Eene Meene
Einer lebt, einer stirbt. Thriller
Harter Stoff! Ein perfider Killer treibt ein grausames Spiel: Er entführt immer Paare. Und nur einer wird überleben...
Die Opfer erwachen ahnungs- und orientierungslos. In einem Raum, aus dem ihre Schreie niemand hören...
Die Opfer erwachen ahnungs- und orientierungslos. In einem Raum, aus dem ihre Schreie niemand hören...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Eene Meene “
Harter Stoff! Ein perfider Killer treibt ein grausames Spiel: Er entführt immer Paare. Und nur einer wird überleben...
Die Opfer erwachen ahnungs- und orientierungslos. In einem Raum, aus dem ihre Schreie niemand hören wird. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit und nur eine (Er-)Lösung: Die Waffe, in der sich genau eine Kugel befindet. Dazu die Botschaft des Kidnappers: Entweder ihr sterbt beide eines natürlichen, qualvollen Todes - oder einer tötet den anderen und ich lasse ihn frei. Detective Inspector Helen Grace und ihr Team arbeiten fieberhaft an diesem Fall. Die Abstände zwischen den Taten werden immer enger: Zuerst ist es ein Liebspaar, dann zwei Arbeitskollegen, dann Mutter und Tochter. Alle unauffindbar. Helen versucht verzweifelt Zusammenhänge zwischen den Opfern zu erkennen. Sie gelangt zu einer verstörenden Erkenntnis.
Die Opfer erwachen ahnungs- und orientierungslos. In einem Raum, aus dem ihre Schreie niemand hören wird. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit und nur eine (Er-)Lösung: Die Waffe, in der sich genau eine Kugel befindet. Dazu die Botschaft des Kidnappers: Entweder ihr sterbt beide eines natürlichen, qualvollen Todes - oder einer tötet den anderen und ich lasse ihn frei. Detective Inspector Helen Grace und ihr Team arbeiten fieberhaft an diesem Fall. Die Abstände zwischen den Taten werden immer enger: Zuerst ist es ein Liebspaar, dann zwei Arbeitskollegen, dann Mutter und Tochter. Alle unauffindbar. Helen versucht verzweifelt Zusammenhänge zwischen den Opfern zu erkennen. Sie gelangt zu einer verstörenden Erkenntnis.
Klappentext zu „Eene Meene “
Ein perfider Killer kidnappt Paare. Die Opfer wachen orientierungslos auf, gefangen in einem Raum, niemand hört ihre Schreie. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, nur eine Waffe und die Botschaft des Entführers: Entweder sterben beiden einen langsamen, qualvollen Tod - oder einer bringt den anderen um und ist frei.Detective Inspector Helen Grace und ihr Team wissen nicht weiter; nichts scheint die Fälle zu verbinden. Doch die Entführungen sind so akribisch vorbereitet, so konsequent durchgeführt, dass es einen Plan geben muss.Und für Helen, die nach aussen so stark und unberührbar erscheint, ist die Zeit gekommen, ein weiteres Mal ihre eigene Hölle zu durchschreiten, Brücken einzureissen und über Grenzen zu gehen.Der Auftakt zur Thrillerreihe um Detective Inspector Helen Grace! Rot oder Grün? Das Cover wählen Sie. Leben oder Tod? Die Opfer müssen wählen ...Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Vielleicht würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Als wir nach dem Überfall zu uns kamen, waren wir in diesem alten Schwimmbad. Fünf Meter hohe Kachelwände. Keine Leiter. Ich habe Sam umarmt. Seinen Geruch eingeatmet, den ich so sehr liebe. Dann klingelte das Handy, und wir begriffen den grausamen Plan.Amy sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Jeden Quadratzentimeter unseres Kerkers haben wir nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole hat keiner von uns angerührt. Bisher.
Ein perfider Killer kidnappt Paare. Die Opfer wachen orientierungslos auf, gefangen in einem Raum, niemand hört ihre Schreie. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, nur eine Waffe und die Botschaft des Entführers: Entweder sterben beiden einen langsamen, qualvollen Tod - oder einer bringt den anderen um und ist frei.
Detective Inspector Helen Grace und ihr Team wissen nicht weiter; nichts scheint die Fälle zu verbinden. Doch die Entführungen sind so akribisch vorbereitet, so konsequent durchgeführt, dass es einen Plan geben muss.
Und für Helen, die nach aussen so stark und unberührbar erscheint, ist die Zeit gekommen, ein weiteres Mal ihre eigene Hölle zu durchschreiten, Brücken einzureissen und über Grenzen zu gehen.
Der Auftakt zur Thrillerreihe um Detective Inspector Helen Grace!
Rot oder Grün? Das Cover wählen Sie. Leben oder Tod? Die Opfer müssen wählen ...
Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Vielleicht würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Als wir nach dem Überfall zu uns kamen, waren wir in diesem alten Schwimmbad. Fünf Meter hohe Kachelwände. Keine Leiter. Ich habe Sam umarmt. Seinen Geruch eingeatmet, den ich so sehr liebe. Dann klingelte das Handy, und wir begriffen den grausamen Plan.
Amy sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Jeden Quadratzentimeter unseres Kerkers haben wir nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole hat keiner von uns angerührt. Bisher.
Detective Inspector Helen Grace und ihr Team wissen nicht weiter; nichts scheint die Fälle zu verbinden. Doch die Entführungen sind so akribisch vorbereitet, so konsequent durchgeführt, dass es einen Plan geben muss.
Und für Helen, die nach aussen so stark und unberührbar erscheint, ist die Zeit gekommen, ein weiteres Mal ihre eigene Hölle zu durchschreiten, Brücken einzureissen und über Grenzen zu gehen.
Der Auftakt zur Thrillerreihe um Detective Inspector Helen Grace!
Rot oder Grün? Das Cover wählen Sie. Leben oder Tod? Die Opfer müssen wählen ...
Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Vielleicht würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Als wir nach dem Überfall zu uns kamen, waren wir in diesem alten Schwimmbad. Fünf Meter hohe Kachelwände. Keine Leiter. Ich habe Sam umarmt. Seinen Geruch eingeatmet, den ich so sehr liebe. Dann klingelte das Handy, und wir begriffen den grausamen Plan.
Amy sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Jeden Quadratzentimeter unseres Kerkers haben wir nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole hat keiner von uns angerührt. Bisher.
Lese-Probe zu „Eene Meene “
Eene Meene von M. J. Arlidge1
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Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Er liegt von mir abgewandt - es wäre ganz leicht. Merkt er, wenn ich mich bewege? Würde er sich wehren? Oder wäre er einfach froh, dass dieser Albtraum ein Ende hat?
So etwas darf ich nicht denken. Ich muss mich an das halten, was gut und richtig ist. Aber wenn man eingesperrt ist, sind die Tage endlos, und als Erstes stirbt die Hoffnung. Um die finsteren Gedanken abzuwehren, klammere ich mich an gute Erinnerungen, aber es fallen mir immer weniger ein.
Wir sind erst zehn Tage hier (oder sind es elf?), aber das normale Leben ist nur noch eine blasse Erinnerung. Nach einem Konzert in London wollten wir per Anhalter zurückfahren, da ist es passiert. Unzählige Autos waren schon an uns vorbeigerauscht, es goss in Strömen, wir waren klatschnass und wollten gerade umkehren, als endlich ein Lieferwagen hielt. Drinnen war es warm und trocken. Wir bekamen Kaffee aus einer Thermoskanne angeboten. Schon der Geruch munterte uns wieder auf. Und erst der Geschmack. Wir wussten nicht, dass es unsere letzten Momente in Freiheit waren.
Als ich wieder zu mir kam, hämmerte mein Herz. In meinem Mund war Blut. Ich war nicht mehr im warmen Lieferwagen, sondern an einem kalten, dunklen Ort. War das ein Traum? Ein Geräusch hinter mir schreckte mich auf. Es war zum Glück nur Sam, der sich mühsam aufrichtete.
Wir waren ausgeraubt worden. Ausgeraubt und ausgesetzt. Ich krabbelte vorwärts, tastete die Wände ab, die uns gefangen hielten. Kalte, harte Kacheln. Ich stieß gegen Sam, hielt ihn fest und atmete seinen Geruch ein, den ich so liebe. Dann war der Moment vorbei, und wir begriffen den Horror unserer Lage.
Wir befanden uns in einem leeren Schwimmbecken. Dem Verfall preisgegeben. Sprungbretter, Schilder und sogar die Leitern waren abmontiert. Alles, was sich irgendwie noch verwenden ließ, hatte man mitgenommen. Zurückgeblieben war ein tiefes, glattes Loch, aus dem es keinen Ausweg gab.
Hörte das miese Arschloch unser Schreien? Wahrscheinlich. Denn als wir endlich Ruhe gaben, passierte es. Ein Handy klingelte. Für einen kurzen Moment dachten wir erleichtert, jemand käme, um uns zu retten. Dann sahen wir auf dem Boden neben uns das Handydisplay leuchten. Sam rührte sich nicht, also lief ich hin. Warum ich? Warum immer ich?
«Hallo, Amy.»
Die Stimme am anderen Ende klang verzerrt, unmenschlich. Ich wollte um Gnade betteln, beteuern, dass alles ein Irrtum sei, aber als ich meinen Namen hörte, verlor ich jeden Mut. Ich schwieg, und die Stimme fuhr unbarmherzig fort:
«Willst du leben?»
«Wer sind Sie? Was haben Sie mit uns - »
«Willst du leben?»
Einen Moment konnte ich nichts sagen. Doch dann -
«Ja.»
«Auf dem Boden vor dir liegt eine Pistole. Mit einer Kugel. Für Sam oder für dich. Das ist der Preis der Freiheit. Du musst töten, um zu leben. Willst du leben, Amy?»
Wieder konnte ich nichts sagen. Mir wurde schlecht.
«Nun, willst du?»
Dann war die Leitung tot. Und Sam fragte: «Was haben sie gesagt?»
Sam schläft dicht neben mir. Ich könnte es jetzt tun.
2
Die Frau schrie vor Schmerz. Verstummte. Auf ihrem Rücken bildeten sich rote Striemen. Erneut hob Jake die Gerte und ließ sie auf die Haut knallen. Die Frau wand sich, schrie auf, sagte dann:
«Noch mal.»
Sie sagte selten mehr. Sie war nicht sehr gesprächig. Nicht wie manch andere seiner Kunden. Die Beamten, Buchhalter und Angestellten, die ihr Leben in sexlosen Beziehungen fristeten - die waren ganz wild darauf zu reden. Wollten unbedingt von dem Mann gemocht werden, der sie für Geld schlug. Sie aber war anders, ein Buch mit sieben Siegeln. Sie verriet nie, wie sie auf ihn gekommen war. Oder warum sie herkam. Sie gab klare, eindeutige Anweisungen - nannte ihre Bedürfnisse - , dann hatte er anzufangen.
Zuerst fesselte er immer ihre Handgelenke, fixierte mit zwei nietenbesetzten Lederbändern die Arme an der Wand. Eiserne Fußfesseln umschlossen die Füße. Ihre Kleidung lag ordentlich zusammengelegt auf dem bereitgestellten Stuhl, und sie stand gefesselt und in Unterwäsche da und wartete auf ihre Bestrafung.
Kein Rollenspiel. Kein «bitte tu mir nicht weh, Daddy» oder «ich bin ein ungezogenes Mädchen». Sie wollte einzig und allein, dass er ihr Schmerzen zufügte. In gewisser Hinsicht war das befreiend. Irgendwann wird jeder Job zur Routine, und manchmal war es ganz schön, sich nicht auf die Phantasien trauriger Möchtegernopfer einlassen zu müssen. Gleichzeitig war ihre Weigerung, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, auch frustrierend. Das Wichtigste bei jeder SM-Begegnung ist Vertrauen. Der Devote muss sich in sicheren Händen wissen, muss sich darauf verlassen können, dass der Dominierende seinen Charakter und seine Bedürfnisse kennt und Letztere auf eine für beide Seiten annehmbare Weise erfüllt. Ansonsten kann daraus schnell Körperverletzung oder sogar Missbrauch werden - und das war ganz sicher nicht Jakes Ding.
Also hatte er es immer wieder versucht, hier eine Frage, dort einen Kommentar fallen gelassen. Und im Laufe der Zeit hatte er ein paar Eckdaten zusammenbekommen: dass sie ursprünglich nicht aus Southampton stammte, dass sie keine Familie hatte, dass sie auf die vierzig zuging und ihr das nichts ausmachte. Aus den gemeinsamen Sitzungen wusste er, dass es ihr einzig um den Schmerz ging. Sex war kein Thema. Sie wollte nicht verführt oder angemacht werden. Sie wollte bestraft werden. Die Schläge überschritten nie eine gewisse Grenze, waren aber hart und konstant. Ihr Körper hielt das aus - sie war groß, muskulös und gut trainiert - , und alte Narben verrieten, dass sie kein Neuling in der SM-Szene war.
Trotz seiner Versuche, all der vorsichtig gestellten Fragen wusste Jake über sie jedoch nur eines mit Sicherheit. Beim Anziehen war ihr einmal ein Ausweis aus der Tasche gerutscht und zu Boden gefallen. Blitzschnell hatte sie ihn aufgehoben und wohl angenommen, er hätte nichts gesehen. Aber das hatte er. Seine Menschenkenntnis war eigentlich gut, daher war er in dem Moment wirklich überrascht gewesen. Ohne den Ausweis wäre er nie darauf gekommen, dass sie Polizistin war.
3
Amy hockt ein Stück weg von mir. Nichts ist mehr peinlich, ohne jede Scham pinkelt sie auf den Boden. Ich sehe zu, wie der dünne Pissestrahl auf den Kacheln aufschlägt, winzige Tropfen hochspringen und auf ihrer dreckigen Unterhose landen. Vor wenigen Wochen hätte ich mich bei dem Anblick abgewendet, jetzt nicht mehr.
Der Urin sickert langsam die Schräge hinab in die Fäkalienpfütze, die sich am tieferen Beckenende gebildet hat. Gebannt verfolge ich den Weg, bis das Rinnsal versiegt und das Spektakel vorbei ist. Amy zieht sich in ihre Ecke zurück. Kein Wort der Entschuldigung, kein Blick. Wir sind zu Tieren geworden - achten weder auf uns selbst noch aufeinander.
Am Anfang war das anders. Wir waren wütend, trotzig. Entschlossen, nicht hier zu sterben, sondern gemeinsam zu überleben. Amy stellte sich auf meine Schultern, versuchte sich an der Wand festzukrallen, doch an den glatten Kacheln brachen ihre Nägel ab. Dann versuchte sie, von meinen Schultern hochzuspringen. Aber das Becken ist fast fünf Meter tief, vielleicht sogar mehr, und jede Rettung außer Reichweite.
Wir haben das Handy probiert, aber es war mit einer PIN gesichert, und nach ein paar Versuchen war der Akku leer. Wir schrien, bis wir heiser waren. Die einzige Antwort war das Echo, das uns verspottete. Manchmal fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten, die einzigen menschlichen Wesen weit und breit. Draußen ist bald Weihnachten, und bestimmt sucht man nach uns, aber hier drinnen, umgeben von dieser schrecklichen, unendlichen Stille, ist das schwer zu glauben.
Flucht ist nicht möglich, also überleben wir bloß noch. Wir haben unsere Nägel abgekaut bis aufs Blut, das wir gierig aufsaugten. Morgens haben wir Kondenswasser von den Kacheln geleckt, aber unsere Mägen taten trotzdem weh. Wir haben überlegt, unsere Kleidung zu essen, die Idee aber wieder verworfen. Denn nachts ist es eiskalt, und alles, was uns vorm Erfrieren schützt, sind unsere paar Klamotten und die Wärme, die wir voneinander bekommen.
Bilde ich mir das ein, oder sind unsere Umarmungen kälter geworden? Weniger fest? Seit wir hier sind, haben wir uns Tag und Nacht aneinandergeklammert, uns gegenseitig am Leben gehalten, weil keiner allein an diesem furchtbaren Ort zurückbleiben will. Zum Zeitvertreib spielen wir Spiele, stellen uns vor, was wir machen, wenn der Rettungstrupp kommt - was wir essen, unseren Familien sagen, was wir zu Weihnachten bekommen werden. Aber die Spiele werden seltener, uns dämmert, dass wir nicht grundlos hier sind. Dass es für uns kein Happy End geben wird.
«Amy?»
Schweigen.
«Amy, bitte sag etwas ...»
Sie sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Habe ich sie schon verloren? Ich versuche mir vorzustellen, was sie denkt, aber ich habe keine Ahnung.
Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Wir haben alles probiert, jeden Zentimeter unseres Kerkers nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole haben wir nicht angerührt. Sie liegt noch immer da und ruft nach uns.
Ich hebe den Kopf und ertappe Amy dabei, wie sie sie betrachtet. Unsere Blicke treffen sich, und sie schaut weg. Würde sie die Pistole aufheben? Vor einer Woche hätte ich nein gesagt. Aber jetzt? Vertrauen ist zerbrechlich - schwer zu verdienen, leicht zu verlieren. Ich bin mir in nichts mehr sicher.
Ich weiß nur, dass einer von uns sterben wird.
4
Helen Grace trat entspannt und glücklich in die klare Abendluft hinaus. Sie verlangsamte ihre Schritte, genoss den Moment des inneren Friedens und betrachtete amüsiert die Massen an Menschen, die hektisch ihre Einkäufe erledigten.
Sie war auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt von Southampton. Direkt am WestQuay-Einkaufszentrum gelegen, bot der Markt alljährlich Gelegenheit, originelle, handgemachte Geschenke zu finden, die auf keiner Amazon-Wunschliste standen. Helen hasste Weihnachten, aber besorgte trotzdem immer etwas für Anna und Marie. Das war das einzige Zugeständnis an die Festtage, das sie gern machte. Sie kaufte Schmuck, Duftkerzen und andere Kleinigkeiten und sparte auch nicht bei den Süßigkeiten: Datteln, Schokolade, ein sündhaft teurer Christmas- Pudding und eine hübsche Schachtel mit Pfefferminzpralinen - die mochte Marie besonders.
Dann holte sie ihre Kawasaki aus dem WestQuay-Parkhaus und schlängelte sich durch den Innenstadtverkehr in südwestliche Richtung nach Weston. Rasch ließ sie Trubel und Wohlstand hinter sich und landete mitten in Armut und Verzweiflung, in Stein gehauen in Form von fünf monolithischen Wohnblöcken, die die Skyline von Southampton beherrschen. Seit Jahren waren sie der erste Willkommensgruß für Schiffsreisende, und einst machten sie dieser Rolle in ihrer imposanten Verkörperung von Futurismus und Optimismus alle Ehre. Doch das war lange her.
Der Melbourne Tower war mit Abstand am schlimmsten verfallen. Vor vier Jahren war im sechsten Stock eine Drogenküche explodiert. Der Schaden war beträchtlich, das Herzstück aus dem Gebäude herausgerissen. Zunächst hatte der Stadtrat versprochen, es wieder aufzubauen, doch dann war die Krise dazwischengekommen. Theoretisch stand die Sanierung zwar immer noch auf dem Plan, aber niemand glaubte mehr daran. Das Gebäude verharrte in seinem verwundeten und ungeliebten Zustand, von den meisten Familien, die einst dort gewohnt hatten, inzwischen verlassen. Eingezogen waren stattdessen Drogenabhängige, Obdachlose und all jene, für die es sonst keinen Platz auf der Welt gab. Ein hässlicher, vergessener Ort.
Helen stellte ihr Motorrad in sicherer Entfernung der Towers ab und ging zu Fuß weiter. Allgemein mied man als Frau die Siedlung besser in der Dunkelheit, aber Helen war nie um ihre Sicherheit besorgt. Man kannte sie hier und machte einen Bogen um sie, was ihr nur recht war. Heute Abend war alles ruhig, abgesehen von ein paar Hunden, die um ein ausgebranntes Auto herumschnüffelten. Helen stieg vorsichtig über Spritzen und Kondome hinweg und betrat den Melbourne Tower.
Vor Wohnung 408 im vierten Stock blieb sie stehen. Früher war dies eine schöne, komfortable Sozialwohnung gewesen, jetzt war die Tür mit Sicherheitsschlössern geradezu gespickt, und das Metallgitter vor dem Eingang - von innen mit einem Vorhängeschloss gesichert - ließ erst recht den Eindruck von Fort Knox entstehen. Die hämischen Grafitti - Hirni, Mongo, Opfer - neben der Tür ließen erahnen, warum die Wohnung so gesichert war.
Hier wohnten Marie und Anna Storey. Anna war schwerstbehindert, konnte weder sprechen, essen noch allein zur Toilette gehen. Mit ihren vierzehn Jahren war sie in allem auf ihre Mutter angewiesen, und die leistete Übermenschliches. Sie lebten von Sozialhilfe und der Wohlfahrt, kauften ihre Lebensmittel bei Lidl und heizten sparsam. Damit wären sie zurechtgekommen - das war eben ihr Los im Leben, und Marie neigte nicht zu Bitterkeit. Wären da nicht die halbstarken Schlägertypen aus der Gegend gewesen. Dass sie arbeitslos waren und aus zerrütteten Familien stammten, war keine Entschuldigung. Diese Kids waren Kriminelle, denen es Spaß machte, andere zu unterdrücken, zu quälen und eine wehrlose Mutter mit ihrem Kind fertigzumachen.
Helen war all das bekannt, weil sie damit zu tun gehabt hatte. Einer dieser Wichser - ein mieser, pickelgesichtiger Versager namens Steven Green - hatte versucht, Maries Wohnung in Brand zu setzen. Die Feuerwehr war schnell vor Ort gewesen und hatte den Schaden auf den Eingangsflur und das vordere Zimmer begrenzen können, aber Marie und Anna waren danach völlig verstört und panisch vor Angst gewesen, als Helen sie befragte. Es ging hier um versuchten Mord, und dafür musste jemand zur Rechenschaft gezogen werden. Helen gab ihr Bestes, aber aus Mangel an Beweisen kam der Fall nie vor Gericht. Helen drängte die beiden umzuziehen, aber Marie blieb stur. Die Wohnung war ihr Zuhause und speziell auf Annas Bedürfnisse hin umgebaut worden - warum sollten sie umziehen müssen? Marie verkaufte die wenigen noch verbliebenen Wertsachen und ließ die Wohnung sichern. Vier Jahre später flog die Drogenküche in die Luft. Bis dahin hatte der Aufzug funktioniert, und Wohnung 408 war im Grunde ein glückliches Zuhause gewesen. Jetzt war es ein Gefängnis.
Die Sozialdienste sollten eigentlich regelmäßig Besuche abstatten und ein Auge auf die beiden haben, aber sie mieden den Tower wie die Pest und schauten nur alle Jubeljahre mal vorbei. Helen kam häufiger. Und war zufällig zur Stelle, als Steven Green mit seiner Gang zurückkehrte, um sein Werk zu vollenden. Vollgedröhnt wie immer, hielt er einen Benzinkanister umklammert, den er mit einer selbstgemachten Lunte anzuzünden versuchte. Er kam nicht mehr dazu. Helens Schlagstock erwischte ihn erst am Ellbogen, dann im Nacken, wie ein nasser Sack plumpste er zu Boden. Die anderen, durch das plötzliche Auftauchen einer Polizistin völlig überrascht, ließen ihre Benzinkanister fallen und traten die Flucht an. Einigen gelang sie, anderen nicht. Helen hatte lange trainiert, wie man flüchtige Verdächtige von den Beinen holt. Sie vereitelte den Anschlag und kam wenig später in den Genuss, Steven Green und drei seiner engsten Freunde zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt zu sehen. Manchmal war der Job eben doch erfüllend.
Jetzt unterdrückte Helen ein Schaudern. Schäbige Korridore, kaputte Existenzen, Grafitti und Dreck waren ihr aus ihrer eigenen Kindheit zu vertraut, als dass es sie kaltgelassen hätte. Erinnerungen stiegen auf, die sie seit langem rigoros unterdrückte, so auch jetzt wieder. Sie war wegen Anna und Marie hier - und nichts und niemand sollte diese Stimmung trüben.
Sie klopfte dreimal - das verabredete Zeichen - , und nach vielem Aufgeschließe wurde die Tür geöffnet.
«Essen auf Rädern?», war Helens flapsige Frage.
«Verpiss dich», kam die erwartete Antwort.
Helen grinste, während Marie das Gitter öffnete, um sie hereinzulassen. Die finsteren Gedanken verflogen jedes Mal bei Maries «warmherzigem» Willkommensgruß. Drinnen verteilte Helen ihre Geschenke, erhielt selbst welche und fühlte sich im Reinen mit sich selbst. Einen kurzen Moment lang war Wohnung 408 ein Refugium in einer dunklen und brutalen Welt.
5
Der strömende Regen wusch ihre Tränen ab. Aber sie fühlte sich nicht gereinigt - dazu war sie nicht mehr in der Lage. Wie im Wahn brach sie durch das Gestrüpp, ohne auf die Richtung zu achten. Sie musste einfach nur weiter. Weg, weg, weg.
Ein Dornenzweig riss ihr das Gesicht auf, Steine bohrten sich in ihre Füße. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach irgendjemandem, irgendetwas, sah aber nichts als Bäume. War sie überhaupt noch in England? Sie schrie um Hilfe, aber ihre Stimme war schwach, die Kehle zu rau.
In Sampson's Winter Wonderland standen Familien geduldig Schlange vor der Höhle des Weihnachtsmanns. Das Wonderland bestand eigentlich nur aus hastig aufgebauten Zelten auf einem matschigen Acker, aber den Kindern schien es zu gefallen. Freddie Williams, vierfacher Familienvater, hatte gerade in seinen ersten vorweihnachtlichen Mince Pie gebissen, als er sie erblickte. Eine gespenstische Gestalt im strömenden Regen. Freddies Mince Pie blieb auf halbem Wege in der Luft hängen, als sie langsam, aber zielstrebig auf ihn zuhumpelte. Auf den zweiten Blick sah sie eher mitleiderregend als gespenstisch aus - verwahrlost, blutend und leichenblass. Freddie wollte Reißaus nehmen - sie wirkte durchgeknallt - , aber unter ihrem panischen Blick versagten seine Beine den Dienst. Die letzten Meter legte sie schneller zurück, als er es für möglich gehalten hatte, und als er erschrocken zurückwich, warf sie sich auf ihn. Der Mince Pie machte einen Salto und landete mit einem satten Platsch in einer Pfütze.
Wenig später im Büro von Sampson's Wonderland, fest in eine Decke gewickelt, sah sie nicht weniger gestört aus. Sie weigerte sich zu sagen, wo sie gewesen war oder wo sie herkam. Anscheinend wusste sie nicht einmal, welcher Tag war. Es war nicht mehr aus ihr herauszubekommen, als dass sie Amy hieß und heute Morgen ihren Freund umgebracht hatte.
Helen trat auf die Bremse und kam vor der Southampton Central Police Station zum Stehen. Das futuristische Gebäude aus Glas und Kalkstein ragte vor ihr in die Höhe und verhieß einen großartigen Blick über die Stadt und den Hafen. Es war erst ein gutes Jahr alt und für ein Polizeirevier sehr beeindruckend. Die Sicherheitssysteme waren auf dem neuesten Stand, eine CPSUnit - die Spezialeinheit zur Verbrechensverfolgung - befand sich vor Ort, es gab ein SmartWater-Analyselabor und alles, was das Herz des modernen Polizeibeamten begehrte. Helen stellte das Motorrad ab und ging hinein.
«Kleines Nickerchen im Dienst, Jerry?»
Der angesprochene Beamte schreckte aus seinem Tagtraum hoch und versuchte, so geschäftig wie möglich zu wirken. Alle setzten sich immer etwas aufrechter hin, wenn Helen hereinkam. Nicht unbedingt, weil sie Detective Inspector war, eher wegen ihres Auftretens. Ein Meter achtzig purer Ehrgeiz und Energie in Motorradleder. Sie war nie zu spät, nie verkatert, nie krank. Sie lebte ihre Arbeit mit einer Leidenschaft, von der andere nur träumen konnten.
Helen ging auf direktem Weg in die Abteilung für schwere Kriminalität. Southamptons Vorzeigerevier mochte zwar revolutionär sein, die Probleme in der Stadt aber blieben die gleichen. Beim Durchsehen des Stapels von Fallakten resignierte Helen angesichts der Vorhersehbarkeit ein wenig. Eine häusliche Auseinandersetzung, die mit Totschlag geendet hatte - zwei zerstörte Leben und ein kleines Kind in staatlicher Obhut. Der versuchte Mord an einem Saints-Fan durch angereiste Anhänger von Leeds United und kürzlich erst die brutale Ermordung eines Zweiundachtzigjährigen bei einem schiefgelaufenen Raubüberfall. Der Angreifer hatte die gestohlene Brieftasche auf der Flucht fallen lassen und der Polizei einen sauberen Fingerabdruck und damit prompt seine Identität geliefert. Ein alter Bekannter der Polizei von Southampton - ein mieser Typ, der mal eben in der Vorweihnachtszeit das Leben einer arglosen Familie zerstört hatte. Helen sollte der CPS-Unit heute Morgen dazu Bericht erstatten. Sie schlug die Akte auf und schwor sich, dass die Beweise gegen das kleine Arschloch absolut wasserdicht sein würden.
«Leg gar nicht erst die Beine hoch, wir haben Arbeit.»
Mark Fuller, ihr gleichermaßen gut aussehender wie talentierter DS, kam auf sie zu. Seit fünf Jahren arbeiteten er und Helen Hand in Hand. Mord, Kindesentführung, Vergewaltigung, Menschenhandel - er hatte ihr bei der Aufklärung zahlreicher unangenehmer Fälle geholfen, und sie hatte sich immer auf seinen Einsatz, seine Intuition und seinen Mut verlassen können. Dann aber hatte ein hässlicher Scheidungskrieg seinen Tribut gefordert, und in letzter Zeit hatte Mark oft zerfahren und unzuverlässig gewirkt. Enttäuscht merkte Helen, dass er wieder einmal nach Alkohol roch.
«Eine junge Frau, die behauptet, ihren Freund ermordet zu haben.»
Mark zog ein Foto aus der Akte und reichte es Helen. In der rechten oberen Ecke war der «Vermisst»-Stempel deutlich zu erkennen.
«Das Opfer heißt Sam Fisher.»
Helen betrachtete den Schnappschuss eines jungen Mannes mit glattem Gesicht. Ordentlich, optimistisch, fast ein wenig naiv. Mark ließ Helen Zeit, das Foto aufmerksam zu studieren, dann gab er ihr ein zweites. «
Und die Tatverdächtige. Amy Anderson.»
Der Anblick überraschte Helen. Ein hübsches Mädchen aus gutem Hause - höchstens Anfang zwanzig. Mit ihrem langen, gepflegten Haar, den auffallend blauen Augen und den fein geschwungenen Lippen war sie der Inbegriff von Jugend und Unschuld. Helen griff nach ihrer Jacke.
«Dann los.»
«Willst du fahren, oder soll ich - »
«Ich fahre.»
Schweigend gingen sie zum Dienstwagen, unterwegs sammelte Helen noch DC Brooks ein, die in Kontakt mit der Vermisstenstelle stand. Die unerschütterlich fröhliche Charlene «Charlie» Brooks war eine gute Polizistin, gewissenhaft und energisch, die sich allerdings standhaft weigerte, sich auch wie eine solche zu kleiden. Zum heutigen Outfit gehörte eine hautenge Lederhose. Es war nicht Helens Aufgabe, den Kleidungsstil ihrer Beamten zu beanstanden, aber diesmal war sie drauf und dran.
Im Auto machte sich Marks Alkoholfahne noch stärker bemerkbar. Helen warf ihm einen scharfen Blick zu und öffnete dann das Fenster.
«Was wissen wir?», fragte sie.
Charlie hatte bereits die Akte aufgeschlagen.
«Amy Anderson. Ist vor gut zwei Wochen als vermisst gemeldet worden. Wurde zuletzt bei einem Konzert in London gesehen. Am Abend des 2. Dezember hat sie ihrer Mutter gemailt, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund Sam nach Hause trampen und vor Mitternacht zurück sein würde. Beide sind seither verschwunden. Ihre Mutter hat die Polizei verständigt.»
«Und weiter?»
«Heute Morgen ist sie bei Sampson's aufgetaucht. Hat gesagt, sie hätte ihren Freund umgebracht, seitdem schweigt sie. Spricht mit niemandem ein Wort.»
«Und wo ist sie die ganze Zeit über gewesen?»
Mark und Charlie warfen sich einen Blick zu, dann sagte Mark:
«Da können wir nur spekulieren.»
Sie ließen den Wagen auf dem Parkplatz des Winter Wonderland stehen und machten sich auf den Weg zum Bürocontainer. Der Anblick, der sie beim Eintreten erwartete, war erschütternd. Die junge Frau, die dort zusammengesunken in eine alte Decke gewickelt saß, sah verwildert, wahnsinnig und völlig abgemagert aus.
«Hallo, Amy. Ich bin Detective Inspector Helen Grace - Sie können mich Helen nennen. Darf ich mich setzen?»
Keine Reaktion. Helen ließ sich Amy gegenüber vorsichtig auf einem Stuhl nieder.
«Ich würde gerne mit Ihnen über Sam sprechen. Geht das?»
Die junge Frau sah auf, ein panischer Ausdruck lag in ihrem ausgemergelten Gesicht. Helen rief sich das Foto vor Augen, das sie vorhin betrachtet hatte. Wären da nicht die stechend blauen Augen und die alte Narbe am Kinn, man hätte sie kaum identifizieren können. Das einst glänzende Haar war jetzt stumpf, verknotet und fettig. Die Fingernägel waren dreckig. Gesicht, Arme und Beine sahen aus wie nach einem Anfall von Selbstverstümmelung. Und dann dieser Geruch. Der Geruch war das Schlimmste. Süß. Stechend. Widerlich.
«Ich muss Sam finden. Können Sie mir sagen, wo er ist?»
Amy schloss die Augen. Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg durch die Wimpern und rann ihr über die Wange.
«Wo ist er, Amy?»
Langes Schweigen, schließlich flüsterte sie:
«Im Wald.»
Da Amy sich kategorisch weigerte, den sicheren Bürocontainer zu verlassen, musste Helen den Suchhund anfordern. Sie ließ Charlie als Aufpasserin bei Amy zurück und nahm Mark mit. Simpson, der Retriever, steckte seine Nase in die blutverschmierten Lumpen, die einmal Amys Kleidung gewesen waren, und jagte los in Richtung Wald.
Es war unschwer zu erkennen, wo Amy langgelaufen war. Wie blind war sie durch den Wald gestolpert und hatte deutliche Spuren im Unterholz hinterlassen. Ein Stück Stoff hier, ein Hautfetzen dort markierten ihren Weg. Simpson fand sie alle und sprang eifrig durch das Dickicht. Helen blieb dicht hinter ihm, und Mark war entschlossen, sich von einer Frau nicht abhängen zu lassen. Aber er hatte seine Mühe und schwitzte Alkohol aus.
Vor ihnen tauchte ein einsam gelegenes Gebäude auf. Ein öffentliches Schwimmbad, lange geschlossen und heruntergekommen, ein trauriges Überbleibsel aus fröhlichen Zeiten. Simpson sprang an einer Tür mit Vorhängeschloss hoch und raste dann um das Gebäude herum, bis er ein kaputtes Fenster fand. Auf den zersplitterten Scheiben war frisches Blut. Sie hatten Amys Kokon gefunden.
Es war schwierig hineinzukommen. Trotz des üblen Zustands des Gebäudes war jeder Ein- und Ausgang gesichert. Gegen was gesichert? In der Umgebung wohnte niemand. Schließlich brachen sie das Schloss auf, dann begann das übliche Ballett, Schuhe in sterilen Überzügen glitten über den Boden.
Und da lag er. Im Schwimmbecken, fünf Meter unter ihnen. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Leiter fand, dann stand Helen unten im Becken neben Amys «Sam». Ein normaler junger Mann auf dem besten Weg, Karriere als Anwalt zu machen, aber sein Anblick hätte das nicht vermuten lassen. Er sah aus wie die Leiche eines alten Penners. Die Kleidung war mit Urin und Exkrementen verdreckt, die Fingernägel abgebrochen und schmutzig. Und dann das Gesicht. Eingefallen und zu einer schrecklichen Fratze verzerrt - Angst, Schmerz und Entsetzen hatten ihre Spuren hinterlassen. Lebendig war er gutaussehend und sympathisch gewesen. Tot war er widerwärtig.
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Er liegt von mir abgewandt - es wäre ganz leicht. Merkt er, wenn ich mich bewege? Würde er sich wehren? Oder wäre er einfach froh, dass dieser Albtraum ein Ende hat?
So etwas darf ich nicht denken. Ich muss mich an das halten, was gut und richtig ist. Aber wenn man eingesperrt ist, sind die Tage endlos, und als Erstes stirbt die Hoffnung. Um die finsteren Gedanken abzuwehren, klammere ich mich an gute Erinnerungen, aber es fallen mir immer weniger ein.
Wir sind erst zehn Tage hier (oder sind es elf?), aber das normale Leben ist nur noch eine blasse Erinnerung. Nach einem Konzert in London wollten wir per Anhalter zurückfahren, da ist es passiert. Unzählige Autos waren schon an uns vorbeigerauscht, es goss in Strömen, wir waren klatschnass und wollten gerade umkehren, als endlich ein Lieferwagen hielt. Drinnen war es warm und trocken. Wir bekamen Kaffee aus einer Thermoskanne angeboten. Schon der Geruch munterte uns wieder auf. Und erst der Geschmack. Wir wussten nicht, dass es unsere letzten Momente in Freiheit waren.
Als ich wieder zu mir kam, hämmerte mein Herz. In meinem Mund war Blut. Ich war nicht mehr im warmen Lieferwagen, sondern an einem kalten, dunklen Ort. War das ein Traum? Ein Geräusch hinter mir schreckte mich auf. Es war zum Glück nur Sam, der sich mühsam aufrichtete.
Wir waren ausgeraubt worden. Ausgeraubt und ausgesetzt. Ich krabbelte vorwärts, tastete die Wände ab, die uns gefangen hielten. Kalte, harte Kacheln. Ich stieß gegen Sam, hielt ihn fest und atmete seinen Geruch ein, den ich so liebe. Dann war der Moment vorbei, und wir begriffen den Horror unserer Lage.
Wir befanden uns in einem leeren Schwimmbecken. Dem Verfall preisgegeben. Sprungbretter, Schilder und sogar die Leitern waren abmontiert. Alles, was sich irgendwie noch verwenden ließ, hatte man mitgenommen. Zurückgeblieben war ein tiefes, glattes Loch, aus dem es keinen Ausweg gab.
Hörte das miese Arschloch unser Schreien? Wahrscheinlich. Denn als wir endlich Ruhe gaben, passierte es. Ein Handy klingelte. Für einen kurzen Moment dachten wir erleichtert, jemand käme, um uns zu retten. Dann sahen wir auf dem Boden neben uns das Handydisplay leuchten. Sam rührte sich nicht, also lief ich hin. Warum ich? Warum immer ich?
«Hallo, Amy.»
Die Stimme am anderen Ende klang verzerrt, unmenschlich. Ich wollte um Gnade betteln, beteuern, dass alles ein Irrtum sei, aber als ich meinen Namen hörte, verlor ich jeden Mut. Ich schwieg, und die Stimme fuhr unbarmherzig fort:
«Willst du leben?»
«Wer sind Sie? Was haben Sie mit uns - »
«Willst du leben?»
Einen Moment konnte ich nichts sagen. Doch dann -
«Ja.»
«Auf dem Boden vor dir liegt eine Pistole. Mit einer Kugel. Für Sam oder für dich. Das ist der Preis der Freiheit. Du musst töten, um zu leben. Willst du leben, Amy?»
Wieder konnte ich nichts sagen. Mir wurde schlecht.
«Nun, willst du?»
Dann war die Leitung tot. Und Sam fragte: «Was haben sie gesagt?»
Sam schläft dicht neben mir. Ich könnte es jetzt tun.
2
Die Frau schrie vor Schmerz. Verstummte. Auf ihrem Rücken bildeten sich rote Striemen. Erneut hob Jake die Gerte und ließ sie auf die Haut knallen. Die Frau wand sich, schrie auf, sagte dann:
«Noch mal.»
Sie sagte selten mehr. Sie war nicht sehr gesprächig. Nicht wie manch andere seiner Kunden. Die Beamten, Buchhalter und Angestellten, die ihr Leben in sexlosen Beziehungen fristeten - die waren ganz wild darauf zu reden. Wollten unbedingt von dem Mann gemocht werden, der sie für Geld schlug. Sie aber war anders, ein Buch mit sieben Siegeln. Sie verriet nie, wie sie auf ihn gekommen war. Oder warum sie herkam. Sie gab klare, eindeutige Anweisungen - nannte ihre Bedürfnisse - , dann hatte er anzufangen.
Zuerst fesselte er immer ihre Handgelenke, fixierte mit zwei nietenbesetzten Lederbändern die Arme an der Wand. Eiserne Fußfesseln umschlossen die Füße. Ihre Kleidung lag ordentlich zusammengelegt auf dem bereitgestellten Stuhl, und sie stand gefesselt und in Unterwäsche da und wartete auf ihre Bestrafung.
Kein Rollenspiel. Kein «bitte tu mir nicht weh, Daddy» oder «ich bin ein ungezogenes Mädchen». Sie wollte einzig und allein, dass er ihr Schmerzen zufügte. In gewisser Hinsicht war das befreiend. Irgendwann wird jeder Job zur Routine, und manchmal war es ganz schön, sich nicht auf die Phantasien trauriger Möchtegernopfer einlassen zu müssen. Gleichzeitig war ihre Weigerung, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, auch frustrierend. Das Wichtigste bei jeder SM-Begegnung ist Vertrauen. Der Devote muss sich in sicheren Händen wissen, muss sich darauf verlassen können, dass der Dominierende seinen Charakter und seine Bedürfnisse kennt und Letztere auf eine für beide Seiten annehmbare Weise erfüllt. Ansonsten kann daraus schnell Körperverletzung oder sogar Missbrauch werden - und das war ganz sicher nicht Jakes Ding.
Also hatte er es immer wieder versucht, hier eine Frage, dort einen Kommentar fallen gelassen. Und im Laufe der Zeit hatte er ein paar Eckdaten zusammenbekommen: dass sie ursprünglich nicht aus Southampton stammte, dass sie keine Familie hatte, dass sie auf die vierzig zuging und ihr das nichts ausmachte. Aus den gemeinsamen Sitzungen wusste er, dass es ihr einzig um den Schmerz ging. Sex war kein Thema. Sie wollte nicht verführt oder angemacht werden. Sie wollte bestraft werden. Die Schläge überschritten nie eine gewisse Grenze, waren aber hart und konstant. Ihr Körper hielt das aus - sie war groß, muskulös und gut trainiert - , und alte Narben verrieten, dass sie kein Neuling in der SM-Szene war.
Trotz seiner Versuche, all der vorsichtig gestellten Fragen wusste Jake über sie jedoch nur eines mit Sicherheit. Beim Anziehen war ihr einmal ein Ausweis aus der Tasche gerutscht und zu Boden gefallen. Blitzschnell hatte sie ihn aufgehoben und wohl angenommen, er hätte nichts gesehen. Aber das hatte er. Seine Menschenkenntnis war eigentlich gut, daher war er in dem Moment wirklich überrascht gewesen. Ohne den Ausweis wäre er nie darauf gekommen, dass sie Polizistin war.
3
Amy hockt ein Stück weg von mir. Nichts ist mehr peinlich, ohne jede Scham pinkelt sie auf den Boden. Ich sehe zu, wie der dünne Pissestrahl auf den Kacheln aufschlägt, winzige Tropfen hochspringen und auf ihrer dreckigen Unterhose landen. Vor wenigen Wochen hätte ich mich bei dem Anblick abgewendet, jetzt nicht mehr.
Der Urin sickert langsam die Schräge hinab in die Fäkalienpfütze, die sich am tieferen Beckenende gebildet hat. Gebannt verfolge ich den Weg, bis das Rinnsal versiegt und das Spektakel vorbei ist. Amy zieht sich in ihre Ecke zurück. Kein Wort der Entschuldigung, kein Blick. Wir sind zu Tieren geworden - achten weder auf uns selbst noch aufeinander.
Am Anfang war das anders. Wir waren wütend, trotzig. Entschlossen, nicht hier zu sterben, sondern gemeinsam zu überleben. Amy stellte sich auf meine Schultern, versuchte sich an der Wand festzukrallen, doch an den glatten Kacheln brachen ihre Nägel ab. Dann versuchte sie, von meinen Schultern hochzuspringen. Aber das Becken ist fast fünf Meter tief, vielleicht sogar mehr, und jede Rettung außer Reichweite.
Wir haben das Handy probiert, aber es war mit einer PIN gesichert, und nach ein paar Versuchen war der Akku leer. Wir schrien, bis wir heiser waren. Die einzige Antwort war das Echo, das uns verspottete. Manchmal fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten, die einzigen menschlichen Wesen weit und breit. Draußen ist bald Weihnachten, und bestimmt sucht man nach uns, aber hier drinnen, umgeben von dieser schrecklichen, unendlichen Stille, ist das schwer zu glauben.
Flucht ist nicht möglich, also überleben wir bloß noch. Wir haben unsere Nägel abgekaut bis aufs Blut, das wir gierig aufsaugten. Morgens haben wir Kondenswasser von den Kacheln geleckt, aber unsere Mägen taten trotzdem weh. Wir haben überlegt, unsere Kleidung zu essen, die Idee aber wieder verworfen. Denn nachts ist es eiskalt, und alles, was uns vorm Erfrieren schützt, sind unsere paar Klamotten und die Wärme, die wir voneinander bekommen.
Bilde ich mir das ein, oder sind unsere Umarmungen kälter geworden? Weniger fest? Seit wir hier sind, haben wir uns Tag und Nacht aneinandergeklammert, uns gegenseitig am Leben gehalten, weil keiner allein an diesem furchtbaren Ort zurückbleiben will. Zum Zeitvertreib spielen wir Spiele, stellen uns vor, was wir machen, wenn der Rettungstrupp kommt - was wir essen, unseren Familien sagen, was wir zu Weihnachten bekommen werden. Aber die Spiele werden seltener, uns dämmert, dass wir nicht grundlos hier sind. Dass es für uns kein Happy End geben wird.
«Amy?»
Schweigen.
«Amy, bitte sag etwas ...»
Sie sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Habe ich sie schon verloren? Ich versuche mir vorzustellen, was sie denkt, aber ich habe keine Ahnung.
Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Wir haben alles probiert, jeden Zentimeter unseres Kerkers nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole haben wir nicht angerührt. Sie liegt noch immer da und ruft nach uns.
Ich hebe den Kopf und ertappe Amy dabei, wie sie sie betrachtet. Unsere Blicke treffen sich, und sie schaut weg. Würde sie die Pistole aufheben? Vor einer Woche hätte ich nein gesagt. Aber jetzt? Vertrauen ist zerbrechlich - schwer zu verdienen, leicht zu verlieren. Ich bin mir in nichts mehr sicher.
Ich weiß nur, dass einer von uns sterben wird.
4
Helen Grace trat entspannt und glücklich in die klare Abendluft hinaus. Sie verlangsamte ihre Schritte, genoss den Moment des inneren Friedens und betrachtete amüsiert die Massen an Menschen, die hektisch ihre Einkäufe erledigten.
Sie war auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt von Southampton. Direkt am WestQuay-Einkaufszentrum gelegen, bot der Markt alljährlich Gelegenheit, originelle, handgemachte Geschenke zu finden, die auf keiner Amazon-Wunschliste standen. Helen hasste Weihnachten, aber besorgte trotzdem immer etwas für Anna und Marie. Das war das einzige Zugeständnis an die Festtage, das sie gern machte. Sie kaufte Schmuck, Duftkerzen und andere Kleinigkeiten und sparte auch nicht bei den Süßigkeiten: Datteln, Schokolade, ein sündhaft teurer Christmas- Pudding und eine hübsche Schachtel mit Pfefferminzpralinen - die mochte Marie besonders.
Dann holte sie ihre Kawasaki aus dem WestQuay-Parkhaus und schlängelte sich durch den Innenstadtverkehr in südwestliche Richtung nach Weston. Rasch ließ sie Trubel und Wohlstand hinter sich und landete mitten in Armut und Verzweiflung, in Stein gehauen in Form von fünf monolithischen Wohnblöcken, die die Skyline von Southampton beherrschen. Seit Jahren waren sie der erste Willkommensgruß für Schiffsreisende, und einst machten sie dieser Rolle in ihrer imposanten Verkörperung von Futurismus und Optimismus alle Ehre. Doch das war lange her.
Der Melbourne Tower war mit Abstand am schlimmsten verfallen. Vor vier Jahren war im sechsten Stock eine Drogenküche explodiert. Der Schaden war beträchtlich, das Herzstück aus dem Gebäude herausgerissen. Zunächst hatte der Stadtrat versprochen, es wieder aufzubauen, doch dann war die Krise dazwischengekommen. Theoretisch stand die Sanierung zwar immer noch auf dem Plan, aber niemand glaubte mehr daran. Das Gebäude verharrte in seinem verwundeten und ungeliebten Zustand, von den meisten Familien, die einst dort gewohnt hatten, inzwischen verlassen. Eingezogen waren stattdessen Drogenabhängige, Obdachlose und all jene, für die es sonst keinen Platz auf der Welt gab. Ein hässlicher, vergessener Ort.
Helen stellte ihr Motorrad in sicherer Entfernung der Towers ab und ging zu Fuß weiter. Allgemein mied man als Frau die Siedlung besser in der Dunkelheit, aber Helen war nie um ihre Sicherheit besorgt. Man kannte sie hier und machte einen Bogen um sie, was ihr nur recht war. Heute Abend war alles ruhig, abgesehen von ein paar Hunden, die um ein ausgebranntes Auto herumschnüffelten. Helen stieg vorsichtig über Spritzen und Kondome hinweg und betrat den Melbourne Tower.
Vor Wohnung 408 im vierten Stock blieb sie stehen. Früher war dies eine schöne, komfortable Sozialwohnung gewesen, jetzt war die Tür mit Sicherheitsschlössern geradezu gespickt, und das Metallgitter vor dem Eingang - von innen mit einem Vorhängeschloss gesichert - ließ erst recht den Eindruck von Fort Knox entstehen. Die hämischen Grafitti - Hirni, Mongo, Opfer - neben der Tür ließen erahnen, warum die Wohnung so gesichert war.
Hier wohnten Marie und Anna Storey. Anna war schwerstbehindert, konnte weder sprechen, essen noch allein zur Toilette gehen. Mit ihren vierzehn Jahren war sie in allem auf ihre Mutter angewiesen, und die leistete Übermenschliches. Sie lebten von Sozialhilfe und der Wohlfahrt, kauften ihre Lebensmittel bei Lidl und heizten sparsam. Damit wären sie zurechtgekommen - das war eben ihr Los im Leben, und Marie neigte nicht zu Bitterkeit. Wären da nicht die halbstarken Schlägertypen aus der Gegend gewesen. Dass sie arbeitslos waren und aus zerrütteten Familien stammten, war keine Entschuldigung. Diese Kids waren Kriminelle, denen es Spaß machte, andere zu unterdrücken, zu quälen und eine wehrlose Mutter mit ihrem Kind fertigzumachen.
Helen war all das bekannt, weil sie damit zu tun gehabt hatte. Einer dieser Wichser - ein mieser, pickelgesichtiger Versager namens Steven Green - hatte versucht, Maries Wohnung in Brand zu setzen. Die Feuerwehr war schnell vor Ort gewesen und hatte den Schaden auf den Eingangsflur und das vordere Zimmer begrenzen können, aber Marie und Anna waren danach völlig verstört und panisch vor Angst gewesen, als Helen sie befragte. Es ging hier um versuchten Mord, und dafür musste jemand zur Rechenschaft gezogen werden. Helen gab ihr Bestes, aber aus Mangel an Beweisen kam der Fall nie vor Gericht. Helen drängte die beiden umzuziehen, aber Marie blieb stur. Die Wohnung war ihr Zuhause und speziell auf Annas Bedürfnisse hin umgebaut worden - warum sollten sie umziehen müssen? Marie verkaufte die wenigen noch verbliebenen Wertsachen und ließ die Wohnung sichern. Vier Jahre später flog die Drogenküche in die Luft. Bis dahin hatte der Aufzug funktioniert, und Wohnung 408 war im Grunde ein glückliches Zuhause gewesen. Jetzt war es ein Gefängnis.
Die Sozialdienste sollten eigentlich regelmäßig Besuche abstatten und ein Auge auf die beiden haben, aber sie mieden den Tower wie die Pest und schauten nur alle Jubeljahre mal vorbei. Helen kam häufiger. Und war zufällig zur Stelle, als Steven Green mit seiner Gang zurückkehrte, um sein Werk zu vollenden. Vollgedröhnt wie immer, hielt er einen Benzinkanister umklammert, den er mit einer selbstgemachten Lunte anzuzünden versuchte. Er kam nicht mehr dazu. Helens Schlagstock erwischte ihn erst am Ellbogen, dann im Nacken, wie ein nasser Sack plumpste er zu Boden. Die anderen, durch das plötzliche Auftauchen einer Polizistin völlig überrascht, ließen ihre Benzinkanister fallen und traten die Flucht an. Einigen gelang sie, anderen nicht. Helen hatte lange trainiert, wie man flüchtige Verdächtige von den Beinen holt. Sie vereitelte den Anschlag und kam wenig später in den Genuss, Steven Green und drei seiner engsten Freunde zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt zu sehen. Manchmal war der Job eben doch erfüllend.
Jetzt unterdrückte Helen ein Schaudern. Schäbige Korridore, kaputte Existenzen, Grafitti und Dreck waren ihr aus ihrer eigenen Kindheit zu vertraut, als dass es sie kaltgelassen hätte. Erinnerungen stiegen auf, die sie seit langem rigoros unterdrückte, so auch jetzt wieder. Sie war wegen Anna und Marie hier - und nichts und niemand sollte diese Stimmung trüben.
Sie klopfte dreimal - das verabredete Zeichen - , und nach vielem Aufgeschließe wurde die Tür geöffnet.
«Essen auf Rädern?», war Helens flapsige Frage.
«Verpiss dich», kam die erwartete Antwort.
Helen grinste, während Marie das Gitter öffnete, um sie hereinzulassen. Die finsteren Gedanken verflogen jedes Mal bei Maries «warmherzigem» Willkommensgruß. Drinnen verteilte Helen ihre Geschenke, erhielt selbst welche und fühlte sich im Reinen mit sich selbst. Einen kurzen Moment lang war Wohnung 408 ein Refugium in einer dunklen und brutalen Welt.
5
Der strömende Regen wusch ihre Tränen ab. Aber sie fühlte sich nicht gereinigt - dazu war sie nicht mehr in der Lage. Wie im Wahn brach sie durch das Gestrüpp, ohne auf die Richtung zu achten. Sie musste einfach nur weiter. Weg, weg, weg.
Ein Dornenzweig riss ihr das Gesicht auf, Steine bohrten sich in ihre Füße. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach irgendjemandem, irgendetwas, sah aber nichts als Bäume. War sie überhaupt noch in England? Sie schrie um Hilfe, aber ihre Stimme war schwach, die Kehle zu rau.
In Sampson's Winter Wonderland standen Familien geduldig Schlange vor der Höhle des Weihnachtsmanns. Das Wonderland bestand eigentlich nur aus hastig aufgebauten Zelten auf einem matschigen Acker, aber den Kindern schien es zu gefallen. Freddie Williams, vierfacher Familienvater, hatte gerade in seinen ersten vorweihnachtlichen Mince Pie gebissen, als er sie erblickte. Eine gespenstische Gestalt im strömenden Regen. Freddies Mince Pie blieb auf halbem Wege in der Luft hängen, als sie langsam, aber zielstrebig auf ihn zuhumpelte. Auf den zweiten Blick sah sie eher mitleiderregend als gespenstisch aus - verwahrlost, blutend und leichenblass. Freddie wollte Reißaus nehmen - sie wirkte durchgeknallt - , aber unter ihrem panischen Blick versagten seine Beine den Dienst. Die letzten Meter legte sie schneller zurück, als er es für möglich gehalten hatte, und als er erschrocken zurückwich, warf sie sich auf ihn. Der Mince Pie machte einen Salto und landete mit einem satten Platsch in einer Pfütze.
Wenig später im Büro von Sampson's Wonderland, fest in eine Decke gewickelt, sah sie nicht weniger gestört aus. Sie weigerte sich zu sagen, wo sie gewesen war oder wo sie herkam. Anscheinend wusste sie nicht einmal, welcher Tag war. Es war nicht mehr aus ihr herauszubekommen, als dass sie Amy hieß und heute Morgen ihren Freund umgebracht hatte.
Helen trat auf die Bremse und kam vor der Southampton Central Police Station zum Stehen. Das futuristische Gebäude aus Glas und Kalkstein ragte vor ihr in die Höhe und verhieß einen großartigen Blick über die Stadt und den Hafen. Es war erst ein gutes Jahr alt und für ein Polizeirevier sehr beeindruckend. Die Sicherheitssysteme waren auf dem neuesten Stand, eine CPSUnit - die Spezialeinheit zur Verbrechensverfolgung - befand sich vor Ort, es gab ein SmartWater-Analyselabor und alles, was das Herz des modernen Polizeibeamten begehrte. Helen stellte das Motorrad ab und ging hinein.
«Kleines Nickerchen im Dienst, Jerry?»
Der angesprochene Beamte schreckte aus seinem Tagtraum hoch und versuchte, so geschäftig wie möglich zu wirken. Alle setzten sich immer etwas aufrechter hin, wenn Helen hereinkam. Nicht unbedingt, weil sie Detective Inspector war, eher wegen ihres Auftretens. Ein Meter achtzig purer Ehrgeiz und Energie in Motorradleder. Sie war nie zu spät, nie verkatert, nie krank. Sie lebte ihre Arbeit mit einer Leidenschaft, von der andere nur träumen konnten.
Helen ging auf direktem Weg in die Abteilung für schwere Kriminalität. Southamptons Vorzeigerevier mochte zwar revolutionär sein, die Probleme in der Stadt aber blieben die gleichen. Beim Durchsehen des Stapels von Fallakten resignierte Helen angesichts der Vorhersehbarkeit ein wenig. Eine häusliche Auseinandersetzung, die mit Totschlag geendet hatte - zwei zerstörte Leben und ein kleines Kind in staatlicher Obhut. Der versuchte Mord an einem Saints-Fan durch angereiste Anhänger von Leeds United und kürzlich erst die brutale Ermordung eines Zweiundachtzigjährigen bei einem schiefgelaufenen Raubüberfall. Der Angreifer hatte die gestohlene Brieftasche auf der Flucht fallen lassen und der Polizei einen sauberen Fingerabdruck und damit prompt seine Identität geliefert. Ein alter Bekannter der Polizei von Southampton - ein mieser Typ, der mal eben in der Vorweihnachtszeit das Leben einer arglosen Familie zerstört hatte. Helen sollte der CPS-Unit heute Morgen dazu Bericht erstatten. Sie schlug die Akte auf und schwor sich, dass die Beweise gegen das kleine Arschloch absolut wasserdicht sein würden.
«Leg gar nicht erst die Beine hoch, wir haben Arbeit.»
Mark Fuller, ihr gleichermaßen gut aussehender wie talentierter DS, kam auf sie zu. Seit fünf Jahren arbeiteten er und Helen Hand in Hand. Mord, Kindesentführung, Vergewaltigung, Menschenhandel - er hatte ihr bei der Aufklärung zahlreicher unangenehmer Fälle geholfen, und sie hatte sich immer auf seinen Einsatz, seine Intuition und seinen Mut verlassen können. Dann aber hatte ein hässlicher Scheidungskrieg seinen Tribut gefordert, und in letzter Zeit hatte Mark oft zerfahren und unzuverlässig gewirkt. Enttäuscht merkte Helen, dass er wieder einmal nach Alkohol roch.
«Eine junge Frau, die behauptet, ihren Freund ermordet zu haben.»
Mark zog ein Foto aus der Akte und reichte es Helen. In der rechten oberen Ecke war der «Vermisst»-Stempel deutlich zu erkennen.
«Das Opfer heißt Sam Fisher.»
Helen betrachtete den Schnappschuss eines jungen Mannes mit glattem Gesicht. Ordentlich, optimistisch, fast ein wenig naiv. Mark ließ Helen Zeit, das Foto aufmerksam zu studieren, dann gab er ihr ein zweites. «
Und die Tatverdächtige. Amy Anderson.»
Der Anblick überraschte Helen. Ein hübsches Mädchen aus gutem Hause - höchstens Anfang zwanzig. Mit ihrem langen, gepflegten Haar, den auffallend blauen Augen und den fein geschwungenen Lippen war sie der Inbegriff von Jugend und Unschuld. Helen griff nach ihrer Jacke.
«Dann los.»
«Willst du fahren, oder soll ich - »
«Ich fahre.»
Schweigend gingen sie zum Dienstwagen, unterwegs sammelte Helen noch DC Brooks ein, die in Kontakt mit der Vermisstenstelle stand. Die unerschütterlich fröhliche Charlene «Charlie» Brooks war eine gute Polizistin, gewissenhaft und energisch, die sich allerdings standhaft weigerte, sich auch wie eine solche zu kleiden. Zum heutigen Outfit gehörte eine hautenge Lederhose. Es war nicht Helens Aufgabe, den Kleidungsstil ihrer Beamten zu beanstanden, aber diesmal war sie drauf und dran.
Im Auto machte sich Marks Alkoholfahne noch stärker bemerkbar. Helen warf ihm einen scharfen Blick zu und öffnete dann das Fenster.
«Was wissen wir?», fragte sie.
Charlie hatte bereits die Akte aufgeschlagen.
«Amy Anderson. Ist vor gut zwei Wochen als vermisst gemeldet worden. Wurde zuletzt bei einem Konzert in London gesehen. Am Abend des 2. Dezember hat sie ihrer Mutter gemailt, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund Sam nach Hause trampen und vor Mitternacht zurück sein würde. Beide sind seither verschwunden. Ihre Mutter hat die Polizei verständigt.»
«Und weiter?»
«Heute Morgen ist sie bei Sampson's aufgetaucht. Hat gesagt, sie hätte ihren Freund umgebracht, seitdem schweigt sie. Spricht mit niemandem ein Wort.»
«Und wo ist sie die ganze Zeit über gewesen?»
Mark und Charlie warfen sich einen Blick zu, dann sagte Mark:
«Da können wir nur spekulieren.»
Sie ließen den Wagen auf dem Parkplatz des Winter Wonderland stehen und machten sich auf den Weg zum Bürocontainer. Der Anblick, der sie beim Eintreten erwartete, war erschütternd. Die junge Frau, die dort zusammengesunken in eine alte Decke gewickelt saß, sah verwildert, wahnsinnig und völlig abgemagert aus.
«Hallo, Amy. Ich bin Detective Inspector Helen Grace - Sie können mich Helen nennen. Darf ich mich setzen?»
Keine Reaktion. Helen ließ sich Amy gegenüber vorsichtig auf einem Stuhl nieder.
«Ich würde gerne mit Ihnen über Sam sprechen. Geht das?»
Die junge Frau sah auf, ein panischer Ausdruck lag in ihrem ausgemergelten Gesicht. Helen rief sich das Foto vor Augen, das sie vorhin betrachtet hatte. Wären da nicht die stechend blauen Augen und die alte Narbe am Kinn, man hätte sie kaum identifizieren können. Das einst glänzende Haar war jetzt stumpf, verknotet und fettig. Die Fingernägel waren dreckig. Gesicht, Arme und Beine sahen aus wie nach einem Anfall von Selbstverstümmelung. Und dann dieser Geruch. Der Geruch war das Schlimmste. Süß. Stechend. Widerlich.
«Ich muss Sam finden. Können Sie mir sagen, wo er ist?»
Amy schloss die Augen. Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg durch die Wimpern und rann ihr über die Wange.
«Wo ist er, Amy?»
Langes Schweigen, schließlich flüsterte sie:
«Im Wald.»
Da Amy sich kategorisch weigerte, den sicheren Bürocontainer zu verlassen, musste Helen den Suchhund anfordern. Sie ließ Charlie als Aufpasserin bei Amy zurück und nahm Mark mit. Simpson, der Retriever, steckte seine Nase in die blutverschmierten Lumpen, die einmal Amys Kleidung gewesen waren, und jagte los in Richtung Wald.
Es war unschwer zu erkennen, wo Amy langgelaufen war. Wie blind war sie durch den Wald gestolpert und hatte deutliche Spuren im Unterholz hinterlassen. Ein Stück Stoff hier, ein Hautfetzen dort markierten ihren Weg. Simpson fand sie alle und sprang eifrig durch das Dickicht. Helen blieb dicht hinter ihm, und Mark war entschlossen, sich von einer Frau nicht abhängen zu lassen. Aber er hatte seine Mühe und schwitzte Alkohol aus.
Vor ihnen tauchte ein einsam gelegenes Gebäude auf. Ein öffentliches Schwimmbad, lange geschlossen und heruntergekommen, ein trauriges Überbleibsel aus fröhlichen Zeiten. Simpson sprang an einer Tür mit Vorhängeschloss hoch und raste dann um das Gebäude herum, bis er ein kaputtes Fenster fand. Auf den zersplitterten Scheiben war frisches Blut. Sie hatten Amys Kokon gefunden.
Es war schwierig hineinzukommen. Trotz des üblen Zustands des Gebäudes war jeder Ein- und Ausgang gesichert. Gegen was gesichert? In der Umgebung wohnte niemand. Schließlich brachen sie das Schloss auf, dann begann das übliche Ballett, Schuhe in sterilen Überzügen glitten über den Boden.
Und da lag er. Im Schwimmbecken, fünf Meter unter ihnen. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Leiter fand, dann stand Helen unten im Becken neben Amys «Sam». Ein normaler junger Mann auf dem besten Weg, Karriere als Anwalt zu machen, aber sein Anblick hätte das nicht vermuten lassen. Er sah aus wie die Leiche eines alten Penners. Die Kleidung war mit Urin und Exkrementen verdreckt, die Fingernägel abgebrochen und schmutzig. Und dann das Gesicht. Eingefallen und zu einer schrecklichen Fratze verzerrt - Angst, Schmerz und Entsetzen hatten ihre Spuren hinterlassen. Lebendig war er gutaussehend und sympathisch gewesen. Tot war er widerwärtig.
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Autoren-Porträt von Matthew J. Arlidge
Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Inzwischen betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist. Der Auftakt der Helen-Grace-Reihe «Einer lebt, einer stirbt» war in England das erfolgreichste Debüt 2014, die Reihe erscheint in 30 Ländern.Witthuhn, KarenKaren Witthuhn übersetzt nach einem ersten Leben im Theater seit 2000 Theatertexte und Romane, u.a. von Simon Beckett, D.B. John, Ken Bruen, Sam Hawken, Percival Everett, Anita Nair, Alan Carter und George Pelecanos. 2015 und 2018 erhielt sie Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds.
Bibliographische Angaben
- Autor: Matthew J. Arlidge
- 2014, 1. Auflage., 368 Seiten, Masse: 12,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Witthuhn, Karen
- Übersetzer: Karen Witthuhn
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499268833
- ISBN-13: 9783499268830
- Erscheinungsdatum: 02.05.2014
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