (siehe »Beziehungsverhalten Einleitung«).
Wie entwickeln sich Kinder?
Die ersten 4 Lebensjahre machen zeitlich lediglich etwa ein Viertel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren durchlaufen die Kinder jedoch mindestens die Hälfte ihrer gesamten Entwicklung. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Sie kommen als kleine, hilflose Wesen auf die Welt, können sich kaum bewegen, nur wenig kommunizieren und kaum Einfluss auf die Umwelt nehmen. Mit 5 Jahren verfügen sie aber bereits über differenzierte fein- und grobmotorische Fähigkeiten und beherrschen die Alltagssprache. Sie können kompetent mit ihren Mitmenschen umgehen und verfügen über vielfältige Kenntnisse in Bereichen wie Kausalität, Raum und Zeit.
Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermaßen durch Einheit und Vielfalt aus. Einheitlich verläuft der Entwicklungsprozess: Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung zuerst bestimmte Stadien der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 4 bis 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken.
Sehr vielfältig hingegen verläuft die Entwicklung von Kind zu Kind, wenn wir auf die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen und das zeitliche Auftreten von Entwicklungsstadien achten. Bereits Neugeborene sind unterschiedlich groß und schwer. Einige haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander auch in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewegungsverhalten. Im Verlauf der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. Ende des 1. Lebensjahres sind gewisse Kinder 8, andere bis zu 13 Kilogramm schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte bereits mit 10 Monaten, die meisten mit 12 bis 16 und einige nicht vor 18 Monaten. Das eine Kind spricht erste Wörter gegen Ende des 1. Lebensjahres, die meisten Kinder mit 15 bis 24 Monaten, und bei einigen lassen die ersten Wörter bis Mitte des 3. Jahres auf sich warten. Es gibt kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter auftritt und gleich ausgeprägt wäre.
Kinder sind nicht nur sehr verschieden voneinander, das einzelne Kind ist oftmals in sich unterschiedlich weit entwickelt; die einzelnen Entwicklungsbereiche wie Sprache oder Motorik sind ungleich fortgeschritten. So kann es vorkommen, dass ein Kind bereits mit 12 Monaten läuft, die ersten Wörter aber erst mit 24 Monaten spricht.
Wie Einheit und Vielfalt zusammenwirken ist in der nachfolgenden Abbildung am Erkundungsverhalten dargestellt. Jedes Kind erkundet Gegenstände zuerst mit dem Mund, dann mit den Händen und schließlich mit den Augen. In welchem Alter ein Kind beginnt, ein bestimmtes Erkundungsverhalten zu zeigen, in welcher Intensität und für welche Dauer ist von Kind zu Kind unterschiedlich.
Alle Entwicklungsstadien und Verhaltensweisen erscheinen von Kind zu Kind also in unterschiedlichem Alter und sind verschieden ausgeprägt. Jedes Kind ist auf seine Weise einmalig. Wie können sich die Eltern auf die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse ihres Kindes einstellen?
Vieles, was Eltern tun, geschieht, ohne dass sie ihr Handeln bewusst planen. Sie erfassen das Verhalten ihres Kindes intuitiv richtig. Wenn eine Mutter ihr Kind vom Bettchen aufnimmt, es in den Armen hält und durch Wiegen beruhigt, passt sie sich diesem instinktiv an. Sie spürt, wie rasch sie es aufnehmen darf, in welcher Haltung es sich am wohlsten fühlt, und wie sie es am leichtesten beruhigen kann. Ohne diese angeborene Fähigkeit, das Verhalten eines Kindes zu deuten und sinnvoll darauf zu reagieren, könnten Eltern ihre Kinder gar nicht aufziehen.
Neben der Intuition spielen die eigenen Kindheitserfahrungen eine wesentliche Rolle. Wie sich die Eltern als Kinder gefühlt und wie sie ihre eigenen Eltern erlebt haben, beeinflusst wiederum ihr Erziehungsverhalten. Dieses wird schließlich, je älter das Kind wird, zunehmend von überlieferten Grundhaltungen und Normvorstellungen bestimmt. Letztere übernehmen die Eltern in Gesprächen mit Verwandten und Bekannten oder aus den Medien. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von 3 Monaten nachts durchschläft, dass es mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit 2 Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, da sich Kinder sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Sie erwarten beispielsweise, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft. Es gibt Kinder, auf die diese Annahme zutrifft, für die Mehrheit der Kinder gilt sie aber nicht. Ein Teil der Kinder schläft länger, einige bis zu 15 Stunden pro Nacht, andere Kinder schlafen lediglich 9 bis 10 Stunden. Was geschieht, wenn die Eltern ihr Kind um 7 Uhr abends in der Erwartung zu Bett bringen, dass es bis 7 Uhr morgens schläft, das Kind aber nur 10 Stunden schlafen kann? Das Kind wird abends nicht einschlafen, nachts mehrmals aufwachen oder morgens vorzeitig wach sein. Im ungünstigsten Fall haben die Eltern unter allen drei Verhaltensauffälligkeiten zu leiden. Ein Kind, das nur 10 Stunden Schlaf pro Nacht braucht, entwickelt sich nicht besser, wenn es 12 Stunden im Bett liegen muss.
Wie können sich Eltern von Normvorstellungen, überlieferten Grundhaltungen und fest gefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, das kindliche Verhalten wahrzunehmen und sich darauf einzustellen, helfen dabei. Eltern, die wissen, dass der Schlafbedarf unter Kindern unterschiedlich groß ist, werden sich nicht nach irgendwelchen Angaben richten. Sie werden vielmehr darauf achten, wie viel Schlaf ihr Kind braucht. Benötigt ihr Kind lediglich 10 Stunden Schlaf pro Nacht, was nicht ungewöhnlich ist, passen sie die Schlafenszeit den kindlichen Bedürfnissen an.
Welche Eigenschaften sind bei unserem Kind angeboren und welche erziehungsbedingt? Ist sein Verhalten Ausdruck der Veranlagung oder der Art und Weise, wie wir mit ihm umgehen? Diese Fragen stellen sich Eltern spätestens dann, wenn das Kind Schwierigkeiten bereitet und sie sich als Erzieher verunsichert fühlen.
Eltern nehmen eine unterschiedliche Erziehungshaltung ein, je nachdem, ob sie der Erbanlage oder ihrem erzieherischen Einfluss eine größere Bedeutung zumessen. Wenn sie davon ausgehen, dass alle zukünftigen Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Kindes vererbt sind, werden sie zu Fatalisten: Die Natur nimmt ihren Lauf; als Erzieher sind sie nur Statisten. Wenn die Eltern der Meinung sind, das Milieu, in dem das Kind aufwächst, sei allein entscheidend für seine Entwicklung und sein Verhalten, laden sie sich eine übergroße Verantwortung auf: Das Kind ist dann ausschließlich das Produkt ihrer Erziehung. Die meisten Eltern gehen richtigerweise davon aus, dass für die kindliche Entwicklung Erbanlage und Umwelt gleichermaßen von Bedeutung sind. Auf welche Weise aber wirken sie zusammen?
Veranlagung und Umwelt sind keine Gegensätze, sie ergänzen sich. Das Erbgut, welches das Kind zu gleichen Teilen von Mutter und Vater bekommt, enthält einen Entwicklungsplan sowie die Anlagen für körperliche und psychische Eigenschaften. Individuelle Merkmale wie Körpergröße, Augenfarbe, aber auch motorische oder sprachliche Fähigkeiten sind im Erbgut angelegt. Diese genetische Grundlage schafft die Voraussetzungen dafür, dass ein Kind entstehen kann, vermag aber allein kein Lebewesen hervorzubringen. Dazu bedarf es der Umwelt und im Besonderen der Eltern.
Mit solch allgemeinen Überlegungen sind Eltern kaum zufriedenzustellen, wenn ihr 3-jähriger Sohn in Tobsuchtsanfälle ausbricht. Sie möchten das Verhalten ihres Kindes verstehen und wünschen sich für den Umgang mit ihm konkrete Orientierungshilfen: Warum hat er Tobsuchtsanfälle? Wodurch werden diese Anfälle ausgelöst? Wie sollen sie sich ihm gegenüber verhalten?
Auf Frustrationen mit Trotz zu reagieren, gehört zum normalen Verhalten von Kleinkindern. Auffällig wäre ein fehlendes Trotzverhalten! Bereitschaft und Ausmaß der Trotzreaktionen sind je nach angeborenem Temperament von Kind zu Kind unterschiedlich stark ausgeprägt. Genauso wie Erwachsene verschieden heftig auf einen abschlägigen Bescheid reagieren, gibt es Kinder, die der Aufforderung, ins Bett zu gehen, widerwillig Folge leisten, während andere einen Tobsuchtsanfall bekommen. Gegen solche temperamentvollen Auftritte können auch die fähigsten Eltern nichts ausrichten. Die Häufigkeit aber, mit der die Tobsuchtsanfälle auftreten, ist wesentlich vom Verhalten der Eltern abhängig. Geben die Eltern dem Kind nach, wird das Kind immer häufiger so reagieren, um seinen Willen durchzusetzen. Bestehen die Eltern auf ihrer Haltung, werden die Anfälle immer seltener werden. Das Temperament ihres Kindes können Eltern nicht verändern, sein Verhalten aber können sie sehr wohl beeinflussen.
In jedem Entwicklungs- und Verhaltensbereich bringt das Kind bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten mit. Welches Verhalten sich das Kind in seiner Entwicklung aneignet, hängt wesentlich davon ab, wie die Eltern und andere Bezugspersonen mit dem Kind umgehen.
...
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
1. Auflage März 2010
6. Auflage März 2011
© 2007 Piper Verlag GmbH, München
Erstausgabe: Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 1993
Babyjahre hat seit seinem ersten Erscheinen 1993 bei Eltern und Fachleuten eine ständig wachsende Leserschaft und viel Zuspruch gefunden. Eine gründliche Überarbeitung des Buches ist nach 15 Jahren dennoch notwendig geworden. Was ist neu an dieser Ausgabe?
Die Neuauflage geht ausführlicher auf diejenigen Erziehungsfragen ein, die Eltern und Fachleute inzwischen weit mehr beschäftigen als Anfang der Neunzigerjahre: die Bewältigung von Elternschaft und Beruf, die Frage nach einer guten Kinderbetreuung, die Rolle des Vaters oder der richtige Umgang mit den Medien. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über die frühkindliche Entwicklung, die für den Umgang mit Kindern von Bedeutung sind, wurden ebenfalls berücksichtigt. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen hineinversetzen zu können. Sie tritt im Verlauf des 4. Lebensjahres auf und ist eine wichtige Voraussetzung für einfühlsames Verhalten. Um die Merkmale der frühkindlichen Entwicklungsperiode umfassend darzustellen, wurde der Altersbereich von 2 auf4 Jahre erweitert. In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind alle spezifischen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt. Was natürlich nicht bedeutet, dass seine Entwicklung damit abgeschlossen wäre. Die Ausdifferenzierung der Fähigkeiten nimmt noch viele Jahre in Anspruch, die wesentlichen Grundlagen eignet sich das Kind jedoch in den ersten 4 Lebensjahren an.
Das bewährte Konzept von Babyjahre wurde bei der Überarbeitung beibehalten. Das Buch will nach wie vor kein Ratgeber für Problemsituationen sein. Es möchte die Eltern vielmehr darin unterstützen, die Eigenheiten und die Bedürfnisse ihres Kindes besser wahrzunehmen und zu verstehen, damit sie möglichst entwicklungsgerecht auf es eingehen können. Ein Schwerpunkt des Buches liegt darin, auf die Vielfalt der kindlichen Entwicklung hinzuweisen. Diese Vielfalt wird anhand zahlreicher Grafiken in allen Entwicklungsbereichen wie Motorik, Sprache oder Schlafverhalten dargestellt. Die Grafiken beruhen auf den Daten der Zürcher Longitudinalstudien, in denen die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter bei mehr als 700 Kindern ausführlich untersucht worden ist. Die Grafiken verdeutlichen, wie groß die Vielfalt in allen Entwicklungsbereichen ist und dass Normvorstellungen den Kindern daher nicht entsprechen können. Der Individualität des Kindes in der Erziehung möglichst gerecht zu werden, stellt eine der großen Herausforderung für die Eltern dar.
Ein weiteres Anliegen von Babyjahre ist es, auf die jeweiligen altersspezifischen psychischen und körperlichen Bedürfnisse hinzuweisen, die es zu befriedigen gilt, damit sich das Kind möglichst gut entwickeln kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kind-Eltern-Beziehung, der Kinderbetreuung und den Erfahrungen, die Kinder miteinander machen, zu.
Ein drittes Anliegen ist es, den Eltern aufzuzeigen, dass sich jedes Kind entwickeln will. Damit es diesem inneren Drang folgen kann, muss es in seiner Umwelt die entsprechenden Erfahrungen machen können. Das Kind darin zu unterstützen, ohne es dabei zu über- noch zu unterfordern, gelingt Eltern umso leichter, je besser sie ihr Kind lesen und sein Verhalten verstehen können. Das Buch wurde nicht nur inhaltlich überarbeitet, sondern auch in seiner Erscheinungsform neu gestaltet. Das farbige Layout erleichtert eine rasche Orientierung und verbessert die Lesbarkeit insbesondere der Grafiken. Die farbigen Abbildungen, die mehrheitlich aus Familienalben stammen, geben typische Augenblicke des Lebensalltags von Kindern und Familien wieder. Zusätzlich wurden zahlreiche Abbildungen aus Filmmaterial der Zürcher Longitudinalstudien neu in das Buch mit aufgenommen, da sie charakteristische Merkmale des kindlichen Verhaltens besonders anschaulich darstellen.
Die Überarbeitung des Buches ist dann gelungen, wenn Babyjahre weiterhin dazu beiträgt, Eltern und Fachleuten Wesen und Welt des Kindes näher zu bringen sowie Freude und Faszination an der kindlichen Entwicklung zu vermitteln.
Remo H. Largo
Uetliburg, Juli 2007
EINFÜHRUNG
Sara ist vor wenigen Stunden auf die Welt gekommen. Sie ist 3,5 Kilogramm schwer, hat einen wohlgeformten Kopf und runde Wangen, Arme und Beinchen. Sie schreit kräftig und strampelt lebhaft. Mit großen Augen blickt sie Mutter und Vater an.
Die Eltern von Sara sind überglücklich: Sie haben ein gemeinsames Kind. Einige Zeit nach der Geburt sind die Eltern immer noch von Dankbarkeit überwältigt. Immer wieder schauen sie Sara an und erfreuen sich an jeder kleinsten ihrer Regungen. Für die Eltern gibt es in diesen Stunden nichts Wichtigeres als ihre Tochter.
In wenigen Tagen werden sie mit Sara nach Hause zurückkehren, und spätestens dann wird ihnen bewusst werden: Wir haben nun die alleinige Verantwortung für dieses kleine Wesen, und das etwa für die nächsten 20 Jahre. Werden wir Sara gerecht werden können? Fragen, die sie besonders beschäftigen, sind:
• Was hat Sara für Bedürfnisse? Wie können sie befriedigt werden? Wie viel Zuwendung braucht Sara? Wie können wir ihre Betreuung gewährleisten?
• Wie wird sich Sara entwickeln? Was müssen wir zu ihrer Entwicklung beitragen? Wie können wir unsere Tochter am besten fördern?
• Wie erziehen wir Sara? Wann bestimmt sie, und wann bestimmen wir?
• Was bedeutet Sara für uns als Eltern? Wie sehr wird sie unser Leben verändern?
In diesem einleitenden Kapitel wollen wir versuchen, auf diese Fragen Antworten zu finden, die dem Kind und seiner individuellen Entwicklung möglichst gerecht werden.
Grundbedürfnisse
Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv ist, müssen seine körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse befriedigt sein. Die Auswirkungen nachteiliger Lebensbedingungen und psychischer Vernachlässigung (Deprivation) für Säuglinge und Kleinkinder sind in zahlreichen Studien nachgewiesen worden (Rutter, Ernst). Kinder brauchen für ihr Gedeihen und ihre Entwicklung die körperliche Nähe und gefühlvolle Zuwendung der Eltern und anderer Bezugspersonen. Kinder, die psychisch vernachlässigt werden, sind in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
Körperliches Wohlbefinden setzt Gedeihen und Gesundheit voraus. Hunger und Durst, aber auch andere körperliche Bedürfnisse wie Schutz vor Kälte oder trockene und saubere Kleidung wollen zuverlässig befriedigt sein. Nur Kinder, die ausreichend ernährt, gepflegt und gesund sind, können sich auch normal entwickeln. Nachrichten aus Entwicklungsländern führen uns tagtäglich vor Augen, wie nachteilig sich Mangelernährung, Vernachlässigung und Krankheit auf die kindliche Entwicklung auswirken.
Eltern freuen sich über die Gesundheit ihres Kindes. Krankheiten, sei es auch nur eine harmlose Erkältung, können ihnen schnell große Sorgen bereiten. Ein Säugling, der viel trinkt, oder ein Kleinkind, das kräftig isst, bestätigt den Eltern, dass sie gut für ihr Kind sorgen. Ein appetitloses Kind hingegen ängstigt die ganze Verwandtschaft. Eltern fragen sich daher: Wie viel Milch muss ein Säugling trinken? Wann soll mit den Breimahlzeiten begonnen werden? Für alle diese Fragen gibt es Richtlinien, zum Beispiel auf den Packungen der Säuglingsmilch. Diese Richtlinien entsprechen den meisten Kindern aber nicht, weil jedes Kind seine eigenen Bedürfnisse hat. Manche Säuglinge trinken nur halb so
viel Milch wie andere gleichaltrige Kinder. Die Bereitschaft, Brei zu essen, setzt von Kind zu Kind in ganz unterschiedlichem Alter ein. Für die Ernährung gilt genauso wie für andere Entwicklungsbereiche: Ein Kind gedeiht dann am besten, wenn sich die Eltern an seinen Bedürfnissen orientieren. Mehr ist keineswegs immer besser, sondern häufig zu viel und daher nachteilig.
Die psychischen Bedürfnisse eines Kindes sind schwieriger wahrzunehmen und deshalb auch weniger leicht zu befriedigen als die körperlichen. Damit es einem Kind gut geht, muss es sich geborgen und angenommen fühlen. Geborgenheit setzt die Nähe vertrauter Personen voraus. Ein Kind kann, insbesondere in den ersten Lebensjahren, nicht alleine sein. Es braucht eine vertraute Person, die ihm jederzeit Nähe, Hilfe und Schutz geben kann.
Für die elterliche Zuwendung gilt das Gleiche wie für Ernährung und Pflege: Das Kind entwickelt sich nicht umso besser, je mehr Zuwendung es erhält. Auch das Umsorgtwerden hat seine Grenzen und bei deren Überschreiten nachteilige Folgen. Jeder begreift, dass ein Kind durch eine übermäßige Nahrungszufuhr keineswegs besser gedeiht, sondern nur fettleibig wird. Genauso wie mit der Überfütterung verhält es sich mit der Überbehütung: Sie vermehrt nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer gefühlsmäßigen Abhängigkeit und macht es unselbstständig. Unselbstständige Kinder sind verstimmt, je nach Temperament ängstlich oder aggressiv und zeigen wenig Neigung, eigene Erfahrungen zu machen.
Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und gefühlsmäßiger Zuwendung ist von Kind zu Kind unterschiedlich groß. Das richtige Maß an Nähe und Zuwendung für das einzelne Kind vermag keine Theorie anzugeben. Das Kind teilt uns mit seinem Verhalten und Befinden mit, wie viel Nähe und Zuwendung es braucht. Dieses Buch will Eltern darin unterstützen, ihr Kind richtig zu lesen.
Es ist eine der Hauptaufgaben der Eltern, die Betreuung für das Kind so zu gestalten, dass es sich jederzeit geborgen und angenommen fühlt. Diese Aufgabe ist von den meisten Eltern alleine nicht zu bewältigen. Sie brauchen Unterstützung, damit die Qualität und Kontinuität in der Kinderbetreuung gewährleistet ist (siehe »Beziehungsverhalten Einleitung«).
Wie entwickeln sich Kinder?
Die ersten 4 Lebensjahre machen zeitlich lediglich etwa ein Viertel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren durchlaufen die Kinder jedoch mindestens die Hälfte ihrer gesamten Entwicklung. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Sie kommen als kleine, hilflose Wesen auf die Welt, können sich kaum bewegen, nur wenig kommunizieren und kaum Einfluss auf die Umwelt nehmen. Mit 5 Jahren verfügen sie aber bereits über differenzierte fein- und grobmotorische Fähigkeiten und beherrschen die Alltagssprache. Sie können kompetent mit ihren Mitmenschen umgehen und verfügen über vielfältige Kenntnisse in Bereichen wie Kausalität, Raum und Zeit.
Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermaßen durch Einheit und Vielfalt aus. Einheitlich verläuft der Entwicklungsprozess: Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung zuerst bestimmte Stadien der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 4 bis 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken.
Sehr vielfältig hingegen verläuft die Entwicklung von Kind zu Kind, wenn wir auf die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen und das zeitliche Auftreten von Entwicklungsstadien achten. Bereits Neugeborene sind unterschiedlich groß und schwer. Einige haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander auch in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewegungsverhalten. Im Verlauf der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. Ende des 1. Lebensjahres sind gewisse Kinder 8, andere bis zu 13 Kilogramm schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte bereits mit 10 Monaten, die meisten mit 12 bis 16 und einige nicht vor 18 Monaten. Das eine Kind spricht erste Wörter gegen Ende des 1. Lebensjahres, die meisten Kinder mit 15 bis 24 Monaten, und bei einigen lassen die ersten Wörter bis Mitte des 3. Jahres auf sich warten. Es gibt kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter auftritt und gleich ausgeprägt wäre.
Kinder sind nicht nur sehr verschieden voneinander, das einzelne Kind ist oftmals in sich unterschiedlich weit entwickelt; die einzelnen Entwicklungsbereiche wie Sprache oder Motorik sind ungleich fortgeschritten. So kann es vorkommen, dass ein Kind bereits mit 12 Monaten läuft, die ersten Wörter aber erst mit 24 Monaten spricht.
Wie Einheit und Vielfalt zusammenwirken ist in der nachfolgenden Abbildung am Erkundungsverhalten dargestellt. Jedes Kind erkundet Gegenstände zuerst mit dem Mund, dann mit den Händen und schließlich mit den Augen. In welchem Alter ein Kind beginnt, ein bestimmtes Erkundungsverhalten zu zeigen, in welcher Intensität und für welche Dauer ist von Kind zu Kind unterschiedlich.
Alle Entwicklungsstadien und Verhaltensweisen erscheinen von Kind zu Kind also in unterschiedlichem Alter und sind verschieden ausgeprägt. Jedes Kind ist auf seine Weise einmalig. Wie können sich die Eltern auf die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse ihres Kindes einstellen?
Vieles, was Eltern tun, geschieht, ohne dass sie ihr Handeln bewusst planen. Sie erfassen das Verhalten ihres Kindes intuitiv richtig. Wenn eine Mutter ihr Kind vom Bettchen aufnimmt, es in den Armen hält und durch Wiegen beruhigt, passt sie sich diesem instinktiv an. Sie spürt, wie rasch sie es aufnehmen darf, in welcher Haltung es sich am wohlsten fühlt, und wie sie es am leichtesten beruhigen kann. Ohne diese angeborene Fähigkeit, das Verhalten eines Kindes zu deuten und sinnvoll darauf zu reagieren, könnten Eltern ihre Kinder gar nicht aufziehen.
Neben der Intuition spielen die eigenen Kindheitserfahrungen eine wesentliche Rolle. Wie sich die Eltern als Kinder gefühlt und wie sie ihre eigenen Eltern erlebt haben, beeinflusst wiederum ihr Erziehungsverhalten. Dieses wird schließlich, je älter das Kind wird, zunehmend von überlieferten Grundhaltungen und Normvorstellungen bestimmt. Letztere übernehmen die Eltern in Gesprächen mit Verwandten und Bekannten oder aus den Medien. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von 3 Monaten nachts durchschläft, dass es mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit 2 Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, da sich Kinder sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Sie erwarten beispielsweise, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft. Es gibt Kinder, auf die diese Annahme zutrifft, für die Mehrheit der Kinder gilt sie aber nicht. Ein Teil der Kinder schläft länger, einige bis zu 15 Stunden pro Nacht, andere Kinder schlafen lediglich 9 bis 10 Stunden. Was geschieht, wenn die Eltern ihr Kind um 7 Uhr abends in der Erwartung zu Bett bringen, dass es bis 7 Uhr morgens schläft, das Kind aber nur 10 Stunden schlafen kann? Das Kind wird abends nicht einschlafen, nachts mehrmals aufwachen oder morgens vorzeitig wach sein. Im ungünstigsten Fall haben die Eltern unter allen drei Verhaltensauffälligkeiten zu leiden. Ein Kind, das nur 10 Stunden Schlaf pro Nacht braucht, entwickelt sich nicht besser, wenn es 12 Stunden im Bett liegen muss.
Wie können sich Eltern von Normvorstellungen, überlieferten Grundhaltungen und fest gefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, das kindliche Verhalten wahrzunehmen und sich darauf einzustellen, helfen dabei. Eltern, die wissen, dass der Schlafbedarf unter Kindern unterschiedlich groß ist, werden sich nicht nach irgendwelchen Angaben richten. Sie werden vielmehr darauf achten, wie viel Schlaf ihr Kind braucht. Benötigt ihr Kind lediglich 10 Stunden Schlaf pro Nacht, was nicht ungewöhnlich ist, passen sie die Schlafenszeit den kindlichen Bedürfnissen an.
Welche Eigenschaften sind bei unserem Kind angeboren und welche erziehungsbedingt? Ist sein Verhalten Ausdruck der Veranlagung oder der Art und Weise, wie wir mit ihm umgehen? Diese Fragen stellen sich Eltern spätestens dann, wenn das Kind Schwierigkeiten bereitet und sie sich als Erzieher verunsichert fühlen.
Eltern nehmen eine unterschiedliche Erziehungshaltung ein, je nachdem, ob sie der Erbanlage oder ihrem erzieherischen Einfluss eine größere Bedeutung zumessen. Wenn sie davon ausgehen, dass alle zukünftigen Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Kindes vererbt sind, werden sie zu Fatalisten: Die Natur nimmt ihren Lauf; als Erzieher sind sie nur Statisten. Wenn die Eltern der Meinung sind, das Milieu, in dem das Kind aufwächst, sei allein entscheidend für seine Entwicklung und sein Verhalten, laden sie sich eine übergroße Verantwortung auf: Das Kind ist dann ausschließlich das Produkt ihrer Erziehung. Die meisten Eltern gehen richtigerweise davon aus, dass für die kindliche Entwicklung Erbanlage und Umwelt gleichermaßen von Bedeutung sind. Auf welche Weise aber wirken sie zusammen?
Veranlagung und Umwelt sind keine Gegensätze, sie ergänzen sich. Das Erbgut, welches das Kind zu gleichen Teilen von Mutter und Vater bekommt, enthält einen Entwicklungsplan sowie die Anlagen für körperliche und psychische Eigenschaften. Individuelle Merkmale wie Körpergröße, Augenfarbe, aber auch motorische oder sprachliche Fähigkeiten sind im Erbgut angelegt. Diese genetische Grundlage schafft die Voraussetzungen dafür, dass ein Kind entstehen kann, vermag aber allein kein Lebewesen hervorzubringen. Dazu bedarf es der Umwelt und im Besonderen der Eltern.
Mit solch allgemeinen Überlegungen sind Eltern kaum zufriedenzustellen, wenn ihr 3-jähriger Sohn in Tobsuchtsanfälle ausbricht. Sie möchten das Verhalten ihres Kindes verstehen und wünschen sich für den Umgang mit ihm konkrete Orientierungshilfen: Warum hat er Tobsuchtsanfälle? Wodurch werden diese Anfälle ausgelöst? Wie sollen sie sich ihm gegenüber verhalten?
Auf Frustrationen mit Trotz zu reagieren, gehört zum normalen Verhalten von Kleinkindern. Auffällig wäre ein fehlendes Trotzverhalten! Bereitschaft und Ausmaß der Trotzreaktionen sind je nach angeborenem Temperament von Kind zu Kind unterschiedlich stark ausgeprägt. Genauso wie Erwachsene verschieden heftig auf einen abschlägigen Bescheid reagieren, gibt es Kinder, die der Aufforderung, ins Bett zu gehen, widerwillig Folge leisten, während andere einen Tobsuchtsanfall bekommen. Gegen solche temperamentvollen Auftritte können auch die fähigsten Eltern nichts ausrichten. Die Häufigkeit aber, mit der die Tobsuchtsanfälle auftreten, ist wesentlich vom Verhalten der Eltern abhängig. Geben die Eltern dem Kind nach, wird das Kind immer häufiger so reagieren, um seinen Willen durchzusetzen. Bestehen die Eltern auf ihrer Haltung, werden die Anfälle immer seltener werden. Das Temperament ihres Kindes können Eltern nicht verändern, sein Verhalten aber können sie sehr wohl beeinflussen.
In jedem Entwicklungs- und Verhaltensbereich bringt das Kind bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten mit. Welches Verhalten sich das Kind in seiner Entwicklung aneignet, hängt wesentlich davon ab, wie die Eltern und andere Bezugspersonen mit dem Kind umgehen.
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Ungekürzte Taschenbuchausgabe
1. Auflage März 2010
6. Auflage März 2011
© 2007 Piper Verlag GmbH, München
Erstausgabe: Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 1993
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Inhaltsverzeichnis zu „Babyjahre “
Aus dem Inhalt:- Beziehungsverhalten Eltern, Kind
- Motorik Baby
- Schlafverhalten von Babys
- Schreiverhalten
- Spielverhalten von Säuglingen und kleinen Kindern
- Sprachentwicklung in den ersten drei Lebensjahren
- Trinken und Essen: Vom Stillen über Babybrei zu fester Nahrung
- Wachstum: Wie entwickelt sich mein Kind?
- Trocken und sauber werden: spielerische Sauberkeitserziehung
Autoren-Porträt von Remo H. Largo
Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er ist Vater dreier Töchter und Grossvater von vier Enkeln. Seine Bücher "Babyjahre", "Kinderjahre", "Schülerjahre" und "Jugendjahre" (mit Monika Czernin) sind Klassiker, ebenso wie die zuletzt erschienene Neuausgabe von "Glückliche Scheidungskinder".
Bibliographische Angaben
- Autor: Remo H. Largo
- 2010, 592 Seiten, 300 farbige Abbildungen, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492257623
- ISBN-13: 9783492257626
- Erscheinungsdatum: 12.02.2010
Rezension zu „Babyjahre “
Remo H. Largos Erziehungsklassiker ist in jeder Familie unentbehrlich., Frankfurter Allgemeine Zeitung 20151120
Pressezitat
Remo H. Largos Erziehungsklassiker ist in jeder Familie unentbehrlich., Frankfurter Allgemeine Zeitung 20151120
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