Die Zarin der Nacht
Roman. Deutsche Erstausgabe
Katharina steht auf dem Gipfel ihrer Macht und krönt sich zur Alleinherrscherin über ein Weltreich. An ihrer Seite: Grigori Orlow, ihr Geliebter, ebenso mutig und mit demselben Willen zur Macht. Doch Katharina ist nicht nur von Günstlingen...
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Produktinformationen zu „Die Zarin der Nacht “
Katharina steht auf dem Gipfel ihrer Macht und krönt sich zur Alleinherrscherin über ein Weltreich. An ihrer Seite: Grigori Orlow, ihr Geliebter, ebenso mutig und mit demselben Willen zur Macht. Doch Katharina ist nicht nur von Günstlingen umgeben, sondern auch von Neidern und falschen Freunden.
Klappentext zu „Die Zarin der Nacht “
Katharina steht auf dem Gipfel ihrer Macht: Einst war sie als schüchterne Prinzessin nach St. Petersburg gekommen, nun hat sie ihren Ehemann, Zar Peter III., vom Thron gestürzt. Jahrelang hatte er sie gedemütigt und zurückgewiesen, nun reisst sie die Macht an sich und krönt sich zur Alleinherrscherin über ein Weltreich. An ihrer Seite steht Grigori Orlow, ihr Geliebter, ebenso mutig wie sie, mit demselben Willen zur Macht. Doch Katharina ist nicht nur von Günstlingen umgeben, sondern auch von Neidern und falschen Freunden, ihre Herrschaft ist stets bedroht: Hinter jedem Vertrauten lauert ein Dolch, und jedes Lächeln kann die Maske eines Verrats sein ...Eva Stachniak knüpft an ihren Bestsellererfolg »Der Winterpalast« an und erweckt den russischen Zarenhof mit Glanz und Gloria zum Leben. Sie entführt ihre Leser in die prunkvolle Welt St. Petersburgs, in schillernde Paläste und in die geheimen Gemächer der grössten Kaiserin aller Zeiten.
Lese-Probe zu „Die Zarin der Nacht “
Die Zarin der Nacht von Eva StachniakERSTER TEIL
5. November 1796 9.00 Uhr Der Schmerz ist stechend scharf, als bohrte sich die Spitze eines glühenden Dolchs irgendwo hinter ihrem rechten Auge in ihren Schädel. Er setzt in dem Moment ein, als sie die frisch eingetauchte Feder zückt, um den Brief zu unterschreiben, der vor ihr liegt. Ihre Hand erstarrt, die Feder fällt hinunter und macht einen Klecks auf dem Papier. Die Kaminuhr schlägt. Die Kaiserin muss daran denken, mit welchem Schrecken sie als Kind einmal gesehen hat, wie jemand die Zeiger einer Uhr zurückstellte: Sie glaubte damals, die Zeit werde zurückgedreht, sie müsse nun die Vergangenheit noch einmal durchleben und werde um die aufregende Zukunft betrogen.
Der Schmerz hört nicht auf. Es ist schon neun Uhr, und sie muss noch etliche Papiere lesen, bevor ihr Sekretär kommt. Sie überlegt, ob sie den Diener rufen soll, verwirft aber den Gedanken gleich wieder. Der alte Sotow mit seinem besorgten Getue würde ihr nur zur Last fallen. Die Kopfschmerzen werden schon von selbst verschwinden.
Pani, ihr italienischer Windhund, schnüffelt konzentriert an ihrer Hand und leckt sie. Die Hündin stammt von der geliebten Semira ab, die in den Gärten von Zarskoje Selo begraben liegt, und ist ebenso schlank und feinknochig wie sie.
»Ich habe nichts für dich«, murmelt die Kaiserin. Sie will Pani den Kopf tätscheln, aber ihre rechte Hand ist seltsam steif wie Holz, und die Liebkosung gerät fahrig. In den Augenwinkeln des Hundes klebt etwas Eiter. Genau wie Semira neigt Pani zu hartnäckigen Bindehautentzündungen.
Durch die Tür des Arbeitszimmers sind schlurfende Schritte und gedämpfte Stimmen zu hören, die gleich wieder verstummen. Die Kaiserin arbeitet, sie darf nicht gestört werden.
... mehr
Sie steht auf. Mit der linken Hand hält sie sich an der Schreibtischkante fest, so ungeschickt, dass sie ein paar Blätter fortwischt. Sonderbar, denkt sie und beobachtet die Papiere, die, von unsichtbaren Strömungen getragen, lautlos in der Luft schweben wie kleine Vögel. Auch Pani beobachtet sie, den Kopf leicht schief gelegt. Ihr wedelnder Schwanz klopft auf den Boden.
In der Tasse auf dem Schreibtisch ist noch etwas Kaffee. Er ist sicher längst kalt, aber es wird ihr guttun, etwas zu trinken. Ihre rechte Hand ist starr und bleischwer, darum nimmt sie die Tasse mit der linken. Der erste kleine Schluck von dem bitteren Gebräu schmeckt angenehm, aber dann nippt sie noch einmal, und plötzlich ist ihr, als müsste sie ersticken.
Sie spuckt den Kaffee aus, auf das glänzend polierte Holz, auf die Papiere. Statt die braunen Spritzer wegzuwischen, tastet sie mit der Zunge in ihrer Mundhöhle herum, fährt über die weichen Rippen ihres Gaumens. Wie Kalbshirn, denkt sie, Mamans Lieblingsgericht. Sie selbst hatte es immer verabscheut.
Sie will die Tasse wieder abstellen, aber ihre Hand gehorcht ihr nicht. Die Tasse fällt auf den Boden und zerspringt in Scherben.
Vielleicht sollte sie ein paar Schritte gehen, damit ihr wieder besser wird?
Auf wackeligen Beinen setzt sie sich in Bewegung. Unsicher tastet sie nach Halt. An der Schreibtischplatte, an der Lehne des Stuhls.
Hinter ihr ein polterndes Geräusch. Etwas Schweres ist hinuntergefallen. Das rechte Knie tut weh wie immer, seit sie vor drei Jahren auf dem Weg zur banja die Treppe hinuntergefallen ist. Sotow hörte das Geräusch und eilte herbei. Er sorgte dafür, dass sie sich auf eine Stufe setzte und wartete, bis der Schwindel abgeklungen war, dann half er ihr auf, ganz langsam, damit das Blut ihr nicht in den Kopf stieg. Von ein paar Schrammen abgesehen, hatte sie keine Verletzungen davongetragen, so dachte sie, und doch lässt ihr Knie sie jenen Sturz nie vergessen.
9.01 Uhr Jeder Schritt, so unsicher er auch ist, erscheint ihr wie ein Wunder. Die Muskeln ziehen sich zusammen und entspannen sich. Die Füße schlurfen vorwärts, zuerst der eine, dann der andere. Wie bei der Aufziehpuppe, mit der ihre Enkelinnen so gern gespielt haben. Bis Konstantin sie aufschlitzte, um zu sehen, was in ihrem Inneren verborgen war. Sie geht aus ihrem Arbeitszimmer, vorbei an dem in Silber gerahmten Spiegel, neben dem ihre mit Pelz gefütterten Mäntel hängen, und zur Tür ihres Klosetts.
Das Abbild ihrer Gestalt im Spiegel wirkt wie auf einer bewegten Wasserfläche, ein Wirrwarr aus verzerrten Teilen, die nicht zueinanderpassen. Ihrem Gesicht ergeht es nicht besser - nichts als schlaffes Fleisch und Runzeln; der Hals erinnert an den eines Truthahns. Über der Nasenwurzel steht weiß eine Hautfalte, die tränenden Augen sind blutunterlaufen, die Lider zwinkern nervös. Schön war ich nie, denkt sie. Aber was hatte Helena von Troja von ihrer Schönheit? Männer, die sie sich nicht ausgesucht hatte, und all die Gräuel des Kriegs.
In dem Klosett riecht es leicht nach nassem Tierfell und modrigen Wurzeln. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch zu. Das sonderbar schrille Quietschen der Angeln klingt nach wie der Ton einer Stimmgabel, schwirrt immerzu um ihren Kopf herum, als wäre die Zeit in einer Endlosschleife gefangen.
Ihre Finger, die sich ängstlich festklammern, erinnern an die Krallen eines antiken Vogels, der solche Kraftakte nicht gewohnt ist. Aber sie halten fest, helfen ihr, die Balance nicht zu verlieren. Es ist bewundernswert, dieses harmonische Zusammenwirken von Muskeln und Knochen, Sehnen und Blut.
Langsam hebt sie die Hand vor ihre Nase und schnuppert den süßen, leicht widerlichen Geruch der Tinte an ihren Fingerspitzen. Etwas aus der Vergangenheit schwimmt vorbei - unzusammenhängende Bilder von einer wilden Jagd, schäumende Brecher, die an den Strand schlagen und über dem gelbbraunen Sand auslaufen. Möwen kreischen eifersüchtig oder voller Gier. In einem zerrissenen Fischernetz voller Seetang liegt ein Pferdekopf im seichten Wasser und bleckt die Zähne. Aale schlüpfen aus den Augenhöhlen, schlängeln sich durchs offene Maul ins Freie.
Eine Erinnerung, denkt sie, kein Traum.
9.04 Uhr Der Schmerz pocht in ihren Schläfen, und sie rätselt über ihre eigenen Gedanken. Über Stimmen, die in ihr sprudeln. Über Sätze, die durch ihren Kopf hallen: Ich bin Minerva. Ich bin gerüstet. Etwas Seltsames geht hier vor.
Ein Gedanke ist nicht bloß ein Gedanke. Ein Wort ist nicht bloß ein Wort.
Sie denkt an einen Apfel, und da erscheint ein Apfel. Seine Schale fühlt sich leicht fettig an. Er ist prall und von der Sonne gerötet, nur um den Stiel herum grün. Seine Haut ist mit kleinen dunklen Punkten übersät.
Sie betrachtet ihn eine Weile, bevor sie ihn zum Mund hebt und hineinbeißt. Krachend bricht ein Stück ab, er zerbirst, und ihr Mund füllt sich mit Saft.
Sie empfindet eine urtümliche Lust dabei, die Lust, lebendiges Gewebe zu zermalmen, nährenden Lebensstoff in sich aufzunehmen.
Warum denke ich an einen Apfel?
Da ist kein Apfel. Ihre Hand ist leer. Das Wort »Apfel«, das sie im Sinn hat, meint Versuchung.
Ist es das, worüber sie nachdenken sollte?
Die Frage beschäftigt sie eine Weile, bis wieder ein stechender Schmerz durch ihre rechte Kopfhälfte fährt und ein gleißender Lichtblitz sie blendet.
9.05 Uhr Im Vorzimmer hört sie die Dienstboten reden. »Sind Sie sicher, dass Ihre Majestät noch nicht nach mir verlangt hat?«, fragt Gribowski. Die Stimme des Sekretärs klingt beunruhigt.
»Ganz sicher, Adrian Mosejewitsch.« »Aber es ist schon nach neun.« »Ihre Majestät wird ihre Gründe haben.«
Etwas passiert mit ihr, aber sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, was es sein könnte. Jede Bewegung erfordert ihre ganze Aufmerksamkeit, Entfernungen und Winkel müssen berechnet, Muskeln in Gang gesetzt und gesteuert werden. Sie überwacht jeden Atemzug.
Ihr Herz, ein meuternder Trommler, schlägt seinen eigenen Rhythmus. Oder ist es nur die Aufregung, die es aus dem Takt bringt? Will es sie vor irgendeiner Katastrophe oder Gefahr warnen? Feuer, Überschwemmung, eine aufgebrachte Menge, die mit Sensen und Knüppeln bewaffnet zum Palast marschiert?
Ihre Lippen sind trocken, rissig. Im Klosett steht ein blauer Porzellankrug, aber er ist zu schwer, sie kann ihn nicht hochheben. Sie steckt die Finger hinein und leckt die Tropfen ab, die daran hängen bleiben. Das Wasser ist abgestanden. Sie könnte nach dem Mädchen klingeln, das draußen bei den anderen Dienstboten wartet.
Warum gibt es hier keine Glocke?
Die Kopfschmerzen sind nicht mehr so schlimm wie vorher, aber es ist jetzt, als wäre ihre Schädeldecke mit einer Axt gespalten, als läge ihr Gehirn schutzlos und verletzlich offen zutage. Hat sich Jupiter so gefühlt, als er Minerva zur Welt brachte?
»Wie viel Uhr ist es?«
»Noch nicht spät, Adrian Mosejewitsch«, antwortet jemand. Eine Frau lacht. Eine Tür wird geöffnet und wieder geschlossen. Gedämpfte Schritte. Ein Hund bellt. Ein Fenster klappert, sie hört einen Knall, dann ein dumpfes Poltern.
»Du kennst ihn doch. Sein Vater hatte eine Buchhandlung an der Großen Perspektivstraße, nicht weit von der Fontanka. Aber dann ist der Laden überschwemmt worden.«
»Was kritzeln Sie da, Adrian Mosejewitsch? Trinken Sie eine Tasse Tee. Es ist kalt heute.« »Der Hund ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Glauben Sie, jemand hat ihn gestohlen?« »Dann hätte der Dieb ihn zurückgebracht und die Belohnung kassiert.« »Das arme Vieh ist sicher tot.«
Die Stimmen draußen schwellen an und ebben ab, Geflüster mündet in lang anhaltendes Seufzen. Leises Rumpeln ist zu hören. Es klingt wie das von hölzernen Karren auf abschüssiger Eisbahn, die immer mehr Fahrt aufnehmen, bis sie schließlich so schnell werden, dass nichts und niemand sie mehr aufhalten kann.
9.09 Uhr Sie schafft es, ihre Unterröcke zu raffen und sich auf dem Sitz niederzulassen. Wie eine große Glucke auf ihrem Nest. Das Polster seufzt leise unter ihrem Gewicht, das weiche Leder des Überzugs ist kalt und klebrig.
Die Stimmen im Vorzimmer werden leiser, immer wieder tritt einen friedvollen Moment lang Stille ein. Die Welt um die Kaiserin herum wird langsamer. Der Schmerz ist immer noch da, aber er fühlt sich an, als wäre er weiter weg, unscharf, zurückgedrängt, leichter zu ertragen. Die Zeit kriecht im Schneckentempo. Es gibt keinen Grund zur Eile.
Die Muskeln in ihrem Bauch werden schlaff, ein heißer Strom Urin ergießt sich. Eine Weile lang will sie nichts als einfach dasitzen und das tiefe Wohlgefühl von Entspannung und Erleichterung genießen. Sich gehen lassen. Einfach nur sein.
Aus der Stille, in die sie versunken ist, kommt wieder eine Erinnerung. Ein Äffchen namens Plaisir, ein Geschenk des französischen Gesandten. Als sie ihn bekam, war er noch ganz jung, fast ein Baby. Er trug ein Samtjäckchen, Kniebundhosen und einen Federhut. Plaisirs winzige Pfoten umklammerten ihren Finger, wenn sie ihn auf den Arm nahm, und er vergrub sein rosa Gesicht in den Falten ihres Kleids. Er hatte große, flehende Augen.
Cebus capucinus. Ein Weißschulterkapuziner.
Die zwei Diener, die auf ihn aufpassen sollten, hatten Narben an Händen und Unterarmen von seinen Krallen und Zähnen. Er war kaum zu bändigen. Sobald er es schaffte, seinen Wärtern zu entkommen, lief er ins Arbeitszimmer der Kaiserin. Er zog alle Schubladen heraus, zerfetzte Papiere, warf das Tintenfass um, zerkaute Schreibfedern, pinkelte auf ihren Stuhl. Er steckte seinen Finger in seinen Hintern und schmierte Kot an die Tapeten. Wenn sie ihn anschrie, hielt er sich die Ohren zu und machte ein so grenzenlos unglückliches Gesicht, dass sie lachen musste.
Plaisirs letzter Streich war, dass er einen Tiegel mit Gesichtscreme zerschmiss und den Inhalt aufaß. Ein paar Stunden später verkroch er sich unter einen Sessel im kaiserlichen Schlafzimmer und ließ sich nicht mehr hervorlocken. »Lasst ihn in Ruhe«, sagte die Kaiserin zu den Zofen. »Wenn er Hunger hat, kommt er schon wieder heraus.« Aber Plaisir kam nicht. Er rollte sich zusammen und starb.
9.10 Uhr Um aufzustehen, muss man viele Muskeln und Gelenke steuern. Und sie ist jetzt schon so weit, dass jeder einzelne Herzschlag ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert. Platons heisere Stimme, die durch ihre Gedanken hallt, stört ihre Konzentration. »Warum kränkst du mich, Katinka? Du bist alles, was ich habe. Ohne dich bin ich Staub.«
Die Stimme ihres Geliebten klingt eindringlich, ja flehend. Im Geist sieht sie ihn neben sich stehen in seiner ganzen überwältigenden dunklen Schönheit, die klare Linie seines Profils, Nase, Kinn, Lippen. Wenn sie zeichnen könnte, würde sie ihn mit schwarzer Tusche zeichnen. Und dann die Linien verwischen, damit er weicher wirkt.
Habe ich dich gekränkt? Wie? Und wann?
Das ist ein Rätsel, das sie lösen könnte, wenn sie nur lange genug darüber nachdächte. Mit chiffrierten Botschaften kennt sie sich aus. Zahlen, die in Buchstaben verwandelt werden müssen. Wörter, die für andere Wörter stehen. Um so ein Rätsel zu lösen, muss man Muster suchen, wiederkehrende Sequenzen.
Aber warum fängt Platon zu pfeifen an und dann zu singen?
Russland reicht weiter und höher,
Über Gipfel und Meere.
Wie kann sie ein Rätsel lösen, das dauernd seine Gestalt verändert, das aufleuchtet wie ein Glühwürmchen und im nächsten Moment im Dunkeln verschwindet? Wie soll sie es lösen, wenn das Einzige, dessen sie sicher sein kann, der brennende Schmerz in seiner Stimme ist?
9.11 Uhr »... hat schon wieder die ganze Nacht geweint ... armes Kind ... Es ist nicht das Ende der Welt, das sagt Majestät ihr immer wieder, aber die jungen Leute wollen nicht hören ...« Die Stimmen im Vorzimmer brechen seitlich aus wie scheuende Pferde. Manchmal dringen ganze Sätze durch die Wand, manchmal nur einzelne Worte.
»Man leidet eben mehr, wenn man jung ist.«
»Es ist eine Schande.«
»Wie konnte er nur ...«
»Dieser Dummkopf ist ...«
Sie sollte die Ohren spitzen und lauschen, was die Dienstboten reden. Es ist immer nützlich,wenn man etwas erfährt,was nicht für einen bestimmt ist.
Aber die Kopfschmerzen verschwinden nicht. Das Hämmern in ihren Schläfen macht sie ganz benommen. Die Stimmen, ihr eigenes Stöhnen und das Dröhnen ihres Pulsschlags hüllen sie ein wie dichter Nebel. Ihre Handflächen sind schweißnass.
Es ist nicht das erste Mal, dass solche Kopfschmerzen sie quälen. Und auch die grellen Blitze sind ihr nicht neu. Das alles kommt nicht überraschend; sie ist überanstrengt, sie arbeitet zu viel. Aber was soll sie machen? Was sie heute geschafft hat, löst sich morgen schon wieder in Nichts auf. Der Druck, der auf ihr lastet, wird immer schwerer, kein Wunder, dass es ihr schlechtgeht.
Der Feldzug in Polen ist beendet, aber der Teilungsvertrag noch nicht fertig ausgehandelt. Die Preußen wollen Warschau behalten und sind nicht bereit, im Gegenzug irgendetwas von Wert abzutreten. Wie immer sind sie der Meinung, dass die Russen für sie die Kastanien aus dem Feuer holen sollen.
Nationen sind wie Kaufleute. Sie gehen Bündnisse ein und brechen sie nach den Regeln kaufmännischer Vernunft - es ist immer nur eine Frage der Kosten auf der einen und des Gewinns auf der anderen Seite. Ein Land, das nicht nach Expansion strebt, wird zur Beute fremder Mächte. Es gibt keinen Stillstand. Reiche müssen wachsen oder untergehen.
Darum treibt sie Raubbau mit ihrer Gesundheit. Im Dienst ihres Landes. Arbeiten andere Herrscher auch so hart wie sie? Immerzu, ohne Pause?
Sie braucht Ruhe.
Die Erde birgt viele Geheimnisse.
Ein guter Gedanke. Nützlich und angenehm.
In Sibirien haben Bauern Elfenbein und riesige Knochen ausgegraben. »Eine Laune der Natur, Majestät«, sagen die Wissenschaftler. Aber Knochen und Elfenbein wachsen doch nicht so einfach aus dem Nichts in der Erde. Es muss früher einmal Elefanten in dieser Gegend gegeben haben, wo heute nichts als Eis und Schnee ist. Daran sieht man, dass auf der Welt die merkwürdigsten Verwandlungen möglich sind, wenn man nur Geduld hat.
Ein guter Gedanke, sagt sie sich. Schreib ihn nachher gleich auf und verwende ihn im Gespräch mit Alexandrine.
Die Geräusche draußen werden lauter und wieder leiser. Füße trampeln. Scheppernd fällt etwas hinunter. Die Krallen des Hundes kratzen auf dem Parkett. Die Stimmen klingen, als tönten sie aus einem Brunnenschacht.
Die Hofdamen plaudern. Man hört die Rivalität zwischen ihnen. Anjetschka vertritt sehr bestimmt ihren Standpunkt. Wischka widerspricht mit gemessenen Worten, aber hartnäckig. Es kommt nicht darauf an, worüber sie streiten. Den Preis von Seidenstoffen, Salz, Wein von der Krim. Ob die Newa bald zufrieren wird. Voraussagen, sogar die von ausgewiesenen Fachleuten, sind nie sehr verlässlich. Der Brustton der Überzeugung beweist nicht viel. Es geht darum, Überlegenheit zu demonstrieren.
9.11 Uhr Der Sitz ist weich gepolstert. Wenn sie sich bewegt, knarzt das Leder leise. Vor und zurück. Ganz langsam und sanft. Das Schaukeln hat etwas Beruhigendes. So muss sich ein Säugling in der Wiege fühlen. In ihrem Bauch ein Pochen. Sie spürt, wie das Blut sich staut. Als ob ihre Regel wieder einsetzte. Das kann nicht sein.
Die Lichtblitze haben aufgehört. Jetzt schwimmen langgezogene Formen träge durch ihr Sichtfeld. Sie schimmern in dem bleichen Licht der Morgensonne, die zu dem Fensterchen hoch oben in der Wand hereinscheint. Manche sind wie Nebel, andere ganz durchsichtig. Wenn sie versucht, sie genauer zu betrachten, sinken sie zu Boden.
Ihr ganzer Körper ist voller unerklärlicher Wunder.
Alles bewegt sich im selben Takt, geeint durch einen gemeinsamen Zweck. Das Herz, das Blut pumpt. Der Speichel, der die Speiseröhre seidig glatt macht. In ihrem Mund fühlt sie etwas Weiches wie Seide oder Watte. Oder wie ein Wollknäuel, mit dem die Katzen so gern spielen. Sie hört ihren Atem kommen und gehen. Ihr Körper ist ein Universum für sich, lauter geregelte Muster, die dennoch geheimnisvoll und undurchschaubar sind.
Denk nur an das, was wichtig ist.
Denk an den Trost, der in Büchern verborgen ist. Die Gewissheit einfacher Sätze, die unwiderleglich wahr sind: Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.
Denk an die Sterne, die nicht einfach nur zwinkernde Lichtpunkte sind, sondern Teile einer riesigen Welt dort draußen.
Diese Welt scheint kompliziert und vollkommen unverständlich zu sein, und doch wird sie von den Regeln der Vernunft regiert und folgt ihrer inneren Ordnung.
Denke daran, was deine Gouvernante dich gelehrt hat: So wirr und traurig die Geschehnisse des Tages auch gewesen sein mögen, der Große Wagen ist immer da. Und der Mond steht da in seiner vorausberechneten Gestalt, als Neumond, als Sichel, als Halbkreis oder als runde Scheibe. Der Himmel mag eine Zeitlang von Wolken verhangen sein, doch das ändert nichts an der ewigen Ordnung des Universums: Hinter diesem Schleier folgen der Mond und die Planeten ihren genau bestimmten Bahnen, die wir berechnen und vorhersagen können.
Kometen kehren wieder. Irgendwann zeigen sich die Gesetzmäßigkeiten, die ihrem Lauf zugrunde liegen.
Manchmal reicht ein Menschenleben nicht aus, sie zu erforschen. Manchmal zeigen sie sich erst nach vielen Generationen. Wir, die wir jetzt leben, können diese Gestirne nicht sehen, und doch sind sie da und warten nur darauf, entdeckt zu werden.
9.12 Uhr Der flinke Achilles wird in einem Wettrennen mit einer Schildkröte, die einen Vorsprung vor ihm hat, niemals gewinnen können, denn in der Zeit, die er braucht, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem die Schildkröte gestartet ist, wird sie eine gewisse Strecke zurücklegen und so immer einen Vorsprung, mag er auch noch so klein sein, behalten.
Ad infinitum.
Wieder ein kluger Gedanke. Sie will sich eine Weile damit beschäftigen. Alles ist eins. Bewegung ist eine Illusion.
Wenn jeder Moment in immer kleinere Zeitabschnitte unterteilt werden kann, dann ist sie wie Achilles. Sie ist geborgen in einer kleinen Zeitblase. Sie muss sich nur davor hüten, sich vorwärtszubewegen. Ist das Unsterblichkeit? Diese unzähligen kleinen Zeitabschnitte, die sie vom Ende trennen?
Sosehr sie sich auch anstrengt, sie findet nicht, was an dem Gedanken falsch ist. Es freut sie unsäglich, dass er so unangreifbar ist.
Dieser Moment ist alles, was ich habe, denkt sie. Und ich habe es immer verstanden, das zu nutzen, was ich habe.
*
»Du bist hässlich, Sophie«, sagt eine Stimme aus ferner Zeit. Der Bruder, der sie von ihren Platz im Herzen ihrer Mutter verdrängt hat, liegt im Bett. Sein dünner Körper zeichnet sich als flache Erhebung unter der mit Satin überzogenen Daunendecke ab.
Sie ist erst sieben. Ihre Hände und ihre Kopfhaut sind krätzig, und sie muss ein Korsett tragen, weil ihre Knochen krumm wachsen. »Sie ist bucklig«, hört sie die Erwachsenen manchmal mitleidig flüstern.
Der Sommer ist zu Ende, und die roten Flecken auf ihrer Haut kommen wieder. Wenn sie verschorfen und abblättern, sind ihre Wangen, ihre Arme, ihre Kopfhaut rau und schuppig. Keine Salbe, kein Öl hilft dagegen. Sie muss es aushalten bis zum nächsten Sommer. Dann wird sie, von einem Paravent vor neugierigen Blicken geschützt, nackt auf einer Decke in der Sonne liegen, bis nach ein paar Tagen die roten Flecken verblassen und verschwinden und ihre Haut wieder schön glatt wird.
»Du bist hässlich, Sophie.« Die Augen ihres Bruders funkeln boshaft. Wilhelm glaubt, er habe sie endgültig besiegt. Ihr kränklicher Bruder, um den Maman ständig so ängstlich besorgt ist, den sie verzärtelt und dem sie keinen Wunsch abschlägt.
»Und du wirst sterben«, antwortet Sophie. In ihrer Stimme ist kein Zögern, kein Zweifel zu hören. »So wie Augusta«, fügt sie hinzu, bevor er sich die Ohren zuhalten kann. Ihre kleine Schwester ist nur zehn Tage am Leben geblieben, und die Erde über ihrem kleinen Sarg hat sich noch nicht gesetzt.
»Maman!«, schreit Wilhelm, »Sophie macht mir schon wieder Angst!«
Dieser Schwächling.
Auf der Treppe sind Mamans Schritte zu hören.
Sophie fürchtet sich nicht vor ihrem Zorn. Sie lässt sich nicht einschüchtern. »Du wirst sterben, Wilhelm«, sagt sie noch einmal, jetzt ohne Ton, aber so, dass er es von ihren Lippen lesen kann. Sie wiederholt es immer wieder, bis Mamans Hand zuschlägt, so hart, dass ihre Lippe aufplatzt. Das Blut schmeckt salzig und süß.
Ich bin zusammen mit Maman nach Russland gekommen. Damals nannte man mich Sophie.
Sie erinnert sich an die Reise: Unendlich weite schneebedeckte Felder, auf denen wenige Monate später, so versicherte man ihr, üppig Weizen, Hafer und Gerste sprießen würden. Dichte, dunkle Wälder, in denen Füchse und Nerze leben, die wunderbar weiche Pelze liefern. Städte und Dörfer, bunt angemalte Kirchen mit Zwiebelkuppeln, Glockengeläute. Bauernhäuschen mit geschnitzten Fensterstöcken und -läden. Die Nächte, die so früh hereinbrachen, zu einer Zeit, da es in Zerbst noch hell war.
Ihre Füße sind ganz geschwollen nach all den Stunden, die sie in der Kutsche sitzen musste, und tun ihr weh, wenn sie am Abend aussteigt. Es ist nicht so schlimm, dass sie nicht gehen könnte, gleichwohl befiehlt Maman, dass man Sophie in die Herberge trägt, in der sie übernachten. Damit der katzbuckelnde Posthalter auch weiß, welch hohe Ehre seiner verräucherten Absteige zuteil wird, macht sie ihm gleich unmissverständlich klar, dass er es mit illustren Herrschaften zu tun hat: Die Fürstin von Zerbst mit Begleitung, persönlich eingeladen von Ihrer Majestät Elisabeth Petrowna. Die, wenn nicht ein jäher Tod es verhindert hätte, ihre Schwägerin geworden wäre.
Mamans Vorstellung wird jedes Mal von der deutschen Zofe mit heftigem und von den russischen Dienstboten mit höflichem Nicken begleitet. Die Wirkung auf die Leute bei den verschiedenen Poststationen ist schwer zu ermessen. Sie reden zu schnell, und das bisschen Russisch, das Sophie bis jetzt gelernt hat, nutzt ihr nichts.
Sie muss ganz neu anfangen.
Da heißt ja. Njet heißt nein. Moschet byt heißt vielleicht.
»Ist Sophie nicht bezaubernd, Peter?«, fragt Elisabeth. Ihre Wangen haben die Farbe von reifen Aprikosen vor freudiger Erregung. Oder ist es vielleicht doch nur eine Schicht Rouge?
Peter, ihr Vetter zweiten Grades und Kronprinz von Russland, hebt den Kopf. Seine leicht hervortretenden Augen huschen nervös zwischen ihr und seiner Tante hin und her.
Hier in Moskau wirkt Peter noch dünner als bei ihrer ersten Begegnung in Eutin. Geradezu ausgehungert, würde sie denken, wenn er nicht Thronerbe wäre.
Die Kälte der langen Winterreise steckt ihr noch in den Knochen. Die Nächte in eisigen Poststationen, wo Finger und Zehen taub wurden. Ihr Atem weißer Nebel. Weite Strecken über endlose weiße Felder, durch dichte Wälder, die in pulvrigen Schnee gehüllt waren. Immer die Angst, dass irgendein Unglück oder Unfall passieren und die Kutsche nicht mehr weiterfahren könnte, dass sie dem erbarmungslosen Winter ausgeliefert wäre und erfrieren müsste.
Was sieht Peter, wenn er sie anschaut? Ihren glatten weißen Teint? Ihre gesunden Zähne? Die knospenden Brüste in dem starren Korsett? Die nussbraunen Augen mit den blauen Pünktchen? Wo ist er mit seinen Gedanken? In Eutin, wo sie ihm versicherte, dass er ohne Zweifel sehr klug sei? Wo er ihr ins Ohr flüsterte: »Wenn sie mich zum König von Schweden machen, brenne ich mit den Zigeunern durch, und sie werden mich nie finden.«
»Gefällt dir Prinzessin Sophie, Peter?«
Um sie herum in dem ausgedehnten Palast in Moskau mit seinen knarzenden Holzböden und leeren Vorzimmern verstummt das Geflüster, die Höflinge halten den Atem an. Sie, nur eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst, mustert den dünnen Hals ihres Cousins und sieht, wie seine Augenbrauen zucken.
Ein langer Moment vergeht, dann nickt Peter.
Es ist ein recht unscheinbares Zeichen, und doch eröffnet es eine ganze Welt von Möglichkeiten. Es bedeutet, dass Sophie vielleicht nicht nach Zerbst zurückkehren muss, dass sie, statt immer nur ihre Gedanken hinter einem verbindlichen Lächeln zu verstecken, kühn voranschreiten wird. Es eröffnet atemberaubende Aussichten, es bedeutet Frühling, der den Schnee schmelzen lässt.
Sie begehrt diese Welt so sehr, dass ihre Hand sich um den Stoff ihres Rocks krampft. Sie denkt an ein nervös tänzelndes Pferd vor dem Start eines Rennens. Es schlägt mit dem Schweif, die angespannten Muskeln unter der Haut zittern vor Erwartung; gleich wird es lospreschen - wehe dem, der ihm im Weg steht.
Die Höflinge recken die Hälse. Maman hinter ihr entschlüpft ein gepresstes Aufatmen.
Schlag die Augen nieder, Sophie! Nimm dich in Acht! Der kleinste Fehler kann alles verderben.
Die Kaiserin springt auf. Der glitzernde Stoff ihres Kleids ist sicher schwer und steif, aber sie bewegt sich wie eine Ballerina, den Kopf hoch erhoben, den Rücken ganz gerade, die Schritte leicht und graziös. Sie trägt scharlachrote Seide, auf die mit Gold kleine Blüten gestickt sind. Ihr Umhang ist mit Hermelin gefüttert. Um ihren Hals ist eine dreifache Kette aus schwarzen Perlen geschlungen. »Protzig ... ordinär ... furchtbar russisch « nennt Maman ihren Stil.
»Meine geliebten Mondkinder«, sagt die Kaiserin gerührt. Ihre fülligen und doch starken Arme umschlingen die beiden und drücken sie fest an einen wogenden Busen. »Meine Sophie, du wirst mich nicht enttäuschen.«
Sophie spürt etwas Hartes an ihrer Stirn, das einen Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen wird. Sie atmet die kaiserlichen Düfte ein: Moschus, Rosenwasser, Bittermandelöl und den scharfen Brunstgeruch von Schweiß.
»Schmink dir dieses dumme Grinsen ab, Sophie. Du bist noch nicht seine Frau.« Mamans Lippen verziehen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie befeuchtet eine Fingerspitze und streicht damit die Braue ihrer Tochter glatt. Oder eine Haarsträhne unter die neue Samthaube.
»Hör auf mich, Kind!«
Sie ist brav und folgsam. Sie hört auf Maman. Sie vermeidet es, Leute anzustarren, besonders die Kaiserin, die vor dem gesamten Hof verkündet, diese kleine Prinzessin aus Zerbst werde Peter zu einem echten Mann machen.
Sie achtet darauf, immer einen Schritt hinter Maman zu gehen und nie als Erste zu sprechen. Wenn eine Frage an sie gerichtet wird, antwortet sie kurz. »Es gefällt mir sehr gut in Russland ... Nein, ich habe vorher noch nie so viel Schnee gesehen ... Ja, die Kaiserin ist überaus freundlich und gütig ... Der Kronprinz sieht wirklich sehr gut aus.«
Ihre Stimme ist sanft. Sie hält den Blick gesenkt auf Rocksäume und Schuhe. Aber ein kaiserliches Versprechen, so flüchtig und unscheinbar es auch sein mag, ist einzigartig, unwiederbringlich. Eine alte Weisheit.
Die Häuser hier in Moskau sind meistens aus Holz gebaut. Die Straßen winden sich labyrinthisch durch die Stadt und verzweigen sich in lauter Gassen und Gässchen. Die Schlitten müssen oft lange Umwege fahren, um ihr Ziel zu erreichen. Vor den Metzgerläden ist der Schnee schmutzig rot von frischem Blut. Von dem Gestank, der von einer Gerberei herweht, wird ihr schlecht.
In Sankt Petersburg, das sie nur kurz auf der Reise nach Moskau kennengelernt hat, gab es imposante Paläste aus Stein. Die Straßen waren breit und schnurgerade. Auf dem zugefrorenen Fluss stand ein riesiges Gerüst aus Balken, der »Eisberg«. Bunt angemalte Schlitten sausten dort auf einer steilen Eisbahn hinunter, schneller als galoppierende Pferde, schneller als der tobende Nordwind. »Nein, das ist nichts für dich«, sagte Maman. »Viel zu gefährlich.«
Aber sie durfte die Elefanten sehen. Die faltige graue Haut, die gelben Säbel ihrer gebogenen Stoßzähne. Ihre Ohren, an den Kopf angelegt wie riesige Segel.
An jenem trüben Nachmittag, im Licht von Fackeln und brennendem Teer in großen Tonnen balancierten die grauen Riesen schwankend auf den Hinterbeinen und winkten mit den Vorderbeinen. Sie spielten Ball, warfen Reifen in die Luft und fingen sie wieder auf.
Sie jauchzte und klatschte in die Hände, bis es wehtat. Fürst Naryschkin, der sie mitgenommen hatte, sagte ihr, ein Elefant könne einem wilden Bären alle Knochen brechen und die Gitterstäbe eines eisernen Käfigs auseinanderbiegen.
Hüte dich vor der wilden Bestie. Sie hat weit mehr Kraft, als sie glauben macht.
Aber sieh sie dir an.
Dann ertönte eine Fanfare. Die Elefanten stellten sich in einer Reihe auf, ihre Vorderbeine knickten ein, und sie senkten ihre riesigen Köpfe. Vor ihr, einer Prinzessin von Zerbst.
Daran denkt sie jeden Abend in Moskau, wenn sie im Bett liegt und ihr Gesicht an die weiche Pelzdecke schmiegt. Sie vergisst die Demütigungen des Tages. Die Geschenke, die sie aus Zerbst mitgebracht haben, beeindrucken nicht einmal die kaiserlichen Dienstboten. Die Freundlichkeit, die ihr zuteil wird, ist genau bemessen.
»Wir müssen den Kopf hoch tragen, Sophie«, sagt Maman. »Wir sind von weit älterem Adel.« Sie beruft sich wie immer auf ihren Stammbaum, den sie auswendig kennt. Verwandtschaftsbeziehungen sind starke Bande, die einem Halt geben. Tanten, Vettern, Brüder, Ehefrauen, Ehemänner. Herzog von Braunschweig. Fürstbischof von Lübeck. Gutes Blut hat viele Nebenflüsse.
Maman erzählt von großartigen Bällen und Militärparaden in Zerbst. Sie verleiht einer wackeligen Zugbrücke den Glanz einer Prachtstraße. Die Statue eines Milchmädchens wird zu einer Sehenswürdigkeit, deren Ruhm bis nach Berlin dringt.
Maman hört nicht, wie die Leute über ihre Prahlereien lachen. Sie bemerkt nicht das Getuschel, das plötzlich abbricht, wenn sie sich nähert. Die Blicke, die Sophie sagen,wie unsicher ihre Zukunft ist.
Und Peter?
Jeden Morgen schaut er bei Sophie vorbei und verkündet das Tagesprogramm. Die Welt außerhalb des Palasts kommt darin niemals vor.
»Sieh dir meine Entwürfe für die Uniformen an, die meine Soldaten tragen sollen, Sophie«, sagt er.
Oder: »Hast du wirklich mit König Friedrich gesprochen? Wie sieht er aus? Was hat er gesagt?«
Seine blauen Augen leuchten auf, wenn er von Berlin oder Holstein redet, und sie werden prompt trübe, sobald sie das Gespräch auf Russland lenkt. Wenn sie dennoch darauf beharrt, was manchmal vorkommt, fährt er sie an oder gerät gar in Zorn. Was interessiert es Sophie von Anhalt-Zerbst, was ein russischer Kanzler macht? Oder welche von den Hofdamen in den inneren Gemächern der Kaiserin schläft?
»Aber du wirst eines Tages Zarsein, Peter. Willst du es wirklich nicht wissen?«
»Ich werde noch lange nicht Zar werden«, sagt er. Man könnte meinen, das ist eine kluge Antwort, aber das stimmt nicht. Was ihn so reden lässt, ist nicht die Hoffnung, seine Tante möge lange regieren, sondern nur der Wunsch, sich vor seiner Bestimmung zu drücken.
Die Vergangenheit, die sich nicht mehr ändern lässt, ist weit weg. Die Zukunft, die man sehr wohl ändern kann, ist vage und ungewiss. Noch muss sie beide in einen entlegenen Winkel ihres Herzens verbannen.
Die Gegenwart ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt.
S wolkami schit, po woltschi wyt. Wenn du mit Wölfen leben willst, heule mit den Wölfen.
Russisch geht einer Vierzehnjährigen nicht leicht von den Lippen, die das Deutsche gewohnt sind. »Noch einmal, Hoheit, nur weicher. Die Russen mögen keine Ausländer.«
Monsieur Abadurows Stimme dröhnt wie eine Kirchenglocke. Er ist ihr Lehrer, und er bringt ihr bei, dass die russischen Substantive je nach Position im Satz verschiedene Endungen haben: »Bolschoi chleb«, sagt er, »aber chleba net.«
Die russischen Namen können alle möglichen Formen annehmen. Aus Alexander wird Sascha. Aber Sascha kann auch eine Form von Alexandrine sein und somit ein weiblicher Vorname. Sascha kann zu Saschenka werden so wie Grigori zu Grischa oder zu Grischenka oder zu Grischenok.
Verwirrend. Aber man kann es auswendig lernen. Mit den russischen Märchen ist es nicht so leicht. Da ist der Narr einer, der vielleicht ein bisschen langsam und schmutzig ist, aber er versteht die Sprache der Vögel und wilden Tiere, darf am Ende die Tochter des Zaren heiraten und wird der weiseste aller Herrscher. Wer soll daraus schlau werden?
S kem powedjoschsja ot togo i neberjoschsja. Mit wem man umgeht, dessen Sitten nimmt man an.
Aus der Nähe betrachtet, ähnelt Elisabeths Haut einem frischen Gemälde. Dicke Schichten Puder kaschieren die roten Äderchen auf der Nase, die Kratzer und Falten an ihrem Hals. Unter den Achseln breiten sich dunkle Flecken aus, aber ihr Parfüm überdeckt den Schweißgeruch. Die Schönheit ist aufgemalt, Creme und Farbe verbergen die Geheimnisse ihrer Nächte. Auf den Korridoren des Palasts verschlingen gut gebaute junge Männer die Kaiserin mit den Augen, wenn sie vorbeigeht. Wenn sie ihren Fächer, eine Feder, ein Haarband fallen lässt, balgen sie sich darum wie wilde Hunde.
»Enttäusche mich nicht, Sophie, dann wird dich die Jungfrau von Kasan schützen.«
Nur in der von Weihrauchdunst geschwängerten Stille der schummrigen Kapelle lässt Elisabeth Gedanken an Tod und Ewigkeit zu, und die irdischen Freuden treten in den Hintergrund. Vor den Heiligen, die von den Ikonen milde auf sie hinabblicken, fleht sie um Gnade und Erbarmen und bereinigt ihre Rechnung mit Gott.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2013
Sie steht auf. Mit der linken Hand hält sie sich an der Schreibtischkante fest, so ungeschickt, dass sie ein paar Blätter fortwischt. Sonderbar, denkt sie und beobachtet die Papiere, die, von unsichtbaren Strömungen getragen, lautlos in der Luft schweben wie kleine Vögel. Auch Pani beobachtet sie, den Kopf leicht schief gelegt. Ihr wedelnder Schwanz klopft auf den Boden.
In der Tasse auf dem Schreibtisch ist noch etwas Kaffee. Er ist sicher längst kalt, aber es wird ihr guttun, etwas zu trinken. Ihre rechte Hand ist starr und bleischwer, darum nimmt sie die Tasse mit der linken. Der erste kleine Schluck von dem bitteren Gebräu schmeckt angenehm, aber dann nippt sie noch einmal, und plötzlich ist ihr, als müsste sie ersticken.
Sie spuckt den Kaffee aus, auf das glänzend polierte Holz, auf die Papiere. Statt die braunen Spritzer wegzuwischen, tastet sie mit der Zunge in ihrer Mundhöhle herum, fährt über die weichen Rippen ihres Gaumens. Wie Kalbshirn, denkt sie, Mamans Lieblingsgericht. Sie selbst hatte es immer verabscheut.
Sie will die Tasse wieder abstellen, aber ihre Hand gehorcht ihr nicht. Die Tasse fällt auf den Boden und zerspringt in Scherben.
Vielleicht sollte sie ein paar Schritte gehen, damit ihr wieder besser wird?
Auf wackeligen Beinen setzt sie sich in Bewegung. Unsicher tastet sie nach Halt. An der Schreibtischplatte, an der Lehne des Stuhls.
Hinter ihr ein polterndes Geräusch. Etwas Schweres ist hinuntergefallen. Das rechte Knie tut weh wie immer, seit sie vor drei Jahren auf dem Weg zur banja die Treppe hinuntergefallen ist. Sotow hörte das Geräusch und eilte herbei. Er sorgte dafür, dass sie sich auf eine Stufe setzte und wartete, bis der Schwindel abgeklungen war, dann half er ihr auf, ganz langsam, damit das Blut ihr nicht in den Kopf stieg. Von ein paar Schrammen abgesehen, hatte sie keine Verletzungen davongetragen, so dachte sie, und doch lässt ihr Knie sie jenen Sturz nie vergessen.
9.01 Uhr Jeder Schritt, so unsicher er auch ist, erscheint ihr wie ein Wunder. Die Muskeln ziehen sich zusammen und entspannen sich. Die Füße schlurfen vorwärts, zuerst der eine, dann der andere. Wie bei der Aufziehpuppe, mit der ihre Enkelinnen so gern gespielt haben. Bis Konstantin sie aufschlitzte, um zu sehen, was in ihrem Inneren verborgen war. Sie geht aus ihrem Arbeitszimmer, vorbei an dem in Silber gerahmten Spiegel, neben dem ihre mit Pelz gefütterten Mäntel hängen, und zur Tür ihres Klosetts.
Das Abbild ihrer Gestalt im Spiegel wirkt wie auf einer bewegten Wasserfläche, ein Wirrwarr aus verzerrten Teilen, die nicht zueinanderpassen. Ihrem Gesicht ergeht es nicht besser - nichts als schlaffes Fleisch und Runzeln; der Hals erinnert an den eines Truthahns. Über der Nasenwurzel steht weiß eine Hautfalte, die tränenden Augen sind blutunterlaufen, die Lider zwinkern nervös. Schön war ich nie, denkt sie. Aber was hatte Helena von Troja von ihrer Schönheit? Männer, die sie sich nicht ausgesucht hatte, und all die Gräuel des Kriegs.
In dem Klosett riecht es leicht nach nassem Tierfell und modrigen Wurzeln. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch zu. Das sonderbar schrille Quietschen der Angeln klingt nach wie der Ton einer Stimmgabel, schwirrt immerzu um ihren Kopf herum, als wäre die Zeit in einer Endlosschleife gefangen.
Ihre Finger, die sich ängstlich festklammern, erinnern an die Krallen eines antiken Vogels, der solche Kraftakte nicht gewohnt ist. Aber sie halten fest, helfen ihr, die Balance nicht zu verlieren. Es ist bewundernswert, dieses harmonische Zusammenwirken von Muskeln und Knochen, Sehnen und Blut.
Langsam hebt sie die Hand vor ihre Nase und schnuppert den süßen, leicht widerlichen Geruch der Tinte an ihren Fingerspitzen. Etwas aus der Vergangenheit schwimmt vorbei - unzusammenhängende Bilder von einer wilden Jagd, schäumende Brecher, die an den Strand schlagen und über dem gelbbraunen Sand auslaufen. Möwen kreischen eifersüchtig oder voller Gier. In einem zerrissenen Fischernetz voller Seetang liegt ein Pferdekopf im seichten Wasser und bleckt die Zähne. Aale schlüpfen aus den Augenhöhlen, schlängeln sich durchs offene Maul ins Freie.
Eine Erinnerung, denkt sie, kein Traum.
9.04 Uhr Der Schmerz pocht in ihren Schläfen, und sie rätselt über ihre eigenen Gedanken. Über Stimmen, die in ihr sprudeln. Über Sätze, die durch ihren Kopf hallen: Ich bin Minerva. Ich bin gerüstet. Etwas Seltsames geht hier vor.
Ein Gedanke ist nicht bloß ein Gedanke. Ein Wort ist nicht bloß ein Wort.
Sie denkt an einen Apfel, und da erscheint ein Apfel. Seine Schale fühlt sich leicht fettig an. Er ist prall und von der Sonne gerötet, nur um den Stiel herum grün. Seine Haut ist mit kleinen dunklen Punkten übersät.
Sie betrachtet ihn eine Weile, bevor sie ihn zum Mund hebt und hineinbeißt. Krachend bricht ein Stück ab, er zerbirst, und ihr Mund füllt sich mit Saft.
Sie empfindet eine urtümliche Lust dabei, die Lust, lebendiges Gewebe zu zermalmen, nährenden Lebensstoff in sich aufzunehmen.
Warum denke ich an einen Apfel?
Da ist kein Apfel. Ihre Hand ist leer. Das Wort »Apfel«, das sie im Sinn hat, meint Versuchung.
Ist es das, worüber sie nachdenken sollte?
Die Frage beschäftigt sie eine Weile, bis wieder ein stechender Schmerz durch ihre rechte Kopfhälfte fährt und ein gleißender Lichtblitz sie blendet.
9.05 Uhr Im Vorzimmer hört sie die Dienstboten reden. »Sind Sie sicher, dass Ihre Majestät noch nicht nach mir verlangt hat?«, fragt Gribowski. Die Stimme des Sekretärs klingt beunruhigt.
»Ganz sicher, Adrian Mosejewitsch.« »Aber es ist schon nach neun.« »Ihre Majestät wird ihre Gründe haben.«
Etwas passiert mit ihr, aber sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, was es sein könnte. Jede Bewegung erfordert ihre ganze Aufmerksamkeit, Entfernungen und Winkel müssen berechnet, Muskeln in Gang gesetzt und gesteuert werden. Sie überwacht jeden Atemzug.
Ihr Herz, ein meuternder Trommler, schlägt seinen eigenen Rhythmus. Oder ist es nur die Aufregung, die es aus dem Takt bringt? Will es sie vor irgendeiner Katastrophe oder Gefahr warnen? Feuer, Überschwemmung, eine aufgebrachte Menge, die mit Sensen und Knüppeln bewaffnet zum Palast marschiert?
Ihre Lippen sind trocken, rissig. Im Klosett steht ein blauer Porzellankrug, aber er ist zu schwer, sie kann ihn nicht hochheben. Sie steckt die Finger hinein und leckt die Tropfen ab, die daran hängen bleiben. Das Wasser ist abgestanden. Sie könnte nach dem Mädchen klingeln, das draußen bei den anderen Dienstboten wartet.
Warum gibt es hier keine Glocke?
Die Kopfschmerzen sind nicht mehr so schlimm wie vorher, aber es ist jetzt, als wäre ihre Schädeldecke mit einer Axt gespalten, als läge ihr Gehirn schutzlos und verletzlich offen zutage. Hat sich Jupiter so gefühlt, als er Minerva zur Welt brachte?
»Wie viel Uhr ist es?«
»Noch nicht spät, Adrian Mosejewitsch«, antwortet jemand. Eine Frau lacht. Eine Tür wird geöffnet und wieder geschlossen. Gedämpfte Schritte. Ein Hund bellt. Ein Fenster klappert, sie hört einen Knall, dann ein dumpfes Poltern.
»Du kennst ihn doch. Sein Vater hatte eine Buchhandlung an der Großen Perspektivstraße, nicht weit von der Fontanka. Aber dann ist der Laden überschwemmt worden.«
»Was kritzeln Sie da, Adrian Mosejewitsch? Trinken Sie eine Tasse Tee. Es ist kalt heute.« »Der Hund ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Glauben Sie, jemand hat ihn gestohlen?« »Dann hätte der Dieb ihn zurückgebracht und die Belohnung kassiert.« »Das arme Vieh ist sicher tot.«
Die Stimmen draußen schwellen an und ebben ab, Geflüster mündet in lang anhaltendes Seufzen. Leises Rumpeln ist zu hören. Es klingt wie das von hölzernen Karren auf abschüssiger Eisbahn, die immer mehr Fahrt aufnehmen, bis sie schließlich so schnell werden, dass nichts und niemand sie mehr aufhalten kann.
9.09 Uhr Sie schafft es, ihre Unterröcke zu raffen und sich auf dem Sitz niederzulassen. Wie eine große Glucke auf ihrem Nest. Das Polster seufzt leise unter ihrem Gewicht, das weiche Leder des Überzugs ist kalt und klebrig.
Die Stimmen im Vorzimmer werden leiser, immer wieder tritt einen friedvollen Moment lang Stille ein. Die Welt um die Kaiserin herum wird langsamer. Der Schmerz ist immer noch da, aber er fühlt sich an, als wäre er weiter weg, unscharf, zurückgedrängt, leichter zu ertragen. Die Zeit kriecht im Schneckentempo. Es gibt keinen Grund zur Eile.
Die Muskeln in ihrem Bauch werden schlaff, ein heißer Strom Urin ergießt sich. Eine Weile lang will sie nichts als einfach dasitzen und das tiefe Wohlgefühl von Entspannung und Erleichterung genießen. Sich gehen lassen. Einfach nur sein.
Aus der Stille, in die sie versunken ist, kommt wieder eine Erinnerung. Ein Äffchen namens Plaisir, ein Geschenk des französischen Gesandten. Als sie ihn bekam, war er noch ganz jung, fast ein Baby. Er trug ein Samtjäckchen, Kniebundhosen und einen Federhut. Plaisirs winzige Pfoten umklammerten ihren Finger, wenn sie ihn auf den Arm nahm, und er vergrub sein rosa Gesicht in den Falten ihres Kleids. Er hatte große, flehende Augen.
Cebus capucinus. Ein Weißschulterkapuziner.
Die zwei Diener, die auf ihn aufpassen sollten, hatten Narben an Händen und Unterarmen von seinen Krallen und Zähnen. Er war kaum zu bändigen. Sobald er es schaffte, seinen Wärtern zu entkommen, lief er ins Arbeitszimmer der Kaiserin. Er zog alle Schubladen heraus, zerfetzte Papiere, warf das Tintenfass um, zerkaute Schreibfedern, pinkelte auf ihren Stuhl. Er steckte seinen Finger in seinen Hintern und schmierte Kot an die Tapeten. Wenn sie ihn anschrie, hielt er sich die Ohren zu und machte ein so grenzenlos unglückliches Gesicht, dass sie lachen musste.
Plaisirs letzter Streich war, dass er einen Tiegel mit Gesichtscreme zerschmiss und den Inhalt aufaß. Ein paar Stunden später verkroch er sich unter einen Sessel im kaiserlichen Schlafzimmer und ließ sich nicht mehr hervorlocken. »Lasst ihn in Ruhe«, sagte die Kaiserin zu den Zofen. »Wenn er Hunger hat, kommt er schon wieder heraus.« Aber Plaisir kam nicht. Er rollte sich zusammen und starb.
9.10 Uhr Um aufzustehen, muss man viele Muskeln und Gelenke steuern. Und sie ist jetzt schon so weit, dass jeder einzelne Herzschlag ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert. Platons heisere Stimme, die durch ihre Gedanken hallt, stört ihre Konzentration. »Warum kränkst du mich, Katinka? Du bist alles, was ich habe. Ohne dich bin ich Staub.«
Die Stimme ihres Geliebten klingt eindringlich, ja flehend. Im Geist sieht sie ihn neben sich stehen in seiner ganzen überwältigenden dunklen Schönheit, die klare Linie seines Profils, Nase, Kinn, Lippen. Wenn sie zeichnen könnte, würde sie ihn mit schwarzer Tusche zeichnen. Und dann die Linien verwischen, damit er weicher wirkt.
Habe ich dich gekränkt? Wie? Und wann?
Das ist ein Rätsel, das sie lösen könnte, wenn sie nur lange genug darüber nachdächte. Mit chiffrierten Botschaften kennt sie sich aus. Zahlen, die in Buchstaben verwandelt werden müssen. Wörter, die für andere Wörter stehen. Um so ein Rätsel zu lösen, muss man Muster suchen, wiederkehrende Sequenzen.
Aber warum fängt Platon zu pfeifen an und dann zu singen?
Russland reicht weiter und höher,
Über Gipfel und Meere.
Wie kann sie ein Rätsel lösen, das dauernd seine Gestalt verändert, das aufleuchtet wie ein Glühwürmchen und im nächsten Moment im Dunkeln verschwindet? Wie soll sie es lösen, wenn das Einzige, dessen sie sicher sein kann, der brennende Schmerz in seiner Stimme ist?
9.11 Uhr »... hat schon wieder die ganze Nacht geweint ... armes Kind ... Es ist nicht das Ende der Welt, das sagt Majestät ihr immer wieder, aber die jungen Leute wollen nicht hören ...« Die Stimmen im Vorzimmer brechen seitlich aus wie scheuende Pferde. Manchmal dringen ganze Sätze durch die Wand, manchmal nur einzelne Worte.
»Man leidet eben mehr, wenn man jung ist.«
»Es ist eine Schande.«
»Wie konnte er nur ...«
»Dieser Dummkopf ist ...«
Sie sollte die Ohren spitzen und lauschen, was die Dienstboten reden. Es ist immer nützlich,wenn man etwas erfährt,was nicht für einen bestimmt ist.
Aber die Kopfschmerzen verschwinden nicht. Das Hämmern in ihren Schläfen macht sie ganz benommen. Die Stimmen, ihr eigenes Stöhnen und das Dröhnen ihres Pulsschlags hüllen sie ein wie dichter Nebel. Ihre Handflächen sind schweißnass.
Es ist nicht das erste Mal, dass solche Kopfschmerzen sie quälen. Und auch die grellen Blitze sind ihr nicht neu. Das alles kommt nicht überraschend; sie ist überanstrengt, sie arbeitet zu viel. Aber was soll sie machen? Was sie heute geschafft hat, löst sich morgen schon wieder in Nichts auf. Der Druck, der auf ihr lastet, wird immer schwerer, kein Wunder, dass es ihr schlechtgeht.
Der Feldzug in Polen ist beendet, aber der Teilungsvertrag noch nicht fertig ausgehandelt. Die Preußen wollen Warschau behalten und sind nicht bereit, im Gegenzug irgendetwas von Wert abzutreten. Wie immer sind sie der Meinung, dass die Russen für sie die Kastanien aus dem Feuer holen sollen.
Nationen sind wie Kaufleute. Sie gehen Bündnisse ein und brechen sie nach den Regeln kaufmännischer Vernunft - es ist immer nur eine Frage der Kosten auf der einen und des Gewinns auf der anderen Seite. Ein Land, das nicht nach Expansion strebt, wird zur Beute fremder Mächte. Es gibt keinen Stillstand. Reiche müssen wachsen oder untergehen.
Darum treibt sie Raubbau mit ihrer Gesundheit. Im Dienst ihres Landes. Arbeiten andere Herrscher auch so hart wie sie? Immerzu, ohne Pause?
Sie braucht Ruhe.
Die Erde birgt viele Geheimnisse.
Ein guter Gedanke. Nützlich und angenehm.
In Sibirien haben Bauern Elfenbein und riesige Knochen ausgegraben. »Eine Laune der Natur, Majestät«, sagen die Wissenschaftler. Aber Knochen und Elfenbein wachsen doch nicht so einfach aus dem Nichts in der Erde. Es muss früher einmal Elefanten in dieser Gegend gegeben haben, wo heute nichts als Eis und Schnee ist. Daran sieht man, dass auf der Welt die merkwürdigsten Verwandlungen möglich sind, wenn man nur Geduld hat.
Ein guter Gedanke, sagt sie sich. Schreib ihn nachher gleich auf und verwende ihn im Gespräch mit Alexandrine.
Die Geräusche draußen werden lauter und wieder leiser. Füße trampeln. Scheppernd fällt etwas hinunter. Die Krallen des Hundes kratzen auf dem Parkett. Die Stimmen klingen, als tönten sie aus einem Brunnenschacht.
Die Hofdamen plaudern. Man hört die Rivalität zwischen ihnen. Anjetschka vertritt sehr bestimmt ihren Standpunkt. Wischka widerspricht mit gemessenen Worten, aber hartnäckig. Es kommt nicht darauf an, worüber sie streiten. Den Preis von Seidenstoffen, Salz, Wein von der Krim. Ob die Newa bald zufrieren wird. Voraussagen, sogar die von ausgewiesenen Fachleuten, sind nie sehr verlässlich. Der Brustton der Überzeugung beweist nicht viel. Es geht darum, Überlegenheit zu demonstrieren.
9.11 Uhr Der Sitz ist weich gepolstert. Wenn sie sich bewegt, knarzt das Leder leise. Vor und zurück. Ganz langsam und sanft. Das Schaukeln hat etwas Beruhigendes. So muss sich ein Säugling in der Wiege fühlen. In ihrem Bauch ein Pochen. Sie spürt, wie das Blut sich staut. Als ob ihre Regel wieder einsetzte. Das kann nicht sein.
Die Lichtblitze haben aufgehört. Jetzt schwimmen langgezogene Formen träge durch ihr Sichtfeld. Sie schimmern in dem bleichen Licht der Morgensonne, die zu dem Fensterchen hoch oben in der Wand hereinscheint. Manche sind wie Nebel, andere ganz durchsichtig. Wenn sie versucht, sie genauer zu betrachten, sinken sie zu Boden.
Ihr ganzer Körper ist voller unerklärlicher Wunder.
Alles bewegt sich im selben Takt, geeint durch einen gemeinsamen Zweck. Das Herz, das Blut pumpt. Der Speichel, der die Speiseröhre seidig glatt macht. In ihrem Mund fühlt sie etwas Weiches wie Seide oder Watte. Oder wie ein Wollknäuel, mit dem die Katzen so gern spielen. Sie hört ihren Atem kommen und gehen. Ihr Körper ist ein Universum für sich, lauter geregelte Muster, die dennoch geheimnisvoll und undurchschaubar sind.
Denk nur an das, was wichtig ist.
Denk an den Trost, der in Büchern verborgen ist. Die Gewissheit einfacher Sätze, die unwiderleglich wahr sind: Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.
Denk an die Sterne, die nicht einfach nur zwinkernde Lichtpunkte sind, sondern Teile einer riesigen Welt dort draußen.
Diese Welt scheint kompliziert und vollkommen unverständlich zu sein, und doch wird sie von den Regeln der Vernunft regiert und folgt ihrer inneren Ordnung.
Denke daran, was deine Gouvernante dich gelehrt hat: So wirr und traurig die Geschehnisse des Tages auch gewesen sein mögen, der Große Wagen ist immer da. Und der Mond steht da in seiner vorausberechneten Gestalt, als Neumond, als Sichel, als Halbkreis oder als runde Scheibe. Der Himmel mag eine Zeitlang von Wolken verhangen sein, doch das ändert nichts an der ewigen Ordnung des Universums: Hinter diesem Schleier folgen der Mond und die Planeten ihren genau bestimmten Bahnen, die wir berechnen und vorhersagen können.
Kometen kehren wieder. Irgendwann zeigen sich die Gesetzmäßigkeiten, die ihrem Lauf zugrunde liegen.
Manchmal reicht ein Menschenleben nicht aus, sie zu erforschen. Manchmal zeigen sie sich erst nach vielen Generationen. Wir, die wir jetzt leben, können diese Gestirne nicht sehen, und doch sind sie da und warten nur darauf, entdeckt zu werden.
9.12 Uhr Der flinke Achilles wird in einem Wettrennen mit einer Schildkröte, die einen Vorsprung vor ihm hat, niemals gewinnen können, denn in der Zeit, die er braucht, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem die Schildkröte gestartet ist, wird sie eine gewisse Strecke zurücklegen und so immer einen Vorsprung, mag er auch noch so klein sein, behalten.
Ad infinitum.
Wieder ein kluger Gedanke. Sie will sich eine Weile damit beschäftigen. Alles ist eins. Bewegung ist eine Illusion.
Wenn jeder Moment in immer kleinere Zeitabschnitte unterteilt werden kann, dann ist sie wie Achilles. Sie ist geborgen in einer kleinen Zeitblase. Sie muss sich nur davor hüten, sich vorwärtszubewegen. Ist das Unsterblichkeit? Diese unzähligen kleinen Zeitabschnitte, die sie vom Ende trennen?
Sosehr sie sich auch anstrengt, sie findet nicht, was an dem Gedanken falsch ist. Es freut sie unsäglich, dass er so unangreifbar ist.
Dieser Moment ist alles, was ich habe, denkt sie. Und ich habe es immer verstanden, das zu nutzen, was ich habe.
*
»Du bist hässlich, Sophie«, sagt eine Stimme aus ferner Zeit. Der Bruder, der sie von ihren Platz im Herzen ihrer Mutter verdrängt hat, liegt im Bett. Sein dünner Körper zeichnet sich als flache Erhebung unter der mit Satin überzogenen Daunendecke ab.
Sie ist erst sieben. Ihre Hände und ihre Kopfhaut sind krätzig, und sie muss ein Korsett tragen, weil ihre Knochen krumm wachsen. »Sie ist bucklig«, hört sie die Erwachsenen manchmal mitleidig flüstern.
Der Sommer ist zu Ende, und die roten Flecken auf ihrer Haut kommen wieder. Wenn sie verschorfen und abblättern, sind ihre Wangen, ihre Arme, ihre Kopfhaut rau und schuppig. Keine Salbe, kein Öl hilft dagegen. Sie muss es aushalten bis zum nächsten Sommer. Dann wird sie, von einem Paravent vor neugierigen Blicken geschützt, nackt auf einer Decke in der Sonne liegen, bis nach ein paar Tagen die roten Flecken verblassen und verschwinden und ihre Haut wieder schön glatt wird.
»Du bist hässlich, Sophie.« Die Augen ihres Bruders funkeln boshaft. Wilhelm glaubt, er habe sie endgültig besiegt. Ihr kränklicher Bruder, um den Maman ständig so ängstlich besorgt ist, den sie verzärtelt und dem sie keinen Wunsch abschlägt.
»Und du wirst sterben«, antwortet Sophie. In ihrer Stimme ist kein Zögern, kein Zweifel zu hören. »So wie Augusta«, fügt sie hinzu, bevor er sich die Ohren zuhalten kann. Ihre kleine Schwester ist nur zehn Tage am Leben geblieben, und die Erde über ihrem kleinen Sarg hat sich noch nicht gesetzt.
»Maman!«, schreit Wilhelm, »Sophie macht mir schon wieder Angst!«
Dieser Schwächling.
Auf der Treppe sind Mamans Schritte zu hören.
Sophie fürchtet sich nicht vor ihrem Zorn. Sie lässt sich nicht einschüchtern. »Du wirst sterben, Wilhelm«, sagt sie noch einmal, jetzt ohne Ton, aber so, dass er es von ihren Lippen lesen kann. Sie wiederholt es immer wieder, bis Mamans Hand zuschlägt, so hart, dass ihre Lippe aufplatzt. Das Blut schmeckt salzig und süß.
Ich bin zusammen mit Maman nach Russland gekommen. Damals nannte man mich Sophie.
Sie erinnert sich an die Reise: Unendlich weite schneebedeckte Felder, auf denen wenige Monate später, so versicherte man ihr, üppig Weizen, Hafer und Gerste sprießen würden. Dichte, dunkle Wälder, in denen Füchse und Nerze leben, die wunderbar weiche Pelze liefern. Städte und Dörfer, bunt angemalte Kirchen mit Zwiebelkuppeln, Glockengeläute. Bauernhäuschen mit geschnitzten Fensterstöcken und -läden. Die Nächte, die so früh hereinbrachen, zu einer Zeit, da es in Zerbst noch hell war.
Ihre Füße sind ganz geschwollen nach all den Stunden, die sie in der Kutsche sitzen musste, und tun ihr weh, wenn sie am Abend aussteigt. Es ist nicht so schlimm, dass sie nicht gehen könnte, gleichwohl befiehlt Maman, dass man Sophie in die Herberge trägt, in der sie übernachten. Damit der katzbuckelnde Posthalter auch weiß, welch hohe Ehre seiner verräucherten Absteige zuteil wird, macht sie ihm gleich unmissverständlich klar, dass er es mit illustren Herrschaften zu tun hat: Die Fürstin von Zerbst mit Begleitung, persönlich eingeladen von Ihrer Majestät Elisabeth Petrowna. Die, wenn nicht ein jäher Tod es verhindert hätte, ihre Schwägerin geworden wäre.
Mamans Vorstellung wird jedes Mal von der deutschen Zofe mit heftigem und von den russischen Dienstboten mit höflichem Nicken begleitet. Die Wirkung auf die Leute bei den verschiedenen Poststationen ist schwer zu ermessen. Sie reden zu schnell, und das bisschen Russisch, das Sophie bis jetzt gelernt hat, nutzt ihr nichts.
Sie muss ganz neu anfangen.
Da heißt ja. Njet heißt nein. Moschet byt heißt vielleicht.
»Ist Sophie nicht bezaubernd, Peter?«, fragt Elisabeth. Ihre Wangen haben die Farbe von reifen Aprikosen vor freudiger Erregung. Oder ist es vielleicht doch nur eine Schicht Rouge?
Peter, ihr Vetter zweiten Grades und Kronprinz von Russland, hebt den Kopf. Seine leicht hervortretenden Augen huschen nervös zwischen ihr und seiner Tante hin und her.
Hier in Moskau wirkt Peter noch dünner als bei ihrer ersten Begegnung in Eutin. Geradezu ausgehungert, würde sie denken, wenn er nicht Thronerbe wäre.
Die Kälte der langen Winterreise steckt ihr noch in den Knochen. Die Nächte in eisigen Poststationen, wo Finger und Zehen taub wurden. Ihr Atem weißer Nebel. Weite Strecken über endlose weiße Felder, durch dichte Wälder, die in pulvrigen Schnee gehüllt waren. Immer die Angst, dass irgendein Unglück oder Unfall passieren und die Kutsche nicht mehr weiterfahren könnte, dass sie dem erbarmungslosen Winter ausgeliefert wäre und erfrieren müsste.
Was sieht Peter, wenn er sie anschaut? Ihren glatten weißen Teint? Ihre gesunden Zähne? Die knospenden Brüste in dem starren Korsett? Die nussbraunen Augen mit den blauen Pünktchen? Wo ist er mit seinen Gedanken? In Eutin, wo sie ihm versicherte, dass er ohne Zweifel sehr klug sei? Wo er ihr ins Ohr flüsterte: »Wenn sie mich zum König von Schweden machen, brenne ich mit den Zigeunern durch, und sie werden mich nie finden.«
»Gefällt dir Prinzessin Sophie, Peter?«
Um sie herum in dem ausgedehnten Palast in Moskau mit seinen knarzenden Holzböden und leeren Vorzimmern verstummt das Geflüster, die Höflinge halten den Atem an. Sie, nur eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst, mustert den dünnen Hals ihres Cousins und sieht, wie seine Augenbrauen zucken.
Ein langer Moment vergeht, dann nickt Peter.
Es ist ein recht unscheinbares Zeichen, und doch eröffnet es eine ganze Welt von Möglichkeiten. Es bedeutet, dass Sophie vielleicht nicht nach Zerbst zurückkehren muss, dass sie, statt immer nur ihre Gedanken hinter einem verbindlichen Lächeln zu verstecken, kühn voranschreiten wird. Es eröffnet atemberaubende Aussichten, es bedeutet Frühling, der den Schnee schmelzen lässt.
Sie begehrt diese Welt so sehr, dass ihre Hand sich um den Stoff ihres Rocks krampft. Sie denkt an ein nervös tänzelndes Pferd vor dem Start eines Rennens. Es schlägt mit dem Schweif, die angespannten Muskeln unter der Haut zittern vor Erwartung; gleich wird es lospreschen - wehe dem, der ihm im Weg steht.
Die Höflinge recken die Hälse. Maman hinter ihr entschlüpft ein gepresstes Aufatmen.
Schlag die Augen nieder, Sophie! Nimm dich in Acht! Der kleinste Fehler kann alles verderben.
Die Kaiserin springt auf. Der glitzernde Stoff ihres Kleids ist sicher schwer und steif, aber sie bewegt sich wie eine Ballerina, den Kopf hoch erhoben, den Rücken ganz gerade, die Schritte leicht und graziös. Sie trägt scharlachrote Seide, auf die mit Gold kleine Blüten gestickt sind. Ihr Umhang ist mit Hermelin gefüttert. Um ihren Hals ist eine dreifache Kette aus schwarzen Perlen geschlungen. »Protzig ... ordinär ... furchtbar russisch « nennt Maman ihren Stil.
»Meine geliebten Mondkinder«, sagt die Kaiserin gerührt. Ihre fülligen und doch starken Arme umschlingen die beiden und drücken sie fest an einen wogenden Busen. »Meine Sophie, du wirst mich nicht enttäuschen.«
Sophie spürt etwas Hartes an ihrer Stirn, das einen Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen wird. Sie atmet die kaiserlichen Düfte ein: Moschus, Rosenwasser, Bittermandelöl und den scharfen Brunstgeruch von Schweiß.
»Schmink dir dieses dumme Grinsen ab, Sophie. Du bist noch nicht seine Frau.« Mamans Lippen verziehen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie befeuchtet eine Fingerspitze und streicht damit die Braue ihrer Tochter glatt. Oder eine Haarsträhne unter die neue Samthaube.
»Hör auf mich, Kind!«
Sie ist brav und folgsam. Sie hört auf Maman. Sie vermeidet es, Leute anzustarren, besonders die Kaiserin, die vor dem gesamten Hof verkündet, diese kleine Prinzessin aus Zerbst werde Peter zu einem echten Mann machen.
Sie achtet darauf, immer einen Schritt hinter Maman zu gehen und nie als Erste zu sprechen. Wenn eine Frage an sie gerichtet wird, antwortet sie kurz. »Es gefällt mir sehr gut in Russland ... Nein, ich habe vorher noch nie so viel Schnee gesehen ... Ja, die Kaiserin ist überaus freundlich und gütig ... Der Kronprinz sieht wirklich sehr gut aus.«
Ihre Stimme ist sanft. Sie hält den Blick gesenkt auf Rocksäume und Schuhe. Aber ein kaiserliches Versprechen, so flüchtig und unscheinbar es auch sein mag, ist einzigartig, unwiederbringlich. Eine alte Weisheit.
Die Häuser hier in Moskau sind meistens aus Holz gebaut. Die Straßen winden sich labyrinthisch durch die Stadt und verzweigen sich in lauter Gassen und Gässchen. Die Schlitten müssen oft lange Umwege fahren, um ihr Ziel zu erreichen. Vor den Metzgerläden ist der Schnee schmutzig rot von frischem Blut. Von dem Gestank, der von einer Gerberei herweht, wird ihr schlecht.
In Sankt Petersburg, das sie nur kurz auf der Reise nach Moskau kennengelernt hat, gab es imposante Paläste aus Stein. Die Straßen waren breit und schnurgerade. Auf dem zugefrorenen Fluss stand ein riesiges Gerüst aus Balken, der »Eisberg«. Bunt angemalte Schlitten sausten dort auf einer steilen Eisbahn hinunter, schneller als galoppierende Pferde, schneller als der tobende Nordwind. »Nein, das ist nichts für dich«, sagte Maman. »Viel zu gefährlich.«
Aber sie durfte die Elefanten sehen. Die faltige graue Haut, die gelben Säbel ihrer gebogenen Stoßzähne. Ihre Ohren, an den Kopf angelegt wie riesige Segel.
An jenem trüben Nachmittag, im Licht von Fackeln und brennendem Teer in großen Tonnen balancierten die grauen Riesen schwankend auf den Hinterbeinen und winkten mit den Vorderbeinen. Sie spielten Ball, warfen Reifen in die Luft und fingen sie wieder auf.
Sie jauchzte und klatschte in die Hände, bis es wehtat. Fürst Naryschkin, der sie mitgenommen hatte, sagte ihr, ein Elefant könne einem wilden Bären alle Knochen brechen und die Gitterstäbe eines eisernen Käfigs auseinanderbiegen.
Hüte dich vor der wilden Bestie. Sie hat weit mehr Kraft, als sie glauben macht.
Aber sieh sie dir an.
Dann ertönte eine Fanfare. Die Elefanten stellten sich in einer Reihe auf, ihre Vorderbeine knickten ein, und sie senkten ihre riesigen Köpfe. Vor ihr, einer Prinzessin von Zerbst.
Daran denkt sie jeden Abend in Moskau, wenn sie im Bett liegt und ihr Gesicht an die weiche Pelzdecke schmiegt. Sie vergisst die Demütigungen des Tages. Die Geschenke, die sie aus Zerbst mitgebracht haben, beeindrucken nicht einmal die kaiserlichen Dienstboten. Die Freundlichkeit, die ihr zuteil wird, ist genau bemessen.
»Wir müssen den Kopf hoch tragen, Sophie«, sagt Maman. »Wir sind von weit älterem Adel.« Sie beruft sich wie immer auf ihren Stammbaum, den sie auswendig kennt. Verwandtschaftsbeziehungen sind starke Bande, die einem Halt geben. Tanten, Vettern, Brüder, Ehefrauen, Ehemänner. Herzog von Braunschweig. Fürstbischof von Lübeck. Gutes Blut hat viele Nebenflüsse.
Maman erzählt von großartigen Bällen und Militärparaden in Zerbst. Sie verleiht einer wackeligen Zugbrücke den Glanz einer Prachtstraße. Die Statue eines Milchmädchens wird zu einer Sehenswürdigkeit, deren Ruhm bis nach Berlin dringt.
Maman hört nicht, wie die Leute über ihre Prahlereien lachen. Sie bemerkt nicht das Getuschel, das plötzlich abbricht, wenn sie sich nähert. Die Blicke, die Sophie sagen,wie unsicher ihre Zukunft ist.
Und Peter?
Jeden Morgen schaut er bei Sophie vorbei und verkündet das Tagesprogramm. Die Welt außerhalb des Palasts kommt darin niemals vor.
»Sieh dir meine Entwürfe für die Uniformen an, die meine Soldaten tragen sollen, Sophie«, sagt er.
Oder: »Hast du wirklich mit König Friedrich gesprochen? Wie sieht er aus? Was hat er gesagt?«
Seine blauen Augen leuchten auf, wenn er von Berlin oder Holstein redet, und sie werden prompt trübe, sobald sie das Gespräch auf Russland lenkt. Wenn sie dennoch darauf beharrt, was manchmal vorkommt, fährt er sie an oder gerät gar in Zorn. Was interessiert es Sophie von Anhalt-Zerbst, was ein russischer Kanzler macht? Oder welche von den Hofdamen in den inneren Gemächern der Kaiserin schläft?
»Aber du wirst eines Tages Zarsein, Peter. Willst du es wirklich nicht wissen?«
»Ich werde noch lange nicht Zar werden«, sagt er. Man könnte meinen, das ist eine kluge Antwort, aber das stimmt nicht. Was ihn so reden lässt, ist nicht die Hoffnung, seine Tante möge lange regieren, sondern nur der Wunsch, sich vor seiner Bestimmung zu drücken.
Die Vergangenheit, die sich nicht mehr ändern lässt, ist weit weg. Die Zukunft, die man sehr wohl ändern kann, ist vage und ungewiss. Noch muss sie beide in einen entlegenen Winkel ihres Herzens verbannen.
Die Gegenwart ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt.
S wolkami schit, po woltschi wyt. Wenn du mit Wölfen leben willst, heule mit den Wölfen.
Russisch geht einer Vierzehnjährigen nicht leicht von den Lippen, die das Deutsche gewohnt sind. »Noch einmal, Hoheit, nur weicher. Die Russen mögen keine Ausländer.«
Monsieur Abadurows Stimme dröhnt wie eine Kirchenglocke. Er ist ihr Lehrer, und er bringt ihr bei, dass die russischen Substantive je nach Position im Satz verschiedene Endungen haben: »Bolschoi chleb«, sagt er, »aber chleba net.«
Die russischen Namen können alle möglichen Formen annehmen. Aus Alexander wird Sascha. Aber Sascha kann auch eine Form von Alexandrine sein und somit ein weiblicher Vorname. Sascha kann zu Saschenka werden so wie Grigori zu Grischa oder zu Grischenka oder zu Grischenok.
Verwirrend. Aber man kann es auswendig lernen. Mit den russischen Märchen ist es nicht so leicht. Da ist der Narr einer, der vielleicht ein bisschen langsam und schmutzig ist, aber er versteht die Sprache der Vögel und wilden Tiere, darf am Ende die Tochter des Zaren heiraten und wird der weiseste aller Herrscher. Wer soll daraus schlau werden?
S kem powedjoschsja ot togo i neberjoschsja. Mit wem man umgeht, dessen Sitten nimmt man an.
Aus der Nähe betrachtet, ähnelt Elisabeths Haut einem frischen Gemälde. Dicke Schichten Puder kaschieren die roten Äderchen auf der Nase, die Kratzer und Falten an ihrem Hals. Unter den Achseln breiten sich dunkle Flecken aus, aber ihr Parfüm überdeckt den Schweißgeruch. Die Schönheit ist aufgemalt, Creme und Farbe verbergen die Geheimnisse ihrer Nächte. Auf den Korridoren des Palasts verschlingen gut gebaute junge Männer die Kaiserin mit den Augen, wenn sie vorbeigeht. Wenn sie ihren Fächer, eine Feder, ein Haarband fallen lässt, balgen sie sich darum wie wilde Hunde.
»Enttäusche mich nicht, Sophie, dann wird dich die Jungfrau von Kasan schützen.«
Nur in der von Weihrauchdunst geschwängerten Stille der schummrigen Kapelle lässt Elisabeth Gedanken an Tod und Ewigkeit zu, und die irdischen Freuden treten in den Hintergrund. Vor den Heiligen, die von den Ikonen milde auf sie hinabblicken, fleht sie um Gnade und Erbarmen und bereinigt ihre Rechnung mit Gott.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2013
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Autoren-Porträt von Eva Stachniak
Eva Stachniak, geboren in Breslau, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Ihre Romane Der Winterpalast und Die Zarin der Nacht waren internationale Bestseller. Zuletzt begeisterte ihr Roman Die Schwester des Tänzers über Bronislawa Nijinska ihre deutschen Leserinnen. Dormagen, ChristelChristel Dormagen, geboren 1943 in Hamburg, studierte Anglistik und Germanistik. Sie ist Übersetzerin für angelsächsische Literatur und ausserdem als Journalistin für Rundfunk und Printmedien tätig. Christel Dormagen lebt in Berlin. Knecht, PeterPeter Knecht hat zahlreiche englischsprachige Romane und Sachbücher übersetzt, u. a. von Eva Stachniak, Richard Flanagan, John Wray, Sarah Dunant, Harold Bloom und Eva Ibbotson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Stachniak
- 2013, 3. Aufl., 491 Seiten, Masse: 13 x 21 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Dormagen, Peter Knecht
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 3458359567
- ISBN-13: 9783458359562
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
Rezension zu „Die Zarin der Nacht “
»Geschichte zum Mitfiebern.« stern
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