Jamey. Das Kind, das zuviel wusste
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Jamey - Das Kind, das zuviel wusste von Jonathan Kellerman
LESEPROBE
Drei Jahrelang war ich nicht mehr wegen eines Notfalls geweckt worden, aber in dieserNacht geschah es. Ich richtete mich im Bett auf, griff mit schlaftauben Fingernzum Hörer. Ich war noch nicht ganz aus meinem Traum erwacht, doch meine Stimmefand sofort ihre berufliche Routine wieder. Ich war in meine gewohnte Rollegeschlüpft, obwohl ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Das Schellendes Telefons hatte auch Robin aus dem Schlaf gerissen. Auf ihrem Gesichtbildeten Lichtstreifen das Muster der Gardine ab. »Wer ist da, Alex?« »DieNotrufzentrale.« »Was ist denn passiert?« »Ich weiss es nicht. Schlaf nur wiederein, ich telefoniere in der Bibliothek weiter.« Robin sah mich fragend an undrollte sich wieder in ihre Decke. Ich zog meinen Bademantel über und verliessdas Schlafzimmer. Ich machte Licht, und nachdem sich meine Augen an dieHelligkeit gewöhnt hatten, fand ich etwas zu schreiben und nahm den Hörer ab. »So,da bin ich wieder.« »Es klingt wie ein echter Notfall, Doktor. Der Anrufer ist ganzausser Atem und redet wirres Zeug. Ich musste ihn mehrmals nach seinem Namenfragen. Dann schrie er ihn geradezu heraus, gleich ein paar Mal. Ich bin mirnicht ganz sicher, aber es klang wie Jimmy Cammus oder Catmus.« Jamey Cadmus!Als ich diesen Namen hörte, war ich so- fort hellwach. Erinnerungen, die einhalbes Jahrzehnt geschlummert hatten, wurden lebendig. Jamey war jemand, denman nicht so leicht vergessen konnte. »Stellen Sie ihn durch«, sagte ich. Inder Leitung knackte es. »Hallo, Jamey!« Ich erhielt keine Antwort. »Jamey, bistdu es? Hier ist Doktor Delaware.« Wieder hörte ich nichts und dachte, dieLeitung sei unterbrochen. »Jamey!« Wieder Schweigen. Dann hörte ich jemandenleise stöhnen. Sein Atem ging mühsam. »Jamey, wo bist du denn?« Die Antwort warein ersticktes Flüstern: »Helfen Sie mir!« »Natürlich, Jamey. Dazu bin ich dochda. Was ist denn los?« »Helfen Sie mir, alles zusammenzuhalten! Zusammen, zusammen,alles fällt auseinander! Dieser ekelhafte Geruch! Stinkende Wunden! Allesauseinander gerissen mit dem blutigen Messer!« Als ich Jamey das letzte Malgesehen hatte, war er kurz vor der Pubertät gewesen, blauäugig, mit zarter Hautund dichtem, glänzendem schwarzem Haar. Zwölf Jahre war er damals alt. DieStimme, die ich jetzt durchs Telefon hörte, klang tiefer, männlich. Sie passtenicht zu dem Bild, das ich von dem Jungen hatte. »Beruhige dich, Jamey, habkeine Angst!« So gelassen und freundlich, wie ich irgend konnte, fragte ich:»Wo bist du jetzt?« Zuerst war es still in der Leitung, dann folgte ein ganzer Schwallvon Worten, zusammenhanglos und abgehackt wie Maschinengewehrfeuer. »Hören Siebloss auf damit! Alle erzählen mir immer die- sen Quatsch! Sie lügen doch, wenn sie sagen, dass die Hauptschlagader geplatzt ist Eulenfedern ach, ich bin so Halten Sie den Mund! Ich habe genug davon gehört. Die Dunkelheit riechtekelhaft! Sie sind ein Wichser!« Der reinste Wortsalat. Jamey keuchte laut, undseine Stimme versagte. »Jamey, ich höre dir zu. Ich werde dir helfen.« Da ernicht antwortete, fuhr ich fort: »Hast du etwas eingenommen? « »Sind Sie DoktorDelaware?« Er schien plötzlich ruhiger, überrascht, meine Stimme zu hören. »Ja,ich bins. Wo bist du?« »Es ist lange her, Doktor D.«, sagte er traurig. »Ja,das stimmt. Schön, dass du mich anrufst.« Wieder Stille. »Jamey, ich möchte dirhelfen, aber dazu muss ich wissen, was los ist. Sag mir doch bitte, wo dubist.« Sein Schweigen schien endlos. »Hast du irgendwas genommen, etwasGefährliches?« »Ich sitze höllisch in der Scheisse, Doktor D.! AlleHöllenglocken läuten. Ein Canyon aus Glas!« »Erzähl mir mehr darüber, wobefindet sich dieser Canyon? « »Das wissen Sie doch genau!«, krächzte er. »Siehaben es Ihnen doch gesagt! Sie erklären es die ganze Zeit. Ein Abgrund! VerdammtesGlas, verdammter Stahl!« »Wo, Jamey?«, fragte ich vorsichtig. »Erklär es mirgenau.« Sein Atem ging schnell, er keuchte. »Jamey!« Plötzlich schrie er lautauf, wie ein verwundetes Tier. Dann folgte ein schmerzerfülltes Flüstern. »DieErde ist voller Blut, scharlachrot! Aufgerissene Mäuler! Die Federn riechenekelhaft! Das haben mir diese verdammten Lügner gesagt!« Ich versuchte, an ihnheranzukommen, aber er war wieder von seinen Albträumen gefesselt. Mitdemselben angstvollen Flüstern unterhielt er sich nun mit den Stimmen, die erhörte, kämpfte gegen Dämonen, die ihn in ihre Gewalt zu bringen drohten, bisseine Worte in schrecklichem Geheul und verzweifeltem Schluchzen untergingen.Ich war unfähig, den Strom seiner Wahnbilder aufzuhalten, und so blieb mirnichts anderes übrig, als zu warten. Mein Herz klopfte heftig, ich frösteltetrotz der Wärme, die im Zimmer herrschte. Jameys Flüstern ging jetzt in einschnelles, rasselndes Atmen über. Ich versuchte, sein Schweigen zu nutzen, umihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Wo ist dieser gläserne Canyon? Sag esmir genau, Jamey!« »Glas und Stahl und Kilometer Röhren. Schlangenlinien. Gummischlangenund Gummiwände. Verdammte weisse Zombies schmeissen Leichen von der Mauer,spielen mit Nadeln « Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte, wovonJamey sprach. »Bist du in einer Klinik?« Er antwortete mit hohlem Gelächter.»Sie nennen das so!« »Welches Krankenhaus ist es?« Canyon Oaks. Ichkannte das Haus, eine exklusive Privatklinik, vom Hörensagen. Ich warerleichtert. Zumindest hatte Jamey sich die Überdosis nicht in irgendeinemdunklen Hinterhof gesetzt. »Wie lange bist du da schon?« »Sie bringen mich ummit ihren Lügen, Doktor D.!«, schrie er. »Sie quälen mich mit Laserstrahlen,legen mir die Wirbel frei, saugen mich aus. Stück für Stück holen sie mir dieOrgane raus!« »Wer macht das?« »Sie, die Menschenfresser, die weissen Zombies,kommen aus dem Strudel angekrochen, verdammte Federn, verdammte Vögel, kriechenaus dem Fleisch. Helfen Sie mir, Doktor D., kommen Sie doch und helfen Sie mir,das alles zusammenzuhalten, das abzuschütteln. Holen Sie mich woandershin, woes sauber ist!« »Jamey, ich helfe dir !« Bevor ich zu Ende reden konnte, hattees ihn wieder gepackt, sein Flüstern klang gequält, als ob er zu Tode gemartertwürde. Ich zog den Gürtel meines Morgenmantels enger und versuchte, mirvorzustellen, was ich ihm sagen könnte, wenn er wieder zu sich käme. Bei demGedanken, wie wenig ich tun konnte, musste ich ein Gefühl der Hilflosigkeit unterdrücken.Sollte ich auf seine Halluzinationen eingehen, sie akzeptieren, um damit zuerreichen, dass er sich beruhigte? Das Wichtigste war wohl, mit ihm in Kontakt zubleiben und sein Vertrauen nicht zu verlieren. Je länger man mit ihm sprechenkonnte, desto besser. Das war ein guter Plan, unter diesen Umständen wohl der sinnvollste,aber ich kam nicht dazu, ihn auszuführen. Jameys Geflüster steigerte sichschnell wie die Nadel auf einer Skala unbarmherzig zu dem schrillen Heuleneiner Sirene, ging dann in ein klagendes Greinen über, bevor ein letzter Schreidurch das Klicken des aufgelegten Hörers abgeschnitten wurde.
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Ari Grosskopf
- Autor: Jonathan Kellerman
- 2006, 575 Seiten, Masse: 11,6 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ari Grosskopf
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442460522
- ISBN-13: 9783442460526
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