Auf der Flucht
Karasek erzählt Geschichten aus seinem Leben: von Liebe, Betrug, Verrat, Nähe und Fremdheit, Lüge und Wahrheit. Seine Kindheit endet nach dem Weihnachtsfest 1944 mit der Flucht aus der österreichischen Tuchstadt Bielitz. Zusammen mit der hochschwangeren...
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Karasek erzählt Geschichten aus seinem Leben: von Liebe, Betrug, Verrat, Nähe und Fremdheit, Lüge und Wahrheit. Seine Kindheit endet nach dem Weihnachtsfest 1944 mit der Flucht aus der österreichischen Tuchstadt Bielitz. Zusammen mit der hochschwangeren Mutter und drei kleinen Geschwistern beginnt eine Reise ins Ungewisse.
Auf der Flucht von Helmuth Karasek
LESEPROBE
Weihnachten1944
Weihnachten1944 waren die letzten Weihnachten, die ich
dortverbrachte, wo ich glaubte zu Hause zu sein. Bielitz gehörte
damals zuGrossdeutschland und ich hatte seit 1940 dort
Weihnachtenerlebt. 1937 in Brünn, 1938 und 1939 in Wien.
Bielitzgehört jetzt, seit 2004, zu dem gleichen Europa wie wir.
Zu diesemEuropa gehörte es zum letzten Mal zu Zeiten, als
meinGrossvater in den Krieg zog und 1918 mit nur einem Bein
wiederkehrte.
Ich warzehn Jahre alt und einige Tage zuvor von der Napola,
die ichseit dem Herbst besuchte, für die Weihnachtsferien
nach Hausegekommen. Es war schön, aus dem kalten
Drill undSchliff der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in
dasluxuriöse weiche Zuhause zurückfallen zu können. Dass
ich imJanuar wieder zurück müsste, verdrängte ich.
UnsereWohnung in Bielitz lag in der Dr.-Joseph-Goebbels-
Strasse,Hausnummer 42, direkt neben der Kreisleitung der
NSDAP. Wirwohnten im zweiten Stock, hatten einen Balkon
mitsteinerner Brüstung, von dem man auf eine Parkallee
blickte.Wir hatten viereinhalb Zimmer, neben dem Herrenzimmer
undEsszimmer ein Kinderzimmer mit grünen Schleiflackmöbeln,
einEltern-Schlafzimmer mit einer Psyche, auf der
meineMutter vor dem Spiegel Flacons mit Parfüm hatte, die
man mitGummibällen zum Sprühen brachte; der rote Gummiballon
war mitSeide umhüllt, unten hing eine Quaste dran.
Ich habemeine Mutter nicht einmal auf dem gepolsterten
Hocker vorihrer Psyche sitzen sehen.
DieWohnung hatte Etagenheizung, der Koksofen stand im
Flur, nahedem Eingang, das Haus hatte kleine Aufzüge, mit
denen dieDienstboten den Koks in Schütten aus dem Keller
hochziehenkonnten. Im Flur stand auch ein Eiskasten. Einmal
die Wochekam der Eismann und legte Eisstücke in das
bleierneFach über dem Kühlraum. Im Flur stand ein Einbauschrank,
in den manoben die schmutzige Wäsche werfen
konnte.Neben der Küche lagen die Speisekammer und das
Dienstmädchenzimmer,das, soweit ich mich erinnere, kein
Fensterhatte. An der Küche gab es einen kleinen Balkon, den
ich immermit schmutzigem Schnee vor Augen habe. Unser
DienstmädchenSoscha, eine siebzehnjährige Polin mit dickem
schwarzemZopf, klopfte hier mit dem Pracker die kleinen
Teppicheaus. Die grossen wurden in den Hof getragen und im
Winter imSchnee neben der Teppichstange geklopft. Das gibt
ihnen eineschöne Farbe, sagte meine Mutter, während sie mit
Soscha aufdie Teppiche im Schnee einschlug.
Neben demSchlafzimmer lag das Bad. Es war grün gekachelt,
hatte eineeingelassene Badewanne, ein Bidet, das mich
faszinierte,weil es nicht für mich bestimmt war, und einen
Gasbadeofen,an dem immer ein Flämmchen brannte. Drehte
man warmesWasser auf, sprang die Heizung mit einem Fauchen
an.
VorWeihnachten war die Wanne voll kalten Wassers und
sechs odersieben Karpfen schwammen darin herum. Mein
Vater, derkeiner Fliege etwas zuleide tun konnte, übernahm
diePflicht, die Weihnachtskarpfen mit einem Hammer zu erschlagen.
Ich sahihm mit erschrockener Lust zu; eine weitere
Mutprobewar es, am Abend die Augen der Karpfen zu essen.
EineDelikatesse, sagte mein Vater, wie das Fleisch hinter den
Kiemen.
Wir hattenim Ess- und Wohnzimmer sehr schöne furnierte
Möbel,offenbar aus zweiter Hand. Im Herrenzimmer, das
modern undnicht ganz im Geschmack meiner Eltern war, blätterten
am seltsamrunden Schreibtisch die Furniere ab. Auch
das Radiowar furniert, elegant gebogen und hatte ein magisches
Auge, dasmich giftig grün aus dem Dunklen ansprang.
Auf derSkala standen so seltsame Namen wie Hilversum oder
Königswusterhausen.Wir hatten luxuriöses Geschirr, kostbare
Porzellanfiguren,Rokoko-Figuren, noch die Spitzenrüschen
warenfiligranfein und hauchzart gestaltet. Es war schön,
aber espasste nicht zu uns.
1939 hattenviele überhastet die Stadt verlassen, als die
Deutscheneinmarschierten. Zwar war Bielitz schon früher
einedeutsche Tuchstadt gewesen, die Mehrheit der Bevölkerung
wardeutsch, aber nach 1918 war Österreichisch-Schlesien
an Polengefallen. 1939, nach Hitlers Blitzkrieg und Blitzsieg,
gehörte eszum Gau Oberschlesien. Bielitz wurde Kreisstadt,
nichtsBesonderes. Nur dass im Kreis Bielitz Auschwitz lag.
Blickteman von unserem Balkon nach links, Richtung
Osten,dann sah man Kastanienbäume, die das Ufer eines
Flussessäumten, der Bialka. Die Bialka hatte früher nicht nur
Bielitzvon der Stadt Biala getrennt, sondern auch Österreichisch-
Schlesienvon Galizien. Biala lag in Galizien, Bielitz in
Schlesien.Die Bialka war ein kleines Flüsschen; an einer sandigen
Bucht, vonunserem Haus vielleicht hundert Meter entfernt,
machte sieeine leichte Biegung und rauschte dann über
einkleines Wehr. Hier führte eine Brücke nach Biala.
Ich habeunter der Brücke und in der Flussbiegung oft gespielt,
Kaulquappengefangen und grüne Blutegel, die wie
kleinegekrümmte Trompeten aussahen. Man konnte sie zu
Ärztenbringen, die sie ihren Patienten ansetzten.
Auf derBiala-Seite stand das Haus, das mein Grossvater
einstgebaut und bewohnt hatte. 1928 hatten ihn die Polen, da
er aus Brünnstammte, ausgewiesen und enteignet. So kommt
es, dassmeine Eltern in Bielitz, ich aber in Brünn geboren bin
und dasssie mit der deutschen Armee wieder zurück nach Bielitz
kamen. ImHerrenzimmer hing über einer Couch ein Bild.
Es zeigteschwarz-weiss in schlichtem Rahmen den Reichsführer-
SS HeinrichHimmler, mit Unterschrift.
Ein paarTage vor dem Heiligen Abend 1944 war ich alleine
zu Hause,meine drei kleinen Geschwister schliefen schon, Soscha
war in derKüche oder in ihrer Kammer. In der Stille
knacktennur die Heizkörper. Ich ging ins Schlafzimmer meiner
Eltern,zog die Schubladen der Kommode auf und fand,
was ichsuchte: meine Weihnachtsgeschenke. Vor Freude und
Vorfreudekonnte ich mich kaum halten, denn ich hatte etwas
entdeckt,worauf ich gehofft, womit ich aber nie gerechnet
hatte:eine Märklin-Eisenbahn, Schienen mit auf Blech gemaltem
Schotter,einen Transformator, eine Lokomotive, Personenwaggons,
Güterwaggons.Beseligt schob ich die Schublade
wieder zu,ich glaube nicht, dass ich ein schlechtes Gewissen
hatte. Ichfreute mich wie noch nie auf Weihnachten, darauf,
wie ichdie Schienen zusammenstecken, den Zug über die
Gleiserollen lassen würde. Ich würde die Weichen stellen, die
Lokomotivewürde mit ihren Scheinwerfern leuchten, ihre
kleinenKolben würden wie verrückt rattern. Und Jahr für Jahr
würde dieBahn umfangreicher werden, Häuser würden dazu
kommen,Brücken, Tunnels, Bahnhöfe. Was für eine Zukunft.
Weihnachten1944 war besonders kalt, weiss war es in den
Beskidenohnehin. Die Wohnung war warm, ich hatte zur Eisenbahn
noch einenMetallbaukasten bekommen und Bausteine.
Aberleider war mir sterbenselend, ich war das üppig fette Essen,
dieWeihnachtsgans, nicht gewohnt und habe mich über
dem glatten,glänzenden Parkettboden übergeben. Meine Mutter
stecktemich ins Bett und gab mir Tee.
Ein paarTage später hiess es, die Mutter müsse mit uns Kindern
Bielitzverlassen. Vorübergehend. Die Russen hätten in
einerOffensive die deutsche Front gebrochen und seien im
Vorstossauf das Kohle- und Industrierevier um Kattowitz.
Mein Vatermüsse an der Heimatfront bleiben.
Wirpackten ein paar Koffer, so viel, wie ich und meine Mutter
geradetragen konnten, und mein Vater fuhr uns zum Bahn-
hof, dervon Schneestürmen umtobt war. Meine kleinen Geschwister,
meinfünfjähriger Bruder Horst, meine vierjährige
SchwesterIngrid und meine zweijährige Schwester Heidrun
hieltenwir an der Hand. Nach stundenlangem Warten auf dem
Bahnsteig,der immer wieder von Schneeverwehungen freigeschaufelt
werdenmusste, drängten wir uns in einen überfüllten
Zug, deruns, »vorübergehend«, so beschwichtigte mein Vater
meineMutter, auf ein Gut in Niederschlesien bringen sollte.
Icherinnere mich an das erleichtert freudige Gefühl, das ich
empfand,weil ich nach den Ferien nun doch nicht mehr in
meinegehasste Schule mit ihrem Drill zurückkehren musste.
Ich wusstenoch nichts von den Wochen, in denen wir uns immer
wieder ineisige Züge kämpfen und drängen, auf vereisten
Strassenauf Lastwagen warten, in überfüllten Wartesälen
oderSchulen auf dem Boden schlafen, in Gestank, Geschrei,
unterVerzweifelten und dumpf Verstummten, im Dreck, in
Angst undPanik, die Tage in Hunger und Kälte verbringen
mussten.Es war der totale Zusammenbruch. Dass es eine Befreiung
war,lernte ich erst Jahre später. Nur manchmal hätte
ich gernegewusst, wer später an Weihnachten von den Tellern
gegessenhat, die wir zurückliessen. Welche Bilder an den Wänden
hingen.Und was aus der Märklin-Eisenbahn geworden
ist, mitder ich nur zwei Tage gespielt hatte.
© UllsteinVerlag
- Autor: Hellmuth Karasek
- 2006, 4. Aufl., 539 Seiten, Masse: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548368174
- ISBN-13: 9783548368177
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