Arthur & George
Zwei Männer, geprägt vom ausgehenden 19. Jahrhundert in Grossbritannien, begegnen sich in einer entscheidenden und dramatischen Phase ihres Lebens: Arthur Conan Doyle, der...
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Zwei Männer, geprägt vom ausgehenden 19. Jahrhundert in Grossbritannien, begegnen sich in einer entscheidenden und dramatischen Phase ihres Lebens: Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes, und George Edalji, ein kleiner Provinzanwalt. Julian Barnes schildert sie auf faszinierende Weise vor dem Hintergrund ihrer Zeit.
Arthur und George könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine, aus niederem schottischen Adel stammend, wird Augenarzt, dann ein erfolgreicher Schriftsteller und einer der berühmtesten Männer seiner Zeit. Der andere, braves Kind eines anglikanischen Dorfpfarrers indischer Herkunft, wird ein kleiner Rechtsanwalt in Birmingham. Beide sind sie zutiefst den Konventionen und Ehrvorstellungen ihrer Epoche verhaftet, Arthur leidet zudem unter einer schwierigen Liebesbeziehung.
Ihre Wege kreuzen sich, als Arthur ein einziges Mal in seinem Leben in die Rolle des Sherlock Holmes schlüpft, um George zu helfen, der Opfer eines skandalösen, rassistisch motivierten Justizirrtums geworden ist. Das Verfahren wird wieder aufgerollt. Arthur gelingt es, Georges Ehre zu retten.
Arthur & George stand wochenlang auf den Bestsellerlisten in England und den USA sowie auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2005.
Arthur & George von Julian Barnes
LESEPROBE
Anfänge
Arthur
Ein Kind will sehen. So fängt es immeran, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen.
Der Junge konntelaufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerleiAbsicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür wardazu da, aufgestossen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da warniemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei ersorgsam die Tür hinter sich zumachte.
Was er dort sah, wurdeseine erste Erinnerung. Ein kleiner Junge, ein Zimmer, ein Bett, geschlosseneVorhänge, durch die ein wenig Nachmittagssonne hereinsickert. Sechzig Jahresollten vergehen, ehe er das öffentlich schilderte. Wie viele Wiederholungen imGeiste hatten die klaren Worte, die er schliesslich gebrauchte, geschliffen undin eine Ordnung gebracht? Zweifellos sah er alles noch so deutlich vor sich wieam ersten Tag. Die Tür, das Zimmer, das Licht, das Bett und das, was auf demBett lag: ein »weisses, wächsernes Ding«.
Einkleiner Junge und ein Leichnam: Das war im Edinburgh seiner Zeit sicher keinseltenes Zusammentreffen. Hohe Sterblichkeitsraten und beengte Verhältnissesorgten für frühe Erfahrungen. Die Familie war katholisch und der Leichnam dervon Arthurs Grossmutter, einer gewissen Katherine Pack. Vielleicht hatte man dieTür mit Bedacht angelehnt gelassen. Womöglich wollte man dem Kind den Schreckendes Todes vor Augen führen oder ihm, optimistischer, zeigen, dass es den Todnicht zu fürchten braucht. Die Seele der Grossmutter war offensichtlich in denHimmel geflogen und hatte nur die abgestreifte körperliche Hüllezurückgelassen. Der Junge will sehen? Dann soll er sehen.
Ein Zusammentreffen ineinem Raum mit geschlossenen Vorhängen. Ein kleiner Junge und ein Leichnam. EinEnkelkind, das durch die Aneignung von Erinnerung eben erst aufgehört hatte,ein Ding zu sein, und eine Grossmutter, die durch den Verlust der Eigenschaften,die das Kind gerade entwickelte, in jenen Zustand zurückgekehrt war. Der kleineJunge schaute gebannt; und mehr als ein halbes Jahrhundert später schaute dererwachsene Mann noch immer gebannt. Was ein »Ding« eigentlich war - bessergesagt, was eigentlich geschah, wenn sich die ungeheure Verwandlung vollzog undnur ein »Ding« zurückblieb -, sollte für Arthur von wesentlicher Bedeutungwerden.
George
George hat keine erste Erinnerung,und als die Idee aufkommt, es könnte normal sein, eine solche zu haben, ist eszu spät. Er hat kein Bild in sich, das eindeutig allen anderen vorausgegangenwäre - etwa davon, wie er hochgehoben, liebkost, angelächelt oder bestraftwurde. Ihm ist bewusst, dass er einmal das einzige Kind war, und er weiss, dassjetzt auch Horace da ist, doch gibt es keinUrerlebnis der Verstörung, als man ihm ein Brüderchen darbot, keine Vertreibungaus dem Paradies. Weder einen ersten Anblick noch einen ersten Geruch, ob voneiner parfümduftenden Mutter oder von einem karbolischen Hausmädchen.
Er ist einschüchterner, ernster Junge mit einem feinen Gespür für die Erwartungenanderer. Bisweilen meint er, seine Eltern zu enttäuschen: Ein pflichtbewusstesKind sollte sich doch erinnern, dass es von Anfang an umsorgt wurde. Doch seineEltern machen ihm diese Unzulänglichkeit nie zum Vorwurf. Und während andereKinder womöglich das Fehlende ersetzt - etwa gewaltsam ein liebevollesmütterliches Gesicht oder einen stützenden väterlichen Arm in ihre Erinnerungeneingebaut - hätten, tut George das nicht. Dazu fehlt es ihm allein schon anPhantasie. Ob er sie nie hatte oder ob ihre Entwicklung durch elterlicheEinwirkung gehemmt wurde, ist eine Frage für einen Zweig der psychologischenWissenschaft, der noch nicht erfunden war. George kann dem, was andere sichausgedacht haben - den Geschichten von der Arche Noah, von David und Goliath,von den Heiligen Drei Königen - sehr wohl folgen, hat aber selbst wenig Erfindungsgabe.
Er schämt sich dafürnicht, da seine Eltern das nicht als Mangel betrachten. Wenn sie von einem Kindim Dorf sagen, es habe »zu viel Phantasie«, dann ist das eindeutig ein Ausdruckder Missbilligung. Noch tadelnswerter sind Kinder, die »grossartige Geschichtenerzählen« und »flunkern«; am schlimmsten ist es, wenn ein Kind »durch und durchverlogen« ist - mit so einem darf man sich auf gar keinen Fall abgeben. Georgeselbst wird nie gedrängt, die Wahrheit zu sagen: Das würde unterstellen, dasser dazu ermahnt werden muss. Es ist einfacher: Man erwartet von ihm, dass erdie Wahrheit sagt, denn im Pfarrhaus ist gar nichts anderes möglich.
»Ich bin der Weg, dieWahrheit und das Leben«: Das soll er noch oft aus dem Mund seines Vaters hören.Der Weg, die Wahrheit und das Leben. Man geht seinen Weg durch das Leben, indemman die Wahrheit sagt. George weiss, dass das in der Bibel nicht unbedingt sogemeint ist, doch so hört es sich für ihn an, als er heranwächst.
Arthur
Für Arthur bestand eine natürlicheDistanz zwischen dem Elternhaus und der Kirche; doch beide Orte waren vollerErscheinungen, Geschichten und Vorschriften. In der kalten Steinkirche, die ereinmal in der Woche aufsuchte, um dort niederzuknien und zu beten, waren Gottund Jesus Christus und die Zwölf Apostel und die Zehn Gebote und die SiebenTodsünden. Alles war genau geordnet, stets in Registern erfasst und nummeriertwie die Kirchenlieder und Gebete und Bibelverse.
Er wusste, was er dortlernte, war die Wahrheit; seine Phantasie aber hielt sich lieber an die andere,parallele Version, die man ihm zu Hause beibrachte. Die Geschichten seinerMutter handelten gleichfalls von fernen Zeiten und dienten gleichfalls dazu,ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. Gewöhnlich stand dieMutter am Küchenherd, rührte das Porridge um und steckte sich dabei die Haarehinter die Ohren, und er wartete auf den Augenblick, wenn sie mit dem Rührholzan den Topf schlug, innehielt und ihm ihr rundes, lächelndes Gesicht zuwandte.Ihre grauen Augen liessen ihn nicht los, während ihre Stimme in der Luft einenbewegten Bogen beschrieb, auf und ab schnellte und dann langsamer wurde, bissie fast zum Stillstand kam, denn nun war die Mutter an der Stelle ihrerErzählung angelangt, die er kaum ertragen konnte, der Stelle, wo nicht nur demHeld und der Heldin, sondern auch dem Zuhörer unsägliche Qualen oder Freudenbevorstanden.
»Und dann hing derRitter über der Grube mit züngelnden Schlangen, welche zischten und spuckten,während ihre zuckenden Leiber sich um die bleichenden Knochen ihrer früherenOpfer wanden «
»Und dann zog dergemeine Schurke mit einem grässlichen Fluch einen verborgenen Dolch aus demStiefel und wollte ihn der wehrlosen «
»Und dannnahm die Maid eine Nadel aus ihrem Haar, und die goldenen Flechten fielen vomFenster herab, tiefer und tiefer, und sie strichen sanft an den Mauern desSchlosses entlang, bis sie beinahe auf das frische grüne Gras reichten, in demer stand «
Arthur war einlebhafter, eigenwilliger Junge, der nicht gern stillsass; doch sobald die Mamadas Rührholz hob, blieb er in stummer Verzauberung gefangen, als hätte einBösewicht aus einer ihrer Geschichten ihm heimlich ein Kräutleinins Essen getan. Dann schritten Ritter und ihre Damen durch die winzige Küche;Kampfansagen wurden gerufen, Abenteuer auf wundersame Weise bestanden;Rüstungen klirrten, Kettenhemden rasselten, und stets wurde die Ehrehochgehalten.
Diese Geschichtenwaren auf eine Art, die er anfangs nicht verstand, mit einer alten Holztruheverbunden, die neben dem Bett seiner Eltern stand und Dokumente über dieAbstammung der Familie enthielt. Hier schlummerten wieder andere Geschichten,die eher den Hausaufgaben in der Schule glichen und von dem Herzoghaus von Brittany und dem irischen Zweig der Percys von Northumberland handelten und von einem Mann, der PacksBrigade bei Waterloo angeführt hatte und der Onkel des weissen, wächsernenDinges war, das Arthur nie vergass. Und damit wiederum verbunden waren diePrivatstunden in Heraldik, die seine Mutter ihm gab. Aus dem Küchenschrank zogsie grosse Papptafeln hervor, die ein Onkel in London gemalt und kolorierthatte. Sie erklärte ihm die einzelnen Schilde und verlangte dann von ihm: »Blasoniere mir dieses Wappen!« Under musste antworten, wie beim Einmaleins: Sporenrädlein,Sparren, sechsstrahliger Stern, Fünfblatt, Mondschein und dergleichenwunderliche Dinge mehr.
Zu Hause lernte erzusätzliche Gebote zu den zehn, die er aus der Kirche kannte. »Sei furchtlosgegen die Starken, sanftmütig gegen die Schwachen«, lautete eins, ein anderes:»Übe Ritterlichkeit gegen die Frauen, ob von hohem oder niederem Stand.« Diese Gebote schienen ihm die wichtigeren zu sein, da siedirekt von der Mama kamen; ausserdem verlangten sie nach praktischer Umsetzung.Arthurs Blick ging nicht über seine unmittelbare Umgebung hinaus. Die Wohnungwar klein, das Geld knapp, die Mutter überarbeitet, der Vater ein Flattergeist.Schon früh leistete er einen kindlichen Schwur - und ein Schwur, das wusste er,war ewig bindend: »Wenn du alt bist, Mami, sollst du ein samtenes Kleid undeine goldene Brille haben und behaglich am Kamin sitzen.«Arthur sah den Anfang der Geschichte - dort, wo er jetzt war - und ihrglückliches Ende vor sich; nur die Mitte fehlte einstweilen noch.
Hinweise darauf wollteer bei seinem Lieblingsschriftsteller Captain Mayne Reid finden. Er suchte in DieGrenzschützen oder Abenteuer in Mexiko. Er las Jagdzüge im Dschungel undDer Kriegspfad und Der Reiter ohne Kopf. In seiner Vorstellungtummelten sich nun Büffel und Indianer neben Rittern in Kettenhemden und denInfanteristen von Packs Brigade. Sein liebstes Mayne-Reid-Buchwar Die Skalpjäger: Eine Abenteuererzählung aus Arizona und Neumexiko.Noch wusste Arthur nicht recht, wie er die goldene Brille und das samtene Kleidbeschaffen sollte, doch vermutlich war dazu eine gefahrvolle Reise nach Mexikonotwendig.
George
Einmal in der Woche geht er mitseiner Mutter Grossonkel Compson besuchen. Der wohntganz in der Nähe hinter einer niedrigen Granitschwelle, die George nichtübertreten darf. Jede Woche erneuern sie die Blumen in seinem Krug. Great Wyrley war sechsundzwanzig Jahre lang Onkel Compsons Pfarrei; nun ist seine Seele im Himmel, währendsein Körper im Kirchhof geblieben ist. Das erklärt ihm die Mutter, während sie dieverdorrten Stiele aus dem Krug nimmt, das übel riechende Wasser fortschüttetund die frischen, weichen Blumen hineinstellt. Manchmal darf George ihr helfen,sauberes Wasser einzugiessen. Sie sagt, übermässige Trauer sei unchristlich, aberdas kann George nicht verstehen.
Nachdem der Grossonkelin den Himmel aufgebrochen war, trat der Vater an seine Stelle. In einem Jahrheiratete er die Mutter, im nächsten bekam er seine Pfarrei, und imübernächsten wurde George geboren. So hat man es ihm erzählt, und das ist eineklare und wahre und glückliche Geschichte, wie eigentlich alles sein sollte. Daist die Mutter, die in seinem Leben ständig gegenwärtig ist, die ihm dieBuchstaben beibringt und ihm einen Gutenachtkuss gibt; und der Vater, der oftnicht da ist, weil er Alte und Kranke besucht oder seine Predigten schreibt undhält. Da ist das Pfarrhaus, die Kirche, das Haus, in dem die Mutter dieSonntagsschule abhält, der Garten, die Katze, die Hühner, die Rasenfläche, überdie man vom Pfarrhaus zur Kirche geht, und der Kirchhof. Das ist Georges Welt,und er kennt sie gut.
Im Innern desPfarrhauses ist alles still. Es gibt Gebete, Bücher, Handarbeit. Man schreitnicht, man rennt nicht, man beschmutzt sich nicht. Manchmal ist das Feuer zuhören und auch das Besteck, wenn man es nicht richtig hält; und als sein BruderHorace kommt, hört man den auch. Doch das sindAusnahmen in einer Welt, die ebenso friedlich wie verlässlich ist. Die Weltjenseits des Pfarrhauses ist für George voller unerwarteter Geräusche und unerwarteterGeschehnisse. Als er vier Jahre alt ist, nimmt man ihn zu einem Spaziergang aufden Feldwegen mit und zeigt ihm eine Kuh. Die Grösse des Tiers kann ihn nichtschrecken, auch nicht das pralle Euter, das vor seinen Augen wabbelt, wohl aberdas jähe heisere Brüllen, das das Tier ohne ersichtlichen Grund von sich gibt.Es muss wohl sehr missgelaunt sein. George bricht in Tränen aus, während seinVater die Kuh straft, indem er sie mit einem Stock schlägt. Dann dreht sich dasTier zur Seite, hebt den Schwanz und beschmutzt sich. George erstarrt, alsdieser Erguss hervorbricht, als er mit einem merkwürdig platschenden Geräuschim Gras landet, als plötzlich alles ausser Kontrolle geraten ist. Doch ehe erweiter darüber nachdenken kann, zieht ihn die Hand der Mutter fort.
Nicht nurdie Kuh oder die vielen Freunde der Kuh - wie das Pferd, das Schaf und dasSchwein - machen George die Welt jenseits der Pfarrhausmauer verdächtig. Fastalles, was er darüber hört, flösst ihm Furcht ein. Diese Welt ist vollerMenschen, die alt und krank und arm sind, und das ist alles nicht schön, wiedie Haltung und die leise Stimme des Vaters bei seiner Rückkehr erkennenlassen; und voller Menschen, die Grubenwitwen heissen, ein Wort, das Georgenicht versteht. Jenseits der Mauer gibt es Jungen, die flunkern oder, schlimmernoch, durch und durch verlogen sind. Ausserdem gibt es ganz in der Nähe etwas,das Zeche heisst, und dort kommen die Kohlen im Kamin her. Er weiss nicht recht,ob er die Kohlen mag. Sie riechen und stauben und machen Geräusche, wenn mansie schürt, und von ihren Flammen soll man sich fernhalten; obendrein werdensie von grossen, grimmigen Männern mit bis auf den Rücken reichenden Lederhaubenins Haus gebracht. Wenn die Aussenwelt den Türklopfer betätigt, bekommt George gewöhnlicheinen Schreck. Alles in allem würde er lieber hier drinnen bleiben, bei derMutter, bei seinem Bruder Horace und der neugeborenenSchwester Maud, bis es an der Zeit ist, zu seinem Grossonkel Compsonin den Himmel zu fahren. Aber das ist wahrscheinlich nicht erlaubt.
© by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
Übersetzung: Gertraude Krueger
- Autor: Julian Barnes
- 2007, 3. Aufl., 528 Seiten, Masse: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Gertraude Krueger
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462037064
- ISBN-13: 9783462037067
- Erscheinungsdatum: 22.02.2007
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