Das Leben, das du wählst
Quinn Braverman ist glücklich mit Lewis verheiratet, liebt ihren sechsjährigen Sohn und erwartet ihr zweites Kind, als eine grausame Diagnose ihr Leben auf den Kopf stellt. Die Ärzte befürchten, dass ihre kleine Tochter...
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Produktinformationen zu „Das Leben, das du wählst “
Quinn Braverman ist glücklich mit Lewis verheiratet, liebt ihren sechsjährigen Sohn und erwartet ihr zweites Kind, als eine grausame Diagnose ihr Leben auf den Kopf stellt. Die Ärzte befürchten, dass ihre kleine Tochter schwerstbehindert zur Welt kommen wird. Quinn steht vor der Entscheidung, das Baby zu behalten oder aufzugeben. Doch die junge Frau hat Erfahrung mit schweren Entscheidungen. Und sie weiß: Es gibt eine Tür, die ihr den Weg zurück erlaubt. Zurück in ihr glamouröses Leben vor ihrer Entscheidung für Lewis - und vor dem Selbstmord ihrer Mutter. Die erste Reise auf die andere Seite ist wie eine Befreiung. Doch der Weg zurück wird jedes Mal schwieriger.
Lese-Probe zu „Das Leben, das du wählst “
Das Leben, das du wählst von Ellen Meister Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Prolog
1973
An dem Tag, an dem Nan Gilbert beschloss, sich das Leben zu nehmen, wurde sie am frühen Nachmittag vom Radio aus dem Nachbargarten geweckt. Das Lied, das gerade lief, kannte sie nicht, sehr wohl aber die Stimme. Das war Paul Simon, der ohne Garfunkel sang. Und obwohl »Kodachrome« ein wehmütiges Lied über die farbenfrohen Tage der Jugend war, kam es Nan wunderlich vor, dass überhaupt noch Leute die Welt als licht empfanden.
Ihr Leben war farblos. Depressionen hatte sie auch früher schon erlebt, weiß Gott, doch nie war die Finsternis so vollkommen gewesen. Als hätte die Schwangerschaft alles verdunkelt. Sich aufsetzen, von dem Wasser neben ihrem Bett trinken, aufstehen - alles, was sie tat, tat sie eingehüllt in absolute Dunkelheit. Nirgends drang auch nur das kleinste bisschen Licht ein, und die Konzentration, die erforderlich war, um eine Aufgabe von Anfang bis Ende durchzuhalten, erschöpfte sie.
Sie stand in ihrem Schlafzimmer und versuchte, sich zu erinnern, was sie tun wollte. Da war etwas ... etwas.
Nan schloss die Augen, sperrte sämtliche Ablenkungen aus und sah es silbern aufblitzen. Das war es, ihr Schablonenmesser. Sie malte es sich aus: den Chromzylinder mit der dreieckigen Einwegklinge. Das Messer steckte in einer Dose in dem Zimmer nach hinten raus, zusammen mit ihren Pinseln. Dorthin ging sie.
In dem Sessel am Fenster sitzend, hielt sie das Ding vor sich und betrachtete ihr Spiegelbild in dem schmalen Werkzeug. Es reflektierte jeweils nur einen Streifen von ihrem Gesicht. Ihre Augen. Ihren Nasenrücken. Ihre Nasenlöcher. Ihre Lippen. Teilstücke der Frau, die sie einmal gewesen war. Sie dachte bereits wie jemand von der anderen Seite.
... mehr
Dafür ins Bad zu gehen war sinnlos. Sie würde so oder so eine Schweinerei anrichten. Ließ sie sich auf den weichen Sesselpolstern ausbluten, könnte er einfach den ganzen Sessel wegwerfen, und von ihr wäre nichts mehr da.
Die Haut an ihrem Handgelenk wirkte grau im Sonnenlicht, aber die diagonalen blauen Linien waren klar wie die einer Straßenkarte, leiteten sie weg von hier. Sie stach die Klingenspitze hinein und erschauderte ob des scharfen Schmerzes. Das Gefühl war von einer Präzision, die an Wonne grenzte. Sie zog das Messer nach unten, öffnete ihre Ader mit verblüffender Leichtigkeit. Nan spreizte die Knie, damit sie ihre Hand auf das Polster legen konnte und ihr Blut in den saugfähigen Schichten versickerte.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Zehen und Finger kalt wurden. Das ist gut, dachte sie. Bald würde sie einschlafen, und das wäre es. Das Baby regte sich in ihrem Bauch. Zuerst war es ein kleines Treten, dann eine deutlichere Wellenbewegung, als es sich vollständig drehte.
»Schhh«, machte sie und legte die unversehrte Hand auf ihren Bauch. »Du wirst nicht allein sein.«
Nan schloss die Augen, und wieder drehte sich das Baby. Es war eine stärkere Bewegung, als Nan sie jemals zuvor gefühlt hatte. »Bitte, wehr dich nicht«, sagte sie, oder vielleicht dachte sie es auch bloß. Sie konnte nicht mehr zwischen Denken und Sprechen unterscheiden, denn sie glitt davon und empfand einen starken Druck, als das Baby nach unten drängte. Ich entbinde, dachte sie, hier und jetzt.
»Pressen, Nan!«, sagte jemand. »Pressen!«
Sie öffnete die Augen und starrte auf eine grelle, rechteckige Lampe. Dahinter konnte sie die Umrisse ihres Mannes erkennen. Ihre Beine waren in Haltebügel geschnallt.
Schloss sie die Augen, saß sie sterbend im Sessel. Öffnete Nan sie, war sie im Kreißsaal und gebar in wunderschönem Technicolor. Für Nan kollidierten die beiden Realitäten nicht. Die Entscheidung zu leben und die zu sterben spielten sich schlicht parallel ab. Sein oder nicht sein. Die Wahl lag tatsächlich ganz bei ihr.
Wieder schloss sie die Augen und trieb in die Dunkelheit, von der sie sich ganz verschlingen ließ. Irgendwo schrillte ein Telefon. Sie öffnete die Augen, und der Kreißsaal war fort. Sie saß in dem Sessel am Fenster. Blut sammelte sich zwischen ihren Beinen. Das Baby rührte sich nicht mehr. Nan griff mit der rechten Hand nach dem Hörer.
»Ich brauche Hilfe«, sagte sie.
1
Heute
Quinn Braverman hatte zwei Geheimnisse vor ihrem Ehemann. Eines war der wahre Grund, aus dem sie ihn anstelle von Eugene gewählt hatte, ihrem neurotischen, selbstverachtenden, halb prominenten Exfreund, nämlich dass sie ihrer Mutter nicht recht geben wollte. Sie konnte eine Beziehung mit einem normalen, mental stabilen Mann führen.
Das andere Geheimnis war, dass für Quinn jenes andere Leben existierte, in dem sie andere Entscheidungen getroffen hatte. Beide Leben verliefen parallel wie zwei Highways zu beiden Seiten eines Bergs. Dort, auf der anderen Seite, raste die Quinn, die bei Eugene geblieben war, durch ihr hochdramatisches, emotional forderndes, kinderloses Städterleben. Hier lebte die Quinn, die Lewis heiratete, in einem Vorort auf Long Island wohnte, einen Volvo fuhr und mit ihrem zweiten Kind schwanger war.
Aber das wirklich Wichtige an dem Geheimnis - der Teil, der ihr gleichermaßen Angst und ein Kribbeln bereitete - war, dass es möglich war, von einem Leben ins andere zu wechseln. Es gab Durchlässe, Portale zwischen beiden.
Manchmal entdeckte Quinn sie zufällig. Etwa letzten Monat im Supermarkt, als sie ihre Hand tief in einen Behälter mit Brechbohnen getaucht hatte, um die frischen Exemplare von ganz unten zu erwischen. Da sah sie Isaac, ihren Sechsjährigen, der die Cornflakes in einem anderen Einkaufswagen beäugte, und sie erkannte
an seinem Gesichtsausdruck, dass er überlegte, sich den Karton zu schnappen. Dann blickte er zu ihr - seinem Gewissen -, und sie schüttelte stumm den Kopf.
»Wieso nicht?«, jammerte er.
»Weil wir nichts nehmen, was uns nicht gehört.«
Das zu lernen war wichtig, weshalb sie in diesem Punkt streng sein wollte, aber als Isaac die Arme vorm Oberkörper verschränkte und einen Flunsch zog, musste Quinn lachen. Sein kindlicher Trotz war von einer solchen Unverfälschtheit, dass sie dahinschmolz. Wenn Erwachsene sich so benahmen, war es bloß abstoßend, obwohl Quinn es Eugene, ihrem Ex, stets nachgesehen hatte. Seine Bedürftigkeit hatte ihre zarte Seite angesprochen. Er war ängstlich, schwierig und so oft am Boden zerstört gewesen, dass es praktisch ein Fulltime-Job war, ihn zu trösten. Aber das lag Quinn natürlich. Sie war eine Frau, die sich gern kümmerte. All die Jahre, in denen sie mit den Launen ihrer Mutter hatte umgehen müssen, hatten ihre Psyche geprägt; deshalb wandte sich Quinn den Bedürftigen zu wie eine Pflanze dem Licht.
Daran dachte sie, als sie in den Brechbohnen wühlte. Der Wunsch, gebraucht zu werden, hatte einen nahen Verwandten in der Schuld, und die wiederum war Quinns ständiger Begleiter. Ihr Gewissen nagte immerzu an ihr. Tat sie genug für Isaac? Für Lewis? Hatte sie genug für Eugene getan oder sein Leben ruiniert, als sie ihn verließ? Während sie diesen Gedanken wälzte, schien sie das rohe Gemüse unter ihren Fingerspitzen plötzlich abzuweisen wie ein Magnet sein Gegenstück. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie den Rand der anderen Seite berührte, und sollte sie die Brechbohnen weiterbewegen, würde sie unten in dem Behälter einen Riss finden, eine Öffnung in ihrem Universum, die sich in solchen Augenblicken auftat, wo die Entscheidungen, die sie traf, um ihr Schicksal zu ändern, mit denen kollidierten, die sie nicht getroffen hatte. Quinn wackelte mit den Fingern und dachte an das Leben, auf das sie verzichtet hatte. Wenn sie wollte, könnte sie Isaac mitten in der Gemüseabteilung des Supermarkts stehen lassen und durch den Notausgang woandershin entschwinden, in ein völlig anderes Leben.
Sie wusste auch, dass es ein Portal im Keller ihres Hauses gab, hinter dem uralten eingebauten Bügelbrett. Das öffnete sie nie, sah es nicht einmal gern. Aber von Zeit zu Zeit ging sie hinunter, sah zu der Grundmauer und wusste Bescheid.
Über Monate hatten sie nach einem Haus gesucht, und dieses hundert Jahre alte Gebäude im Kolonialstil am North Shore hatte fast alles geboten, was sie sich gewünscht hatten. Als der Makler außer Hörweite war und Lewis ihr zuflüsterte, dass es sich wie ein Zuhause anfühlte, war Quinn erschrocken. Er hatte recht, ohne Frage, aber war es klug, in einem Haus zu wohnen, aus dem man so leicht fliehen konnte? Würde sie womöglich eines Nachts aufwachen, nach einem dämlichen Streit darüber, wer auf welcher Seite der Auffahrt parken durfte, und der Versuchung nachgeben, ihm zu entwischen?
Nein, sie glaubte nicht, dass sie es täte. Aber die Möglichkeit allein reichte, dass sie Lewis lieber nichts von diesem oder anderen Portalen in ihrem Leben erzählte. Dann würde er gewiss von ihr verlangen, zu schwören, dass sie sich niemals von ihm würde fortlocken lassen, und das Versprechen konnte Quinn ihm nicht geben.
Zu Beginn ihrer Beziehung war sie bisweilen versucht gewesen, ihm von diesem anderen Leben zu erzählen, von dem sie wusste, dass es existierte, das sie jedoch niemals aufzusuchen wagte. Aber sie fragte sich des Öfteren, wie es ihr wohl ginge, würde Lewis von einem Notausgang in seinem Leben erzählen, und allein bei dem Gedanken schüttelte es sie vor Angst. Quinn hatte ihre gesamte Kindheit damit verbracht, mit den unvorhersehbaren Tauchgängen ihrer Mutter in die Depression umgehen zu lernen, doch sie hatte es geschafft, sich ein Erwachsenenleben einzurichten, das frei von derlei Sorgen war. Sie konnte Lewis einfach nicht mit solch entsetzlichen Qualen belasten.
Am Ende wob sich das Geheimnis so tief in ihre Beziehung ein, dass es leichter wurde, es zu ignorieren, als daran zu denken; und Quinn wusste, dass es ihr bestimmt war, ihren Ehemann für immer vor dieser gefährlichen Wahrheit zu beschützen.
Also willigte sie ein, in dem Haus zu leben, trotz der Fluchtöffnung. Und in den vier Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie nicht ein Mal das antike Bügelbrett aufgeklappt, um sich anzusehen, was sie dahinter zu spüren glaubte. Heute aber saß Quinn auf der Bettkante, als Lewis schlief, dachte an das, was sie bei ihrem Arztbesuch erfahren hatte, und überlegte, in den Keller zu schleichen und durch die Luke zu fliehen.
Es war der Tag ihrer Fruchtwasseruntersuchung. Lewis hatte sich freigenommen, um mit ihr zum Test zu fahren. Am Morgen hatte Isaac vor seiner Schale Cornflakes gesessen, seinen Finger in die Milch getunkt und damit auf dem Tisch gemalt.
»Was machst du da?«, hatte Quinn ihn gefragt, wobei sie schon Küchenrolle vom Spender riss.
»Hühner«, antwortete Isaac. »Siehst du?«
Quinn hatte sich zu dem gebeugt, was ihr Sohn malte. Die Milchlinien liefen ineinander, verwandelten seine Zeichnung in eine formlose Pfütze. »Ist das ein Schnabel?«, fragte sie.
Er nickte. »Und das sind die Hände.«
Sie unterdrückte ein Kichern. »Deine Hühner haben Hände?«
»Wie sollen sie denn sonst Uhren tragen?«, sagte Lewis, der in die Küche kam. Er küsste Quinn auf den Mund. »Wie geht es dir?«
»So weit, so gut.«
Sie sprachen von ihrer Morgenübelkeit. Quinn beklagte sich ungern, auch wenn diese Brechanfälle die Hölle waren. Und zu Beginn der Schwangerschaft konnte sie selbst der dezenteste Geruch würgend ins Bad treiben. Jetzt, in der dreizehnten Woche, war sie am Anfang ihres zweiten Drittels und hatte mehr gute als schlechte Tage.
»Spätzchen«, sagte sie zu ihrem Sohn, »wenn du nächstes Mal malen willst, hol dir Stifte und Papier. Der Tisch ist zum Essen da.«
»Wir dürfen den Tisch essen?«, fragte Lewis, der mit der Faust auf die harte Platte klopfte. »Kein Wunder, dass Isaac keine Schneidezähne mehr hat.« Er zwinkerte seinem Sohn zu, der lachte, wobei ihm eine Löffelladung Cheerios aus dem Mund purzelte.
»Schon klar«, sagte er zu Quinn, während er sich eine Serviette griff.
Sie hielt inne. Dies war die Art häuslicher Moment, die ihr gewöhnlich ein »Geh und lass mich das machen« entlockte, aber nicht heute. Sie war angespannt und spät dran. Daher nickte sie nur und ging nach oben, um sich anzuziehen.
Quinn probierte drei verschiedene Oberteile an und wurde von Mal zu Mal mürrischer. Keines war weit genug, um ihre sich ausdehnende Figur zu verstecken, und sie war noch nicht für Umstandskleidung bereit. Sie ermahnte sich, objektiver zu sein, und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr glattes dunkles Haar hatte den Glanz der Schwangerschaft, was ihr gefiel. Und das marineblaue Top schmeichelte ihrem hellen Teint. Aber würde irgendwem der Fettfleck in der Mitte vorn auffallen?
Ihr fiel die Bluse ein, die auf dem Wäscheständer im Keller hing und darauf wartete, gebügelt zu werden. Nicht heute, nicht wenn sie sich so zittrig fühlte. Normalerweise konnte sie problemlos an dem alten Bügelbrett vorbeimarschieren. Aber an Paniktagen wie diesem hasste sie es, daran erinnert zu werden, wie leicht sie entkommen könnte.
Quinn war sechsunddreißig, alt genug, dass eine Fruchtwasseruntersuchung zum Pflichtprogramm gehörte. Aber sie hatte sie auch schon vor sieben Jahren vornehmen lassen, als sie mit Isaac schwanger war, denn ihre Frauenärztin war der vorsichtige Typ und meinte, dass Schwangere alle Vorteile der verfügbaren medizinischen Tests ausschöpfen sollten. Folglich wusste sie, was sie erwartete. Sie würde in einem kleinen, verdunkelten Raum sitzen, und der Bildschirm mit dem Foto ihres Babys würde so geneigt sein, dass sie bestimmte Umrisse erahnen konnte, während eine Röntgenassistentin einzelne Ansichten einfror und Maße nahm. Nachdem das erledigt war, würde Sally Bernard, ihre Frauenärztin, hereinkommen, um die Fruchtwasserpunktion vorzunehmen. Dr. Bernard benutzte den Bildschirm als Wegweiser, wenn sie ihre lange Nadel einstach, um eine Fruchtwasserprobe zu nehmen, ohne das Baby zu verletzen. Genau das machte Quinn Angst. Was, wenn die Ärztin abgelenkt war? Was, wenn sie für einen Moment vergaß, dass das Baby ein echtes, fragiles menschliches Wesen war, und unvorsichtig wurde?
Hormoneller Wahnsinn, sagte Quinn sich, atmete tief ein und sehr langsam wieder aus. Ihr Körper hatte mal wieder auf Gluckenraserei geschaltet.
Quinn ging in die Küche zurück, wo Lewis am Tisch saß und frühstückte. Isaac saß neben ihm und malte - auf Papier - mit einem blauen Stift. Bevor Isaac in die Vorschule kam, hatte Quinn gar nicht bemerkt, dass ihr Sohn ungewöhnlich talentiert war. Seine Lehrer wollten dauernd wissen, woher das kam, und Quinn erklärte ihnen, dass ihre Mutter Künstlerin gewesen sei. Was sie aber nicht erwähnte, war, dass sie hoffte, er hätte nur dieses Talent von ihr geerbt. Quinns Mutter war manisch depressiv gewesen und wurde letztlich nach der Heirat von Quinn und Lewis so niedergeschlagen, dass sie sich umbrachte, indem sie ihre Medikamente überdosierte. Wie die Narbe an ihrem Handgelenk bewiesen hatte, war es nicht ihr erster Selbstmordversuch gewesen - nur der geglückteste.
Lewis sah von seiner Zeitung auf. »Soll ich ihm sein Mittagessen machen?«
»Nein, hab ich schon«, sagte sie.
Er las weiter. »Dir ist klar, dass du da einen Fleck hast, oder?«
Quinn blickte hinunter auf ihr Top, und ihr wurde bewusst, dass es blödsinnig war, zu hoffen, dass irgendwer diesen dicken Fettfleck mitten auf ihrer Brust übersehen könnte. Sie lief nach unten in den Keller und redete sich ein, dass dies alles vollkommen alltäglich war. Quinn hatte vor langer Zeit beschlossen, dass ihr Geheimnis nur dann zu wahren war, wenn sie sich in keiner Sekunde etwas anmerken ließ. Nur auf die Weise konnte sie leben wie alle anderen.
Waschmaschine und Trockner waren in einer kleinen quadratischen Nische untergebracht, die Quinn und Lewis hinten in der Kellerecke eingebaut hatten. Die beiden Wände, die zum Fundament gehörten, waren aus Beton, die anderen beiden aus Trockenbausteinen. Lewis hatte den ganzen Verschlag in Pfirsichgelb gestrichen, wobei er das dunkle Holz des Bügelbretts unberührt ließ. Er hatte Quinn angeboten, die Angeln des Bretts zu ölen, damit sie es benutzen konnte, aber sie hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, ihm erzählt, dass es zu sehr in die Ecke gedrängt sei, um praktisch zu sein, und dass sie es lieber als historisches Artefakt erhalten wolle.
Also klappte sie das gewöhnliche, frei stehende Bügelbrett aus und legte ihre dunkelviolette Bluse darauf. Während sie mit dem heißen Bügeleisen über die Säume glitt, die Spitze um die Knopflöcher führte, den Rücken an die Wand gelehnt, fühlte sie die Öffnung in den Grundmauern wie eine fremdartige Präsenz. Es war, als würde ihr anderes Leben - das, in dem all ihre Energie damit verbraucht wurde, dass sie Eugene bei Laune hielt - nur wenige Zentimeter von ihr entfernt surren. Nur ein paar lächerliche, lockende Zentimeter.
Sie bügelte die Bluse, zog sie sich über und ließ das fleckige Top in die leere Waschmaschine fallen. Quinn legte eine Hand auf ihren bereits etwas rundlichen Bauch. Der Gedanke, dass Lewis und sie in wenigen Stunden ihr Baby auf dem Ultraschall würden sehen können, ein körniges Bild in diversen Grauschattierungen, war aufregend. Ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester für Isaac. Sie stellte sich ein Neugeborenes vor, in weiche Baumwolle gehüllt, und ihre Brüste kribbelten. Komisch, wie selbstverständlich ihr Körper dieser Tage reagierte.
Später, als sie in dem kleinen, abgedunkelten Raum in der Radiologie des Krankenhauses lag, wo die Fruchtwasserpunktion durchgeführt werden sollte, und ihr die Röntgenassistentin vorgewärmtes Gel auf den Bauch rieb, griff Quinn nach Lewis' Hand.
Die Röntgenassistentin, eine kleine Frau mit karibischem Akzent, die sich als Jeanette vorgestellt hatte, strich mit dem Schallkopf über Quinns Haut. Sofort erklang das schnelle Rauschen des Babyherzschlags, und Lewis lächelte.
»Sie möchten das Geschlecht des Babys nicht wissen, stimmt's?«, fragte Jeanette, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Quinn zögerte. Sie hatte ihrer Ärztin tatsächlich gesagt, dass sie es nicht wissen wollte, allerdings eher aus Rücksicht auf Lewis. Eigentlich hätte sie es ganz hilfreich gefunden, vorher zu wissen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwartete, denn dann hätte sie alles vorbereiten können, bevor das Baby kam. Aber als Lewis ihr erklärte, wie aufregend die Überraschung im Kreißsaal für ihn sein würde, hatte sie nachgegeben.
Nicht etwa aus Schwäche, sondern aus Großzügigkeit. Letztere betrachtete Quinn als eine ihrer besten Eigenschaften. Es bedurfte einiger Willenskraft, davon war sie überzeugt, die eigenen Bedürfnisse zugunsten ihrer Lieben zurückzustellen.
Ihre Mutter, die hiervon oft und bereitwillig profitierte, bezeichnete Quinn gern als »gefallsüchtig«. Quinn war klar, dass das weder als Beleidigung noch als Kompliment gedacht war, eher als die Feststellung eines bedauerlichen Makels, wie eine Hornhautverkrümmung oder eine Laktose-Intoleranz.
Quinn sah zu ihrem Mann und fragte sich, ob er es sich vielleicht doch anders überlegt hatte.
»Wir wollen uns überraschen lassen«, sagte Lewis zu Jeanette.
»Kann man denn schon jetzt was erkennen?«, fragte Quinn.
Jeanette grinste. »Aber, liebe Mama, fragt man so etwas, wenn man es nicht wissen will?«
Recht hat sie, dachte Quinn, und erwiderte das Lächeln. Nicht zu fassen, dass ihre Neugier beinahe gesiegt hätte.
Jeanette arbeitete weiter, schob den Schallkopf über Quinns Bauch, stoppte hier und da und drückte ihn fester auf.
»Ist das die Hand?«, fragte Lewis. »Ich glaube, ich hab eine Hand gesehen.«
Jeanettes Miene verfinsterte sich. »Moment bitte«, murmelte sie, strich noch einmal über die Stelle, blickte konzentriert auf den Monitor und fror das Bild ein. Quinn glaubte, sie nach Luft schnappen zu hören. Oder war das nur ihre Einbildung?
»Was ist?«, fragte Quinn. »Stimmt irgendwas nicht?«
Jeanette bewegte den Schallkopf wieder und machte noch eine Aufnahme. Dann legte sie das Gerät beiseite und drückte Quinns Unterarm.
»Ich bin in einer Minute wieder da«, sagte sie, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Quinn stützte sich auf die Ellbogen auf. »Was war das denn? Was ist los?«
»Weiß ich nicht«, antwortete ihr Mann.
Das Zimmer war zu dunkel, als dass sie seine Gesichtsfarbe erkennen hätte können, aber sie spürte auch so, dass er bleich geworden war.
»Ich dreh gleich durch«, sagte sie.
»Ganz ruhig. Das hat bestimmt gar nichts zu bedeuten.«
»Für ›gar nichts‹ ist sie mir aber ein bisschen zu schnell rausgerannt. «
Lewis hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Machen wir uns nicht verrückt. Warten wir, bis sie wiederkommt.«
»Deine Hand ist kalt.«
Er rieb seine Hände, um sie zu wärmen, und griff wieder nach Quinns. »So besser?«
»Ich muss mal.«
Bis Jeanette mit einem schwarzhaarigen Mann in einem weißen Kittel zurückkam, waren Quinns Achselhöhlen feucht, obwohl ihre Hände und Füße eisiger waren als Lewis' Hand vorhin.
»Ist alles okay?«, fragte Quinn. »Wo ist Dr. Bernard?«
»Sie wird gleich hier sein. Ich bin Dr. Peng.«
»Sind Sie Gynäkologe?«, fragte Lewis.
Dr. Peng setzte sich vor den Monitor. »Radiologe.« Jeanette beugte sich über ihn und tippte auf der Tastatur herum. Der Doktor sah auf den Bildschirm und nahm den Schallkopf auf. Jeanette gab noch mehr warmes Gel auf Quinns Bauch, und nun begann Dr. Peng, mit dem Messgerät darüberzufahren. Die Röntgenassistentin stand hinter ihm, eine Hand vor dem Mund, und beobachtete den Monitor.
»Da«, sagte sie leise.
»Ja, ich seh schon.« Der Arzt drückte den Schallkopf fester und fester auf Quinns Bauch. Sie fühlte, wie ihr Schweiß von der Achselhöhle aus über den Rücken rann, und schluckte, weil sie einen Kloß im Hals hatte.
Was stimmt nicht? Die Frage laut auszusprechen, wagte Quinn nicht. Sie hätte es nicht ertragen, die Worte zu hören. Schließlich war es Lewis, der sie stellte, doch der Arzt wich ihm aus.
»Warten wir, bis Dr. Bernard hier ist«, sagte er. »Wir unterhalten uns nach der Punktion in meinem Sprechzimmer.«
»Bitte, sagen Sie es uns jetzt«, flehte Lewis.
Quinn wusste, dass schlechte Nachrichten grundsätzlich über einen Schreibtisch hinweg verkündet wurden, nicht in einem Untersuchungszimmer, wo die Patientin halb entkleidet flach auf dem Rücken lag. Trotzdem schien der Arzt zu überlegen, ob die Situation einen Regelbruch rechtfertigte. Quinn hielt den Atem an.
Nach einer Weile seufzte der Arzt. »Wir glauben, dass es ein Problem gibt. Wie es aussieht, hat sich der Schädel des Fötus nicht richtig zusammengefügt. Der Ultraschall zeigt eine Anomalie an ihrer Stirn.« Er fuhr mit einem Finger von seiner Nasenwurzel aufwärts, als wollte er die genaue Stelle zeigen. Dann drehte er den Monitor zu Quinn und Lewis, zog einen Laserpointer aus der Tasche und wies damit auf einen verschwommenen Fleck auf dem Bildschirm. »In diesem Entwicklungsstadium ist es schwer zu sagen, aber anscheinend dehnt sich ein Teil des Gehirns oder der Hirnhaut unter der Öffnung und verhindert, dass die Schädelknochen zusammenwachsen. Wir nennen das eine Enzephalozele.«
Quinns Finger und Zehen wurden taub. »Wie bitte?«
»Stellen Sie es sich wie einen Riss in ihrem Schädel vor«, sagte der Arzt. »Wir können sehen, dass sich etwas darunter wölbt, doch es lässt sich anhand des Ultraschalls allein nicht bestimmen, ob es sich um Hirnmasse oder Hirnhaut und Gehirn-Rückenmarks- Flüssigkeit handelt. Wir müssten weitere Tests durchführen. Sie erhalten einen Termin für ein ausführlicheres Sonogramm.«
»Und was dann?«, fragte Lewis. »Wird das Baby gesund sein?«
Lewis' Stimme klang weit entfernt, und Quinn bemerkte, dass der ganze Raum um sie herum schrumpfte, als würde sie durch das falsche Ende eines Teleskops blicken. Sie kniff die Augen zusammen. Das darf nicht wahr sein.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, sagte der Arzt, als sie die Augen wieder öffnete, »ist es unmöglich, eine verlässliche Prognose zu treffen.«
»Aber das lässt sich behandeln, oder?«, fragte Lewis.
Der Arzt benetzte die Lippen. Er wirkte verunsichert und sehr ernst. Quinn sah ihm an, dass er angestrengt nachdachte, wie er seine Antwort formulieren sollte. Könnte er jetzt verschwinden, einfach durch ein Portal in ein anderes Leben schlüpfen, würde er es gewiss tun. »Manchmal. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Das ist eine sehr ernste Sache, obwohl eine Enzephalozele im frontalen Bereich, wie bei Ihrem Baby, besser behandelbar ist als eine im hinteren Schädelbereich.«
»Wie behandelbar?«, fragte Lewis. »Mit einer Operation?«
Dr. Peng nickte. »In manchen Fällen kann kurz nach der Geburt, in anderen mehrere Jahre später operiert werden, abhängig von den jeweiligen Umständen. Der beschädigte Bereich wird chirurgisch korrigiert und die Öffnung verschlossen.«
»Was ist mit Hirnschäden?«
»Ich verstehe, dass Sie eine Menge Fragen haben«, sagte Dr. Peng. »Trotzdem warten wir lieber, bis Dr. Bernard hier ist, ehe wir alles Weitere besprechen.« Er wandte sich an Quinn. »Möchten Sie sich hinsetzen, solange wir warten?«
Sie bejahte stumm, und Jeanette legte ein Handtuch über ihren Bauch, während Lewis ihr half, sich aufzurichten.
»Es könnte ein Irrtum sein, nicht wahr?«, sagte Quinn. »Ich meine, Sie könnten Schatten oder so etwas gesehen haben. Davon habe ich schon gehört, dass das beim Ultraschall vorkommt.« In der Hoffnung auf ein mitfühlendes Nicken sah sie zu Jeanette. Aber die senkte den Blick, und da wusste Quinn Bescheid.
2
Als sie allein und hellwach im Bett lag in dieser Nacht, fühlte Quinn sich immer noch wie betäubt. Was anfangs eine rein emotionale Taubheit gewesen war, blockierte mittlerweile selbst ihre kognitiven Funktionen. Irgendetwas wollte sie Lewis sagen, doch ihr fiel nicht mehr ein, was das war. In dem ganzen Reigen von Fragen stellen, Testtermine vereinbaren und Informationen aus sämtlichen Quellen sammeln hatten Quinn und Lewis es erfolgreich umgangen, über die richtig großen Themen zu sprechen, wie beispielsweise, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen sollten oder wie es wäre, ein behindertes Kind großzuziehen. Doch das war es nicht, was sie unbedingt ansprechen wollte, sowie sie mit Lewis allein war. Und jetzt erinnerte sie sich nicht mehr.
Sie sah zur Uhr. Es war zehn nach eins. Lewis musste um sieben aufstehen und zur Arbeit fahren. Sie wusste, dass er im Arbeitszimmer saß und im Internet zum Thema »Enzephalozele« recherchierte. Komm ins Bett, dachte sie. Komm wieder ins Bett. Aber nach fast einer Stunde, als nicht einmal mehr die Angst, die an ihr nagte, sie länger wach halten konnte, war Lewis immer noch nicht im Bett. Beim Einschlafen fielen ihr endlich die Worte ein, die sie den ganzen Tag zu ihrem Mann hatte sagen wollen: Der Arzt hat gesagt »ihre Stirn«. Ihr. Es ist ein Mädchen, Lewis. Unsere kleine Tochter.
Als Quinn wenige Stunden später im Dunkeln aufwachte, lag Lewis neben ihr, tief und fest schlafend. Es wäre gemein, ihn jetzt zu wecken, wo er ohnehin zu wenig Schlaf bekam, aber sie brannte darauf, mit ihm zu reden, ihm zu erzählen, was ihr durch den Kopf ging. Sie musste ihn unbedingt wissen lassen, dass dieses abstrakte Baby, über das sie sprachen, ein Mädchen war, ein winziges Bündel, das einmal in eine rosa verzierte Babydecke gehüllt sein würde. Brachen sie die Schwangerschaft ab, starb das Baby »in utero «, wurde tot geboren oder lebte nur für kurze Zeit, ehe es ihnen wieder genommen wurde. Dann würden sie um eine Tochter trauern. Und überlebte sie - gesund oder behindert oder schrecklich krank -, wäre sie ihr kleines Mädchen, Isaacs kleine Schwester, und sie würden sie abgöttisch lieben.
Ahnte Lewis, wie sehr er sie lieben würde? Denn das würde er gewiss. Daran hegte Quinn nicht den geringsten Zweifel.
Sie stieg aus dem Bett und ging in Isaacs Zimmer. Er schlief, lag zusammengerollt auf der Seite und hatte den Mund offen, weil seine Nase verstopft war. Im matten Licht, das durch das Fenster neben seinem Bett einfiel, sah sein Gesicht bläulich aus, und obgleich Quinn das leise, regelmäßige Ein- und Ausatmen hören konnte, hielt sie ihm eine Hand vor den Mund, um den warmen Atem zu spüren. Gern hätte sie ihn berührt, das weiche Haar über seinem Ohr gestreichelt, aber sie wollte ihn nicht wecken. Stattdessen beugte sie sich dicht zu ihm, schloss die Augen und sog seinen Duft ein. Irgendwann im letzten Jahr waren die letzten Spuren seines Babygeruchs verklungen, einem unverwechselbaren Isaac-Duft gewichen, der zwar fast vollständig von Shampoo, Waschmittel, Pizza, Play-Doh oder dergleichen verdeckt wurde, aber doch da war. Immerzu da.
Quinns Bruder Hayden hatte einmal im Scherz behauptet, Frauen wären viel animalischer veranlagt als Männer. »Ich weiß nicht, wieso ihr Weiber dauernd behauptet, wir Kerle wären wie die Tiere «, hatte er gesagt. »Dabei gibt's nichts Raubtierhafteres als die menschliche Mutter. Ihr seid unappetitlich und sondert am ganzen Körper Flüssigkeiten ab, weil ihr nur noch aus Hormonen, Gerüchen, Blut und Muttermilch besteht. Das ist offen gestanden ein bisschen eklig.«
Quinn hatte gelacht und ihm entgegnet, er würde Frauen bloß für so primitiv halten, weil er zu wenig über den heterosexuellen Mann wusste. Darauf hatte Hayden spöttisch beharrt, dass das übliche Macho-Gehabe lediglich Show war, die Frauen aber der wahre evolutionäre Rückschritt waren.
Womit er natürlich recht hatte. Mutter zu werden aktivierte den animalischen Part im Gehirn. Das wusste Quinn seit dem Moment, in dem sie das erste Mal an Isaacs Säuglingskopf geschnuppert hatte. Sie unterschied sich nicht von einer Löwin oder einer Bärin. Wenn es um ihre Babys ging, waren sie alle gleich bissig.
Sie tapste den Flur hinunter zum Arbeitszimmer, wo Lewis den Computer angelassen hatte. Ein Tippen auf die Leertaste genügte, und der Monitor leuchtete auf. Die Suchseite des Internets war zu einem schmalen Balken unten am Bildschirmrand verkleinert. Quinn klickte darauf, und sofort erschienen Fotos von entsetzlich deformierten Kindern, denen riesige Geschwüre aus den Hinterköpfen wuchsen oder, schlimmer noch, deren kleine Gesichter zu monströsen Parodien entstellt waren. Gesichter, die gar keine waren. Rasch schloss Quinn die Seite und sank auf den Stuhl.
Das ist nicht mein Baby, dachte sie. Das kann nicht sein. Als der Arzt beschrieben hatte, was mit ihrem Kind los war, hatte er mit keinem Wort erwähnt, dass es wie ein Monster aussehen würde.
Mein Baby, ein Monster?
Quinn stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei sie einen einzigen Satz wieder und wieder im Kopf vor sich hinsagte, wie ein Mantra. Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein. Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein. Doch gleichzeitig sah sie vor ihrem inneren Auge den Fluchtspalt unten im Keller, und ihr Herz pochte wie wild.
Schließlich blieb sie an der Tür stehen und verschloss die Augen vor der Vision jenes anderen Lebens, in dem nichts von all dem hier geschah. Sie hörte, wie ihr Mann sich bewegte.
»Schatz?«, rief er leise.
Quinn ging zum Schlafzimmer zurück, aber nicht hinein.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte er. »Was ist los?«
Als sie nicht antwortete, wanderte sein Blick von ihrem Gesicht zu ihrer Körpermitte, als suchte er dort nach einem Hinweis. Dann wanderte er weiter zu ihrem Schritt und verharrte dort.
Quinn wusste, woran er dachte, worauf er hoffte. Eine Fehlgeburt.
»Quinn? Was ist mit dir, Schatz?«
»Nichts. Mir geht es gut. Schlaf weiter.«
»Warst du online?«
Sie nickte.
»Tut mir leid. Ich hätte den Link schließen sollen.«
Quinn verschränkte die Arme. »Du musst mich nicht davor beschützen. «
»Komm her«, sagte er und breitete die Arme aus, als würde eine Umarmung alles wieder gut machen. Sie rührte sich nicht.
»Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein«, sprach sie es nun laut aus.
Er stützte sich auf und setzte sich im Bett hin. »Du weißt ... du bist damit nicht allein.«
»Aber du wünschst dir, dass ich eine Fehlgeburt habe.«
»Was?«
»Gib's zu. Du willst, dass es weggeht.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich will.«
Wusste er das nicht? Quinn blieb, wo sie war. »Du bist nicht ehrlich.«
»Bist du es denn?«
»Was soll das heißen?«
Er schüttelte den Kopf, als wäre eine Erklärung überflüssig. »Du musst nicht dauernd hundertprozentig stark sein.«
Er hatte leicht reden! Wie sonst sollte sie das hier wohl durchstehen?
»Ich meine ja bloß«, fuhr er fort, »dass es okay ist, Zweifel zu haben.«
Zweifel? Mit Zweifeln kannte sie sich bestens aus. Kein Tag verging, ohne dass sie sich fragte, ob sie den Tod ihrer Mutter hätte verhindern können. Würde es bei diesem Baby genauso sein? Falls sie abtrieb, könnte sie es womöglich für den Rest ihres Lebens bereuen. Nein, das würde sie nicht tun. Sie konnte es nicht. Quinn würde dieses Baby retten, so wie sie ihre Mutter nicht hatte retten können.
Sie schluckte. »Ich muss Wäsche waschen.«
»Jetzt?«
»Schlaf weiter. Wir reden morgen.«
Quinn tappte die zwei Treppen in den Keller hinunter. Sie würde nicht durch die Fluchtöffnung schlüpfen. Zumindest hatte sie es nicht vor. Sie wollte sie sich einfach nur einmal ansehen. Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, wie ihr Notausgang aussah.
Sie betätigte den Lichtschalter in der dunklen Waschküche, und die Neonlichter an der Decke fluteten den Raum mit klinischer Helligkeit. Die Scharniere, an denen das Bügelbrett befestigt war, befanden sich etwa auf Hüfthöhe, sodass Quinn sich strecken musste, um an den Riegel oben zu kommen. Zuerst zog sie das Brett langsam vor, nur wenige Zentimeter von der Wand weg. Dann hielt sie inne, unsicher, ob sie noch mehr wagen wollte.
Du guckst ja nur, sagte sie sich. Du tust nichts. Klapp das verdammte Ding endlich auf!
Sie zog das Brett noch ein Stück weiter vor, und die Scharniere knarrten. In dem Moment wurde Quinn klar, dass sie einige Kraft würde aufbringen müssen, wollte sie es ganz ausklappen. War das ein Zeichen, dass sie es besser bleiben lassen sollte? Dass das Ding in Ruhe gelassen werden wollte?
Ausreden, schalt sie sich. Sei nicht feige.
Sie packte fester zu und zog. Diesmal bewegte sich das Brett keine zwei Zentimeter, und es klang, als würde es abbrechen, wenn sie es noch weiter nach vorn zerrte. Die Angeln müssten geölt werden, bevor sie weitermachte. Quinn drehte sich um. Sie wollte die Treppe rauf und in die Garage laufen, wo Lewis eine Dose Schmieröl aufbewahrte, rannte aber beinahe Isaac um, der in seinem Raketenpyjama vor ihr stand. Die Ärmel waren ihm schon einige Zentimeter zu kurz geworden, und beim Anblick seiner zarten Handgelenke fühlte Quinn ein Stechen in ihrem Bauch, nahe ihrem Schoß.
»Mein Mund tut weh«, sagte er, eine Hand an seinem Hals.
»Meinst du deinen Hals?«
Er nickte einmal, und Quinn befühlte seinen Kopf. Er war kühl. »Bestimmt bloß eine Erkältung.«
Quinn kniete sich hin und nahm Isaac in die Arme. Gleich zu Anfang, als der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war, hatte ihre Gynäkologin gesagt, sie sollte ihren Sohn nicht auf dem Arm tragen.
»Ich weiß, dass das leichter gesagt ist als getan«, hatte Dr. Bernard erklärt, die selbst Mutter war. »Aber er ist jetzt schon groß, und Sie müssen an das Baby denken.«
Für Quinn war es befremdlich gewesen, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie von jetzt ab die Bedürfnisse des einen Kindes gegen die des anderen würde abwägen müssen. Konnten Mütter das überhaupt? Wussten sie instinktiv, welches Kind sie wann dringender brauchte? Würde sie es wissen?
»Tut sonst noch etwas weh?«, flüsterte sie und strich Isaac übers Haar.
»Weiß nicht.« Schläfrig legte er seinen Kopf auf ihre Schulter, und Quinn holte tief Luft.
Dieser Duft! Sie drückte ihn dichter an sich, drauf und dran, ihn hochzuheben. Doch dann stellte sie sich vor, wie sie den inzwischen fünfzig Pfund schweren Isaac zwei Treppen hinauftrug. Wenn sie oben ankäme, würde sie einen scheußlichen Krampf fühlen, gefolgt von unheilvollen Blutungen, die in eine Fehlgeburt münden würden. Würde ihr irgendjemand Vorwürfe machen? Selbstverständlich nicht. Es hat nicht sollen sein, würden alle sagen.
»Gehen wir nach oben«, flüsterte sie Isaac zu.
Er klammerte sich an sie. »Du sollst mich tragen.«
Quinn antwortete nicht.
»Mom?«
Sie wich ein wenig zurück und sah ihn an. »Aber du bist doch schon ein großer Junge.« Dann nahm sie seine Hand, und sie gingen Seite an Seite nach oben.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Dafür ins Bad zu gehen war sinnlos. Sie würde so oder so eine Schweinerei anrichten. Ließ sie sich auf den weichen Sesselpolstern ausbluten, könnte er einfach den ganzen Sessel wegwerfen, und von ihr wäre nichts mehr da.
Die Haut an ihrem Handgelenk wirkte grau im Sonnenlicht, aber die diagonalen blauen Linien waren klar wie die einer Straßenkarte, leiteten sie weg von hier. Sie stach die Klingenspitze hinein und erschauderte ob des scharfen Schmerzes. Das Gefühl war von einer Präzision, die an Wonne grenzte. Sie zog das Messer nach unten, öffnete ihre Ader mit verblüffender Leichtigkeit. Nan spreizte die Knie, damit sie ihre Hand auf das Polster legen konnte und ihr Blut in den saugfähigen Schichten versickerte.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Zehen und Finger kalt wurden. Das ist gut, dachte sie. Bald würde sie einschlafen, und das wäre es. Das Baby regte sich in ihrem Bauch. Zuerst war es ein kleines Treten, dann eine deutlichere Wellenbewegung, als es sich vollständig drehte.
»Schhh«, machte sie und legte die unversehrte Hand auf ihren Bauch. »Du wirst nicht allein sein.«
Nan schloss die Augen, und wieder drehte sich das Baby. Es war eine stärkere Bewegung, als Nan sie jemals zuvor gefühlt hatte. »Bitte, wehr dich nicht«, sagte sie, oder vielleicht dachte sie es auch bloß. Sie konnte nicht mehr zwischen Denken und Sprechen unterscheiden, denn sie glitt davon und empfand einen starken Druck, als das Baby nach unten drängte. Ich entbinde, dachte sie, hier und jetzt.
»Pressen, Nan!«, sagte jemand. »Pressen!«
Sie öffnete die Augen und starrte auf eine grelle, rechteckige Lampe. Dahinter konnte sie die Umrisse ihres Mannes erkennen. Ihre Beine waren in Haltebügel geschnallt.
Schloss sie die Augen, saß sie sterbend im Sessel. Öffnete Nan sie, war sie im Kreißsaal und gebar in wunderschönem Technicolor. Für Nan kollidierten die beiden Realitäten nicht. Die Entscheidung zu leben und die zu sterben spielten sich schlicht parallel ab. Sein oder nicht sein. Die Wahl lag tatsächlich ganz bei ihr.
Wieder schloss sie die Augen und trieb in die Dunkelheit, von der sie sich ganz verschlingen ließ. Irgendwo schrillte ein Telefon. Sie öffnete die Augen, und der Kreißsaal war fort. Sie saß in dem Sessel am Fenster. Blut sammelte sich zwischen ihren Beinen. Das Baby rührte sich nicht mehr. Nan griff mit der rechten Hand nach dem Hörer.
»Ich brauche Hilfe«, sagte sie.
1
Heute
Quinn Braverman hatte zwei Geheimnisse vor ihrem Ehemann. Eines war der wahre Grund, aus dem sie ihn anstelle von Eugene gewählt hatte, ihrem neurotischen, selbstverachtenden, halb prominenten Exfreund, nämlich dass sie ihrer Mutter nicht recht geben wollte. Sie konnte eine Beziehung mit einem normalen, mental stabilen Mann führen.
Das andere Geheimnis war, dass für Quinn jenes andere Leben existierte, in dem sie andere Entscheidungen getroffen hatte. Beide Leben verliefen parallel wie zwei Highways zu beiden Seiten eines Bergs. Dort, auf der anderen Seite, raste die Quinn, die bei Eugene geblieben war, durch ihr hochdramatisches, emotional forderndes, kinderloses Städterleben. Hier lebte die Quinn, die Lewis heiratete, in einem Vorort auf Long Island wohnte, einen Volvo fuhr und mit ihrem zweiten Kind schwanger war.
Aber das wirklich Wichtige an dem Geheimnis - der Teil, der ihr gleichermaßen Angst und ein Kribbeln bereitete - war, dass es möglich war, von einem Leben ins andere zu wechseln. Es gab Durchlässe, Portale zwischen beiden.
Manchmal entdeckte Quinn sie zufällig. Etwa letzten Monat im Supermarkt, als sie ihre Hand tief in einen Behälter mit Brechbohnen getaucht hatte, um die frischen Exemplare von ganz unten zu erwischen. Da sah sie Isaac, ihren Sechsjährigen, der die Cornflakes in einem anderen Einkaufswagen beäugte, und sie erkannte
an seinem Gesichtsausdruck, dass er überlegte, sich den Karton zu schnappen. Dann blickte er zu ihr - seinem Gewissen -, und sie schüttelte stumm den Kopf.
»Wieso nicht?«, jammerte er.
»Weil wir nichts nehmen, was uns nicht gehört.«
Das zu lernen war wichtig, weshalb sie in diesem Punkt streng sein wollte, aber als Isaac die Arme vorm Oberkörper verschränkte und einen Flunsch zog, musste Quinn lachen. Sein kindlicher Trotz war von einer solchen Unverfälschtheit, dass sie dahinschmolz. Wenn Erwachsene sich so benahmen, war es bloß abstoßend, obwohl Quinn es Eugene, ihrem Ex, stets nachgesehen hatte. Seine Bedürftigkeit hatte ihre zarte Seite angesprochen. Er war ängstlich, schwierig und so oft am Boden zerstört gewesen, dass es praktisch ein Fulltime-Job war, ihn zu trösten. Aber das lag Quinn natürlich. Sie war eine Frau, die sich gern kümmerte. All die Jahre, in denen sie mit den Launen ihrer Mutter hatte umgehen müssen, hatten ihre Psyche geprägt; deshalb wandte sich Quinn den Bedürftigen zu wie eine Pflanze dem Licht.
Daran dachte sie, als sie in den Brechbohnen wühlte. Der Wunsch, gebraucht zu werden, hatte einen nahen Verwandten in der Schuld, und die wiederum war Quinns ständiger Begleiter. Ihr Gewissen nagte immerzu an ihr. Tat sie genug für Isaac? Für Lewis? Hatte sie genug für Eugene getan oder sein Leben ruiniert, als sie ihn verließ? Während sie diesen Gedanken wälzte, schien sie das rohe Gemüse unter ihren Fingerspitzen plötzlich abzuweisen wie ein Magnet sein Gegenstück. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie den Rand der anderen Seite berührte, und sollte sie die Brechbohnen weiterbewegen, würde sie unten in dem Behälter einen Riss finden, eine Öffnung in ihrem Universum, die sich in solchen Augenblicken auftat, wo die Entscheidungen, die sie traf, um ihr Schicksal zu ändern, mit denen kollidierten, die sie nicht getroffen hatte. Quinn wackelte mit den Fingern und dachte an das Leben, auf das sie verzichtet hatte. Wenn sie wollte, könnte sie Isaac mitten in der Gemüseabteilung des Supermarkts stehen lassen und durch den Notausgang woandershin entschwinden, in ein völlig anderes Leben.
Sie wusste auch, dass es ein Portal im Keller ihres Hauses gab, hinter dem uralten eingebauten Bügelbrett. Das öffnete sie nie, sah es nicht einmal gern. Aber von Zeit zu Zeit ging sie hinunter, sah zu der Grundmauer und wusste Bescheid.
Über Monate hatten sie nach einem Haus gesucht, und dieses hundert Jahre alte Gebäude im Kolonialstil am North Shore hatte fast alles geboten, was sie sich gewünscht hatten. Als der Makler außer Hörweite war und Lewis ihr zuflüsterte, dass es sich wie ein Zuhause anfühlte, war Quinn erschrocken. Er hatte recht, ohne Frage, aber war es klug, in einem Haus zu wohnen, aus dem man so leicht fliehen konnte? Würde sie womöglich eines Nachts aufwachen, nach einem dämlichen Streit darüber, wer auf welcher Seite der Auffahrt parken durfte, und der Versuchung nachgeben, ihm zu entwischen?
Nein, sie glaubte nicht, dass sie es täte. Aber die Möglichkeit allein reichte, dass sie Lewis lieber nichts von diesem oder anderen Portalen in ihrem Leben erzählte. Dann würde er gewiss von ihr verlangen, zu schwören, dass sie sich niemals von ihm würde fortlocken lassen, und das Versprechen konnte Quinn ihm nicht geben.
Zu Beginn ihrer Beziehung war sie bisweilen versucht gewesen, ihm von diesem anderen Leben zu erzählen, von dem sie wusste, dass es existierte, das sie jedoch niemals aufzusuchen wagte. Aber sie fragte sich des Öfteren, wie es ihr wohl ginge, würde Lewis von einem Notausgang in seinem Leben erzählen, und allein bei dem Gedanken schüttelte es sie vor Angst. Quinn hatte ihre gesamte Kindheit damit verbracht, mit den unvorhersehbaren Tauchgängen ihrer Mutter in die Depression umgehen zu lernen, doch sie hatte es geschafft, sich ein Erwachsenenleben einzurichten, das frei von derlei Sorgen war. Sie konnte Lewis einfach nicht mit solch entsetzlichen Qualen belasten.
Am Ende wob sich das Geheimnis so tief in ihre Beziehung ein, dass es leichter wurde, es zu ignorieren, als daran zu denken; und Quinn wusste, dass es ihr bestimmt war, ihren Ehemann für immer vor dieser gefährlichen Wahrheit zu beschützen.
Also willigte sie ein, in dem Haus zu leben, trotz der Fluchtöffnung. Und in den vier Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie nicht ein Mal das antike Bügelbrett aufgeklappt, um sich anzusehen, was sie dahinter zu spüren glaubte. Heute aber saß Quinn auf der Bettkante, als Lewis schlief, dachte an das, was sie bei ihrem Arztbesuch erfahren hatte, und überlegte, in den Keller zu schleichen und durch die Luke zu fliehen.
Es war der Tag ihrer Fruchtwasseruntersuchung. Lewis hatte sich freigenommen, um mit ihr zum Test zu fahren. Am Morgen hatte Isaac vor seiner Schale Cornflakes gesessen, seinen Finger in die Milch getunkt und damit auf dem Tisch gemalt.
»Was machst du da?«, hatte Quinn ihn gefragt, wobei sie schon Küchenrolle vom Spender riss.
»Hühner«, antwortete Isaac. »Siehst du?«
Quinn hatte sich zu dem gebeugt, was ihr Sohn malte. Die Milchlinien liefen ineinander, verwandelten seine Zeichnung in eine formlose Pfütze. »Ist das ein Schnabel?«, fragte sie.
Er nickte. »Und das sind die Hände.«
Sie unterdrückte ein Kichern. »Deine Hühner haben Hände?«
»Wie sollen sie denn sonst Uhren tragen?«, sagte Lewis, der in die Küche kam. Er küsste Quinn auf den Mund. »Wie geht es dir?«
»So weit, so gut.«
Sie sprachen von ihrer Morgenübelkeit. Quinn beklagte sich ungern, auch wenn diese Brechanfälle die Hölle waren. Und zu Beginn der Schwangerschaft konnte sie selbst der dezenteste Geruch würgend ins Bad treiben. Jetzt, in der dreizehnten Woche, war sie am Anfang ihres zweiten Drittels und hatte mehr gute als schlechte Tage.
»Spätzchen«, sagte sie zu ihrem Sohn, »wenn du nächstes Mal malen willst, hol dir Stifte und Papier. Der Tisch ist zum Essen da.«
»Wir dürfen den Tisch essen?«, fragte Lewis, der mit der Faust auf die harte Platte klopfte. »Kein Wunder, dass Isaac keine Schneidezähne mehr hat.« Er zwinkerte seinem Sohn zu, der lachte, wobei ihm eine Löffelladung Cheerios aus dem Mund purzelte.
»Schon klar«, sagte er zu Quinn, während er sich eine Serviette griff.
Sie hielt inne. Dies war die Art häuslicher Moment, die ihr gewöhnlich ein »Geh und lass mich das machen« entlockte, aber nicht heute. Sie war angespannt und spät dran. Daher nickte sie nur und ging nach oben, um sich anzuziehen.
Quinn probierte drei verschiedene Oberteile an und wurde von Mal zu Mal mürrischer. Keines war weit genug, um ihre sich ausdehnende Figur zu verstecken, und sie war noch nicht für Umstandskleidung bereit. Sie ermahnte sich, objektiver zu sein, und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr glattes dunkles Haar hatte den Glanz der Schwangerschaft, was ihr gefiel. Und das marineblaue Top schmeichelte ihrem hellen Teint. Aber würde irgendwem der Fettfleck in der Mitte vorn auffallen?
Ihr fiel die Bluse ein, die auf dem Wäscheständer im Keller hing und darauf wartete, gebügelt zu werden. Nicht heute, nicht wenn sie sich so zittrig fühlte. Normalerweise konnte sie problemlos an dem alten Bügelbrett vorbeimarschieren. Aber an Paniktagen wie diesem hasste sie es, daran erinnert zu werden, wie leicht sie entkommen könnte.
Quinn war sechsunddreißig, alt genug, dass eine Fruchtwasseruntersuchung zum Pflichtprogramm gehörte. Aber sie hatte sie auch schon vor sieben Jahren vornehmen lassen, als sie mit Isaac schwanger war, denn ihre Frauenärztin war der vorsichtige Typ und meinte, dass Schwangere alle Vorteile der verfügbaren medizinischen Tests ausschöpfen sollten. Folglich wusste sie, was sie erwartete. Sie würde in einem kleinen, verdunkelten Raum sitzen, und der Bildschirm mit dem Foto ihres Babys würde so geneigt sein, dass sie bestimmte Umrisse erahnen konnte, während eine Röntgenassistentin einzelne Ansichten einfror und Maße nahm. Nachdem das erledigt war, würde Sally Bernard, ihre Frauenärztin, hereinkommen, um die Fruchtwasserpunktion vorzunehmen. Dr. Bernard benutzte den Bildschirm als Wegweiser, wenn sie ihre lange Nadel einstach, um eine Fruchtwasserprobe zu nehmen, ohne das Baby zu verletzen. Genau das machte Quinn Angst. Was, wenn die Ärztin abgelenkt war? Was, wenn sie für einen Moment vergaß, dass das Baby ein echtes, fragiles menschliches Wesen war, und unvorsichtig wurde?
Hormoneller Wahnsinn, sagte Quinn sich, atmete tief ein und sehr langsam wieder aus. Ihr Körper hatte mal wieder auf Gluckenraserei geschaltet.
Quinn ging in die Küche zurück, wo Lewis am Tisch saß und frühstückte. Isaac saß neben ihm und malte - auf Papier - mit einem blauen Stift. Bevor Isaac in die Vorschule kam, hatte Quinn gar nicht bemerkt, dass ihr Sohn ungewöhnlich talentiert war. Seine Lehrer wollten dauernd wissen, woher das kam, und Quinn erklärte ihnen, dass ihre Mutter Künstlerin gewesen sei. Was sie aber nicht erwähnte, war, dass sie hoffte, er hätte nur dieses Talent von ihr geerbt. Quinns Mutter war manisch depressiv gewesen und wurde letztlich nach der Heirat von Quinn und Lewis so niedergeschlagen, dass sie sich umbrachte, indem sie ihre Medikamente überdosierte. Wie die Narbe an ihrem Handgelenk bewiesen hatte, war es nicht ihr erster Selbstmordversuch gewesen - nur der geglückteste.
Lewis sah von seiner Zeitung auf. »Soll ich ihm sein Mittagessen machen?«
»Nein, hab ich schon«, sagte sie.
Er las weiter. »Dir ist klar, dass du da einen Fleck hast, oder?«
Quinn blickte hinunter auf ihr Top, und ihr wurde bewusst, dass es blödsinnig war, zu hoffen, dass irgendwer diesen dicken Fettfleck mitten auf ihrer Brust übersehen könnte. Sie lief nach unten in den Keller und redete sich ein, dass dies alles vollkommen alltäglich war. Quinn hatte vor langer Zeit beschlossen, dass ihr Geheimnis nur dann zu wahren war, wenn sie sich in keiner Sekunde etwas anmerken ließ. Nur auf die Weise konnte sie leben wie alle anderen.
Waschmaschine und Trockner waren in einer kleinen quadratischen Nische untergebracht, die Quinn und Lewis hinten in der Kellerecke eingebaut hatten. Die beiden Wände, die zum Fundament gehörten, waren aus Beton, die anderen beiden aus Trockenbausteinen. Lewis hatte den ganzen Verschlag in Pfirsichgelb gestrichen, wobei er das dunkle Holz des Bügelbretts unberührt ließ. Er hatte Quinn angeboten, die Angeln des Bretts zu ölen, damit sie es benutzen konnte, aber sie hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, ihm erzählt, dass es zu sehr in die Ecke gedrängt sei, um praktisch zu sein, und dass sie es lieber als historisches Artefakt erhalten wolle.
Also klappte sie das gewöhnliche, frei stehende Bügelbrett aus und legte ihre dunkelviolette Bluse darauf. Während sie mit dem heißen Bügeleisen über die Säume glitt, die Spitze um die Knopflöcher führte, den Rücken an die Wand gelehnt, fühlte sie die Öffnung in den Grundmauern wie eine fremdartige Präsenz. Es war, als würde ihr anderes Leben - das, in dem all ihre Energie damit verbraucht wurde, dass sie Eugene bei Laune hielt - nur wenige Zentimeter von ihr entfernt surren. Nur ein paar lächerliche, lockende Zentimeter.
Sie bügelte die Bluse, zog sie sich über und ließ das fleckige Top in die leere Waschmaschine fallen. Quinn legte eine Hand auf ihren bereits etwas rundlichen Bauch. Der Gedanke, dass Lewis und sie in wenigen Stunden ihr Baby auf dem Ultraschall würden sehen können, ein körniges Bild in diversen Grauschattierungen, war aufregend. Ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester für Isaac. Sie stellte sich ein Neugeborenes vor, in weiche Baumwolle gehüllt, und ihre Brüste kribbelten. Komisch, wie selbstverständlich ihr Körper dieser Tage reagierte.
Später, als sie in dem kleinen, abgedunkelten Raum in der Radiologie des Krankenhauses lag, wo die Fruchtwasserpunktion durchgeführt werden sollte, und ihr die Röntgenassistentin vorgewärmtes Gel auf den Bauch rieb, griff Quinn nach Lewis' Hand.
Die Röntgenassistentin, eine kleine Frau mit karibischem Akzent, die sich als Jeanette vorgestellt hatte, strich mit dem Schallkopf über Quinns Haut. Sofort erklang das schnelle Rauschen des Babyherzschlags, und Lewis lächelte.
»Sie möchten das Geschlecht des Babys nicht wissen, stimmt's?«, fragte Jeanette, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Quinn zögerte. Sie hatte ihrer Ärztin tatsächlich gesagt, dass sie es nicht wissen wollte, allerdings eher aus Rücksicht auf Lewis. Eigentlich hätte sie es ganz hilfreich gefunden, vorher zu wissen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwartete, denn dann hätte sie alles vorbereiten können, bevor das Baby kam. Aber als Lewis ihr erklärte, wie aufregend die Überraschung im Kreißsaal für ihn sein würde, hatte sie nachgegeben.
Nicht etwa aus Schwäche, sondern aus Großzügigkeit. Letztere betrachtete Quinn als eine ihrer besten Eigenschaften. Es bedurfte einiger Willenskraft, davon war sie überzeugt, die eigenen Bedürfnisse zugunsten ihrer Lieben zurückzustellen.
Ihre Mutter, die hiervon oft und bereitwillig profitierte, bezeichnete Quinn gern als »gefallsüchtig«. Quinn war klar, dass das weder als Beleidigung noch als Kompliment gedacht war, eher als die Feststellung eines bedauerlichen Makels, wie eine Hornhautverkrümmung oder eine Laktose-Intoleranz.
Quinn sah zu ihrem Mann und fragte sich, ob er es sich vielleicht doch anders überlegt hatte.
»Wir wollen uns überraschen lassen«, sagte Lewis zu Jeanette.
»Kann man denn schon jetzt was erkennen?«, fragte Quinn.
Jeanette grinste. »Aber, liebe Mama, fragt man so etwas, wenn man es nicht wissen will?«
Recht hat sie, dachte Quinn, und erwiderte das Lächeln. Nicht zu fassen, dass ihre Neugier beinahe gesiegt hätte.
Jeanette arbeitete weiter, schob den Schallkopf über Quinns Bauch, stoppte hier und da und drückte ihn fester auf.
»Ist das die Hand?«, fragte Lewis. »Ich glaube, ich hab eine Hand gesehen.«
Jeanettes Miene verfinsterte sich. »Moment bitte«, murmelte sie, strich noch einmal über die Stelle, blickte konzentriert auf den Monitor und fror das Bild ein. Quinn glaubte, sie nach Luft schnappen zu hören. Oder war das nur ihre Einbildung?
»Was ist?«, fragte Quinn. »Stimmt irgendwas nicht?«
Jeanette bewegte den Schallkopf wieder und machte noch eine Aufnahme. Dann legte sie das Gerät beiseite und drückte Quinns Unterarm.
»Ich bin in einer Minute wieder da«, sagte sie, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Quinn stützte sich auf die Ellbogen auf. »Was war das denn? Was ist los?«
»Weiß ich nicht«, antwortete ihr Mann.
Das Zimmer war zu dunkel, als dass sie seine Gesichtsfarbe erkennen hätte können, aber sie spürte auch so, dass er bleich geworden war.
»Ich dreh gleich durch«, sagte sie.
»Ganz ruhig. Das hat bestimmt gar nichts zu bedeuten.«
»Für ›gar nichts‹ ist sie mir aber ein bisschen zu schnell rausgerannt. «
Lewis hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Machen wir uns nicht verrückt. Warten wir, bis sie wiederkommt.«
»Deine Hand ist kalt.«
Er rieb seine Hände, um sie zu wärmen, und griff wieder nach Quinns. »So besser?«
»Ich muss mal.«
Bis Jeanette mit einem schwarzhaarigen Mann in einem weißen Kittel zurückkam, waren Quinns Achselhöhlen feucht, obwohl ihre Hände und Füße eisiger waren als Lewis' Hand vorhin.
»Ist alles okay?«, fragte Quinn. »Wo ist Dr. Bernard?«
»Sie wird gleich hier sein. Ich bin Dr. Peng.«
»Sind Sie Gynäkologe?«, fragte Lewis.
Dr. Peng setzte sich vor den Monitor. »Radiologe.« Jeanette beugte sich über ihn und tippte auf der Tastatur herum. Der Doktor sah auf den Bildschirm und nahm den Schallkopf auf. Jeanette gab noch mehr warmes Gel auf Quinns Bauch, und nun begann Dr. Peng, mit dem Messgerät darüberzufahren. Die Röntgenassistentin stand hinter ihm, eine Hand vor dem Mund, und beobachtete den Monitor.
»Da«, sagte sie leise.
»Ja, ich seh schon.« Der Arzt drückte den Schallkopf fester und fester auf Quinns Bauch. Sie fühlte, wie ihr Schweiß von der Achselhöhle aus über den Rücken rann, und schluckte, weil sie einen Kloß im Hals hatte.
Was stimmt nicht? Die Frage laut auszusprechen, wagte Quinn nicht. Sie hätte es nicht ertragen, die Worte zu hören. Schließlich war es Lewis, der sie stellte, doch der Arzt wich ihm aus.
»Warten wir, bis Dr. Bernard hier ist«, sagte er. »Wir unterhalten uns nach der Punktion in meinem Sprechzimmer.«
»Bitte, sagen Sie es uns jetzt«, flehte Lewis.
Quinn wusste, dass schlechte Nachrichten grundsätzlich über einen Schreibtisch hinweg verkündet wurden, nicht in einem Untersuchungszimmer, wo die Patientin halb entkleidet flach auf dem Rücken lag. Trotzdem schien der Arzt zu überlegen, ob die Situation einen Regelbruch rechtfertigte. Quinn hielt den Atem an.
Nach einer Weile seufzte der Arzt. »Wir glauben, dass es ein Problem gibt. Wie es aussieht, hat sich der Schädel des Fötus nicht richtig zusammengefügt. Der Ultraschall zeigt eine Anomalie an ihrer Stirn.« Er fuhr mit einem Finger von seiner Nasenwurzel aufwärts, als wollte er die genaue Stelle zeigen. Dann drehte er den Monitor zu Quinn und Lewis, zog einen Laserpointer aus der Tasche und wies damit auf einen verschwommenen Fleck auf dem Bildschirm. »In diesem Entwicklungsstadium ist es schwer zu sagen, aber anscheinend dehnt sich ein Teil des Gehirns oder der Hirnhaut unter der Öffnung und verhindert, dass die Schädelknochen zusammenwachsen. Wir nennen das eine Enzephalozele.«
Quinns Finger und Zehen wurden taub. »Wie bitte?«
»Stellen Sie es sich wie einen Riss in ihrem Schädel vor«, sagte der Arzt. »Wir können sehen, dass sich etwas darunter wölbt, doch es lässt sich anhand des Ultraschalls allein nicht bestimmen, ob es sich um Hirnmasse oder Hirnhaut und Gehirn-Rückenmarks- Flüssigkeit handelt. Wir müssten weitere Tests durchführen. Sie erhalten einen Termin für ein ausführlicheres Sonogramm.«
»Und was dann?«, fragte Lewis. »Wird das Baby gesund sein?«
Lewis' Stimme klang weit entfernt, und Quinn bemerkte, dass der ganze Raum um sie herum schrumpfte, als würde sie durch das falsche Ende eines Teleskops blicken. Sie kniff die Augen zusammen. Das darf nicht wahr sein.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, sagte der Arzt, als sie die Augen wieder öffnete, »ist es unmöglich, eine verlässliche Prognose zu treffen.«
»Aber das lässt sich behandeln, oder?«, fragte Lewis.
Der Arzt benetzte die Lippen. Er wirkte verunsichert und sehr ernst. Quinn sah ihm an, dass er angestrengt nachdachte, wie er seine Antwort formulieren sollte. Könnte er jetzt verschwinden, einfach durch ein Portal in ein anderes Leben schlüpfen, würde er es gewiss tun. »Manchmal. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Das ist eine sehr ernste Sache, obwohl eine Enzephalozele im frontalen Bereich, wie bei Ihrem Baby, besser behandelbar ist als eine im hinteren Schädelbereich.«
»Wie behandelbar?«, fragte Lewis. »Mit einer Operation?«
Dr. Peng nickte. »In manchen Fällen kann kurz nach der Geburt, in anderen mehrere Jahre später operiert werden, abhängig von den jeweiligen Umständen. Der beschädigte Bereich wird chirurgisch korrigiert und die Öffnung verschlossen.«
»Was ist mit Hirnschäden?«
»Ich verstehe, dass Sie eine Menge Fragen haben«, sagte Dr. Peng. »Trotzdem warten wir lieber, bis Dr. Bernard hier ist, ehe wir alles Weitere besprechen.« Er wandte sich an Quinn. »Möchten Sie sich hinsetzen, solange wir warten?«
Sie bejahte stumm, und Jeanette legte ein Handtuch über ihren Bauch, während Lewis ihr half, sich aufzurichten.
»Es könnte ein Irrtum sein, nicht wahr?«, sagte Quinn. »Ich meine, Sie könnten Schatten oder so etwas gesehen haben. Davon habe ich schon gehört, dass das beim Ultraschall vorkommt.« In der Hoffnung auf ein mitfühlendes Nicken sah sie zu Jeanette. Aber die senkte den Blick, und da wusste Quinn Bescheid.
2
Als sie allein und hellwach im Bett lag in dieser Nacht, fühlte Quinn sich immer noch wie betäubt. Was anfangs eine rein emotionale Taubheit gewesen war, blockierte mittlerweile selbst ihre kognitiven Funktionen. Irgendetwas wollte sie Lewis sagen, doch ihr fiel nicht mehr ein, was das war. In dem ganzen Reigen von Fragen stellen, Testtermine vereinbaren und Informationen aus sämtlichen Quellen sammeln hatten Quinn und Lewis es erfolgreich umgangen, über die richtig großen Themen zu sprechen, wie beispielsweise, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen sollten oder wie es wäre, ein behindertes Kind großzuziehen. Doch das war es nicht, was sie unbedingt ansprechen wollte, sowie sie mit Lewis allein war. Und jetzt erinnerte sie sich nicht mehr.
Sie sah zur Uhr. Es war zehn nach eins. Lewis musste um sieben aufstehen und zur Arbeit fahren. Sie wusste, dass er im Arbeitszimmer saß und im Internet zum Thema »Enzephalozele« recherchierte. Komm ins Bett, dachte sie. Komm wieder ins Bett. Aber nach fast einer Stunde, als nicht einmal mehr die Angst, die an ihr nagte, sie länger wach halten konnte, war Lewis immer noch nicht im Bett. Beim Einschlafen fielen ihr endlich die Worte ein, die sie den ganzen Tag zu ihrem Mann hatte sagen wollen: Der Arzt hat gesagt »ihre Stirn«. Ihr. Es ist ein Mädchen, Lewis. Unsere kleine Tochter.
Als Quinn wenige Stunden später im Dunkeln aufwachte, lag Lewis neben ihr, tief und fest schlafend. Es wäre gemein, ihn jetzt zu wecken, wo er ohnehin zu wenig Schlaf bekam, aber sie brannte darauf, mit ihm zu reden, ihm zu erzählen, was ihr durch den Kopf ging. Sie musste ihn unbedingt wissen lassen, dass dieses abstrakte Baby, über das sie sprachen, ein Mädchen war, ein winziges Bündel, das einmal in eine rosa verzierte Babydecke gehüllt sein würde. Brachen sie die Schwangerschaft ab, starb das Baby »in utero «, wurde tot geboren oder lebte nur für kurze Zeit, ehe es ihnen wieder genommen wurde. Dann würden sie um eine Tochter trauern. Und überlebte sie - gesund oder behindert oder schrecklich krank -, wäre sie ihr kleines Mädchen, Isaacs kleine Schwester, und sie würden sie abgöttisch lieben.
Ahnte Lewis, wie sehr er sie lieben würde? Denn das würde er gewiss. Daran hegte Quinn nicht den geringsten Zweifel.
Sie stieg aus dem Bett und ging in Isaacs Zimmer. Er schlief, lag zusammengerollt auf der Seite und hatte den Mund offen, weil seine Nase verstopft war. Im matten Licht, das durch das Fenster neben seinem Bett einfiel, sah sein Gesicht bläulich aus, und obgleich Quinn das leise, regelmäßige Ein- und Ausatmen hören konnte, hielt sie ihm eine Hand vor den Mund, um den warmen Atem zu spüren. Gern hätte sie ihn berührt, das weiche Haar über seinem Ohr gestreichelt, aber sie wollte ihn nicht wecken. Stattdessen beugte sie sich dicht zu ihm, schloss die Augen und sog seinen Duft ein. Irgendwann im letzten Jahr waren die letzten Spuren seines Babygeruchs verklungen, einem unverwechselbaren Isaac-Duft gewichen, der zwar fast vollständig von Shampoo, Waschmittel, Pizza, Play-Doh oder dergleichen verdeckt wurde, aber doch da war. Immerzu da.
Quinns Bruder Hayden hatte einmal im Scherz behauptet, Frauen wären viel animalischer veranlagt als Männer. »Ich weiß nicht, wieso ihr Weiber dauernd behauptet, wir Kerle wären wie die Tiere «, hatte er gesagt. »Dabei gibt's nichts Raubtierhafteres als die menschliche Mutter. Ihr seid unappetitlich und sondert am ganzen Körper Flüssigkeiten ab, weil ihr nur noch aus Hormonen, Gerüchen, Blut und Muttermilch besteht. Das ist offen gestanden ein bisschen eklig.«
Quinn hatte gelacht und ihm entgegnet, er würde Frauen bloß für so primitiv halten, weil er zu wenig über den heterosexuellen Mann wusste. Darauf hatte Hayden spöttisch beharrt, dass das übliche Macho-Gehabe lediglich Show war, die Frauen aber der wahre evolutionäre Rückschritt waren.
Womit er natürlich recht hatte. Mutter zu werden aktivierte den animalischen Part im Gehirn. Das wusste Quinn seit dem Moment, in dem sie das erste Mal an Isaacs Säuglingskopf geschnuppert hatte. Sie unterschied sich nicht von einer Löwin oder einer Bärin. Wenn es um ihre Babys ging, waren sie alle gleich bissig.
Sie tapste den Flur hinunter zum Arbeitszimmer, wo Lewis den Computer angelassen hatte. Ein Tippen auf die Leertaste genügte, und der Monitor leuchtete auf. Die Suchseite des Internets war zu einem schmalen Balken unten am Bildschirmrand verkleinert. Quinn klickte darauf, und sofort erschienen Fotos von entsetzlich deformierten Kindern, denen riesige Geschwüre aus den Hinterköpfen wuchsen oder, schlimmer noch, deren kleine Gesichter zu monströsen Parodien entstellt waren. Gesichter, die gar keine waren. Rasch schloss Quinn die Seite und sank auf den Stuhl.
Das ist nicht mein Baby, dachte sie. Das kann nicht sein. Als der Arzt beschrieben hatte, was mit ihrem Kind los war, hatte er mit keinem Wort erwähnt, dass es wie ein Monster aussehen würde.
Mein Baby, ein Monster?
Quinn stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei sie einen einzigen Satz wieder und wieder im Kopf vor sich hinsagte, wie ein Mantra. Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein. Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein. Doch gleichzeitig sah sie vor ihrem inneren Auge den Fluchtspalt unten im Keller, und ihr Herz pochte wie wild.
Schließlich blieb sie an der Tür stehen und verschloss die Augen vor der Vision jenes anderen Lebens, in dem nichts von all dem hier geschah. Sie hörte, wie ihr Mann sich bewegte.
»Schatz?«, rief er leise.
Quinn ging zum Schlafzimmer zurück, aber nicht hinein.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte er. »Was ist los?«
Als sie nicht antwortete, wanderte sein Blick von ihrem Gesicht zu ihrer Körpermitte, als suchte er dort nach einem Hinweis. Dann wanderte er weiter zu ihrem Schritt und verharrte dort.
Quinn wusste, woran er dachte, worauf er hoffte. Eine Fehlgeburt.
»Quinn? Was ist mit dir, Schatz?«
»Nichts. Mir geht es gut. Schlaf weiter.«
»Warst du online?«
Sie nickte.
»Tut mir leid. Ich hätte den Link schließen sollen.«
Quinn verschränkte die Arme. »Du musst mich nicht davor beschützen. «
»Komm her«, sagte er und breitete die Arme aus, als würde eine Umarmung alles wieder gut machen. Sie rührte sich nicht.
»Ich kann diesem Kind eine gute Mutter sein«, sprach sie es nun laut aus.
Er stützte sich auf und setzte sich im Bett hin. »Du weißt ... du bist damit nicht allein.«
»Aber du wünschst dir, dass ich eine Fehlgeburt habe.«
»Was?«
»Gib's zu. Du willst, dass es weggeht.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich will.«
Wusste er das nicht? Quinn blieb, wo sie war. »Du bist nicht ehrlich.«
»Bist du es denn?«
»Was soll das heißen?«
Er schüttelte den Kopf, als wäre eine Erklärung überflüssig. »Du musst nicht dauernd hundertprozentig stark sein.«
Er hatte leicht reden! Wie sonst sollte sie das hier wohl durchstehen?
»Ich meine ja bloß«, fuhr er fort, »dass es okay ist, Zweifel zu haben.«
Zweifel? Mit Zweifeln kannte sie sich bestens aus. Kein Tag verging, ohne dass sie sich fragte, ob sie den Tod ihrer Mutter hätte verhindern können. Würde es bei diesem Baby genauso sein? Falls sie abtrieb, könnte sie es womöglich für den Rest ihres Lebens bereuen. Nein, das würde sie nicht tun. Sie konnte es nicht. Quinn würde dieses Baby retten, so wie sie ihre Mutter nicht hatte retten können.
Sie schluckte. »Ich muss Wäsche waschen.«
»Jetzt?«
»Schlaf weiter. Wir reden morgen.«
Quinn tappte die zwei Treppen in den Keller hinunter. Sie würde nicht durch die Fluchtöffnung schlüpfen. Zumindest hatte sie es nicht vor. Sie wollte sie sich einfach nur einmal ansehen. Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, wie ihr Notausgang aussah.
Sie betätigte den Lichtschalter in der dunklen Waschküche, und die Neonlichter an der Decke fluteten den Raum mit klinischer Helligkeit. Die Scharniere, an denen das Bügelbrett befestigt war, befanden sich etwa auf Hüfthöhe, sodass Quinn sich strecken musste, um an den Riegel oben zu kommen. Zuerst zog sie das Brett langsam vor, nur wenige Zentimeter von der Wand weg. Dann hielt sie inne, unsicher, ob sie noch mehr wagen wollte.
Du guckst ja nur, sagte sie sich. Du tust nichts. Klapp das verdammte Ding endlich auf!
Sie zog das Brett noch ein Stück weiter vor, und die Scharniere knarrten. In dem Moment wurde Quinn klar, dass sie einige Kraft würde aufbringen müssen, wollte sie es ganz ausklappen. War das ein Zeichen, dass sie es besser bleiben lassen sollte? Dass das Ding in Ruhe gelassen werden wollte?
Ausreden, schalt sie sich. Sei nicht feige.
Sie packte fester zu und zog. Diesmal bewegte sich das Brett keine zwei Zentimeter, und es klang, als würde es abbrechen, wenn sie es noch weiter nach vorn zerrte. Die Angeln müssten geölt werden, bevor sie weitermachte. Quinn drehte sich um. Sie wollte die Treppe rauf und in die Garage laufen, wo Lewis eine Dose Schmieröl aufbewahrte, rannte aber beinahe Isaac um, der in seinem Raketenpyjama vor ihr stand. Die Ärmel waren ihm schon einige Zentimeter zu kurz geworden, und beim Anblick seiner zarten Handgelenke fühlte Quinn ein Stechen in ihrem Bauch, nahe ihrem Schoß.
»Mein Mund tut weh«, sagte er, eine Hand an seinem Hals.
»Meinst du deinen Hals?«
Er nickte einmal, und Quinn befühlte seinen Kopf. Er war kühl. »Bestimmt bloß eine Erkältung.«
Quinn kniete sich hin und nahm Isaac in die Arme. Gleich zu Anfang, als der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war, hatte ihre Gynäkologin gesagt, sie sollte ihren Sohn nicht auf dem Arm tragen.
»Ich weiß, dass das leichter gesagt ist als getan«, hatte Dr. Bernard erklärt, die selbst Mutter war. »Aber er ist jetzt schon groß, und Sie müssen an das Baby denken.«
Für Quinn war es befremdlich gewesen, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie von jetzt ab die Bedürfnisse des einen Kindes gegen die des anderen würde abwägen müssen. Konnten Mütter das überhaupt? Wussten sie instinktiv, welches Kind sie wann dringender brauchte? Würde sie es wissen?
»Tut sonst noch etwas weh?«, flüsterte sie und strich Isaac übers Haar.
»Weiß nicht.« Schläfrig legte er seinen Kopf auf ihre Schulter, und Quinn holte tief Luft.
Dieser Duft! Sie drückte ihn dichter an sich, drauf und dran, ihn hochzuheben. Doch dann stellte sie sich vor, wie sie den inzwischen fünfzig Pfund schweren Isaac zwei Treppen hinauftrug. Wenn sie oben ankäme, würde sie einen scheußlichen Krampf fühlen, gefolgt von unheilvollen Blutungen, die in eine Fehlgeburt münden würden. Würde ihr irgendjemand Vorwürfe machen? Selbstverständlich nicht. Es hat nicht sollen sein, würden alle sagen.
»Gehen wir nach oben«, flüsterte sie Isaac zu.
Er klammerte sich an sie. »Du sollst mich tragen.«
Quinn antwortete nicht.
»Mom?«
Sie wich ein wenig zurück und sah ihn an. »Aber du bist doch schon ein großer Junge.« Dann nahm sie seine Hand, und sie gingen Seite an Seite nach oben.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Ellen Meister
Ellen Meister wurde in New York geboren. Sie studierte Englische Sprache und Literatur und arbeitete im Verlagsgeschäft und im Marketing. Ellen Meister lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf Long Island.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ellen Meister
- 336 Seiten, Masse: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955695158
- ISBN-13: 9783955695156
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