Alles, was leuchtet
Wie grosse Literatur den Sinn des Lebens erklärt
"Ein Vorbote der Philosophie der Zukunft." New York Times
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Alles, was leuchtet “
"Ein Vorbote der Philosophie der Zukunft." New York Times
Klappentext zu „Alles, was leuchtet “
Uns ist der Sinn abhandengekommen. Was tun? Wo suchen? In unserer Kultur haben die traditionellen Wertesysteme ihre Orientierungskraft eingebüsst. Wir fühlen uns von der Vielfalt der Möglichkeiten überfordert. Im Mittelalter war Gott der Sinnstifter. In der Antike leiteten die Götter ihre Lieblinge. Die so Geführten empfanden Dankbarkeit - die Welt leuchtete für sie. Können wir dieses homerische Staunen wiederfi nden? Ja, meinen die Philosophen Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly. Sie betrachten die Geschichte der westlichen Literatur - darunter Homer, Dante, Melville und David Foster Wallace -, und plädieren für einen säkularen Polytheismus, in dem sich der Mensch nicht als bedingungslose Urheber seiner Handlungen versteht, sondern sich der Welt öffnet.
Lese-Probe zu „Alles, was leuchtet “
Alles, was leuchtet von Hubert Dreyfus und Sean Dorrance KellyEin Wort an den Leser
Die Welt bewegt uns nicht mehr wie einst. Das gefühlstiefe und sinnhafte Leben von Homers Griechen oder die gewaltige Bedeutungshierarchie, die Dantes mittelalterlich christliche Welt strukturierte, sind unserem säkularen Zeitalter fremd geworden. Einst war die Welt in ihrer Vielgestalt ein Universum der heiligen, leuchtenden Dinge. Heute scheint uns das Leuchtende sehr fern. Dieses Buch soll es uns wieder näherbringen.
Alles, was leuchtet beschäftigt sich mit philosophischen und literarischen Fragen, richtet sich jedoch an einen breiten Leserkreis und nicht an ein Fachpublikum. In unserer heutigen westlichen Welt verfügt jeder über den nötigen Hintergrund für die Lektüre. Und jeder, der sich von klassischer Philosophie oder von Literatur eine Bereicherung seines Lebens verspricht, wird hier etwas für sich finden. Jeder, der das Leuchtende zurückzugewinnen hofft; jeder, der das Staunen, dessen wir einst fähig waren, wieder aus den Tiefen hervorholen und sich eine Welt erschließen möchte, die uns in eine solche Stimmung versetzen kann; jeder, der der Unentschlossenheit und Warterei, der Sprachlosigkeit und Verlorenheit und Traurigkeit und Angst müde ist; jeder, der sich bereit fühlt für den nächsten Schritt, welcher es auch sei; jeder, der auf die Hoffnung setzt und nicht verzagen will; und jeder, der eine Verunsicherung überwinden möchte - jeder kann in den kommenden Seiten etwas Lohnenswertes für sich finden. Jedenfalls ist es das, was wir uns erhoffen.
1
Unser Gegenwartsnihilismus
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Es war warm am 2. Januar 2007. Die Zeitungen berichteten über einen optimistischen Kirschbaum im Botanischen Garten von Brooklyn, der mit Tausenden Blüten aufgesprossen war. In der ganzen Stadt scharten sich Menschen spontan zu kleinen Grüppchen zusammen, erwartungsvoll hingezogen zueinander durch die Frühlingsstimmung. Doch in Manhattan, in der Subway- Station 137th Street, Ecke Broadway, verpuffte diese Frühlingsstimmung am frühen Nachmittag von einem Moment zum anderen. Cameron Hollopeter, ein zwanzigjähriger Filmstudent, war zusammengebrochen und lag in krampfartigen Zuckungen verkrümmt am Boden. Einem späteren Bericht zufolge eilten ihm sofort ein Mann und zwei Frauen zu Hilfe. Noch während sie auf ihn zuliefen, gelang es Mr Hollopeter, sich aufzurappeln. Er taumelte zum Rand des Bahnsteigs und stürzte rücklings auf die Gleise.
Was daraufhin geschah, löste in der frühlingsmild gestimmten Stadt Ehrfurcht und Bewunderung aus. Wesley Autrey, ein fünfzigjähriger Bauarbeiter und der Mann, der Mr Hollopeter sofort zu Hilfe geeilt war - und dabei seine beiden kleinen Töchter Syshe, vier, und Shuqui, sechs, mitten auf dem Bahnsteig hatte stehen lassen -, zögerte keinen Moment, als er die Scheinwerfer der Linie 1 aus dem nördlichen Ende des Tunnels heranrasen sah. Er sprang auf die Gleise, warf sich auf Mr Hollopeter und presste ihn mit dem eigenen Körper in die etwa dreißig Zentimeter tiefe Rinne zwischen den Schienen. Die Bremsen der Bahn kreischten auf, aber der Zug konnte nicht mehr rechtzeitig gestoppt werden: Fünf Waggons donnerten über die beiden Männer hinweg und verfehlten sie nur um Millimeter, bevor sie schließlich zum Stehen kamen. Eingequetscht unter dem Zug hörte Mr Autrey die entsetzten Schreie der Passanten auf dem Bahnsteig. »Wir sind okay hier unten«, rief er, »aber meine Töchter sind da oben. Sagt ihnen, dass es ihrem Vater gutgeht.« Erstaunte Zurufe und spontaner Applaus drangen vom Bahnsteig zu ihm. Später, nachdem der Strom abgeschaltet worden war, gelang es den Gleisarbeitern, die beiden Männer unter der Bahn hervorzuziehen. Mr Autreys blaue Strickmütze hatte etwas Schmierfett abbekommen, aber beide waren von ein paar Beulen und Kratzern abgesehen unversehrt.
Die Presse erklärte Wesley Autrey zum »Subway Hero« und überschüttete ihn mit einer wohlverdienten Flut an ehrerbietigen Berichten. Politiker eilten herbei, um sich mit dem Helden ablichten zu lassen, Wissenschaftler und Kulturkritiker debattierten, welche besonderen Eigenschaften ihn zum Helden gemacht haben könnten, oder konstatierten, dass die alten amerikanischen Werte nachbarschaftlicher Fürsorglichkeit in New York City noch ebenso zu finden seien wie in einer Kleinstadt in Iowa. Aus der selbstgefälligen Öffentlichkeit drangen Bekundungen, man würde genauso gehandelt haben wie Mr Autrey, und der Polizeichef belehrte die New Yorker mit ernster Miene, dass jeder dem Beispiel von Mr Autrey folgen müsse, wenn ein Mitbürger in Not sei. Mr Autrey selbst erklärte derweil wieder und wieder, dass er kein Held sei und nichts Ungewöhnliches getan habe. »Ich finde nichts Spektakuläres daran«, sagte er, »ich hatte nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte«.
Nicht nur ein Held, auch noch bescheiden, könnte man jetzt denken. Mr Autreys Handeln war zweifellos inspirierend und heldenhaft, aber vielleicht kommt in der Bescheidenheit, die wir hier zu erkennen glauben, etwas ganz anderes zum Ausdruck. Vielleicht hat Mr Autrey damit ja nur aufrichtig wiedergegeben, was er selbst erlebt hatte. Denn es ist ganz und gar nicht ungewöhnlich - wenngleich ein derart heroisches Eintreten für andere natürlich schon selten ist -, dass Personen nach einer heldenhaften Tat erklären, bloß getan zu haben, was jeder in ihrer Lage getan haben würde. Dr. Charles Goodstein, Professor für klinische Psychiatrie an der New York University School of Medicine, erklärte:
Personen, die vom Militär oder unter anderen Umständen zu Helden erklärt wurden, haben anschließend meist betont, dass sie reagiert hätten, ohne darüber nachzudenken. Ihr Handeln war spontan, es gingen ihm keine langen Abwägungen oder Analysen voraus. Ich halte es für aufrichtig, wenn sie sagen, dass sie sich nicht als Helden empfinden, denn sie haben tatsächlich nur auf etwas reagiert, das sie als Notfall einschätzten.
Der Punkt ist hier nicht, dass jeder in einer vergleichbaren Situation dasselbe getan hätte. Alles spricht dafür, dass dem nicht so ist. Autrey und andere Helden vermittelten vielmehr, dass sie sich in der Sekunde ihres heldenhaften Einschreitens nicht selbst als die Verursacher des eigenen Handelns erlebt haben. Die Situation scheint in ihnen eine Bereitschaft zum Handeln hervorgerufen zu haben, die weder Unsicherheit noch Zögern zuließ. In Mr Autreys Worten: »Ich hatte nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte.«
Solche Gewissheit ist selten geworden in unserer heutigen Welt. Wie es scheint, ist unser Leben eher vom Gegenteil geprägt. Fast jeder Moment unseres Daseins konfrontiert uns mit einem unablässigen Strom an Entscheidungsmöglichkeiten, und die meisten von uns dürften sich zumindest gelegentlich unschlüssig fühlen. Unser Leben ist nicht von Gewissheit und Uner schüt terlichkeit geprägt. Im Gegenteil: Manchmal sind Unsicher heit und Unschlüssigkeit so groß, dass wir Entscheidungen treffen, die wir gar nicht begründen können.
Die extremste Variante davon ist jener lähmend neurotische Zustand, in den beispielsweise eine Woody- Allen-Figur verfällt - und der in der Realität glücklicherweise recht selten ist. Oder man denke an T. S. Eliots berühmten Helden J. Alfred Prufrock, der so handlungsgehemmt ist, dass ihm allein schon die Entscheidung, eine Tasse Tee zu trinken, zu einer endlosen Serie von Zweifeln gerät:
Zeit für dich und Zeit mir bestimmt,
Zeit noch für hundertfaches Wanken,
Für Hundert Hirngespinste und Gedanken,
Bevor man Tee und Toast zu sich nimmt.
Auch wenn das Parodien sind, steckt in ihnen doch etwas Wahres. Wir fühlen uns, dem Himmel sei Dank, zwar nicht ständig von unseren Entscheidungsmöglichkeiten gelähmt, aber wir wissen, wovon hier die Rede ist. Und manchmal fragen wir uns, auf welcher Grundlage wir uns überhaupt für eine Möglichkeit gegen alle anderen Alternativen entscheiden können.
Die Wahlmöglichkeiten können so trivial sein wie: Soll ich noch mal ein Nickerchen einlegen? Ist dieses Hemd zu zerknittert? Pommes oder Salat? Es kann aber auch um tiefgreifendere, beunruhigendere Fragen gehen, die den Kern unserer Existenz berühren: Ist es an der Zeit, diese Beziehung hinter mir zu lassen? Diesen Job? Soll ich diese Gelegenheit beim Schopf packen oder lieber jene? Oder vielleicht keine von beiden? Soll ich mich diesem Kandidaten anschließen, diesem Kollegen, dieser Gruppe? Soll ich der Familie den Vorzug vor allem anderen geben? In unserem Leben werden wir unzählige Male vor die Wahl gestellt, und oft fragen wir uns, auf welcher Basis wir eine Entscheidung treffen sollen. Und wenn wir schließlich eine Wahl getroffen haben, bedauern, bereuen oder feiern wir sie.
Nun werden gewiss viele Leser zu bedenken geben, dass die Freiheit der Wahl doch eines der großartigsten Merkmale des modernen Lebens sei. Natürlich: Wer in erbärmlicher Armut lebt, der kann nicht wählen, was er essen will; und die Freiheit, sich für die eine oder andere Karriere zu entscheiden, stößt während einer Rezession, in der die Jobs knapp werden, schnell an gewisse Grenzen. Dennoch ist es ein wesentliches Merkmal unserer modernen Welt, dass den meisten von uns heute eine viel größere Bandbreite an Wahlmöglichkeiten zur Verfügung steht als früheren Generationen - die Freiheit zu entscheiden, wer wir sein, wie wir handeln und wem wir uns anschließen wollen. Nur ist es so, dass wir uns gerade in existentiellen Momenten nicht immer im Klaren darüber sind, warum wir uns für welche Alternative entscheiden sollten. Wenn es um unser eigenes Leben, um unser eigenes Handeln geht, dann stellt sich nur selten die Gewissheit ein, die Wesley Autrey empfand, als er jemanden sah, »der Hilfe brauchte«.
Es gibt zumindest zwei Arten von Menschen, denen es gelingt, dieser heute allgegenwärtigen Qual der Wahl zu entgehen, allerdings tun sie das auf die falsche Weise. Da hätten wir zuerst einmal den Typus des selbstbewussten Mannes (es ist für gewöhnlich ein Mann). Er stürzt sich zuversichtlich in jede Handlung und präsentiert eine Welt der Eindeutigkeiten: »Wie könnte sich hier jemand des richtigen Handelns nicht gewiss sein?«, scheint er zu fragen, und unter Umständen zieht er mit dieser Selbstsicherheit andere mit.
Der selbstbewusste Mann ist oft ein bezwingender Charakter. Getrieben und zielstrebig ist er entschlossen, seine Welt auf den richtigen Kurs zu bringen. Er ist ernsthaft davon überzeugt, dass seine Weltanschauung die einzig wahre ist und dass die Welt zu einem besseren Ort würde, wenn er sie nach seinem Willen gestalten könnte. Und manchmal schafft er es tatsächlich, etwas zum Besseren zu verändern.
© Ullstein Buchverlage, Berlin
Es war warm am 2. Januar 2007. Die Zeitungen berichteten über einen optimistischen Kirschbaum im Botanischen Garten von Brooklyn, der mit Tausenden Blüten aufgesprossen war. In der ganzen Stadt scharten sich Menschen spontan zu kleinen Grüppchen zusammen, erwartungsvoll hingezogen zueinander durch die Frühlingsstimmung. Doch in Manhattan, in der Subway- Station 137th Street, Ecke Broadway, verpuffte diese Frühlingsstimmung am frühen Nachmittag von einem Moment zum anderen. Cameron Hollopeter, ein zwanzigjähriger Filmstudent, war zusammengebrochen und lag in krampfartigen Zuckungen verkrümmt am Boden. Einem späteren Bericht zufolge eilten ihm sofort ein Mann und zwei Frauen zu Hilfe. Noch während sie auf ihn zuliefen, gelang es Mr Hollopeter, sich aufzurappeln. Er taumelte zum Rand des Bahnsteigs und stürzte rücklings auf die Gleise.
Was daraufhin geschah, löste in der frühlingsmild gestimmten Stadt Ehrfurcht und Bewunderung aus. Wesley Autrey, ein fünfzigjähriger Bauarbeiter und der Mann, der Mr Hollopeter sofort zu Hilfe geeilt war - und dabei seine beiden kleinen Töchter Syshe, vier, und Shuqui, sechs, mitten auf dem Bahnsteig hatte stehen lassen -, zögerte keinen Moment, als er die Scheinwerfer der Linie 1 aus dem nördlichen Ende des Tunnels heranrasen sah. Er sprang auf die Gleise, warf sich auf Mr Hollopeter und presste ihn mit dem eigenen Körper in die etwa dreißig Zentimeter tiefe Rinne zwischen den Schienen. Die Bremsen der Bahn kreischten auf, aber der Zug konnte nicht mehr rechtzeitig gestoppt werden: Fünf Waggons donnerten über die beiden Männer hinweg und verfehlten sie nur um Millimeter, bevor sie schließlich zum Stehen kamen. Eingequetscht unter dem Zug hörte Mr Autrey die entsetzten Schreie der Passanten auf dem Bahnsteig. »Wir sind okay hier unten«, rief er, »aber meine Töchter sind da oben. Sagt ihnen, dass es ihrem Vater gutgeht.« Erstaunte Zurufe und spontaner Applaus drangen vom Bahnsteig zu ihm. Später, nachdem der Strom abgeschaltet worden war, gelang es den Gleisarbeitern, die beiden Männer unter der Bahn hervorzuziehen. Mr Autreys blaue Strickmütze hatte etwas Schmierfett abbekommen, aber beide waren von ein paar Beulen und Kratzern abgesehen unversehrt.
Die Presse erklärte Wesley Autrey zum »Subway Hero« und überschüttete ihn mit einer wohlverdienten Flut an ehrerbietigen Berichten. Politiker eilten herbei, um sich mit dem Helden ablichten zu lassen, Wissenschaftler und Kulturkritiker debattierten, welche besonderen Eigenschaften ihn zum Helden gemacht haben könnten, oder konstatierten, dass die alten amerikanischen Werte nachbarschaftlicher Fürsorglichkeit in New York City noch ebenso zu finden seien wie in einer Kleinstadt in Iowa. Aus der selbstgefälligen Öffentlichkeit drangen Bekundungen, man würde genauso gehandelt haben wie Mr Autrey, und der Polizeichef belehrte die New Yorker mit ernster Miene, dass jeder dem Beispiel von Mr Autrey folgen müsse, wenn ein Mitbürger in Not sei. Mr Autrey selbst erklärte derweil wieder und wieder, dass er kein Held sei und nichts Ungewöhnliches getan habe. »Ich finde nichts Spektakuläres daran«, sagte er, »ich hatte nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte«.
Nicht nur ein Held, auch noch bescheiden, könnte man jetzt denken. Mr Autreys Handeln war zweifellos inspirierend und heldenhaft, aber vielleicht kommt in der Bescheidenheit, die wir hier zu erkennen glauben, etwas ganz anderes zum Ausdruck. Vielleicht hat Mr Autrey damit ja nur aufrichtig wiedergegeben, was er selbst erlebt hatte. Denn es ist ganz und gar nicht ungewöhnlich - wenngleich ein derart heroisches Eintreten für andere natürlich schon selten ist -, dass Personen nach einer heldenhaften Tat erklären, bloß getan zu haben, was jeder in ihrer Lage getan haben würde. Dr. Charles Goodstein, Professor für klinische Psychiatrie an der New York University School of Medicine, erklärte:
Personen, die vom Militär oder unter anderen Umständen zu Helden erklärt wurden, haben anschließend meist betont, dass sie reagiert hätten, ohne darüber nachzudenken. Ihr Handeln war spontan, es gingen ihm keine langen Abwägungen oder Analysen voraus. Ich halte es für aufrichtig, wenn sie sagen, dass sie sich nicht als Helden empfinden, denn sie haben tatsächlich nur auf etwas reagiert, das sie als Notfall einschätzten.
Der Punkt ist hier nicht, dass jeder in einer vergleichbaren Situation dasselbe getan hätte. Alles spricht dafür, dass dem nicht so ist. Autrey und andere Helden vermittelten vielmehr, dass sie sich in der Sekunde ihres heldenhaften Einschreitens nicht selbst als die Verursacher des eigenen Handelns erlebt haben. Die Situation scheint in ihnen eine Bereitschaft zum Handeln hervorgerufen zu haben, die weder Unsicherheit noch Zögern zuließ. In Mr Autreys Worten: »Ich hatte nur jemanden gesehen, der Hilfe brauchte.«
Solche Gewissheit ist selten geworden in unserer heutigen Welt. Wie es scheint, ist unser Leben eher vom Gegenteil geprägt. Fast jeder Moment unseres Daseins konfrontiert uns mit einem unablässigen Strom an Entscheidungsmöglichkeiten, und die meisten von uns dürften sich zumindest gelegentlich unschlüssig fühlen. Unser Leben ist nicht von Gewissheit und Uner schüt terlichkeit geprägt. Im Gegenteil: Manchmal sind Unsicher heit und Unschlüssigkeit so groß, dass wir Entscheidungen treffen, die wir gar nicht begründen können.
Die extremste Variante davon ist jener lähmend neurotische Zustand, in den beispielsweise eine Woody- Allen-Figur verfällt - und der in der Realität glücklicherweise recht selten ist. Oder man denke an T. S. Eliots berühmten Helden J. Alfred Prufrock, der so handlungsgehemmt ist, dass ihm allein schon die Entscheidung, eine Tasse Tee zu trinken, zu einer endlosen Serie von Zweifeln gerät:
Zeit für dich und Zeit mir bestimmt,
Zeit noch für hundertfaches Wanken,
Für Hundert Hirngespinste und Gedanken,
Bevor man Tee und Toast zu sich nimmt.
Auch wenn das Parodien sind, steckt in ihnen doch etwas Wahres. Wir fühlen uns, dem Himmel sei Dank, zwar nicht ständig von unseren Entscheidungsmöglichkeiten gelähmt, aber wir wissen, wovon hier die Rede ist. Und manchmal fragen wir uns, auf welcher Grundlage wir uns überhaupt für eine Möglichkeit gegen alle anderen Alternativen entscheiden können.
Die Wahlmöglichkeiten können so trivial sein wie: Soll ich noch mal ein Nickerchen einlegen? Ist dieses Hemd zu zerknittert? Pommes oder Salat? Es kann aber auch um tiefgreifendere, beunruhigendere Fragen gehen, die den Kern unserer Existenz berühren: Ist es an der Zeit, diese Beziehung hinter mir zu lassen? Diesen Job? Soll ich diese Gelegenheit beim Schopf packen oder lieber jene? Oder vielleicht keine von beiden? Soll ich mich diesem Kandidaten anschließen, diesem Kollegen, dieser Gruppe? Soll ich der Familie den Vorzug vor allem anderen geben? In unserem Leben werden wir unzählige Male vor die Wahl gestellt, und oft fragen wir uns, auf welcher Basis wir eine Entscheidung treffen sollen. Und wenn wir schließlich eine Wahl getroffen haben, bedauern, bereuen oder feiern wir sie.
Nun werden gewiss viele Leser zu bedenken geben, dass die Freiheit der Wahl doch eines der großartigsten Merkmale des modernen Lebens sei. Natürlich: Wer in erbärmlicher Armut lebt, der kann nicht wählen, was er essen will; und die Freiheit, sich für die eine oder andere Karriere zu entscheiden, stößt während einer Rezession, in der die Jobs knapp werden, schnell an gewisse Grenzen. Dennoch ist es ein wesentliches Merkmal unserer modernen Welt, dass den meisten von uns heute eine viel größere Bandbreite an Wahlmöglichkeiten zur Verfügung steht als früheren Generationen - die Freiheit zu entscheiden, wer wir sein, wie wir handeln und wem wir uns anschließen wollen. Nur ist es so, dass wir uns gerade in existentiellen Momenten nicht immer im Klaren darüber sind, warum wir uns für welche Alternative entscheiden sollten. Wenn es um unser eigenes Leben, um unser eigenes Handeln geht, dann stellt sich nur selten die Gewissheit ein, die Wesley Autrey empfand, als er jemanden sah, »der Hilfe brauchte«.
Es gibt zumindest zwei Arten von Menschen, denen es gelingt, dieser heute allgegenwärtigen Qual der Wahl zu entgehen, allerdings tun sie das auf die falsche Weise. Da hätten wir zuerst einmal den Typus des selbstbewussten Mannes (es ist für gewöhnlich ein Mann). Er stürzt sich zuversichtlich in jede Handlung und präsentiert eine Welt der Eindeutigkeiten: »Wie könnte sich hier jemand des richtigen Handelns nicht gewiss sein?«, scheint er zu fragen, und unter Umständen zieht er mit dieser Selbstsicherheit andere mit.
Der selbstbewusste Mann ist oft ein bezwingender Charakter. Getrieben und zielstrebig ist er entschlossen, seine Welt auf den richtigen Kurs zu bringen. Er ist ernsthaft davon überzeugt, dass seine Weltanschauung die einzig wahre ist und dass die Welt zu einem besseren Ort würde, wenn er sie nach seinem Willen gestalten könnte. Und manchmal schafft er es tatsächlich, etwas zum Besseren zu verändern.
© Ullstein Buchverlage, Berlin
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Autoren-Porträt von Hubert L. Dreyfus, Sean D. Kelly
Hubert Dreyfus, geboren 1929 in Terre Haute, Indiana, lehrt Philosophie in Berkeley. Er schrieb Bücher über Heidegger und Foucault und gilt als zentraler Vermittler zwischen der analytisch geprägten amerikanischen Philosophie und den kontinentaleuropäischen Strömungen des 20. Jahrhunderts.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Hubert L. Dreyfus , Sean D. Kelly
- 2014, 2, 368 Seiten, Masse: 12,6 x 19,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerik. v. Yvonne Badal
- Übersetzer: Yvonne Badal
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080638
- ISBN-13: 9783550080630
- Erscheinungsdatum: 09.05.2014
Rezension zu „Alles, was leuchtet “
"Eine leicht erzählte Odyssee durch die Weltliteratur, verfasst von zwei angesehenen amerikanischen Professoren.", Die Zeit, Elisabeth von Thadden, 26.06.2014
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