72 Tage in der Hölle
Wie ich den Absturz in den Anden überlebte
Der Augenzeugenbericht über den spektakulären Flugzeug-Absturz, der Piers Paul Read zu seinem Roman-Bestseller "Überleben!" inspirierte
Am 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine Maschine nach Santiago...
Am 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine Maschine nach Santiago...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „72 Tage in der Hölle “
Der Augenzeugenbericht über den spektakulären Flugzeug-Absturz, der Piers Paul Read zu seinem Roman-Bestseller "Überleben!" inspirierte
Am 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine Maschine nach Santiago de Chile. Doch sie werden ihr Ziel nie erreichen, denn das Flugzeug stürzt fern jeglicher Zivilisation über den argentinischen Anden ab. Nando Parrado gehört zu den wenigen Überlebenden, aber er muss bald wie alle anderen begreifen, dass sie kaum eine Chance haben inmitten von Schnee und Eis. Bis Nando Parrado den kühnen Entschluss fasst, Hilfe zu holen. Zusammen mit einem Freund macht er sich auf den Weg durch das ewige Eis der Andengipfel ...
Am 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine Maschine nach Santiago de Chile. Doch sie werden ihr Ziel nie erreichen, denn das Flugzeug stürzt fern jeglicher Zivilisation über den argentinischen Anden ab. Nando Parrado gehört zu den wenigen Überlebenden, aber er muss bald wie alle anderen begreifen, dass sie kaum eine Chance haben inmitten von Schnee und Eis. Bis Nando Parrado den kühnen Entschluss fasst, Hilfe zu holen. Zusammen mit einem Freund macht er sich auf den Weg durch das ewige Eis der Andengipfel ...
Klappentext zu „72 Tage in der Hölle “
Der Augenzeugenbericht über den spektakulären Flugzeug-Absturz, der Piers Paul Read zu seinem Roman-Bestseller "Überleben!" inspirierteAm 12. Oktober 1972 besteigt Nando Parrado gemeinsam mit Freunden eine Maschine nach Santiago de Chile. Doch sie werden ihr Ziel nie erreichen, denn das Flugzeug stürzt fern jeglicher Zivilisation über den argentinischen Anden ab. Nando Parrado gehört zu den wenigen Überlebenden, aber er muss bald wie alle anderen begreifen, dass sie kaum eine Chance haben inmitten von Schnee und Eis. Bis Nando Parrado den kühnen Entschluss fasst, Hilfe zu holen. Zusammen mit einem Freund macht er sich auf den Weg durch das ewige Eis der Andengipfel ...
Lese-Probe zu „72 Tage in der Hölle “
72 Tage in der Hölle von Nando ParradoPROLOG
... mehr
In den ersten Stunden war nichts. Keine Angst, keine Trauer, kein Gefühl für die Zeit, nicht einmal der Schimmer eines Gedankens oder einer Erinnerung. Nur schwarze, völlige Stille. Dann tauchte Licht auf, ein dünner, grauer Fleck Tageslicht, und zu ihm trieb es mich aus der Dunkelheit, wie ein Taucher, der langsam zur Oberfläche schwimmt. Ganz allmählich erlangte ich wieder das Bewusstsein und erwachte unter großen Mühen in eine zwielichtige Welt auf halbem Weg zwischen Traum und Wahrnehmung. Ich hörte Stimmen und spürte Bewegung um mich herum, aber meine Gedanken waren trübe, und mein Blick war verschwommen. Ich konnte nur dunkle Umrisse und Flächen aus Licht und Schatten ausmachen. Als ich voller Verwirrung auf die nebelhaften Gestalten starrte, sah ich, dass manche der Schatten sich bewegten. Schließlich wurde mir klar, dass einer von ihnen sich über mich beugte.
»Nando, podés oírme? Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«
Der Schatten kam näher, und als ich ihn benommen anstarrte, kristallisierte er sich zu einem menschlichen Gesicht. Ich sah einen zerzausten Schopf aus dunklen Haaren, darunter tiefbraune Augen. Aus diesen Augen sprach Freundlichkeit - es war jemand, der mich kannte -, aber hinter der Freundlichkeit war etwas anderes: Wildheit, Härte, ein mühsam unterdrücktes Gefühl der Verzweiflung.
»Na komm, Nando, wach schon auf!«
Warum ist mir so kalt? Warum tut mein Kopf so entsetzlich weh? Verzweifelt versuchte ich, diese Gedanken auszusprechen, aber mein Mund konnte die Laute nicht formen, und die Anstrengung erschöpfte meine Kräfte schnell. Ich schloss die Augen und ließ mich wieder in die Welt der Schatten gleiten. Aber wenig später hörte ich andere Stimmen, und als ich die Augen aufschlug, schwebten noch mehr Gesichter über mir.
»Ist er wach? Kann er dich hören?«
»Sag doch was, Nando!«
»Nicht aufgeben, Nando. Wir sind bei dir. Wach auf!«
Wieder versuchte ich zu sprechen, aber mehr als ein heiseres Flüstern brachte ich nicht heraus. Dann beugte sich jemand über mich und sprach mir ganz langsam ins Ohr.
»Nando, el aviön se estrellö! Caímos en las montañas.«
Wir sind abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. In den Bergen.
»Verstehst du mich, Nando?«
Ich verstand nicht. Aus der ruhig-dringlichen Art, wie die Worte gesprochen wurden, konnte ich entnehmen, dass es eine Nachricht von größter Wichtigkeit war. Aber ich begriff weder ihre Bedeutung noch wurde mir klar, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Die Wirklichkeit erschien mir weit entfernt und gedämpft, als wäre ich in einemTraum gefangen und könnte mich nicht zum Aufwachen zwingen. Stundenlang schwebte ich in dem Nebel, aber schließlich schärften sich meine Sinne, und ich konnte mir nach und nach einen Überblick über meine Umgebung verschaffen. Anfangs war mir eine Reihe sanfter, runder, über mir schwebender Lichter aufgefallen. Jetzt erkannte ich darin die kleinen, rundlichen Fenster eines Flugzeugs. Mir wurde klar, dass ich in der Passagierkabine eines Verkehrsflugzeugs auf dem Fußboden lag, doch als ich nach vorn in Richtung Cockpit blickte, sah ich, dass nichts an diesem Flugzeug seine Ordnung hatte. Der Rumpf war auf die Seite gerollt: Mein Rücken und Kopf ruhten auf dem unteren Teil der rechten Seitenwand, meine Beine ragten in den schräg aufwärts geneigten Mittelgang. Die meisten Sitze der Maschine fehlten. Von der beschädigten Decke hingen Kabel und Schläuche, und aus den ramponierten Bordwänden quoll Isoliermaterial. Der Fußboden um mich herum war mit Plastikbrocken, verbogenen Metallstücken und anderen Trümmern übersät. Es war taghell. Die Luft war schneidend kalt, und selbst in meinem Dämmerzustand erstaunte mich die Aggressivität dieser Kälte. Ich hatte immer in Uruguay gelebt, einem warmen Land, wo selbst im Winter mildes Klima herrscht. Mit sechzehn hatte ich das erste und einzige Mal einen richtigen Winter mitbekommen: Damals hatte ich als Austauschschüler in Saginaw in Michigan gewohnt. Ich hatte nach Saginaw keine warme Kleidung mitgenommen und kann mich noch gut an den ersten richtigen Wintersturm erinnern, wie der Wind durch meine dünne Jacke pfiff und die Füße sich in meinen leichten Mokassins in Eisklumpen verwandelten. Aber so etwas wie die bitterkalten Böen, die jetzt mit Minustemperaturen durch den Flugzeugrumpf fegten, hatte ich noch nie erlebt. Es war eine wilde, knochenbrecherische Kälte, und sie brannte auf der Haut wie Säure. Ich spürte die Schmerzen in jeder Körperzelle, und als ich in ihrem Griff krampfartig bibberte, schien jeder Augenblick eine Ewigkeit zu dauern.
Da ich auf dem zugigen Boden des Flugzeugs lag, hatte ich keine Möglichkeit, mich zu wärmen. Aber die Kälte war nicht meine einzige Sorge. Im Kopf spürte ich einen pochenden Schmerz, ein grobes, ungestümes Hämmern, als sei in meinem Schädel ein wildes Tier eingesperrt, das verzweifelt ausbrechen wollte. Vorsichtig griff ich mir oben an den Kopf. Meine Haare waren mit Klumpen aus getrocknetem Blut verklebt, und ungefähr zehn Zentimeter über dem rechten Ohr bildeten drei blutende Wunden ein unregelmäßiges Dreieck. Unter dem geronnenen Blut ertastete ich die rauen Kanten gebrochener Knochen, und wenn ich ein wenig drückte, spürte ich ein schwammiges Nachgeben. Als mit klar wurde, was das bedeutete, drehte sich mir der Magen um - ich hatte Stücke meines zerschmetterten Schädels gegen mein Gehirn gedrückt. Mein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Der Atem kam in flachen Stößen. Ich war dicht davor, in Panik zu geraten, da sah ich über mir diese braunen Augen, und endlich erkannte ich das Gesicht meines Freundes Roberto Canessa.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wo sind wir?«
Roberto runzelte die Stirn und beugte sich herunter, um die Verletzungen an meinem Kopf zu untersuchen. Er war immer ein ernsthafter Mensch gewesen, willensstark und leidenschaftlich. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich die ganze Hartnäckigkeit und Zuversicht, für die er bekannt war. Aber da war auch etwas Neues in seinem Gesichtsausdruck, etwas Düsteres, Beunruhigendes, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es war der hektische Blick eines Mannes, der sich darum bemüht, etwas Unbegreifliches zu begreifen, eines Menschen, den eine überwältigende Überraschung taumeln lässt.
»Du warst drei Tage bewusstlos«, sagte er ohne jedes Gefühl in der Stimme. »Wir hatten dich schon aufgegeben.«
Die Worte erschienen mir sinnlos. »Was ist mit mir passiert?«, fragte ich, »und warum ist es so kalt?«
»Verstehst du mich, Nando?«, erwiderte Roberto. »Wir sind im Gebirge abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. Wir sitzen hier fest.«
Voller Verwirrung schüttelte ich schwach den Kopf. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, aber ich konnte nicht mehr lange leugnen, was um mich herum geschah. Ich hörte leises Stöhnen und jähe Schmerzensschreie, und allmählich begriff ich, dass sie von anderen leidenden Menschen kamen. Überall im Rumpf sah ich Verwundete in provisorischen Betten und Hängematten liegen. Andere Gestalten beugten sich über sie, um ihnen zu helfen, und sie unterhielten sich leise, während sie sich mit stiller Zielstrebigkeit in der Kabine hin und her bewegten. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass mein Hemd vorne von einer feuchten braunen Kruste überzogen war. Als ich sie mit der Fingerspitze berührte, fühlte sie sich klebrig und körnig an, und mir wurde klar, dass dieses entsetzliche Zeug mein eigenes Blut war, das jetzt trocknete.
»Verstehst du, Nando?«, fragte Roberto noch einmal. »Erinnerst du dich? Wir waren im Flugzeug... wollten nach Chile...« Ich schloss die Augen und nickte. Jetzt war ich aus dem Schatten getreten. Meine Verwirrung konnte mich nicht mehr von der Wahrheit abschirmen. Ich begriff, und während Roberto mir das verkrustete Blut vom Gesicht wusch, kam meine Erinnerung wieder.
1
Davor
Es war Freitag, der 13.Oktober.Wir machten Witze darüber, dass wir an einem solchen Unglückstag über die Anden fliegen wollten, aber junge Männer sind mit derartigen Scherzen schnell bei der Hand. Unser Flug hatte einen Tag zuvor in meiner Heimatstadt Montevideo begonnen - mit Ziel Santiago de Chile. Die gecharterte zweimotorige Fairchild-Turbopropmaschine sollte meine Rugbymannschaft- den Old Christians Rugby Club - zu einem Freundschaftsspiel gegen eine chilenische Spitzenmannschaft bringen. An Bord waren 45 Personen, darunter vier Besatzungsmitglieder: Pilot, Copilot, Flugingenieur und Steward. Die meisten Passagiere waren Mannschaftskameraden von mir, aber mit uns flogen auch Freunde, Angehörige und andere Anhänger unseres Teams, darunter meine Mutter Eugenia und Susy, meine kleine Schwester; die beiden saßen eine Reihe vor mir auf der anderen Seite des Mittelganges. Ursprünglich war vorgesehen, nonstop nach Santiago zu fliegen, eine Strecke von etwa dreieinhalb Stunden. Aber schon kurz nach dem Start war Julio Ferradas, der Pilot der Fairchild, wegen ungünstiger Wettervorhersagen gezwungen gewesen, eine Zwischenlandung einzulegen.
Wir setzten um die Mittagszeit in Mendoza, einer alten spanischen Kolonialstadt unmittelbar östlich des Anden-Vorgebirges, auf und hofften, in ein paar Stunden wieder in der Luft zu sein. Doch die Wetterberichte waren alles andere als ermutigend, und schon bald war klar, dass wir über Nacht bleiben mussten. Niemand hatte Lust, unnötig Zeit zu verlieren, aber Mendoza erwies sich als hübscher Ort, und so machten wir das Beste aus unserer Zeit dort. Ein paar von unseren Jungs setzten sich in die Straßencafés an den breiten, baumbestandenen Boulevards, andere gingen in der Altstadt auf Besichtigungstour. Ich schloss mich einer Gruppe an, die nachmittags zu einer Rennstrecke außerhalb von Mendoza fuhr, um sich ein Autorennen anzusehen. Abends gingen wir ins Kino; andere waren mit ein paar Mädchen aus Argentinien, die sie kurz zuvor kennen gelernt hatten, zum Tanzen verabredet. Meine Mutter und Susy erkundeten die malerischen Geschäfte der Stadt, kauften Geschenke für Freunde in Chile und Souvenirs für die Daheimgebliebenen. Meine Mutter freute sich besonders, als sie in einer kleinen Boutique ein Paar rote Babyschuhe fand, denn die waren das ideale Mitbringsel für den neugeborenen Sohn meiner Schwester Graciela.
Am nächsten Morgen schliefen die meisten von uns lange. Wir wollten nichts wie weg von hier, doch von Abflug war immer noch keine Rede. Also sahen wir uns noch ein bisschen in Mendoza um, bis wir schließlich die Nachricht erhielten, uns Punkt 13 Uhr am Flughafen einzufinden. Als wir hinkamen, stellten wir jedoch fest, dass Ferradas und sein Copilot Dante Lagurara sich immer noch nicht entschieden hatten, ob wir fliegen würden. Auf diese Nachricht reagierten wir frustriert und verärgert, aber keiner von uns begriff, vor welcher schwierigen Frage die Piloten standen. In den Wetterberichten vom Vormittag wurde vor Turbulenzen auf unserer Flugroute gewarnt, doch Ferradas hatte mit dem Piloten einer Frachtmaschine gesprochen, die kurz zuvor aus Santiago eingetroffen war, und war recht zuversichtlich, dass die Fairchild das schlechte Wetter gefahrlos überfliegen konnte. Das eigentliche Problem war die Tageszeit. Es war bereits früher Nachmittag. Bis die Passagiere an Bord und alle Formalitäten mit den Flughafenbehörden erledigt waren, würde es nach 14 Uhr werden. Und nachmittags, wenn warme Luft aus dem argentinischen Vorgebirge aufsteigt und auf die kalte Luft über der Schneegrenze trifft, entstehen in der Atmosphäre über dem Gebirge gefährliche Instabilitäten. Unsere Piloten wussten, dass dies die gefährlichste Zeit für einen Flug über die Anden war. Wo diese Strömungswirbel zuschlagen würden, ließ sich nicht vorhersagen, und wenn sie uns erwischten, würden sie das Flugzeug herumwerfen wie ein Spielzeug.
Andererseits konnten wir nicht in Mendoza bleiben. Unser Flugzeug, eine Fairchild F-227, war von der uruguayischen Luftwaffe geleast. Nach den argentinischen Gesetzen durfte eine ausländische Militärmaschine sich nicht länger als 24 Stunden auf argentinischem Boden aufhalten. Da diese Zeit fast um war, mussten Ferradas und Lagurara sich schnell entscheiden: Sollten sie den nachmittäglichen Flugbedingungen trotzen und Kurs auf Santiago nehmen, oder war es besser, nach Montevideo zurückzukehren und unserem Ausflug damit ein vorzeitiges Ende zu bereiten?
Während die Piloten hin und her überlegten, wuchs unsere Ungeduld. Wir hatten bereits einen Tag unserer Chilereise geopfert und wollten nicht noch mehr Zeit verlieren. Wir waren junge Männer, furchtlos, selbstbewusst und voller Tatendrang, und es ärgerte uns, dass unsere kleine Reise wegen der vermeintlichen Ängstlichkeit unserer Piloten ins Wasser fallen sollte. Diese Gefühle verheimlichten wir nicht. Als wir die Piloten am Flughafen sahen, spotteten und pfiffen wir. Wir machten uns über sie lustig und stellten ihre Fähigkeiten infrage. »Wir haben euch engagiert, damit ihr uns nach Chile bringt«, rief jemand, »und wir wollen, dass ihr das macht!« Ob unser Verhalten ihre Entscheidung beeinflusste, kann niemand sagen - es gab ihnen sicherlich zu denken -, jedenfalls trat Ferradas nach einer letzten Besprechung mit Lagurara auf uns zu und blickte sich in der Runde um. Ungeduldig warteten wir auf seine Antwort. Er gab bekannt, der Flug nach Santiago werde fortgesetzt. Wir quittierten die Nachricht mit rüpelhaftem Jubel.
Um 14 Uhr 18 Ortszeit hob die Fairchild endlich vom Flughafen Mendoza ab. Während des Steigfluges legte die Maschine sich in eine steile Linkskurve, und wenig später waren wir in Richtung Süden unterwegs. Zu unserer Rechten erstreckten sich die argentinischen Anden bis zum Horizont. Ich starrte durchs Fenster, auf die Berge, die sich von der dunklen Hochebene unter uns erhoben wie eine schwarze Luftspiegelung: so düster und majestätisch, so erstaunlich öde und gewaltig sahen sie aus, dass schon der Anblick mein Herz rasen ließ. Den Fuß bildeten riesige Erhebungen aus Muttergestein mit gewaltigen Sockeln, die sich über viele Kilometer erstreckten, und daraus stiegen ihre schwarzen Bergrücken auf. Gipfel drängte sich an Gipfel, und es sah aus, als bildeten sie eine gewaltige Befestigungsmauer. Ich war ein junger Mann ohne besondere poetische Neigung, aber in der Art, wie die Berge voller Autorität ihre Stellung hielten, schien mir eine Warnung zu stecken, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie Lebewesen waren, mit einem Geist und einem Herzen und einer Botschaft. Kein Wunder, dass unsere Altvorderen diese Berge für heilige Orte hielten, für Stufen zum Himmel und den Wohnort der Götter.
Uruguay ist ein recht flaches Land, und so beschränkten sich meine Kenntnisse über die Anden oder über Gebirge im Allgemeinen auch auf das, was ich in Büchern gelesen hatte. Meinen Freunden im Flugzeug erging es nicht anders. In der Schule hatten wir gelernt, dass die Anden das längste Gebirge der Welt sind: Sie ziehen sich über die gesamte Länge Südamerikas, von Venezuela im Norden bis zur Südspitze des Kontinents in Feuerland. Außerdem wusste ich, dass die Anden, was die durchschnittliche Höhenlage angeht, das zweithöchste Gebirge der Erde sind. Höher ist nur noch der Himalaya.
Ich hatte gehört, wie andere die Anden als das größte geologische Wunder unseres Planeten bezeichnet hatten, und beim Blick aus dem Flugzeugfenster wusste ich ganz instinktiv, was sie damit meinten. Nach Norden, Süden und Westen erstreckten sich die Berge, so weit das Auge reichte, und obwohl sie viele Kilometer entfernt waren, ließen ihre Höhe und Masse sie unüberwindlich aussehen. Was uns betraf, waren sie das auch. Unser Reiseziel Santiago lag westlich von Mendoza, fast genau auf demselben Breitengrad, aber der Teil der Anden, der die beiden Städte trennte, gehörte zu den höchsten Abschnitten der ganzen Kette und beherbergte einige der höchsten Berge der ganzen Welt. Irgendwo dort unten lag beispielsweise der Aconcagua, der höchste Berg der westlichen Hemisphäre und weltweit die Nummer sieben. Mit seiner Höhe von 6963 Metern ist er nur 1880 Meter kleiner als der Mount Everest, und er hat weitere Riesen als Nachbarn, darunter der 6705 Meter hohe Mercedario und der Tupongato mit 6570 Metern. Rund um diese Giganten liegen andere großartige Gipfel mit Höhen zwischen 4900 und 6000 Metern, bei denen sich in dieser Wildnis noch nicht einmal jemand die Mühe gemacht hat, ihnen Namen zu geben.
Da sich vor uns solche Gipfel auftürmten, konnte die Fairchild mit ihrer maximalen Flughöhe von 6700 Metern unmöglich direkt in ost-westlicher Richtung nach Santiago fliegen. Die Piloten hatten sich vielmehr eine Route ausgesucht, die uns von Mendoza rund 160 Kilometer nach Süden zum Planchón-Pass führen sollte, einem schmalen Korridor durch das Gebirge, dessen Berge so niedrig waren, dass die Maschine darüber hinwegkam. Wir würden entlang des östlichen Anden-Vorgebirges nach Süden fliegen, bis wir den Pass erreichten. Dann wollten wir nach Westen abdrehen und die Route durch die Berge nehmen. Sobald wir sie auf der chilenischen Seite hinter uns hatten, sollten wir wieder einen nördlichen Kurs nehmen und nach Santiago fliegen. Für den ganzen Flug waren etwa eineinhalb Stunden veranschlagt. Wir würden noch vor Einbruch der Dunkelheit in Santiago sein.
Auf der ersten Etappe herrschte ruhiges Wetter, und nach einer knappen Stunde hatten wir den Planchón-Pass erreicht.
Natürlich kannte ich weder seinen Namen noch irgendwelche Einzelheiten der Flugroute. Aber mir fiel auf, dass wir die Berge anfangs immer zu unserer Rechten in der Ferne gesehen hatten und jetzt nach Westen direkt ins Herz der Andenkette vordrangen. Ich hatte einen Fensterplatz auf der linken Seite der Maschine, und als ich jetzt hinausblickte, veränderte sich die Landschaft ganz plötzlich: Erst tauchten zerklüftete Vorgebirge auf, dann hob und krümmte sich die Erde zu den Ehrfurcht gebietenden Windungen echter Berge. Bergrücken mit der Form von Haifischflossen erhoben sich wie emporstrebende schwarze Segel. Bedrohliche Gipfel ragten in die Höhe wie riesige Speerspitzen oder zerbrochene Axtschneiden. Enge Gletschertäler klafften zwischen steilen Abhängen und bildeten Ketten aus tiefen, gewundenen, schneegefüllten Korridoren, die ein wildes, endloses Labyrinth aus Eis und Gestein bildeten. Auf der Südhalbkugel hatte der Winter gerade dem Frühling Platz gemacht, aber in den Anden sanken die Temperaturen immer noch regelmäßig auf minus 50 Grad, und die Luft war trocken wie in der Wüste. Ich wusste, dass Lawinen, Schneestürme und tödliche, orkanartige Winde in diesem Gebirge an der Tagesordnung waren, und der vergangene Winter war einer der strengsten seit Menschengedenken gewesen; an manchen Stellen waren mehr als sechzig Meter Schnee gefallen. Farben waren in dem Gebirge überhaupt nicht zu erkennen, nur stumme Flecken in Schwarz oder Grau. Es gab nichts Weiches, nichts Lebendiges, nur Gestein und Schnee und Eis. Als ich in die zerklüftete Wildnis hinunterblickte, musste ich über die Arroganz all derer lachen, die jemals geglaubt hatten, der Mensch habe sich die Erde untertan gemacht.
Während ich aus dem Fenster schaute, fiel mir auf, wie sich immer mehr Nebelschleier sammelten. Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Lass uns mal die Plätze tauschen, Nando. Ich möchte die Berge sehen.«
Es war mein Freund Panchito, der neben mir auf dem Gangplatz saß. Ich nickte und erhob mich von meinem Sitz. Als ich mich gerade an ihm vorbeischieben wollte, rief jemand »Achtung, Nando!«, und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig umdrehen, um einen Rugbyball aufzufangen, den jemand aus dem hinteren Teil der Kabine geworfen hatte. Ich spielte den Ball nach vorn weiter und ließ mich dann auf meinen Platz sinken. Alle um uns herum lachten und redeten, die Leute wechselten von einem Sitz zum anderen, setzten sich neben ihre Freunde, gingen den Mittelgang auf und ab. Einige Freunde, darunter mein alter Kumpel Guido Magri, spielten im hinteren Teil der Maschine mit dem Steward Karten, als der Ball jedoch in der Kabine herumflog, stand der Steward auf und versuchte, die Gemüter ein wenig zu beruhigen. »Weg mit dem Ball!«, rief er. »Hören Sie auf damit, und nehmen Sie bitte Ihre Plätze wieder ein!«Aber wir waren junge Rugbyspieler, wir waren mit unseren Freunden auf Reisen und hatten keine Lust, auf unseren Spaß zu verzichten. Unsere Mannschaft, die Old Christians aus Montevideo, war eine der besten in Uruguay, und wir nahmen unsere regelmäßigen Wettkämpfe sehr ernst. In Chile sollten wir nur ein Freundschaftsspiel bestreiten, also war es für uns eigentlich eine Urlaubsreise, und hier im Flugzeug herrschte eine Stimmung, als ob der Urlaub bereits begonnen hätte.
Es machte mir Spaß, mit Freunden unterwegs zu sein, und mit diesen Freunden ganz besonders. Wir hatten so vieles gemeinsam durchgestanden - die Jahre des Lernens und Trainierens, die herzzerreißenden Niederlagen, die hart erkämpften Siege. Wir waren als Mannschaftskameraden aufgewachsen, hatten von den Stärken der anderen profitiert und gelernt, einander zu vertrauen, wenn wir unter Druck standen. Aber der Rugbysport hatte nicht nur unsere Freundschaft geprägt, sondern auch unseren Charakter. Wir waren füreinander zu Brüdern geworden.
Viele von uns bei den Old Christians kannten sich schon seit über zehn Jahren, seit wir als Schülermannschaft unter Anleitung der Irish Christian Brothers an der Schule »Stella Maris« gespielt hatten. Die Christian Brothers waren Anfang der fünfziger Jahre aus Irland nach Uruguay gekommen; sie waren der Einladung einer Gruppe katholischer Eltern gefolgt, die sie gebeten hatten, in Montevideo eine katholische Privatschule zu gründen. Fünf irische Brüder richteten daraufhin 1955 das Stella Maris College ein, eine Privatschule für neun- bis sechzehnjährige Jungen. Sie lag im Stadtviertel Carrasco, wo die meisten ihrer Schüler wohnten.
Das wichtigste Ziel einer katholischen Erziehung war für die Christian Brothers nicht die geistige, sondern die charakterliche Bildung; entsprechend spielten Disziplin, Frömmigkeit, Selbstlosigkeit und Respekt in ihren Lehrmethoden eine große Rolle. Um diese Werte auch außerhalb der Schule zu fördern, missbilligten die Brüder die südamerikanische Leidenschaft für den Fußball - einen Sport, der nach ihrer Überzeugung dem Egoismus und der Profilsucht Vorschub leistete - und dirigierten uns in Richtung des raueren, erdverbundenen Rugby. Dieser Sport war schon seit Jahrhunderten in Irland sehr beliebt, in unserem Land war er aber so gut wie unbekannt. Anfangs erschien er uns seltsam - brutal und schmerzhaft, mit viel Schieben und Drücken, ohne das weltoffene Flair des Fußballs. Aber die Christian Brothers waren felsenfest davon überzeugt, dass Rugby die gleichen Charaktereigenschaften erforderte wie ein anständiges Leben als Katholik: Demut, Selbstbehauptungswillen, Selbstdisziplin und Einsatz für andere. Es war ihr erklärtes Ziel, dass wir Rugby spielen sollten, und zwar gut. Und eines war uns schon nach kurzer Zeit klar: Wenn die Christian Brothers sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, waren sie kaum noch davon abzubringen. Also legten wir die Fußbälle in die Ecke und machten uns mit dem dicken, ovalen Lederei vertraut, das man beim Rugby verwendet.
Es waren lange, harte Übungsstunden auf dem Spielfeld hinter der Schule. Die Brüder fingen bei Null an und brachten uns alle ruppigen Tricks des Spiels bei: Drücken und Stoßen, Gedränge und Gasse, Kick und Pass und Tackle. Wir erfuhren, dass Rugbyspieler weder Schulterpolster noch Helme tragen, und doch erwartete man von uns, dass wir aggressiv und mit hohem körperlichem Einsatz spielten. Aber Rugby war nicht nur ein brutaler Kraftsport; es erforderte auch eine solide Strategie, schnelles Denken und Beweglichkeit. Vor allem aber verlangte es, dass die Mannschaftskameraden untereinander ein unerschütterliches Vertrauen entwickelten. Wenn ein Mitspieler stürzte oder niedergeschlagen wurde, »wird er zu Gras«, wie sie uns erklärten. Das hieß, dass die gegnerische Mannschaft auf einem am Boden liegenden Spieler herumtrampeln konnte, als wäre er ein Teil des Rasens. Als eines der ersten Dinge brachten sie uns bei, wie man sich verhält, wenn ein Mitspieler zu Gras wird. »Du musst zu seinem Beschützer werden. Du musst dich selbst opfern, um ihn abzuschirmen. Er muss wissen, dass er sich auf dich verlassen kann.«
Für die Christian Brothers war Rugby mehr als nur ein Spiel. Es war ein Sport, den sie auf die Ebene einer moralischen Disziplin gehoben hatten. Im Mittelpunkt stand dabei die felsenfeste Überzeugung, dass keine andere Sportart einen Menschen so eindringlich lehren kann, was es bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen Ziels zu kämpfen, zu leiden und sich zu opfern. Diese Haltung vertraten sie so leidenschaftlich, dass uns nichts anderes übrig blieb, als ihnen zu glauben, und als wir das Spiel allmählich immer besser verstanden, merkten wir selbst, dass die Brüder Recht hatten.
Ganz einfach ausgedrückt, hat man beim Rugby das Ziel, die Kontrolle über den Ball zu gewinnen - meist durch kombinierten Einsatz von Klugheit, Schnelligkeit und brutaler Kraft. Wenn ein laufender Mitspieler ihn dann beherzt an einen anderen weitergibt, kann man den Ball über die Tor- oder Mallinie befördern und einen Punkt erzielen. Rugby kann ein Spiel von atemberaubender Schnelligkeit und Beweglichkeit sein, ein Spiel der zielgenauen Pässe und brillanten Fluchtmanöver. Aber das Wesentliche des Rugby liegt für mich in dem brutalen, koordinierten Durcheinander des »Gedränges«, der Formation, die das Markenzeichen des Rugby ist. Im Gedränge bildet jede Mannschaft eine enge, drei Mann tiefe Menschenmenge; gebückt, Schulter an Schulter und mit eingehakten Armen, werden die Spieler zu einem eng verwobenen Keil aus Menschen. Die beiden Gruppen gehen in Angriffsstellung, und die Spieler in den ersten Reihen der beiden Mannschaften greifen sich an den Schultern, sodass sich ungefähr ein geschlossener Kreis ergibt. Auf das Signal des Schiedsrichters wird der Ball in den Tunnel zwischen den Mannschaften geworfen, und jede Gruppe versucht, die andere so weit vom Ball wegzudrücken, dass ein Spieler aus der eigenen ersten Reihe ihn zwischen den Beinen seiner Kameraden hindurch in den hinteren Teil des Gedränges treten kann; dort wartet der Gedränge halb, um den Ball frei zu bekommen und an einen Spieler der Hintermannschaft weiterzugeben, die dann den Angriff startet.
Innerhalb des Gedränges wird häufig brutal gespielt: Knie gegen Schläfen, Ellenbogen gegen Unterkiefer, blutige Schienbeine durch Tritte mit schweren Stollenschuhen. Es ist rohe, harte Arbeit, aber sobald der Gedrängehalb den Ball frei bekommt und der Angriff beginnt, löst sich alles in Leichtigkeit auf. Der erste Pass geht häufig zum beweglichen Verbindungshalb, der die nahenden Verteidiger austrickst und den Spielern hinter sich die nötige Zeit verschafft, um freien Raum zu gewinnen. Kurz bevor er zu Boden gezogen wird, spielt der Verbindungshalb den Ball an den Innendreiviertel weiter; dieser weicht einem Angreifer aus, wird aber vom nächsten zu Fall gebracht, und während er vorwärtsstolpert, spielt er zum nachhängenden Flügelspieler. Jetzt wandert der Ball flott von einem Verteidiger zum nächsten: von der Außen- über die Flügel- zur Mittelposition und wieder zurück, wobei jeder mit Schlägen, Drehungen, Ducken und Drücken vorwärtszukommen versucht, bevor er von den Angreifern zu Boden gezogen wird. Dem Ballträger wird unterwegs übel mitgespielt; wenn der Ball frei hinunterfällt, bildet sich ein Massenauflauf, um jeden Zentimeter wird gekämpft, aber dann findet einer unserer Leute eine Lücke, einen schmalen Lichtspalt, und mit einer letzten Anstrengung lässt er die Verteidiger stehen, hechtet über die Mallinie und erzielt einen Punkt. Mit alledem hat sich die angestrengte, brutale Arbeit des Gedränges in einen wunderschönen Tanz verwandelt. Und kein Einzelner kann die Ehre dafür einheimsen. Der Angriff war Zentimeter für Zentimeter eine Gemeinschaftsleistung, eine Summe vieler Einzelanstrengungen, und ganz gleich, wer den Ball am Ende über die Mallinie trägt, der Triumph gehört uns allen.
...
Übersetzung: Sebastian Vogel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
In den ersten Stunden war nichts. Keine Angst, keine Trauer, kein Gefühl für die Zeit, nicht einmal der Schimmer eines Gedankens oder einer Erinnerung. Nur schwarze, völlige Stille. Dann tauchte Licht auf, ein dünner, grauer Fleck Tageslicht, und zu ihm trieb es mich aus der Dunkelheit, wie ein Taucher, der langsam zur Oberfläche schwimmt. Ganz allmählich erlangte ich wieder das Bewusstsein und erwachte unter großen Mühen in eine zwielichtige Welt auf halbem Weg zwischen Traum und Wahrnehmung. Ich hörte Stimmen und spürte Bewegung um mich herum, aber meine Gedanken waren trübe, und mein Blick war verschwommen. Ich konnte nur dunkle Umrisse und Flächen aus Licht und Schatten ausmachen. Als ich voller Verwirrung auf die nebelhaften Gestalten starrte, sah ich, dass manche der Schatten sich bewegten. Schließlich wurde mir klar, dass einer von ihnen sich über mich beugte.
»Nando, podés oírme? Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«
Der Schatten kam näher, und als ich ihn benommen anstarrte, kristallisierte er sich zu einem menschlichen Gesicht. Ich sah einen zerzausten Schopf aus dunklen Haaren, darunter tiefbraune Augen. Aus diesen Augen sprach Freundlichkeit - es war jemand, der mich kannte -, aber hinter der Freundlichkeit war etwas anderes: Wildheit, Härte, ein mühsam unterdrücktes Gefühl der Verzweiflung.
»Na komm, Nando, wach schon auf!«
Warum ist mir so kalt? Warum tut mein Kopf so entsetzlich weh? Verzweifelt versuchte ich, diese Gedanken auszusprechen, aber mein Mund konnte die Laute nicht formen, und die Anstrengung erschöpfte meine Kräfte schnell. Ich schloss die Augen und ließ mich wieder in die Welt der Schatten gleiten. Aber wenig später hörte ich andere Stimmen, und als ich die Augen aufschlug, schwebten noch mehr Gesichter über mir.
»Ist er wach? Kann er dich hören?«
»Sag doch was, Nando!«
»Nicht aufgeben, Nando. Wir sind bei dir. Wach auf!«
Wieder versuchte ich zu sprechen, aber mehr als ein heiseres Flüstern brachte ich nicht heraus. Dann beugte sich jemand über mich und sprach mir ganz langsam ins Ohr.
»Nando, el aviön se estrellö! Caímos en las montañas.«
Wir sind abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. In den Bergen.
»Verstehst du mich, Nando?«
Ich verstand nicht. Aus der ruhig-dringlichen Art, wie die Worte gesprochen wurden, konnte ich entnehmen, dass es eine Nachricht von größter Wichtigkeit war. Aber ich begriff weder ihre Bedeutung noch wurde mir klar, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Die Wirklichkeit erschien mir weit entfernt und gedämpft, als wäre ich in einemTraum gefangen und könnte mich nicht zum Aufwachen zwingen. Stundenlang schwebte ich in dem Nebel, aber schließlich schärften sich meine Sinne, und ich konnte mir nach und nach einen Überblick über meine Umgebung verschaffen. Anfangs war mir eine Reihe sanfter, runder, über mir schwebender Lichter aufgefallen. Jetzt erkannte ich darin die kleinen, rundlichen Fenster eines Flugzeugs. Mir wurde klar, dass ich in der Passagierkabine eines Verkehrsflugzeugs auf dem Fußboden lag, doch als ich nach vorn in Richtung Cockpit blickte, sah ich, dass nichts an diesem Flugzeug seine Ordnung hatte. Der Rumpf war auf die Seite gerollt: Mein Rücken und Kopf ruhten auf dem unteren Teil der rechten Seitenwand, meine Beine ragten in den schräg aufwärts geneigten Mittelgang. Die meisten Sitze der Maschine fehlten. Von der beschädigten Decke hingen Kabel und Schläuche, und aus den ramponierten Bordwänden quoll Isoliermaterial. Der Fußboden um mich herum war mit Plastikbrocken, verbogenen Metallstücken und anderen Trümmern übersät. Es war taghell. Die Luft war schneidend kalt, und selbst in meinem Dämmerzustand erstaunte mich die Aggressivität dieser Kälte. Ich hatte immer in Uruguay gelebt, einem warmen Land, wo selbst im Winter mildes Klima herrscht. Mit sechzehn hatte ich das erste und einzige Mal einen richtigen Winter mitbekommen: Damals hatte ich als Austauschschüler in Saginaw in Michigan gewohnt. Ich hatte nach Saginaw keine warme Kleidung mitgenommen und kann mich noch gut an den ersten richtigen Wintersturm erinnern, wie der Wind durch meine dünne Jacke pfiff und die Füße sich in meinen leichten Mokassins in Eisklumpen verwandelten. Aber so etwas wie die bitterkalten Böen, die jetzt mit Minustemperaturen durch den Flugzeugrumpf fegten, hatte ich noch nie erlebt. Es war eine wilde, knochenbrecherische Kälte, und sie brannte auf der Haut wie Säure. Ich spürte die Schmerzen in jeder Körperzelle, und als ich in ihrem Griff krampfartig bibberte, schien jeder Augenblick eine Ewigkeit zu dauern.
Da ich auf dem zugigen Boden des Flugzeugs lag, hatte ich keine Möglichkeit, mich zu wärmen. Aber die Kälte war nicht meine einzige Sorge. Im Kopf spürte ich einen pochenden Schmerz, ein grobes, ungestümes Hämmern, als sei in meinem Schädel ein wildes Tier eingesperrt, das verzweifelt ausbrechen wollte. Vorsichtig griff ich mir oben an den Kopf. Meine Haare waren mit Klumpen aus getrocknetem Blut verklebt, und ungefähr zehn Zentimeter über dem rechten Ohr bildeten drei blutende Wunden ein unregelmäßiges Dreieck. Unter dem geronnenen Blut ertastete ich die rauen Kanten gebrochener Knochen, und wenn ich ein wenig drückte, spürte ich ein schwammiges Nachgeben. Als mit klar wurde, was das bedeutete, drehte sich mir der Magen um - ich hatte Stücke meines zerschmetterten Schädels gegen mein Gehirn gedrückt. Mein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Der Atem kam in flachen Stößen. Ich war dicht davor, in Panik zu geraten, da sah ich über mir diese braunen Augen, und endlich erkannte ich das Gesicht meines Freundes Roberto Canessa.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wo sind wir?«
Roberto runzelte die Stirn und beugte sich herunter, um die Verletzungen an meinem Kopf zu untersuchen. Er war immer ein ernsthafter Mensch gewesen, willensstark und leidenschaftlich. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich die ganze Hartnäckigkeit und Zuversicht, für die er bekannt war. Aber da war auch etwas Neues in seinem Gesichtsausdruck, etwas Düsteres, Beunruhigendes, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es war der hektische Blick eines Mannes, der sich darum bemüht, etwas Unbegreifliches zu begreifen, eines Menschen, den eine überwältigende Überraschung taumeln lässt.
»Du warst drei Tage bewusstlos«, sagte er ohne jedes Gefühl in der Stimme. »Wir hatten dich schon aufgegeben.«
Die Worte erschienen mir sinnlos. »Was ist mit mir passiert?«, fragte ich, »und warum ist es so kalt?«
»Verstehst du mich, Nando?«, erwiderte Roberto. »Wir sind im Gebirge abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. Wir sitzen hier fest.«
Voller Verwirrung schüttelte ich schwach den Kopf. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, aber ich konnte nicht mehr lange leugnen, was um mich herum geschah. Ich hörte leises Stöhnen und jähe Schmerzensschreie, und allmählich begriff ich, dass sie von anderen leidenden Menschen kamen. Überall im Rumpf sah ich Verwundete in provisorischen Betten und Hängematten liegen. Andere Gestalten beugten sich über sie, um ihnen zu helfen, und sie unterhielten sich leise, während sie sich mit stiller Zielstrebigkeit in der Kabine hin und her bewegten. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass mein Hemd vorne von einer feuchten braunen Kruste überzogen war. Als ich sie mit der Fingerspitze berührte, fühlte sie sich klebrig und körnig an, und mir wurde klar, dass dieses entsetzliche Zeug mein eigenes Blut war, das jetzt trocknete.
»Verstehst du, Nando?«, fragte Roberto noch einmal. »Erinnerst du dich? Wir waren im Flugzeug... wollten nach Chile...« Ich schloss die Augen und nickte. Jetzt war ich aus dem Schatten getreten. Meine Verwirrung konnte mich nicht mehr von der Wahrheit abschirmen. Ich begriff, und während Roberto mir das verkrustete Blut vom Gesicht wusch, kam meine Erinnerung wieder.
1
Davor
Es war Freitag, der 13.Oktober.Wir machten Witze darüber, dass wir an einem solchen Unglückstag über die Anden fliegen wollten, aber junge Männer sind mit derartigen Scherzen schnell bei der Hand. Unser Flug hatte einen Tag zuvor in meiner Heimatstadt Montevideo begonnen - mit Ziel Santiago de Chile. Die gecharterte zweimotorige Fairchild-Turbopropmaschine sollte meine Rugbymannschaft- den Old Christians Rugby Club - zu einem Freundschaftsspiel gegen eine chilenische Spitzenmannschaft bringen. An Bord waren 45 Personen, darunter vier Besatzungsmitglieder: Pilot, Copilot, Flugingenieur und Steward. Die meisten Passagiere waren Mannschaftskameraden von mir, aber mit uns flogen auch Freunde, Angehörige und andere Anhänger unseres Teams, darunter meine Mutter Eugenia und Susy, meine kleine Schwester; die beiden saßen eine Reihe vor mir auf der anderen Seite des Mittelganges. Ursprünglich war vorgesehen, nonstop nach Santiago zu fliegen, eine Strecke von etwa dreieinhalb Stunden. Aber schon kurz nach dem Start war Julio Ferradas, der Pilot der Fairchild, wegen ungünstiger Wettervorhersagen gezwungen gewesen, eine Zwischenlandung einzulegen.
Wir setzten um die Mittagszeit in Mendoza, einer alten spanischen Kolonialstadt unmittelbar östlich des Anden-Vorgebirges, auf und hofften, in ein paar Stunden wieder in der Luft zu sein. Doch die Wetterberichte waren alles andere als ermutigend, und schon bald war klar, dass wir über Nacht bleiben mussten. Niemand hatte Lust, unnötig Zeit zu verlieren, aber Mendoza erwies sich als hübscher Ort, und so machten wir das Beste aus unserer Zeit dort. Ein paar von unseren Jungs setzten sich in die Straßencafés an den breiten, baumbestandenen Boulevards, andere gingen in der Altstadt auf Besichtigungstour. Ich schloss mich einer Gruppe an, die nachmittags zu einer Rennstrecke außerhalb von Mendoza fuhr, um sich ein Autorennen anzusehen. Abends gingen wir ins Kino; andere waren mit ein paar Mädchen aus Argentinien, die sie kurz zuvor kennen gelernt hatten, zum Tanzen verabredet. Meine Mutter und Susy erkundeten die malerischen Geschäfte der Stadt, kauften Geschenke für Freunde in Chile und Souvenirs für die Daheimgebliebenen. Meine Mutter freute sich besonders, als sie in einer kleinen Boutique ein Paar rote Babyschuhe fand, denn die waren das ideale Mitbringsel für den neugeborenen Sohn meiner Schwester Graciela.
Am nächsten Morgen schliefen die meisten von uns lange. Wir wollten nichts wie weg von hier, doch von Abflug war immer noch keine Rede. Also sahen wir uns noch ein bisschen in Mendoza um, bis wir schließlich die Nachricht erhielten, uns Punkt 13 Uhr am Flughafen einzufinden. Als wir hinkamen, stellten wir jedoch fest, dass Ferradas und sein Copilot Dante Lagurara sich immer noch nicht entschieden hatten, ob wir fliegen würden. Auf diese Nachricht reagierten wir frustriert und verärgert, aber keiner von uns begriff, vor welcher schwierigen Frage die Piloten standen. In den Wetterberichten vom Vormittag wurde vor Turbulenzen auf unserer Flugroute gewarnt, doch Ferradas hatte mit dem Piloten einer Frachtmaschine gesprochen, die kurz zuvor aus Santiago eingetroffen war, und war recht zuversichtlich, dass die Fairchild das schlechte Wetter gefahrlos überfliegen konnte. Das eigentliche Problem war die Tageszeit. Es war bereits früher Nachmittag. Bis die Passagiere an Bord und alle Formalitäten mit den Flughafenbehörden erledigt waren, würde es nach 14 Uhr werden. Und nachmittags, wenn warme Luft aus dem argentinischen Vorgebirge aufsteigt und auf die kalte Luft über der Schneegrenze trifft, entstehen in der Atmosphäre über dem Gebirge gefährliche Instabilitäten. Unsere Piloten wussten, dass dies die gefährlichste Zeit für einen Flug über die Anden war. Wo diese Strömungswirbel zuschlagen würden, ließ sich nicht vorhersagen, und wenn sie uns erwischten, würden sie das Flugzeug herumwerfen wie ein Spielzeug.
Andererseits konnten wir nicht in Mendoza bleiben. Unser Flugzeug, eine Fairchild F-227, war von der uruguayischen Luftwaffe geleast. Nach den argentinischen Gesetzen durfte eine ausländische Militärmaschine sich nicht länger als 24 Stunden auf argentinischem Boden aufhalten. Da diese Zeit fast um war, mussten Ferradas und Lagurara sich schnell entscheiden: Sollten sie den nachmittäglichen Flugbedingungen trotzen und Kurs auf Santiago nehmen, oder war es besser, nach Montevideo zurückzukehren und unserem Ausflug damit ein vorzeitiges Ende zu bereiten?
Während die Piloten hin und her überlegten, wuchs unsere Ungeduld. Wir hatten bereits einen Tag unserer Chilereise geopfert und wollten nicht noch mehr Zeit verlieren. Wir waren junge Männer, furchtlos, selbstbewusst und voller Tatendrang, und es ärgerte uns, dass unsere kleine Reise wegen der vermeintlichen Ängstlichkeit unserer Piloten ins Wasser fallen sollte. Diese Gefühle verheimlichten wir nicht. Als wir die Piloten am Flughafen sahen, spotteten und pfiffen wir. Wir machten uns über sie lustig und stellten ihre Fähigkeiten infrage. »Wir haben euch engagiert, damit ihr uns nach Chile bringt«, rief jemand, »und wir wollen, dass ihr das macht!« Ob unser Verhalten ihre Entscheidung beeinflusste, kann niemand sagen - es gab ihnen sicherlich zu denken -, jedenfalls trat Ferradas nach einer letzten Besprechung mit Lagurara auf uns zu und blickte sich in der Runde um. Ungeduldig warteten wir auf seine Antwort. Er gab bekannt, der Flug nach Santiago werde fortgesetzt. Wir quittierten die Nachricht mit rüpelhaftem Jubel.
Um 14 Uhr 18 Ortszeit hob die Fairchild endlich vom Flughafen Mendoza ab. Während des Steigfluges legte die Maschine sich in eine steile Linkskurve, und wenig später waren wir in Richtung Süden unterwegs. Zu unserer Rechten erstreckten sich die argentinischen Anden bis zum Horizont. Ich starrte durchs Fenster, auf die Berge, die sich von der dunklen Hochebene unter uns erhoben wie eine schwarze Luftspiegelung: so düster und majestätisch, so erstaunlich öde und gewaltig sahen sie aus, dass schon der Anblick mein Herz rasen ließ. Den Fuß bildeten riesige Erhebungen aus Muttergestein mit gewaltigen Sockeln, die sich über viele Kilometer erstreckten, und daraus stiegen ihre schwarzen Bergrücken auf. Gipfel drängte sich an Gipfel, und es sah aus, als bildeten sie eine gewaltige Befestigungsmauer. Ich war ein junger Mann ohne besondere poetische Neigung, aber in der Art, wie die Berge voller Autorität ihre Stellung hielten, schien mir eine Warnung zu stecken, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie Lebewesen waren, mit einem Geist und einem Herzen und einer Botschaft. Kein Wunder, dass unsere Altvorderen diese Berge für heilige Orte hielten, für Stufen zum Himmel und den Wohnort der Götter.
Uruguay ist ein recht flaches Land, und so beschränkten sich meine Kenntnisse über die Anden oder über Gebirge im Allgemeinen auch auf das, was ich in Büchern gelesen hatte. Meinen Freunden im Flugzeug erging es nicht anders. In der Schule hatten wir gelernt, dass die Anden das längste Gebirge der Welt sind: Sie ziehen sich über die gesamte Länge Südamerikas, von Venezuela im Norden bis zur Südspitze des Kontinents in Feuerland. Außerdem wusste ich, dass die Anden, was die durchschnittliche Höhenlage angeht, das zweithöchste Gebirge der Erde sind. Höher ist nur noch der Himalaya.
Ich hatte gehört, wie andere die Anden als das größte geologische Wunder unseres Planeten bezeichnet hatten, und beim Blick aus dem Flugzeugfenster wusste ich ganz instinktiv, was sie damit meinten. Nach Norden, Süden und Westen erstreckten sich die Berge, so weit das Auge reichte, und obwohl sie viele Kilometer entfernt waren, ließen ihre Höhe und Masse sie unüberwindlich aussehen. Was uns betraf, waren sie das auch. Unser Reiseziel Santiago lag westlich von Mendoza, fast genau auf demselben Breitengrad, aber der Teil der Anden, der die beiden Städte trennte, gehörte zu den höchsten Abschnitten der ganzen Kette und beherbergte einige der höchsten Berge der ganzen Welt. Irgendwo dort unten lag beispielsweise der Aconcagua, der höchste Berg der westlichen Hemisphäre und weltweit die Nummer sieben. Mit seiner Höhe von 6963 Metern ist er nur 1880 Meter kleiner als der Mount Everest, und er hat weitere Riesen als Nachbarn, darunter der 6705 Meter hohe Mercedario und der Tupongato mit 6570 Metern. Rund um diese Giganten liegen andere großartige Gipfel mit Höhen zwischen 4900 und 6000 Metern, bei denen sich in dieser Wildnis noch nicht einmal jemand die Mühe gemacht hat, ihnen Namen zu geben.
Da sich vor uns solche Gipfel auftürmten, konnte die Fairchild mit ihrer maximalen Flughöhe von 6700 Metern unmöglich direkt in ost-westlicher Richtung nach Santiago fliegen. Die Piloten hatten sich vielmehr eine Route ausgesucht, die uns von Mendoza rund 160 Kilometer nach Süden zum Planchón-Pass führen sollte, einem schmalen Korridor durch das Gebirge, dessen Berge so niedrig waren, dass die Maschine darüber hinwegkam. Wir würden entlang des östlichen Anden-Vorgebirges nach Süden fliegen, bis wir den Pass erreichten. Dann wollten wir nach Westen abdrehen und die Route durch die Berge nehmen. Sobald wir sie auf der chilenischen Seite hinter uns hatten, sollten wir wieder einen nördlichen Kurs nehmen und nach Santiago fliegen. Für den ganzen Flug waren etwa eineinhalb Stunden veranschlagt. Wir würden noch vor Einbruch der Dunkelheit in Santiago sein.
Auf der ersten Etappe herrschte ruhiges Wetter, und nach einer knappen Stunde hatten wir den Planchón-Pass erreicht.
Natürlich kannte ich weder seinen Namen noch irgendwelche Einzelheiten der Flugroute. Aber mir fiel auf, dass wir die Berge anfangs immer zu unserer Rechten in der Ferne gesehen hatten und jetzt nach Westen direkt ins Herz der Andenkette vordrangen. Ich hatte einen Fensterplatz auf der linken Seite der Maschine, und als ich jetzt hinausblickte, veränderte sich die Landschaft ganz plötzlich: Erst tauchten zerklüftete Vorgebirge auf, dann hob und krümmte sich die Erde zu den Ehrfurcht gebietenden Windungen echter Berge. Bergrücken mit der Form von Haifischflossen erhoben sich wie emporstrebende schwarze Segel. Bedrohliche Gipfel ragten in die Höhe wie riesige Speerspitzen oder zerbrochene Axtschneiden. Enge Gletschertäler klafften zwischen steilen Abhängen und bildeten Ketten aus tiefen, gewundenen, schneegefüllten Korridoren, die ein wildes, endloses Labyrinth aus Eis und Gestein bildeten. Auf der Südhalbkugel hatte der Winter gerade dem Frühling Platz gemacht, aber in den Anden sanken die Temperaturen immer noch regelmäßig auf minus 50 Grad, und die Luft war trocken wie in der Wüste. Ich wusste, dass Lawinen, Schneestürme und tödliche, orkanartige Winde in diesem Gebirge an der Tagesordnung waren, und der vergangene Winter war einer der strengsten seit Menschengedenken gewesen; an manchen Stellen waren mehr als sechzig Meter Schnee gefallen. Farben waren in dem Gebirge überhaupt nicht zu erkennen, nur stumme Flecken in Schwarz oder Grau. Es gab nichts Weiches, nichts Lebendiges, nur Gestein und Schnee und Eis. Als ich in die zerklüftete Wildnis hinunterblickte, musste ich über die Arroganz all derer lachen, die jemals geglaubt hatten, der Mensch habe sich die Erde untertan gemacht.
Während ich aus dem Fenster schaute, fiel mir auf, wie sich immer mehr Nebelschleier sammelten. Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Lass uns mal die Plätze tauschen, Nando. Ich möchte die Berge sehen.«
Es war mein Freund Panchito, der neben mir auf dem Gangplatz saß. Ich nickte und erhob mich von meinem Sitz. Als ich mich gerade an ihm vorbeischieben wollte, rief jemand »Achtung, Nando!«, und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig umdrehen, um einen Rugbyball aufzufangen, den jemand aus dem hinteren Teil der Kabine geworfen hatte. Ich spielte den Ball nach vorn weiter und ließ mich dann auf meinen Platz sinken. Alle um uns herum lachten und redeten, die Leute wechselten von einem Sitz zum anderen, setzten sich neben ihre Freunde, gingen den Mittelgang auf und ab. Einige Freunde, darunter mein alter Kumpel Guido Magri, spielten im hinteren Teil der Maschine mit dem Steward Karten, als der Ball jedoch in der Kabine herumflog, stand der Steward auf und versuchte, die Gemüter ein wenig zu beruhigen. »Weg mit dem Ball!«, rief er. »Hören Sie auf damit, und nehmen Sie bitte Ihre Plätze wieder ein!«Aber wir waren junge Rugbyspieler, wir waren mit unseren Freunden auf Reisen und hatten keine Lust, auf unseren Spaß zu verzichten. Unsere Mannschaft, die Old Christians aus Montevideo, war eine der besten in Uruguay, und wir nahmen unsere regelmäßigen Wettkämpfe sehr ernst. In Chile sollten wir nur ein Freundschaftsspiel bestreiten, also war es für uns eigentlich eine Urlaubsreise, und hier im Flugzeug herrschte eine Stimmung, als ob der Urlaub bereits begonnen hätte.
Es machte mir Spaß, mit Freunden unterwegs zu sein, und mit diesen Freunden ganz besonders. Wir hatten so vieles gemeinsam durchgestanden - die Jahre des Lernens und Trainierens, die herzzerreißenden Niederlagen, die hart erkämpften Siege. Wir waren als Mannschaftskameraden aufgewachsen, hatten von den Stärken der anderen profitiert und gelernt, einander zu vertrauen, wenn wir unter Druck standen. Aber der Rugbysport hatte nicht nur unsere Freundschaft geprägt, sondern auch unseren Charakter. Wir waren füreinander zu Brüdern geworden.
Viele von uns bei den Old Christians kannten sich schon seit über zehn Jahren, seit wir als Schülermannschaft unter Anleitung der Irish Christian Brothers an der Schule »Stella Maris« gespielt hatten. Die Christian Brothers waren Anfang der fünfziger Jahre aus Irland nach Uruguay gekommen; sie waren der Einladung einer Gruppe katholischer Eltern gefolgt, die sie gebeten hatten, in Montevideo eine katholische Privatschule zu gründen. Fünf irische Brüder richteten daraufhin 1955 das Stella Maris College ein, eine Privatschule für neun- bis sechzehnjährige Jungen. Sie lag im Stadtviertel Carrasco, wo die meisten ihrer Schüler wohnten.
Das wichtigste Ziel einer katholischen Erziehung war für die Christian Brothers nicht die geistige, sondern die charakterliche Bildung; entsprechend spielten Disziplin, Frömmigkeit, Selbstlosigkeit und Respekt in ihren Lehrmethoden eine große Rolle. Um diese Werte auch außerhalb der Schule zu fördern, missbilligten die Brüder die südamerikanische Leidenschaft für den Fußball - einen Sport, der nach ihrer Überzeugung dem Egoismus und der Profilsucht Vorschub leistete - und dirigierten uns in Richtung des raueren, erdverbundenen Rugby. Dieser Sport war schon seit Jahrhunderten in Irland sehr beliebt, in unserem Land war er aber so gut wie unbekannt. Anfangs erschien er uns seltsam - brutal und schmerzhaft, mit viel Schieben und Drücken, ohne das weltoffene Flair des Fußballs. Aber die Christian Brothers waren felsenfest davon überzeugt, dass Rugby die gleichen Charaktereigenschaften erforderte wie ein anständiges Leben als Katholik: Demut, Selbstbehauptungswillen, Selbstdisziplin und Einsatz für andere. Es war ihr erklärtes Ziel, dass wir Rugby spielen sollten, und zwar gut. Und eines war uns schon nach kurzer Zeit klar: Wenn die Christian Brothers sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, waren sie kaum noch davon abzubringen. Also legten wir die Fußbälle in die Ecke und machten uns mit dem dicken, ovalen Lederei vertraut, das man beim Rugby verwendet.
Es waren lange, harte Übungsstunden auf dem Spielfeld hinter der Schule. Die Brüder fingen bei Null an und brachten uns alle ruppigen Tricks des Spiels bei: Drücken und Stoßen, Gedränge und Gasse, Kick und Pass und Tackle. Wir erfuhren, dass Rugbyspieler weder Schulterpolster noch Helme tragen, und doch erwartete man von uns, dass wir aggressiv und mit hohem körperlichem Einsatz spielten. Aber Rugby war nicht nur ein brutaler Kraftsport; es erforderte auch eine solide Strategie, schnelles Denken und Beweglichkeit. Vor allem aber verlangte es, dass die Mannschaftskameraden untereinander ein unerschütterliches Vertrauen entwickelten. Wenn ein Mitspieler stürzte oder niedergeschlagen wurde, »wird er zu Gras«, wie sie uns erklärten. Das hieß, dass die gegnerische Mannschaft auf einem am Boden liegenden Spieler herumtrampeln konnte, als wäre er ein Teil des Rasens. Als eines der ersten Dinge brachten sie uns bei, wie man sich verhält, wenn ein Mitspieler zu Gras wird. »Du musst zu seinem Beschützer werden. Du musst dich selbst opfern, um ihn abzuschirmen. Er muss wissen, dass er sich auf dich verlassen kann.«
Für die Christian Brothers war Rugby mehr als nur ein Spiel. Es war ein Sport, den sie auf die Ebene einer moralischen Disziplin gehoben hatten. Im Mittelpunkt stand dabei die felsenfeste Überzeugung, dass keine andere Sportart einen Menschen so eindringlich lehren kann, was es bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen Ziels zu kämpfen, zu leiden und sich zu opfern. Diese Haltung vertraten sie so leidenschaftlich, dass uns nichts anderes übrig blieb, als ihnen zu glauben, und als wir das Spiel allmählich immer besser verstanden, merkten wir selbst, dass die Brüder Recht hatten.
Ganz einfach ausgedrückt, hat man beim Rugby das Ziel, die Kontrolle über den Ball zu gewinnen - meist durch kombinierten Einsatz von Klugheit, Schnelligkeit und brutaler Kraft. Wenn ein laufender Mitspieler ihn dann beherzt an einen anderen weitergibt, kann man den Ball über die Tor- oder Mallinie befördern und einen Punkt erzielen. Rugby kann ein Spiel von atemberaubender Schnelligkeit und Beweglichkeit sein, ein Spiel der zielgenauen Pässe und brillanten Fluchtmanöver. Aber das Wesentliche des Rugby liegt für mich in dem brutalen, koordinierten Durcheinander des »Gedränges«, der Formation, die das Markenzeichen des Rugby ist. Im Gedränge bildet jede Mannschaft eine enge, drei Mann tiefe Menschenmenge; gebückt, Schulter an Schulter und mit eingehakten Armen, werden die Spieler zu einem eng verwobenen Keil aus Menschen. Die beiden Gruppen gehen in Angriffsstellung, und die Spieler in den ersten Reihen der beiden Mannschaften greifen sich an den Schultern, sodass sich ungefähr ein geschlossener Kreis ergibt. Auf das Signal des Schiedsrichters wird der Ball in den Tunnel zwischen den Mannschaften geworfen, und jede Gruppe versucht, die andere so weit vom Ball wegzudrücken, dass ein Spieler aus der eigenen ersten Reihe ihn zwischen den Beinen seiner Kameraden hindurch in den hinteren Teil des Gedränges treten kann; dort wartet der Gedränge halb, um den Ball frei zu bekommen und an einen Spieler der Hintermannschaft weiterzugeben, die dann den Angriff startet.
Innerhalb des Gedränges wird häufig brutal gespielt: Knie gegen Schläfen, Ellenbogen gegen Unterkiefer, blutige Schienbeine durch Tritte mit schweren Stollenschuhen. Es ist rohe, harte Arbeit, aber sobald der Gedrängehalb den Ball frei bekommt und der Angriff beginnt, löst sich alles in Leichtigkeit auf. Der erste Pass geht häufig zum beweglichen Verbindungshalb, der die nahenden Verteidiger austrickst und den Spielern hinter sich die nötige Zeit verschafft, um freien Raum zu gewinnen. Kurz bevor er zu Boden gezogen wird, spielt der Verbindungshalb den Ball an den Innendreiviertel weiter; dieser weicht einem Angreifer aus, wird aber vom nächsten zu Fall gebracht, und während er vorwärtsstolpert, spielt er zum nachhängenden Flügelspieler. Jetzt wandert der Ball flott von einem Verteidiger zum nächsten: von der Außen- über die Flügel- zur Mittelposition und wieder zurück, wobei jeder mit Schlägen, Drehungen, Ducken und Drücken vorwärtszukommen versucht, bevor er von den Angreifern zu Boden gezogen wird. Dem Ballträger wird unterwegs übel mitgespielt; wenn der Ball frei hinunterfällt, bildet sich ein Massenauflauf, um jeden Zentimeter wird gekämpft, aber dann findet einer unserer Leute eine Lücke, einen schmalen Lichtspalt, und mit einer letzten Anstrengung lässt er die Verteidiger stehen, hechtet über die Mallinie und erzielt einen Punkt. Mit alledem hat sich die angestrengte, brutale Arbeit des Gedränges in einen wunderschönen Tanz verwandelt. Und kein Einzelner kann die Ehre dafür einheimsen. Der Angriff war Zentimeter für Zentimeter eine Gemeinschaftsleistung, eine Summe vieler Einzelanstrengungen, und ganz gleich, wer den Ball am Ende über die Mallinie trägt, der Triumph gehört uns allen.
...
Übersetzung: Sebastian Vogel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Nando Parrado
Nando Parrado wurde 1949 in Montevideo, Uruguay, geboren. Heute ist er im Vorstand von vier uruguayischen Firmen tätig, arbeitet als Fernsehproduzent und hält weltweit Vorträge. Seine grosse Liebe gilt dem Motorsport. Nando Parrado lebt mit seiner Frau Veronique und seinen beiden Töchtern in seiner Heimatstadt Montevideo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nando Parrado
- 2008, 318 Seiten, 8 Abbildungen, Masse: 12,3 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Mit Vince Rause; Dtsch. v. Sebastian Vogel
- Übersetzer: Sebastian Vogel
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442154987
- ISBN-13: 9783442154982
Rezension zu „72 Tage in der Hölle “
"Man wird schwerlich ein anderes Buch finden, das mit so viel Feingefühl geschrieben ist und das zugleich eine so klare menschliche Botschaft enthält. Es lehrt uns nämlich, keinen einzigen Augenblick im Leben und keinen einzigen Atemzug zu verschenken."
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