Bewusstlos
Er kam im Sommer. Völlig überraschend. Aber er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.
Als Raffael erwacht, sind sein Bett und seine Sachen voller Blut. Er gerät in Panik, denn ihm fehlt jegliche Erinnerung an die...
Als Raffael erwacht, sind sein Bett und seine Sachen voller Blut. Er gerät in Panik, denn ihm fehlt jegliche Erinnerung an die...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
Fr. 22.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Bewusstlos “
Er kam im Sommer. Völlig überraschend. Aber er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.
Als Raffael erwacht, sind sein Bett und seine Sachen voller Blut. Er gerät in Panik, denn ihm fehlt jegliche Erinnerung an die vergangene Nacht. Es gelingt ihm nicht herauszufinden, was passiert ist, aber wenn er getrunken hat, weiß er nicht mehr, was er tut. Mordet vielleicht, ohne es zu wissen.
Von seinen Eltern, die in der Toskana leben, fühlt er sich verraten und verlassen. Die beiden führen ein glückliches Leben und ahnen nicht, dass er in ihrer Nähe ist und sie längst im Visier hat ...
"Die Thiesler ist Deutschlands ungekrönte Thriller-Queen."
MDR
Als Raffael erwacht, sind sein Bett und seine Sachen voller Blut. Er gerät in Panik, denn ihm fehlt jegliche Erinnerung an die vergangene Nacht. Es gelingt ihm nicht herauszufinden, was passiert ist, aber wenn er getrunken hat, weiß er nicht mehr, was er tut. Mordet vielleicht, ohne es zu wissen.
Von seinen Eltern, die in der Toskana leben, fühlt er sich verraten und verlassen. Die beiden führen ein glückliches Leben und ahnen nicht, dass er in ihrer Nähe ist und sie längst im Visier hat ...
"Die Thiesler ist Deutschlands ungekrönte Thriller-Queen."
MDR
Lese-Probe zu „Bewusstlos “
Bewusstlos von Sabine Thiesler1
Florenz, 15. Dezember 2011
»Er kam im Sommer. Völlig überraschend. Aber er war kein
Mensch, er war ein Ungeheuer.«
»Inwiefern?«
Christine atmet tief durch und überlegt. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Das macht nichts. Ich habe Zeit. Und nur deswegen bin ich nach Florenz gekommen. Um Ihre Geschichte zu hören.«
»Also gut.«
Dr. Manfred Corsini ist ein vom Gericht bestellter psychiatrischer Gutachter. Er lebt und arbeitet normalerweise in Bozen, hat einen italienischen Vater und eine deutsche Mutter und ist zweisprachig aufgewachsen. Christine kann sich zwar auf Italienisch ganz gut verständigen, aber für die anstehenden schwierigen Gespräche und für die Gerichtsverhandlung reichen ihre Sprachkenntnisse nicht aus.
»Erzählen Sie mir von Ihren Kindern, Ihrem Mann, Ihrem Leben in Deutschland und in Italien.«
... mehr
Christine braucht lange, bis sie anfängt zu reden. Dann sagt sie leise: »Ich hatte die schönsten Kinder der Welt. Raffael und Svenja. Glauben Sie mir, sie waren einfach perfekt. Wir wohnten damals oben im Norden, in Nordfriesland, gleich hinterm Deich.« Sie lächelt. »Das war toll für die Kinder. Sie konnten endlos draußen toben und Fahrrad fahren. Wir hatten ein Haus in einem kleinen Ort, in Tetenbüll, das war wie Bullerbü. Bis zu diesem schrecklichen Tag hab ich da verdammt gern gewohnt. Kindergarten und Grundschule waren direkt im Ort, meine Mutter wohnte auch in der Nähe und passte oft auf die Zwillinge auf. Ich arbeitete als Lehrerin ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt in Tönning, und Karl war Dozent an der Hamburger Uni. Da musste er zwar ziemlich viel hin- und herfahren, aber das hat ihn nicht gestört. Es war alles prima. Wirklich. Heute ist mir das klar, damals nicht so. Wie glücklich man war, merkt man immer erst hinterher.
Und Zwillinge sind ja ein Geschenk. Die beiden waren den ganzen Tag zusammen, haben miteinander gespielt und sogar eng umschlungen geschlafen. Einer konnte ohne den andern nicht sein. Es war unglaublich. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal rumquengelten oder sich langweilten ... nein, nie. Es war ja nie einer allein. Das war eine so starke Symbiose, das kann man sich gar nicht vorstellen.
Aber ich fand es großartig. Es tat einfach irrsinnig gut zu sehen, dass meine beiden Kleinen rund um die Uhr richtig vergnügt und zufrieden waren.«
Sie schluckt und braucht eine Pause von einigen Sekunden, dann redet sie weiter.
»Passiert ist es am 24. April 1992.«
»Wie alt waren die Zwillinge da?«
»Sieben. Sie gingen in die erste Klasse.«
»Erzählen Sie mir möglichst genau von diesem Tag. Versuchen Sie sich zu erinnern. So detailliert wie möglich.«
»Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her, aber der Tag ist mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Was glauben Sie, wie oft ich ihn Minute für Minute durchgegangen bin, ob ich irgendetwas hätte anders machen können! Aber mir ist nichts eingefallen.«
»So müssen Sie sich wenigstens keine Vorwürfe machen.«
Christine funkelt Dr. Corsini wütend an. »Vielleicht. Aber diese Machtlosigkeit halt ich nicht aus. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn irgendjemand Schuld hätte. Dann könnte ich wenigstens hassen und müsste nicht das Schicksal verfluchen, dem es wahrscheinlich scheißegal ist, ob es verflucht wird oder nicht.«
»Wahrscheinlich.« Dr. Corsini bleibt ganz ruhig. »Was passierte denn nun an diesem Tag im April?«
»Es war ein Freitag. Und es war schon ziemlich warm. Das weiß ich noch. Für norddeutsche Verhältnisse eigentlich ungewöhnlich warm. Und wie immer waren die Zwillinge bereits in aller Herrgottsfrühe wach.
Seit sechs Uhr morgens hockten sie vor unserem Bett und hypnotisierten aus zehn Zentimetern Entfernung unsere Gesichter. Dabei atmeten sie wie hechelnde Hunde und warteten auf die kleinste Regung, ein Wimpernzucken, um dann in unser Bett zu springen.
An diesem Morgen hatte ich wohl irgendwie ein Viertelauge geöffnet - jedenfalls stürzten sie sich sofort auf uns. Karl spielte den Ohnmächtigen. Und es ist schwer, sich nicht zu rühren, wenn die Kleinen an deiner Unterlippe herumzuppeln, am Ohr ziehen und die Füße kitzeln. Aber er war da stoisch und hat erst kapituliert, als sie ihm ihre kleinen Finger in die Nase steckten.
Wir haben eine Viertelstunde getobt, dann sprang Karl auf und ging ins Bad. Ich bin noch eine Weile liegen geblieben und hab den beiden die Rücken gekrault. Sie schnurrten wie kleine Katzen. Und ich schnupperte an ihren Nacken. Der Babygeruch war fast weg, aber noch nicht ganz.
Als sie Säuglinge waren, hab ich oft gedacht: Sie riechen wie Gummiente mit Honig.
Für mich war es der schönste Geruch der Welt.
Nach dem Frühstück hab ich sie dann in die Schule gebracht. Wie jeden Morgen. Das lag für mich auf dem Weg. Ich ließ sie aussteigen, sie rannten auf den Schulhof, und ich fuhr weiter.
Auch an diesem Morgen war alles ganz normal. Im Wegfahren hab ich noch Irmgard gesehen, aber hab ihr nur kurz zugenickt. Sie wusste, dass ich es immer eilig hatte, weil ich um Viertel vor acht in Tönning sein musste. Irmgard wohnte auch in unserer Siedlung und hatte einen Sohn, Fiete, der war acht. Mit ihm haben die Zwillinge oft gespielt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass an diesem Tag irgendetwas anders war als sonst. Es war alles okay. Total in Ordnung. Warum konnte es nicht einfach so bleiben, verdammte Scheiße?«
Christines Stimme ist hoch und schrill, und ihr Gesicht ist unnatürlich rot.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt der Psychiater beruhigend.
»Ja. Ein Wasser.«
Dr. Corsini steht auf, holt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank des Besuchsraumes und schenkt ihr ein.
»Danke.« Sie trinkt hastig, dann redet sie weiter.
»Ich hatte an diesem Mittwoch sechs Stunden Unterricht und bin mittags gleich nach der Schule nach Hamburg gefahren. Karl und ich waren zum Abendessen eingeladen, ich wollte bei der Gelegenheit in der Stadt noch ein paar Einkäufe erledigen und zum Frisör gehen.
Meine Mutter hatte versprochen, die Zwillinge von der Schule abzuholen und ihnen Mittagessen zu kochen. Es war alles geregelt, auf meine Mutter konnte ich mich hundertprozentig verlassen.
Aber trotzdem. Es hört sich merkwürdig an, und vielleicht glauben Sie mir das jetzt nicht, aber als ich so gegen fünf Uhr beim Frisör saß, hatte ich plötzlich ein ganz blödes Gefühl. So eine diffuse Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte.
Kennen Sie das? Da kommt einem ein Gedanke in den Kopf, und dann durchzuckt es den ganzen Körper. Es ist kein schlimmer, aber ein unangenehmer Schmerz. Ein Angststich.
Und diese Stiche hatte ich. Mehrmals hintereinander, aber ich wusste nicht, warum.
Ich ließ meine Haare färben und hatte das Mittel noch auf dem Kopf, darum konnte ich nicht sofort telefonieren. Erst als ich fertig war, hab ich zu Hause angerufen. Meine Mutter ging auch sofort ran und sagte, dass alles okay sei. Die Zwillinge seien drüben bei Irmgard und spielten mit Fiete.
Gott sei Dank sind sie zu zweit, dachte ich, einer passt auf den anderen auf. Niemals passiert zwei Kindern gleichzeitig etwas.
Ich hab mich daraufhin ein bisschen entspannt. Schließlich war nichts ungewöhnlich oder beunruhigend. Die Zwillinge waren gesund und spielten mit Fiete. Was sollte schon sein?
Nach dem Frisör zog ich los, um für die beiden noch eine Winzigkeit zu kaufen. ›Hast du uns was mitgebracht?‹ war nämlich immer die erste Frage, wenn Karl und ich mal einen Tag nicht zu Hause gewesen waren.
Und wenn es irgendwie möglich war, hatte ich auch wirklich immer eine Kleinigkeit dabei.
Ich hab ihnen zwei Überraschungseier gekauft. Die liebten sie über alles. Sie hatten schon eine ganze Sammlung von kleinen Schlumpffiguren und tauschten untereinander. Das war das Einzige, bei dem jeder seinen eigenen Besitz heftig verteidigte. Alles andere teilten sie ja miteinander, es gehörte immer beiden zugleich.
Aber diese beiden Überraschungseier haben sie nie bekommen. «
Christine weint. Dr. Corsini wartet geduldig. Erst nach ein paar Minuten kann sie weitersprechen.
»Der Dekan von Karls Fachbereich hatte uns an dem Abend eingeladen. Aber ich habe vergessen, wie er hieß. Der Name fing irgendwie mit ›K‹ an und hörte mit ›i‹ auf. Ich komm einfach nicht mehr drauf. Ist ja auch unwichtig, glaub ich.
Jedenfalls waren wir um sieben Uhr da, die Frau des Dekans begrüßte uns richtig herzlich, dann gab es einen Aperitif, und wir redeten über dies und das. Worüber, weiß ich nicht mehr.
Der Dekan war ein freundlicher Mann kurz vor der Pensionierung, der einfach nur beklatscht werden wollte. Darum lud er sich Gäste ein, und seine arme Frau musste stundenlang kochen. Jedenfalls belohnte er die, die bei dieser simplen Inszenierung mitspielten, manchmal mit Pöstchen und Einfluss. Er war der Garant für eine Karriere an der Uni, und Karl spielte mit, weil er der Meinung war, dass es ein Leichtes war, solch einen Abend durchzustehen, und der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen stand, und da hatte er recht. Ich sah es völlig ein, auch wenn der Gedanke an eine Gegeneinladung von der ersten Minute an wie ein Schreckgespenst über mir schwebte.
Aber es kam ganz anders.
Die Frau des Dekans hatte gerade die Vorspeise serviert, als das Telefon klingelte. Sie entschuldigte sich und nahm das Gespräch im Flur an.
Sekunden später kam sie zurück und sagte zu mir:
›Für Sie.‹
Ich brach innerlich zusammen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Meine Mutter war am Apparat. Sie konnte kaum sprechen, so hat sie geweint.
›Reiß dich zusammen und sag mir endlich, was passiert ist!‹, hab ich sie angeschrien, und es war mir egal, ob es alle hören konnten.
Meine Mutter schniefte, putzte sich die Nase, und dann hat sie stockend gesagt, dass die Kinder zu Fiete gegangen waren, zum Spielen. Um sieben sollten sie zu Hause sein. Wie immer. Wie abgemacht. Aber sie sind nicht gekommen. Um halb acht hatte sie dann bei Irmgard angerufen und gefragt, wo die Kinder bleiben, und Irmgard sagte, sie wären nur ganz kurz da gewesen. Fiete durfte nämlich nicht spielen, der hatte Stubenarrest, weil er Spülmittel in den Graben gespritzt hatte, und dabei waren drei Enten ertrunken.
Meine Mutter war dann durchs ganze Dorf gerannt, hatte die Kinder gesucht und jeden gefragt. Aber niemand hatte sie gesehen.
Jedenfalls stand Raffael dann endlich, um zehn vor acht, vor der Tür. Aber allein. Ohne Svenja. Und er sagte nicht, wo sie ist. Er sagte überhaupt nichts. Keinen Ton.
›Bleib, wo du bist, Mama!‹, hab ich ins Telefon gebrüllt. ›Pass auf Raffael auf, wir kommen. In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.‹
Die Vorspeise hatte noch niemand angerührt, weil alle höflichkeitshalber auf mich gewartet hatten. Wir haben uns sofort hastig verabschiedet, sind in mein Auto gesprungen und rasten über die Autobahn.
Während der Fahrt haben wir kaum etwas gesagt. Weil wir dasselbe gedacht haben: Es musste etwas passiert sein, denn ein Zwilling allein - das gab es einfach nicht. Raffael und Svenja existierten nur im Doppelpack. Sie waren eins.
Es war bereits dunkel und die Autobahn Richtung Norden fast leer.
Beim Fahren hat Karl unentwegt seine Nasenwurzel gerieben, und ich wusste, dass er sich dadurch zu beruhigen versuchte und sich zwang, konzentriert nachzudenken. Er suchte nach Erklärungen, nach Ideen, wo sie sein könnte.
Er hatte offenbar vor, pragmatisch und auf keinen Fall emotional an das Problem heranzugehen.
Das hab ich ihm angesehen und sagte nichts, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen. Und ich liebte ihn in diesem Moment. Er gab mir Halt. Wenn ich diese Angst durchstehen konnte, dann nur mit ihm.
Als wir endlich zu Hause ankamen, stand meine Mutter verheult im Wohnzimmer am Fenster und starrte in die Nacht, als würde Svenja jeden Moment wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auftauchen.
Sie hatte nichts Neues zu berichten. Hatte nichts gehört und nichts gesehen und vergeblich im Dorf herumtelefoniert. Noch nie hatte ich meine Mutter so hilflos und verzweifelt erlebt.
Karl goss ihr einen Cognac ein, und dann gingen wir beide hoch ins Kinderzimmer.
Raffael saß auf dem Bett. Ganz bleich und stumm. Er hat gar nicht reagiert, als wir reinkamen, hat uns nicht angesehen, war wie versteinert.
›Wo ist Svenja, Raffael?‹, hab ich ihn leise gefragt.
Raffael hat noch nicht einmal mit den Achseln gezuckt, sondern nur gegen die Wand gestarrt, und sein Blick war so tot, als hätte er die Frage nicht gehört oder nicht verstanden.
Ich hab mich neben ihn gesetzt, ihn fest an mich gedrückt und gestreichelt und ihn noch mal nach seiner Schwester gefragt.
Karl hat sich vor ihn hingekniet und seine Hände gehalten.
Aber Raffael hat sich nicht gerührt.
Dieser kleine Junge, der da mit hängenden Armen verzweifelt vor uns saß, brauchte Hilfe. So viel war uns klar. Er stand unter Schock.
Aber wir mussten wissen, wo Svenja war, um sie zu retten, falls ihr etwas zugestoßen war.
Nach ein paar Minuten haben wir Raffael in Ruhe gelassen und sind nach unten gegangen.
Karl griff nach seiner Jacke und zog seine Schuhe an. Wollte los, sie suchen. Zu mir sagte er, ich solle alles versuchen, dass Raffael redet, und die Polizei rufen. Im Hinausgehen steckte er noch die kleine Taschenlampe ein, die immer an der Garderobe baumelte.
Ich hab angefangen wie verrückt zu zittern.
Und da kam Raffael die Treppe herunter. Vielleicht, weil er seine Oma laut schluchzen hörte. Denn meine Mutter war gar nicht mehr zu beruhigen.
Ich hab mich hingesetzt und ihn auf meinen Schoß gezogen. Er war so steif wie ein Stück Holz.
›Du weißt doch ganz bestimmt, wo deine Schwester ist‹, hab ich geflüstert. ›Sie ist doch immer bei dir. Raffael, bitte! Es muss doch einen Grund dafür geben, dass du allein gekommen bist. Erzähl es mir!‹
Seine Augen blickten in die Ferne, waren ganz starr und so erschreckend trocken.
›Kann es sein, dass Svenja in Not ist? Wenn du mir nicht sagst, wo sie ist, können wir ihr doch nicht helfen!‹
Ich hab gebettelt und gefleht, aber er hat nichts gesagt. Gar nichts.
Schließlich hab ich es aufgegeben und bin mit ihm zur Couch gegangen. Er hat alles mit sich geschehen lassen, sich brav hingelegt und die Augen zugemacht.«
»Hat Ihr Mann sie gefunden?«
»Nein. Aber er ist dann zu Hauke gegangen. Der war der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr. Die beiden waren seit Jahren dicke Freunde.
›Ich brauch deine Hilfe, Hauke, sofort, noch heute Nacht‹, hat Karl gesagt, und mehr musste man bei Hauke auch nicht sagen. Wenn ein Freund um Hilfe bat, dann startete Hauke durch.
Karl hat ihm das Problem geschildert, und Hauke gab Feueralarm.
Es hat keine Viertelstunde gedauert, da waren zehn Mann da. Ein Teil machte sich auf den Weg, die Gräben abzulaufen und abzuleuchten. Ein anderer untersuchte den Tetenbüll-Spieker, das ist ein seeähnliches Staubecken vor dem Hafen. Soweit das alles in der Dunkelheit überhaupt möglich war.
Aber sie suchten wenigstens. Sie taten etwas! Sie kämpften um mein kleines, zartes Kind, das immer noch irgendwo war. Irgendwo da draußen.«
Christine schweigt und schließt die Augen.
»Und dann? Was passierte dann?«
Christine blickt auf und sieht Dr. Corsini an.
»Um kurz vor oder nach elf - so genau weiß ich das nicht mehr - sind dann zwei Polizisten gekommen. Ein Mann und eine Frau. Kommissar Jens Kogler und seine Assistentin Britta Wencke. Wir haben uns zusammen mit meiner Mutter in die Küche gesetzt. Raffael war auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen.
Die Polizisten holten ihre Klemmmappen heraus und begannen eine endlose Befragung. Erst nach persönlichen Daten, dann nach all den Dingen, die fast nur meine Mutter beantworten konnte. Wann hatte sie die Kinder abgeholt, was hatte sie dann gemacht, was hatten die Kinder gegessen, war ihr irgendein merkwürdiges Verhalten an ihnen aufgefallen, wann gingen sie zum Spielen und wohin, wann wollten sie zurück sein, was hatten sie an und und und ...
Es war mir klar, dass das wichtig war, aber ich konnte es kaum aushalten. Diese beiden Hanseln malten da unendlich langsam in ihrer Klemmmappe Buchstaben, während meine Svenja vielleicht irgendwo weinte und auf ihre Eltern wartete. Ich hätte sie schütteln können.
Aber meine Mutter beantwortete alle Fragen, soweit sie konnte, und ich hab mich gewundert, dass sie nicht mehr hysterisch war.
Ich selbst war völlig am Ende, hab die beiden Bürokraten einfach nicht mehr ertragen.
Dann kam Karl zurück. Unverrichteter Dinge, aber mit einem enorm energischen und entschlossenen Zug um den Mund.
Die beiden packten gerade ihre Papiere zusammen und baten uns, unbedingt anzurufen, wenn irgendwas passiert. Wenn Raffael was sagt, falls sich ein möglicher Entführer meldet oder wenn Svenja wieder auftaucht. Sie wollten dann bei Tagesanbruch mit der Suche beginnen.
Eine halbe Stunde lang ist Karl im Wohnzimmer auf und ab gegangen. Immer hin und her, ohne etwas zu sagen. Ich wusste, dass er nachdachte. Sein Kopf hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
Und je mehr er marschierte, desto wütender wurde er. Das sah ich ihm an. Seine Hilflosigkeit machte ihn rasend.
Dann ging er nach oben ins Schlafzimmer, und ich hörte, wie er immer wieder mit der Faust oder der flachen Hand gegen die Wand schlug.
Meine Mutter war vollkommen erschöpft in einem Sessel eingeschlafen, und ich hab mich wieder zu Raffael gesetzt, der wie tot auf der Couch lag, und sagte zu ihm: ›Bitte, Schatz, rede mit mir. Du bist doch mein großer, kluger Sohn und der Einzige, der mir helfen kann. Allein komm ich nicht mehr weiter.‹
Raffael war offensichtlich wach und öffnete ein klein wenig die Augen.
Ich hab einfach nur bei ihm gesessen und geweint.
Und dann hat er mir ganz zart seine kleine Hand aufs Knie gelegt.
›Weißt du, Raffael, es gibt Geheimnisse auf der Welt, die sollte man keinem Menschen verraten. Wirklich keinem‹, hab ich geflüstert. ›Aber dann gibt es Dinge, die sollte man jemandem anvertrauen, damit einem selbst oder einem anderen geholfen werden kann. Solche Dinge darf man nicht verschweigen. Verstehst du das?‹
Raffael nickte.
›Du warst doch heute mit Svenja draußen, um zu spielen. Wie schon oft, stimmt's?‹, fragte ich vorsichtig.
Raffael nickte erneut, aber ziemlich ängstlich.
›Aber heute war irgendetwas anders. Irgendetwas ist geschehen. Und das ist auch der Grund, warum sie nicht zusammen mit dir nach Hause gekommen ist. Stimmt's?‹
Raffael nickte wieder.
›Okay‹, sagte ich ruhig und nahm seine kleine Hand in meine. ›Ich werde dich jetzt nicht fragen, was geschehen ist. Ich lasse dich damit vollkommen in Ruhe - aber im Gegenzug sagst du mir, wo Svenja ist. Ich muss es unbedingt wissen, verstehst du? Ich muss sehen, ob ich Svenja helfen kann. Und das ist ein Geheimnis, das du lüften musst. Bitte, sag mir, wo sie ist.‹
Aber Raffael schwieg nach wie vor, und ich war kurz davor zu verzweifeln.
Ich hab ihn dann gefragt, ob sie in der Kirche gespielt haben. Oben, auf der Empore. Das war zwar verboten, aber sie machten es trotzdem ab und zu, weil sie es toll fanden und weil es dort so schön hallte.
Aber Raffael schüttelte den Kopf.
Er hatte wenigstens reagiert! Das war ja schon mal ein Anfang, dachte ich.
Und dann fragte ich ihn ab. Alles, was mir einfiel.
›Wart ihr im kleinen Wäldchen hinterm Pastorat? Oder auf dem Deich? Oder sogar am Wasser? Seid ihr über die große Straße gelaufen?‹
Raffael schüttelte jedes Mal den Kopf.
Ich weiß heute nicht mehr genau, was ich noch alles fragte, mir fiel eine ganze Menge ein, und irgendwann fragte ich ihn auch nach Bauer Harmsens Scheune, weil sie da schon öfter gespielt hatten.
Und in dem Moment wurde Raffael kalkweiß, er riss den Mund weit auf, und das blanke Entsetzen stand in seinem Gesicht.
Ich hab ihm dann beruhigend übers Haar gestrichen und gesagt, dass alles gut sei und dass ich gleich wiederkommen würde, bin aus dem Zimmer gestürzt und wie verrückt die Treppe hochgerannt ins Schlafzimmer.
›Karl, sie ist in Harmsens Scheune!‹, hab ich geschrien. Vielleicht hab ich auch nicht geschrien, sondern geheult, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls war Karl sofort alarmiert. Er sprang auf und sagte: ›Ich fahr hin, bleib hier bei Raffael!‹, und dann hat er nur noch seine Jacke und die Taschenlampe gepackt und ist aus dem Haus gerannt.
Ich hab überlegt, ob Raffael Svenja allein zurückgelassen hätte, wenn sie noch lebte. Wahrscheinlich nicht. Aber selbst wenn er es getan hätte, wäre er so schnell wie möglich nach Hause gerannt, um Hilfe zu holen. Und hätte sicher nicht geschwiegen.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht mehr viel Hoffnung. Eigentlich gar keine.
Es war Viertel nach zwölf, als Karl endlich anrief. Handys gab es damals noch nicht. Er hatte Bauer Harmsen aus dem Bett geklingelt und telefonierte von dort.
Er sagte mir, dass er sie gefunden hätte.
An seinem Tonfall hab ich sofort gehört, dass alles verloren war, aber ich hab dennoch ›Ich komme!‹ ins Telefon gebrüllt.
Und dann sagte er leise: ›Du kannst ihr nicht mehr helfen, Christine. Niemand kann ihr mehr helfen. Ich rufe jetzt die Polizei.‹
In diesem Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen. Alles, was ich einmal geliebt hatte, war belanglos geworden, war wie verschüttet unter einem grau-schwarzen Brei. Ich hatte nur noch einen Wunsch: sie zu sehen.
›Ich komme!‹, hab ich noch einmal geschrien.
›Bitte, lass es‹, flehte er mich geradezu an. ›Es ist nicht gut, wenn du sie so siehst.‹
Ich hab ja gewusst, dass alles vorbei und alles zu spät war. Sie war nicht mehr zu retten. Er brauchte das nicht noch mal zu wiederholen. Und es lag an meiner Verzweiflung, dass ich anfing, Karl anzubrüllen:
›Was weißt du, was gut für mich ist! Ich muss sie sehen, unbedingt! Sie ist mein kleines Mädchen ...‹
Die aufsteigenden Tränen schnürten mir die Kehle zu. Ich legte auf und sagte zu meiner Mutter, die im Sessel aufgewacht war: ›Sie ist tot, Mama!‹
Bevor meine Mutter reagieren konnte, bin ich aus dem Haus gerannt, in meinen Wagen gesprungen und Richtung Scheune gerast. Um diese Zeit war im Ort niemand mehr unterwegs.
Ich bin mit achtzig über das Kopfsteinpflaster der alten Dorfstraße gedonnert und dann um die Kurve in einen Wirtschafts- weg geschliddert, der am Ende des Dorfes begann.
Auf dem schmalen Weg fuhr ich hundertzwanzig und nur Minuten später erreichte ich die Scheune.
Karl stand vor der Tür.
Natürlich kannte ich die Scheune, hatte sie aber immer nur am Rande wahrgenommen, weil sie nicht wichtig war. Bauer Harmsen stellte darin manchmal seine Schafe unter. Er hatte nur eine kleine Herde und war im Gegensatz zu vielen anderen Schäfern der Ansicht, dass es nicht gut für die Tiere sei, wenn sie nass wurden. Bauer Harmsen war auch einer, der nachts bei seinen Schafen blieb, wenn die Geburt der Lämmer unmittelbar bevorstand. Viele im Dorf belächelten ihn wegen seiner übertriebenen Tierliebe, aber ich mochte ihn gerade deswegen.
Karl sagte kein Wort und drückte die hölzerne Tür auf, die nur angelehnt war. Der Kegel seiner Taschenlampe tanzte durch den riesigen Scheunenraum, so zitterte seine Hand.
Ich war nicht annähernd darauf vorbereitet, was ich dann sah.
Es war das Schlimmste, was ein Mensch überhaupt ertragen kann.
Sie hing am offenen Heuboden. Mit einem langen Seil um den Hals.
Meine Schöne hatte gespenstisch weit aufgerissene Augen, die das Entsetzen über den eigenen Tod nicht fassen konnten, und eine heraushängende, aufgequollene Zunge.
Ich wollte sie unbedingt in den Arm nehmen. Sie würde aufwachen, wieder anfangen zu atmen, sich erholen, wieder normal aussehen, wieder zu uns zurückkehren. Wir würden sie nach Hause tragen, ins Bett legen, den Arzt rufen, und in ein paar Tagen wäre alles wieder gut.
Aber ich konnte mich nicht rühren und starrte auf meine Tochter, deren Körper der leise Zugwind in der Scheune leicht hin und her baumeln ließ.
Und in dem Moment hab ich mich gefragt, warum ich nicht einfach sterben konnte. Hier, jetzt, in dieser Sekunde. Nur ein wenig später als sie.
Schließlich sagte Karl, dass wir nichts anfassen dürften und sie da nicht runterholen könnten, weil wir mögliche Spuren verwischen würden. Die Polizei würde gleich kommen.
›Svenja ist jetzt im Himmel‹, flüsterte ich, ›aber sie kommt zu mir zurück, und dann bleibt sie für immer.‹
Wie lange wir gewartet haben, weiß ich nicht mehr. Vielleicht eine halbe Stunde oder auch nur ein paar Minuten. In der Zeit sagte ich ihr ganz still und ganz für mich Adieu. Bis heute habe ich nicht damit aufgehört.
An keinem einzigen Tag.
Und niemals werde ich im Kopf das Bild meiner kleinen tapferen Svenja löschen können, die der Welt die Zunge herausstreckte, die sie im Stich gelassen und am Leben gehindert hatte.«
Dr. Corsini schenkt Christine Wasser nach, aber sie registriert es gar nicht und redet weiter.
»Als die Polizei eintraf, bin ich nach Hause gefahren, hab eine halbe Flasche Wein in einem Zug ausgetrunken und mich dann zusammen mit Raffael ins Bett gelegt.
Dass ich den Arm um ihn legte und ihn streichelte, hat er wahrscheinlich gar nicht gemerkt.
Ich hab mir Svenjas Schlafanzug vors Gesicht gedrückt, ihren sanften, süßlichen Geruch eingeatmet und mir das Hirn zermartert, was in der Scheune wohl geschehen war. Wie es bloß dazu kommen konnte.
Und irgendwie hab ich gespürt, dass sie noch da, noch in meiner Nähe war.
Um drei Uhr früh ist dann Karl mit den Polizisten nach Hause gekommen. Er sah aus, als wäre er in dieser Nacht zwanzig Jahre gealtert.
Ich bin aufgestanden und hab Kaffee gekocht.
›Wie ist es passiert?‹, fragte ich schwach.
Kommissar Kogler zuckte die Achseln und meinte, es wäre wohl ein Unfall gewesen. Jedenfalls glaubte dies der Gerichtsmediziner nach der ersten Untersuchung. Die Zwillinge haben auf dem Heuboden gespielt, und Svenja ist durch die morsche Boden- klappe gestürzt.
Aber ich konnte nicht begreifen, warum sie ein Seil um den Hals hatte.
›Was spielt man mit einem Seil um den Hals?‹, überlegte Kogler. ›Ich bin da nicht mehr so auf dem Laufenden, meine Kinder sind schon lange groß. Spielt man da Hund? Oder Tarzan? Oder sogar Hinrichtung? Ohne daran zu denken, dass auch in einem Spiel wirklich etwas passieren kann? Ich weiß es nicht.‹
Hund, dachte ich. Ja, wahrscheinlich haben sie Hund gespielt. Sie hatten sich sehnlichst einen gewünscht, aber wir wollten keinen, weil wir uns nicht die Möglichkeit verbauen wollten, mit den Kindern auch mal lange Fernreisen zu unternehmen.
So blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie mussten Hund spielen.
Unser eigenes Vergnügen war uns wichtiger gewesen als die Sehnsucht unserer Kinder nach einem Hund.
Ich wusste, dass ich nie mehr Ruhe finden würde.«
»Und ist das so?«
»Ja, das ist so.«
»Sie haben nie mehr Ruhe gefunden?«
»Nein. Ich bin ruhiger geworden. Das vielleicht. Aber mein innerer Friede ist für immer fort.«
Dr. Corsini nickt. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
Christine rauft sich die Haare. »Als die Leiche freigegeben war, haben wir hin und her überlegt, ob wir Raffael mit zur Beerdigung nehmen oder ihn lieber zu Hause lassen sollten. Und schließlich hab ich ihn ganz direkt gefragt, ob er weiß, dass seine Schwester morgen begraben wird.
Raffael hat nicht geantwortet, sondern mich nur mit großen, entsetzten Augen angesehen.
Ich hab ihn dann gefragt, ob er weiß, was da auf dem Friedhof passiert, und Raffael hat den Kopf geschüttelt.
Also hab ich ihn auf den Schoß genommen und versucht, ihm die Sache zu erklären, obwohl ich ja selbst noch nichts, wirklich gar nichts begriffen hatte.
Ich hab ihm gesagt, dass Svenja jetzt in einem Sarg liegt. In einer großen, schönen Kiste aus Holz. Aber das ist nicht die Svenja, die er kennt, die darin liegt, das ist nur ihr Körper, ihre Hülle. Ihre Seele ist längst davongeflogen, und wahrscheinlich wird sie ewig weiterleben. So genau wissen wir das ja alle nicht. Aber ich bin sicher, dass sie immer bei ihm ist. Vielleicht sogar gerade jetzt, hier in diesem Zimmer.
Raffael sah sich augenblicklich um.
›Du kannst sie nicht sehen, Raffael, nur spüren‹, sagte ich. ›Du kannst vielleicht fühlen, dass sie bei dir ist und dich beschützt. Und wenn du mit ihr sprichst, wird sie dir eine Antwort geben. Aber die hörst du nicht, du bekommst sie nur durch deine Gedanken. Verstehst du das?‹
Raffael nickte.
Es war furchtbar schwer, weil ich auf keinen Fall etwas Falsches sagen wollte.
Und dann erklärte ich ihm, dass alle Menschen sterben müssen, aber niemand weiß, wann. Die meisten sterben erst, wenn sie sehr alt sind. Und dann geht es allen Menschen so wie jetzt Svenja. Sie sind unsterblich.
Raffael war ganz ernst. Ich war mir sicher, dass er alles verstanden hatte, und hoffte, dass er dadurch ein klein wenig getröstet war.
›Möchtest du morgen mitkommen auf den Friedhof, wenn Svenjas Hülle in einem Sarg in der Erde vergraben wird?‹, hab ich ihn schließlich gefragt, und Raffael nickte.
Er wollte auf keinen Fall bei Oma oder bei Fiete bleiben.
Als ich aufstand, wollte ich wissen, ob er noch irgendeinen Wunsch hatte.
›Ich möchte tot sein‹, antwortete Raffael.
Das war der einzige Satz, den er nach Svenjas Tod sagte.
Als es so weit war, stand er zwischen uns am Grab. Unbeweglich und stumm.
Und vergoss keine Träne.
Aber als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stieß er einen fürchterlichen Schrei aus. Es war ein Ton, der Gläser und Scheiben platzen lässt. Wie der Schrei eines Tieres, dem das Fell bei lebendigem Leib über den Kopf gezogen wird.
Noch heute wache ich nachts auf.
Von diesem einen grauenhaften, gellenden Schrei.«
»Und was war später? Ich meine, wie hat Raffael das alles verarbeitet? «
»Gar nicht. Er zog sich in sich zurück, kam nicht mehr zum Vorschein, und wir kamen nie mehr an ihn heran.
Wir hatten beide Kinder verloren.«
2
Berlin, Mai 2011
Ganz allmählich kam er zu sich, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er zu Hause in seinem Bett lag, dass der Erker dort war, wo er immer war, dass der Spiegel dort hing, wo er immer hing, und das fahle Licht des Vormittags ins Zimmer schien.
Er schloss die Augen, um sich noch einmal kurz seinen Träumen hinzugeben. Doch er schaffte es nicht, sich zu entspannen.
Irgendetwas war anders als sonst.
Irritiert fuhr er mit der Hand über seinen Körper. Und fasste in etwas Feuchtes, Klebriges.
Du lieber Himmel! Er hatte seine Sachen noch an. Das war völlig ungewohnt, denn normalerweise schlief er nackt.
Jetzt öffnete er erneut die Augen und hob den Oberkörper ein wenig an. Was er sah, brachte ihn fast um den Verstand: Vollständig angekleidet lag er in seinem Bett, und T-Shirt, Jacke und Jeans waren voller Blut. Tief durchtränkt und an manchen Stellen bereits getrocknet, hart und steif.
Fassungslos fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und merkte zu spät, dass auch seine Hände blutverkrustet waren.
Der Ekel machte ihn fast bewegungsunfähig.
Er rührte sich nicht. Das Entsetzen saß ihm direkt in der Kehle und schnürte ihm den Atem ab. Er konnte es nicht glauben.
Schließlich riss er das T-Shirt hoch. Sein Bauch war unversehrt.
Er tastete sich hektisch ab. Hals, Brust, Bauch, Arme, fuhr mit der Hand in die Hose, bis zum Schritt - nirgends eine Wunde oder ein Schmerz.
Verdammt noch mal, woher kam das Blut?
Er blinzelte zur Uhr. Die digitalen Ziffern des Radioweckers zeigten zehn Uhr dreiundzwanzig.
Mühsam stand er auf. In seinem Kopf explodierten Stiche wie ein Feuerwerk, aber er ignorierte sie und taperte langsam und vorsichtig zum Spiegel.
Jetzt erst wurde ihm das Ausmaß des Desasters richtig klar: Er sah aus, als ob er ein Schwein geschlachtet hätte.
Ihm brach der kalte Schweiß aus.
Bleib ruhig, dachte er, ganz ruhig. Es gibt für alles eine Erklärung, du kommst bloß nicht drauf. Und mit diesem schmerzenden Kopf und der Übelkeit, die sich in ihm auszubreiten begann, schon gar nicht.
Er starrte auf sein Spiegelbild, verstand überhaupt nichts mehr und bekam das nackte Grausen. Auf dem Tisch lagen Zigaretten. Mit zitternden Fingern nestelte er eine aus der Packung, zündete sie an und rauchte mit schnell aufeinanderfolgenden, tiefen Zügen.
Mein Blut ist es nicht, mein Blut ist es nicht, hämmerte sein Gehirn in einer Endlosschleife. Ich blute nicht, ich bin nicht verletzt, ich bin okay. Ich bin okay. Ich bin okay.
Aber von wem ist das Blut dann? Was war passiert?
Stumm stellte er sich wieder vor den Spiegel und stierte auf seine besudelten Sachen, als könnte er ihnen die Wahrheit entlocken oder die Spur einer Ahnung auslösen.
Doch er hatte keinerlei Erinnerung an den gestrigen Abend.
Nicht die geringste.
Er ließ die Zigarette in eine halb volle Bierflasche fallen. Es zischte leise.
War heute Donnerstag oder Freitag? Verflucht, noch nicht einmal das wusste er. Er torkelte, zog den Reißverschluss seiner Jeans auf und stieg so vorsichtig aus der Hose, als täte jede Berührung mit dem Stoff fürchterlich weh.
Das Blut war durch die Jeans bis auf seine Haut durchgedrungen, und seine Oberschenkel hatten rötlich braune Flecken. Er glaubte, sich übergeben zu müssen, so widerlich fand er das.
Er warf die Jacke auf den Boden und versuchte das T-Shirt auszuziehen. Dabei weitete er den Halsausschnitt, bis das Hemd zerriss und er es über den Kopf ziehen konnte, ohne mit dem Blut in Berührung zu kommen.
Er sah sich um. Über sein Bettlaken zogen sich einige bräunliche Streifen von getrocknetem Blut. Er riss das Laken von der Matratze und warf es auf den blutigen Haufen.
Er konnte es einfach nicht begreifen.
Woher kam das Blut?
Und was war denn heute für ein Tag?
Auf dem Schreibtisch lag sein Kalender. Hektisch blätterte er darin herum, aber das half ihm nicht weiter, weil er nichts eingetragen hatte.
Sein Handy. Es müsste in der Jacke sein, und da stand auf dem Display das Datum.
Also musste er wieder die Jacke berühren. Er würgte, als er vorsichtig die innere Brusttasche befühlte. Das Handy war nicht da. Dann vielleicht vorn rechts außen. Oh Gott, das Blut war sogar in die Jackentasche gesickert. Er schluckte mehrmals, fuhr vorsichtig mit der Hand hinein.
Die Tasche war leer.
Er überlegte. Merkwürdig, rechts in der Jackentasche hatte er doch immer das Messer. Sein Messer! Verdammte Scheiße, wo war sein Messer?
Es war nicht irgendein Messer. Nicht er hatte sich das Messer ausgesucht, sondern das Messer ihn. Darum war es ihm so wichtig, und darum hatte er sich auch immer sicher gefühlt, wenn es in der Jackentasche schwer in seiner Hand lag.
Die Szene stand ihm vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Berlin, U-Bahnhof Kaiserdamm, nachts um kurz nach eins. Vor fast zwei Jahren.
Er hatte auf einer Bank gesessen, auf die U-Bahn gewartet, und war dabei eingeschlafen. Eine Viertelstunde oder eine halbe war vergangen, als er durch laute Stimmen geweckt wurde. Zwei Typen attackierten einen Mann, der wesentlich älter war als sie. Ungefähr Mitte dreißig, schmächtig und unauffällig gekleidet. Völlig unvorstellbar, dass diese graue Maus die beiden, die sicher nicht älter als achtzehn oder zwanzig waren, provoziert hatte.
Sie schubsten ihn immer näher an die Gleise heran. Der Mann schrie und flehte, ihn in Ruhe zu lassen.
Wie gelähmt saß er da, und ihm wurde heiß, denn er wagte nicht einzugreifen. Aber genauso wenig konnte er in dieser Situation davonrennen. Ein Handy, um die Polizei zu rufen, hatte er - wie so oft - nicht dabei und schämte sich unsagbar, weil er nichts tun konnte.
Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Das Geräusch klackernder, hastiger Absätze auf den Stufen. Irgendjemand rannte, aber er wusste nicht, ob dieser jemand floh oder auf den Bahnsteig kam.
Vielleicht hatten ja auch schon andere die Szene beobachtet.
Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller, aber die Typen beachteten ihn gar nicht. Wenn er sich jetzt entfernte, würden sie ihn bemerken, da war er sich sicher, also versuchte er weiterhin, still und unsichtbar zu bleiben.
Die Typen boxten dem Mann ins Gesicht, in den Magen und in die Nieren und hielten ihn gleichzeitig am Mantel fest, sodass er nicht zusammenbrechen konnte. Das Blut lief ihm aus der Nase, und man sah, dass er sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Der Mann war fertig, aber das interessierte die beiden Typen nicht.
Einer zog ein Messer aus der Tasche und ließ es aus der Scheide schnellen. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte die Klinge im kalten Licht der Neonbeleuchtung auf, dann stach der Typ dem Mann das Messer in den Bauch.
Dies alles war blitzschnell und völlig geräuschlos passiert.
Der Mann fiel einem der beiden Typen in die Arme und hing dort wie ein schlaffer Sack, als ein Martinshorn zu hören war und immer näher kam. Offensichtlich hatte doch jemand die Polizei alarmiert.
Der Angreifer zog das Messer aus dem Bauch des Mannes, ließ ihn fallen und kickte das Messer über den Bahnsteig. Es schlidderte weit.
Dann flüchteten die beiden Typen.
Das Messer lag nur einen halben Meter von ihm entfernt.
Ohne zu überlegen, was er tat, stellte er seine Tasche darauf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, und der Mann regte sich nicht.
Er ging zu dem Verletzten, fühlte ihm den Puls, redete ihm Mut zu und kam sich dabei ungeheuer schäbig vor, weil er glaubte zu lügen. Immerhin war es möglich, dass der Mann jetzt, in diesem Moment, oder in wenigen Minuten starb.
Sekunden später stürmten Polizisten den Bahnsteig, und augenblicklich brach Chaos aus. Schaulustige standen herum, der Notarzt kam und transportierte den lebensgefährlich Verletzten ab.
Er wurde als Zeuge befragt, und als er seine Aussage gemacht hatte, ließ er unbemerkt das Messer in seiner Tasche verschwinden und ging nach Hause.
Vom Kaiserdamm musste er eine Dreiviertelstunde bis zu seiner Wohnung laufen, aber das war egal. Er besaß ein Messer. Ein Springmesser, das vor einer Stunde noch in einem menschlichen Körper gesteckt hatte.
Und dieses Messer war nun weg.
Ihm wurde immer übler, und das Zittern wurde stärker.
In der linken Jackentasche fand er das Handy. Er klappte es auf. Der Akku war fast leer, aber er konnte sehen, dass heute Samstag war, kurz nach halb elf.
Ach ja. Gestern war Premiere gewesen. Romeo und Julia, richtig, und danach Premierenfeier in der Kantine. Zumindest das fiel ihm wieder ein.
Erinnern konnte er sich noch an die ersten beiden großen Bier, die er hastig hinuntergeschüttet hatte. Während der Vorstellung hatte er auch schon Bier getrunken, aber dennoch ständig das Gefühl gehabt zu verdursten.
Und dann? Wie lange hatten sie in der Kantine gesessen? Und war er mit den Kollegen noch weiter um die Häuser gezogen?
Nichts. Da kam kein Bild mehr, keine Idee, keine Ahnung, was passiert sein könnte. Er hatte einen totalen Filmriss.
Und wieder sah er vor sich seine Sachen und dieses verdammte Blut.
Duschen, dachte er, ich muss duschen. Sonst fange ich noch an zu kotzen.
Vorsichtig machte er einen Spaltbreit die Tür auf. Der Flur war leer. Es war auch vollkommen still in der Wohnung. Vielleicht war Lilo gar nicht zu Hause?
Sie darf mich nicht sehen, dachte er, auf gar keinen Fall darf ich ihr begegnen.
Noch einmal sah er sich um, dann schloss er seine Zimmertür ab, nahm den Schlüssel in die Hand und huschte ins Bad.
Die heiße Dusche war wie eine Erlösung.
Das warme Wasser lief an seinem Körper hinab und verschwand als blutig-blassrosa Rinnsal im Abfluss.
© Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Christine braucht lange, bis sie anfängt zu reden. Dann sagt sie leise: »Ich hatte die schönsten Kinder der Welt. Raffael und Svenja. Glauben Sie mir, sie waren einfach perfekt. Wir wohnten damals oben im Norden, in Nordfriesland, gleich hinterm Deich.« Sie lächelt. »Das war toll für die Kinder. Sie konnten endlos draußen toben und Fahrrad fahren. Wir hatten ein Haus in einem kleinen Ort, in Tetenbüll, das war wie Bullerbü. Bis zu diesem schrecklichen Tag hab ich da verdammt gern gewohnt. Kindergarten und Grundschule waren direkt im Ort, meine Mutter wohnte auch in der Nähe und passte oft auf die Zwillinge auf. Ich arbeitete als Lehrerin ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt in Tönning, und Karl war Dozent an der Hamburger Uni. Da musste er zwar ziemlich viel hin- und herfahren, aber das hat ihn nicht gestört. Es war alles prima. Wirklich. Heute ist mir das klar, damals nicht so. Wie glücklich man war, merkt man immer erst hinterher.
Und Zwillinge sind ja ein Geschenk. Die beiden waren den ganzen Tag zusammen, haben miteinander gespielt und sogar eng umschlungen geschlafen. Einer konnte ohne den andern nicht sein. Es war unglaublich. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal rumquengelten oder sich langweilten ... nein, nie. Es war ja nie einer allein. Das war eine so starke Symbiose, das kann man sich gar nicht vorstellen.
Aber ich fand es großartig. Es tat einfach irrsinnig gut zu sehen, dass meine beiden Kleinen rund um die Uhr richtig vergnügt und zufrieden waren.«
Sie schluckt und braucht eine Pause von einigen Sekunden, dann redet sie weiter.
»Passiert ist es am 24. April 1992.«
»Wie alt waren die Zwillinge da?«
»Sieben. Sie gingen in die erste Klasse.«
»Erzählen Sie mir möglichst genau von diesem Tag. Versuchen Sie sich zu erinnern. So detailliert wie möglich.«
»Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her, aber der Tag ist mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Was glauben Sie, wie oft ich ihn Minute für Minute durchgegangen bin, ob ich irgendetwas hätte anders machen können! Aber mir ist nichts eingefallen.«
»So müssen Sie sich wenigstens keine Vorwürfe machen.«
Christine funkelt Dr. Corsini wütend an. »Vielleicht. Aber diese Machtlosigkeit halt ich nicht aus. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn irgendjemand Schuld hätte. Dann könnte ich wenigstens hassen und müsste nicht das Schicksal verfluchen, dem es wahrscheinlich scheißegal ist, ob es verflucht wird oder nicht.«
»Wahrscheinlich.« Dr. Corsini bleibt ganz ruhig. »Was passierte denn nun an diesem Tag im April?«
»Es war ein Freitag. Und es war schon ziemlich warm. Das weiß ich noch. Für norddeutsche Verhältnisse eigentlich ungewöhnlich warm. Und wie immer waren die Zwillinge bereits in aller Herrgottsfrühe wach.
Seit sechs Uhr morgens hockten sie vor unserem Bett und hypnotisierten aus zehn Zentimetern Entfernung unsere Gesichter. Dabei atmeten sie wie hechelnde Hunde und warteten auf die kleinste Regung, ein Wimpernzucken, um dann in unser Bett zu springen.
An diesem Morgen hatte ich wohl irgendwie ein Viertelauge geöffnet - jedenfalls stürzten sie sich sofort auf uns. Karl spielte den Ohnmächtigen. Und es ist schwer, sich nicht zu rühren, wenn die Kleinen an deiner Unterlippe herumzuppeln, am Ohr ziehen und die Füße kitzeln. Aber er war da stoisch und hat erst kapituliert, als sie ihm ihre kleinen Finger in die Nase steckten.
Wir haben eine Viertelstunde getobt, dann sprang Karl auf und ging ins Bad. Ich bin noch eine Weile liegen geblieben und hab den beiden die Rücken gekrault. Sie schnurrten wie kleine Katzen. Und ich schnupperte an ihren Nacken. Der Babygeruch war fast weg, aber noch nicht ganz.
Als sie Säuglinge waren, hab ich oft gedacht: Sie riechen wie Gummiente mit Honig.
Für mich war es der schönste Geruch der Welt.
Nach dem Frühstück hab ich sie dann in die Schule gebracht. Wie jeden Morgen. Das lag für mich auf dem Weg. Ich ließ sie aussteigen, sie rannten auf den Schulhof, und ich fuhr weiter.
Auch an diesem Morgen war alles ganz normal. Im Wegfahren hab ich noch Irmgard gesehen, aber hab ihr nur kurz zugenickt. Sie wusste, dass ich es immer eilig hatte, weil ich um Viertel vor acht in Tönning sein musste. Irmgard wohnte auch in unserer Siedlung und hatte einen Sohn, Fiete, der war acht. Mit ihm haben die Zwillinge oft gespielt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass an diesem Tag irgendetwas anders war als sonst. Es war alles okay. Total in Ordnung. Warum konnte es nicht einfach so bleiben, verdammte Scheiße?«
Christines Stimme ist hoch und schrill, und ihr Gesicht ist unnatürlich rot.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt der Psychiater beruhigend.
»Ja. Ein Wasser.«
Dr. Corsini steht auf, holt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank des Besuchsraumes und schenkt ihr ein.
»Danke.« Sie trinkt hastig, dann redet sie weiter.
»Ich hatte an diesem Mittwoch sechs Stunden Unterricht und bin mittags gleich nach der Schule nach Hamburg gefahren. Karl und ich waren zum Abendessen eingeladen, ich wollte bei der Gelegenheit in der Stadt noch ein paar Einkäufe erledigen und zum Frisör gehen.
Meine Mutter hatte versprochen, die Zwillinge von der Schule abzuholen und ihnen Mittagessen zu kochen. Es war alles geregelt, auf meine Mutter konnte ich mich hundertprozentig verlassen.
Aber trotzdem. Es hört sich merkwürdig an, und vielleicht glauben Sie mir das jetzt nicht, aber als ich so gegen fünf Uhr beim Frisör saß, hatte ich plötzlich ein ganz blödes Gefühl. So eine diffuse Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte.
Kennen Sie das? Da kommt einem ein Gedanke in den Kopf, und dann durchzuckt es den ganzen Körper. Es ist kein schlimmer, aber ein unangenehmer Schmerz. Ein Angststich.
Und diese Stiche hatte ich. Mehrmals hintereinander, aber ich wusste nicht, warum.
Ich ließ meine Haare färben und hatte das Mittel noch auf dem Kopf, darum konnte ich nicht sofort telefonieren. Erst als ich fertig war, hab ich zu Hause angerufen. Meine Mutter ging auch sofort ran und sagte, dass alles okay sei. Die Zwillinge seien drüben bei Irmgard und spielten mit Fiete.
Gott sei Dank sind sie zu zweit, dachte ich, einer passt auf den anderen auf. Niemals passiert zwei Kindern gleichzeitig etwas.
Ich hab mich daraufhin ein bisschen entspannt. Schließlich war nichts ungewöhnlich oder beunruhigend. Die Zwillinge waren gesund und spielten mit Fiete. Was sollte schon sein?
Nach dem Frisör zog ich los, um für die beiden noch eine Winzigkeit zu kaufen. ›Hast du uns was mitgebracht?‹ war nämlich immer die erste Frage, wenn Karl und ich mal einen Tag nicht zu Hause gewesen waren.
Und wenn es irgendwie möglich war, hatte ich auch wirklich immer eine Kleinigkeit dabei.
Ich hab ihnen zwei Überraschungseier gekauft. Die liebten sie über alles. Sie hatten schon eine ganze Sammlung von kleinen Schlumpffiguren und tauschten untereinander. Das war das Einzige, bei dem jeder seinen eigenen Besitz heftig verteidigte. Alles andere teilten sie ja miteinander, es gehörte immer beiden zugleich.
Aber diese beiden Überraschungseier haben sie nie bekommen. «
Christine weint. Dr. Corsini wartet geduldig. Erst nach ein paar Minuten kann sie weitersprechen.
»Der Dekan von Karls Fachbereich hatte uns an dem Abend eingeladen. Aber ich habe vergessen, wie er hieß. Der Name fing irgendwie mit ›K‹ an und hörte mit ›i‹ auf. Ich komm einfach nicht mehr drauf. Ist ja auch unwichtig, glaub ich.
Jedenfalls waren wir um sieben Uhr da, die Frau des Dekans begrüßte uns richtig herzlich, dann gab es einen Aperitif, und wir redeten über dies und das. Worüber, weiß ich nicht mehr.
Der Dekan war ein freundlicher Mann kurz vor der Pensionierung, der einfach nur beklatscht werden wollte. Darum lud er sich Gäste ein, und seine arme Frau musste stundenlang kochen. Jedenfalls belohnte er die, die bei dieser simplen Inszenierung mitspielten, manchmal mit Pöstchen und Einfluss. Er war der Garant für eine Karriere an der Uni, und Karl spielte mit, weil er der Meinung war, dass es ein Leichtes war, solch einen Abend durchzustehen, und der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen stand, und da hatte er recht. Ich sah es völlig ein, auch wenn der Gedanke an eine Gegeneinladung von der ersten Minute an wie ein Schreckgespenst über mir schwebte.
Aber es kam ganz anders.
Die Frau des Dekans hatte gerade die Vorspeise serviert, als das Telefon klingelte. Sie entschuldigte sich und nahm das Gespräch im Flur an.
Sekunden später kam sie zurück und sagte zu mir:
›Für Sie.‹
Ich brach innerlich zusammen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Meine Mutter war am Apparat. Sie konnte kaum sprechen, so hat sie geweint.
›Reiß dich zusammen und sag mir endlich, was passiert ist!‹, hab ich sie angeschrien, und es war mir egal, ob es alle hören konnten.
Meine Mutter schniefte, putzte sich die Nase, und dann hat sie stockend gesagt, dass die Kinder zu Fiete gegangen waren, zum Spielen. Um sieben sollten sie zu Hause sein. Wie immer. Wie abgemacht. Aber sie sind nicht gekommen. Um halb acht hatte sie dann bei Irmgard angerufen und gefragt, wo die Kinder bleiben, und Irmgard sagte, sie wären nur ganz kurz da gewesen. Fiete durfte nämlich nicht spielen, der hatte Stubenarrest, weil er Spülmittel in den Graben gespritzt hatte, und dabei waren drei Enten ertrunken.
Meine Mutter war dann durchs ganze Dorf gerannt, hatte die Kinder gesucht und jeden gefragt. Aber niemand hatte sie gesehen.
Jedenfalls stand Raffael dann endlich, um zehn vor acht, vor der Tür. Aber allein. Ohne Svenja. Und er sagte nicht, wo sie ist. Er sagte überhaupt nichts. Keinen Ton.
›Bleib, wo du bist, Mama!‹, hab ich ins Telefon gebrüllt. ›Pass auf Raffael auf, wir kommen. In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.‹
Die Vorspeise hatte noch niemand angerührt, weil alle höflichkeitshalber auf mich gewartet hatten. Wir haben uns sofort hastig verabschiedet, sind in mein Auto gesprungen und rasten über die Autobahn.
Während der Fahrt haben wir kaum etwas gesagt. Weil wir dasselbe gedacht haben: Es musste etwas passiert sein, denn ein Zwilling allein - das gab es einfach nicht. Raffael und Svenja existierten nur im Doppelpack. Sie waren eins.
Es war bereits dunkel und die Autobahn Richtung Norden fast leer.
Beim Fahren hat Karl unentwegt seine Nasenwurzel gerieben, und ich wusste, dass er sich dadurch zu beruhigen versuchte und sich zwang, konzentriert nachzudenken. Er suchte nach Erklärungen, nach Ideen, wo sie sein könnte.
Er hatte offenbar vor, pragmatisch und auf keinen Fall emotional an das Problem heranzugehen.
Das hab ich ihm angesehen und sagte nichts, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen. Und ich liebte ihn in diesem Moment. Er gab mir Halt. Wenn ich diese Angst durchstehen konnte, dann nur mit ihm.
Als wir endlich zu Hause ankamen, stand meine Mutter verheult im Wohnzimmer am Fenster und starrte in die Nacht, als würde Svenja jeden Moment wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auftauchen.
Sie hatte nichts Neues zu berichten. Hatte nichts gehört und nichts gesehen und vergeblich im Dorf herumtelefoniert. Noch nie hatte ich meine Mutter so hilflos und verzweifelt erlebt.
Karl goss ihr einen Cognac ein, und dann gingen wir beide hoch ins Kinderzimmer.
Raffael saß auf dem Bett. Ganz bleich und stumm. Er hat gar nicht reagiert, als wir reinkamen, hat uns nicht angesehen, war wie versteinert.
›Wo ist Svenja, Raffael?‹, hab ich ihn leise gefragt.
Raffael hat noch nicht einmal mit den Achseln gezuckt, sondern nur gegen die Wand gestarrt, und sein Blick war so tot, als hätte er die Frage nicht gehört oder nicht verstanden.
Ich hab mich neben ihn gesetzt, ihn fest an mich gedrückt und gestreichelt und ihn noch mal nach seiner Schwester gefragt.
Karl hat sich vor ihn hingekniet und seine Hände gehalten.
Aber Raffael hat sich nicht gerührt.
Dieser kleine Junge, der da mit hängenden Armen verzweifelt vor uns saß, brauchte Hilfe. So viel war uns klar. Er stand unter Schock.
Aber wir mussten wissen, wo Svenja war, um sie zu retten, falls ihr etwas zugestoßen war.
Nach ein paar Minuten haben wir Raffael in Ruhe gelassen und sind nach unten gegangen.
Karl griff nach seiner Jacke und zog seine Schuhe an. Wollte los, sie suchen. Zu mir sagte er, ich solle alles versuchen, dass Raffael redet, und die Polizei rufen. Im Hinausgehen steckte er noch die kleine Taschenlampe ein, die immer an der Garderobe baumelte.
Ich hab angefangen wie verrückt zu zittern.
Und da kam Raffael die Treppe herunter. Vielleicht, weil er seine Oma laut schluchzen hörte. Denn meine Mutter war gar nicht mehr zu beruhigen.
Ich hab mich hingesetzt und ihn auf meinen Schoß gezogen. Er war so steif wie ein Stück Holz.
›Du weißt doch ganz bestimmt, wo deine Schwester ist‹, hab ich geflüstert. ›Sie ist doch immer bei dir. Raffael, bitte! Es muss doch einen Grund dafür geben, dass du allein gekommen bist. Erzähl es mir!‹
Seine Augen blickten in die Ferne, waren ganz starr und so erschreckend trocken.
›Kann es sein, dass Svenja in Not ist? Wenn du mir nicht sagst, wo sie ist, können wir ihr doch nicht helfen!‹
Ich hab gebettelt und gefleht, aber er hat nichts gesagt. Gar nichts.
Schließlich hab ich es aufgegeben und bin mit ihm zur Couch gegangen. Er hat alles mit sich geschehen lassen, sich brav hingelegt und die Augen zugemacht.«
»Hat Ihr Mann sie gefunden?«
»Nein. Aber er ist dann zu Hauke gegangen. Der war der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr. Die beiden waren seit Jahren dicke Freunde.
›Ich brauch deine Hilfe, Hauke, sofort, noch heute Nacht‹, hat Karl gesagt, und mehr musste man bei Hauke auch nicht sagen. Wenn ein Freund um Hilfe bat, dann startete Hauke durch.
Karl hat ihm das Problem geschildert, und Hauke gab Feueralarm.
Es hat keine Viertelstunde gedauert, da waren zehn Mann da. Ein Teil machte sich auf den Weg, die Gräben abzulaufen und abzuleuchten. Ein anderer untersuchte den Tetenbüll-Spieker, das ist ein seeähnliches Staubecken vor dem Hafen. Soweit das alles in der Dunkelheit überhaupt möglich war.
Aber sie suchten wenigstens. Sie taten etwas! Sie kämpften um mein kleines, zartes Kind, das immer noch irgendwo war. Irgendwo da draußen.«
Christine schweigt und schließt die Augen.
»Und dann? Was passierte dann?«
Christine blickt auf und sieht Dr. Corsini an.
»Um kurz vor oder nach elf - so genau weiß ich das nicht mehr - sind dann zwei Polizisten gekommen. Ein Mann und eine Frau. Kommissar Jens Kogler und seine Assistentin Britta Wencke. Wir haben uns zusammen mit meiner Mutter in die Küche gesetzt. Raffael war auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen.
Die Polizisten holten ihre Klemmmappen heraus und begannen eine endlose Befragung. Erst nach persönlichen Daten, dann nach all den Dingen, die fast nur meine Mutter beantworten konnte. Wann hatte sie die Kinder abgeholt, was hatte sie dann gemacht, was hatten die Kinder gegessen, war ihr irgendein merkwürdiges Verhalten an ihnen aufgefallen, wann gingen sie zum Spielen und wohin, wann wollten sie zurück sein, was hatten sie an und und und ...
Es war mir klar, dass das wichtig war, aber ich konnte es kaum aushalten. Diese beiden Hanseln malten da unendlich langsam in ihrer Klemmmappe Buchstaben, während meine Svenja vielleicht irgendwo weinte und auf ihre Eltern wartete. Ich hätte sie schütteln können.
Aber meine Mutter beantwortete alle Fragen, soweit sie konnte, und ich hab mich gewundert, dass sie nicht mehr hysterisch war.
Ich selbst war völlig am Ende, hab die beiden Bürokraten einfach nicht mehr ertragen.
Dann kam Karl zurück. Unverrichteter Dinge, aber mit einem enorm energischen und entschlossenen Zug um den Mund.
Die beiden packten gerade ihre Papiere zusammen und baten uns, unbedingt anzurufen, wenn irgendwas passiert. Wenn Raffael was sagt, falls sich ein möglicher Entführer meldet oder wenn Svenja wieder auftaucht. Sie wollten dann bei Tagesanbruch mit der Suche beginnen.
Eine halbe Stunde lang ist Karl im Wohnzimmer auf und ab gegangen. Immer hin und her, ohne etwas zu sagen. Ich wusste, dass er nachdachte. Sein Kopf hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
Und je mehr er marschierte, desto wütender wurde er. Das sah ich ihm an. Seine Hilflosigkeit machte ihn rasend.
Dann ging er nach oben ins Schlafzimmer, und ich hörte, wie er immer wieder mit der Faust oder der flachen Hand gegen die Wand schlug.
Meine Mutter war vollkommen erschöpft in einem Sessel eingeschlafen, und ich hab mich wieder zu Raffael gesetzt, der wie tot auf der Couch lag, und sagte zu ihm: ›Bitte, Schatz, rede mit mir. Du bist doch mein großer, kluger Sohn und der Einzige, der mir helfen kann. Allein komm ich nicht mehr weiter.‹
Raffael war offensichtlich wach und öffnete ein klein wenig die Augen.
Ich hab einfach nur bei ihm gesessen und geweint.
Und dann hat er mir ganz zart seine kleine Hand aufs Knie gelegt.
›Weißt du, Raffael, es gibt Geheimnisse auf der Welt, die sollte man keinem Menschen verraten. Wirklich keinem‹, hab ich geflüstert. ›Aber dann gibt es Dinge, die sollte man jemandem anvertrauen, damit einem selbst oder einem anderen geholfen werden kann. Solche Dinge darf man nicht verschweigen. Verstehst du das?‹
Raffael nickte.
›Du warst doch heute mit Svenja draußen, um zu spielen. Wie schon oft, stimmt's?‹, fragte ich vorsichtig.
Raffael nickte erneut, aber ziemlich ängstlich.
›Aber heute war irgendetwas anders. Irgendetwas ist geschehen. Und das ist auch der Grund, warum sie nicht zusammen mit dir nach Hause gekommen ist. Stimmt's?‹
Raffael nickte wieder.
›Okay‹, sagte ich ruhig und nahm seine kleine Hand in meine. ›Ich werde dich jetzt nicht fragen, was geschehen ist. Ich lasse dich damit vollkommen in Ruhe - aber im Gegenzug sagst du mir, wo Svenja ist. Ich muss es unbedingt wissen, verstehst du? Ich muss sehen, ob ich Svenja helfen kann. Und das ist ein Geheimnis, das du lüften musst. Bitte, sag mir, wo sie ist.‹
Aber Raffael schwieg nach wie vor, und ich war kurz davor zu verzweifeln.
Ich hab ihn dann gefragt, ob sie in der Kirche gespielt haben. Oben, auf der Empore. Das war zwar verboten, aber sie machten es trotzdem ab und zu, weil sie es toll fanden und weil es dort so schön hallte.
Aber Raffael schüttelte den Kopf.
Er hatte wenigstens reagiert! Das war ja schon mal ein Anfang, dachte ich.
Und dann fragte ich ihn ab. Alles, was mir einfiel.
›Wart ihr im kleinen Wäldchen hinterm Pastorat? Oder auf dem Deich? Oder sogar am Wasser? Seid ihr über die große Straße gelaufen?‹
Raffael schüttelte jedes Mal den Kopf.
Ich weiß heute nicht mehr genau, was ich noch alles fragte, mir fiel eine ganze Menge ein, und irgendwann fragte ich ihn auch nach Bauer Harmsens Scheune, weil sie da schon öfter gespielt hatten.
Und in dem Moment wurde Raffael kalkweiß, er riss den Mund weit auf, und das blanke Entsetzen stand in seinem Gesicht.
Ich hab ihm dann beruhigend übers Haar gestrichen und gesagt, dass alles gut sei und dass ich gleich wiederkommen würde, bin aus dem Zimmer gestürzt und wie verrückt die Treppe hochgerannt ins Schlafzimmer.
›Karl, sie ist in Harmsens Scheune!‹, hab ich geschrien. Vielleicht hab ich auch nicht geschrien, sondern geheult, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls war Karl sofort alarmiert. Er sprang auf und sagte: ›Ich fahr hin, bleib hier bei Raffael!‹, und dann hat er nur noch seine Jacke und die Taschenlampe gepackt und ist aus dem Haus gerannt.
Ich hab überlegt, ob Raffael Svenja allein zurückgelassen hätte, wenn sie noch lebte. Wahrscheinlich nicht. Aber selbst wenn er es getan hätte, wäre er so schnell wie möglich nach Hause gerannt, um Hilfe zu holen. Und hätte sicher nicht geschwiegen.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht mehr viel Hoffnung. Eigentlich gar keine.
Es war Viertel nach zwölf, als Karl endlich anrief. Handys gab es damals noch nicht. Er hatte Bauer Harmsen aus dem Bett geklingelt und telefonierte von dort.
Er sagte mir, dass er sie gefunden hätte.
An seinem Tonfall hab ich sofort gehört, dass alles verloren war, aber ich hab dennoch ›Ich komme!‹ ins Telefon gebrüllt.
Und dann sagte er leise: ›Du kannst ihr nicht mehr helfen, Christine. Niemand kann ihr mehr helfen. Ich rufe jetzt die Polizei.‹
In diesem Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen. Alles, was ich einmal geliebt hatte, war belanglos geworden, war wie verschüttet unter einem grau-schwarzen Brei. Ich hatte nur noch einen Wunsch: sie zu sehen.
›Ich komme!‹, hab ich noch einmal geschrien.
›Bitte, lass es‹, flehte er mich geradezu an. ›Es ist nicht gut, wenn du sie so siehst.‹
Ich hab ja gewusst, dass alles vorbei und alles zu spät war. Sie war nicht mehr zu retten. Er brauchte das nicht noch mal zu wiederholen. Und es lag an meiner Verzweiflung, dass ich anfing, Karl anzubrüllen:
›Was weißt du, was gut für mich ist! Ich muss sie sehen, unbedingt! Sie ist mein kleines Mädchen ...‹
Die aufsteigenden Tränen schnürten mir die Kehle zu. Ich legte auf und sagte zu meiner Mutter, die im Sessel aufgewacht war: ›Sie ist tot, Mama!‹
Bevor meine Mutter reagieren konnte, bin ich aus dem Haus gerannt, in meinen Wagen gesprungen und Richtung Scheune gerast. Um diese Zeit war im Ort niemand mehr unterwegs.
Ich bin mit achtzig über das Kopfsteinpflaster der alten Dorfstraße gedonnert und dann um die Kurve in einen Wirtschafts- weg geschliddert, der am Ende des Dorfes begann.
Auf dem schmalen Weg fuhr ich hundertzwanzig und nur Minuten später erreichte ich die Scheune.
Karl stand vor der Tür.
Natürlich kannte ich die Scheune, hatte sie aber immer nur am Rande wahrgenommen, weil sie nicht wichtig war. Bauer Harmsen stellte darin manchmal seine Schafe unter. Er hatte nur eine kleine Herde und war im Gegensatz zu vielen anderen Schäfern der Ansicht, dass es nicht gut für die Tiere sei, wenn sie nass wurden. Bauer Harmsen war auch einer, der nachts bei seinen Schafen blieb, wenn die Geburt der Lämmer unmittelbar bevorstand. Viele im Dorf belächelten ihn wegen seiner übertriebenen Tierliebe, aber ich mochte ihn gerade deswegen.
Karl sagte kein Wort und drückte die hölzerne Tür auf, die nur angelehnt war. Der Kegel seiner Taschenlampe tanzte durch den riesigen Scheunenraum, so zitterte seine Hand.
Ich war nicht annähernd darauf vorbereitet, was ich dann sah.
Es war das Schlimmste, was ein Mensch überhaupt ertragen kann.
Sie hing am offenen Heuboden. Mit einem langen Seil um den Hals.
Meine Schöne hatte gespenstisch weit aufgerissene Augen, die das Entsetzen über den eigenen Tod nicht fassen konnten, und eine heraushängende, aufgequollene Zunge.
Ich wollte sie unbedingt in den Arm nehmen. Sie würde aufwachen, wieder anfangen zu atmen, sich erholen, wieder normal aussehen, wieder zu uns zurückkehren. Wir würden sie nach Hause tragen, ins Bett legen, den Arzt rufen, und in ein paar Tagen wäre alles wieder gut.
Aber ich konnte mich nicht rühren und starrte auf meine Tochter, deren Körper der leise Zugwind in der Scheune leicht hin und her baumeln ließ.
Und in dem Moment hab ich mich gefragt, warum ich nicht einfach sterben konnte. Hier, jetzt, in dieser Sekunde. Nur ein wenig später als sie.
Schließlich sagte Karl, dass wir nichts anfassen dürften und sie da nicht runterholen könnten, weil wir mögliche Spuren verwischen würden. Die Polizei würde gleich kommen.
›Svenja ist jetzt im Himmel‹, flüsterte ich, ›aber sie kommt zu mir zurück, und dann bleibt sie für immer.‹
Wie lange wir gewartet haben, weiß ich nicht mehr. Vielleicht eine halbe Stunde oder auch nur ein paar Minuten. In der Zeit sagte ich ihr ganz still und ganz für mich Adieu. Bis heute habe ich nicht damit aufgehört.
An keinem einzigen Tag.
Und niemals werde ich im Kopf das Bild meiner kleinen tapferen Svenja löschen können, die der Welt die Zunge herausstreckte, die sie im Stich gelassen und am Leben gehindert hatte.«
Dr. Corsini schenkt Christine Wasser nach, aber sie registriert es gar nicht und redet weiter.
»Als die Polizei eintraf, bin ich nach Hause gefahren, hab eine halbe Flasche Wein in einem Zug ausgetrunken und mich dann zusammen mit Raffael ins Bett gelegt.
Dass ich den Arm um ihn legte und ihn streichelte, hat er wahrscheinlich gar nicht gemerkt.
Ich hab mir Svenjas Schlafanzug vors Gesicht gedrückt, ihren sanften, süßlichen Geruch eingeatmet und mir das Hirn zermartert, was in der Scheune wohl geschehen war. Wie es bloß dazu kommen konnte.
Und irgendwie hab ich gespürt, dass sie noch da, noch in meiner Nähe war.
Um drei Uhr früh ist dann Karl mit den Polizisten nach Hause gekommen. Er sah aus, als wäre er in dieser Nacht zwanzig Jahre gealtert.
Ich bin aufgestanden und hab Kaffee gekocht.
›Wie ist es passiert?‹, fragte ich schwach.
Kommissar Kogler zuckte die Achseln und meinte, es wäre wohl ein Unfall gewesen. Jedenfalls glaubte dies der Gerichtsmediziner nach der ersten Untersuchung. Die Zwillinge haben auf dem Heuboden gespielt, und Svenja ist durch die morsche Boden- klappe gestürzt.
Aber ich konnte nicht begreifen, warum sie ein Seil um den Hals hatte.
›Was spielt man mit einem Seil um den Hals?‹, überlegte Kogler. ›Ich bin da nicht mehr so auf dem Laufenden, meine Kinder sind schon lange groß. Spielt man da Hund? Oder Tarzan? Oder sogar Hinrichtung? Ohne daran zu denken, dass auch in einem Spiel wirklich etwas passieren kann? Ich weiß es nicht.‹
Hund, dachte ich. Ja, wahrscheinlich haben sie Hund gespielt. Sie hatten sich sehnlichst einen gewünscht, aber wir wollten keinen, weil wir uns nicht die Möglichkeit verbauen wollten, mit den Kindern auch mal lange Fernreisen zu unternehmen.
So blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie mussten Hund spielen.
Unser eigenes Vergnügen war uns wichtiger gewesen als die Sehnsucht unserer Kinder nach einem Hund.
Ich wusste, dass ich nie mehr Ruhe finden würde.«
»Und ist das so?«
»Ja, das ist so.«
»Sie haben nie mehr Ruhe gefunden?«
»Nein. Ich bin ruhiger geworden. Das vielleicht. Aber mein innerer Friede ist für immer fort.«
Dr. Corsini nickt. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
Christine rauft sich die Haare. »Als die Leiche freigegeben war, haben wir hin und her überlegt, ob wir Raffael mit zur Beerdigung nehmen oder ihn lieber zu Hause lassen sollten. Und schließlich hab ich ihn ganz direkt gefragt, ob er weiß, dass seine Schwester morgen begraben wird.
Raffael hat nicht geantwortet, sondern mich nur mit großen, entsetzten Augen angesehen.
Ich hab ihn dann gefragt, ob er weiß, was da auf dem Friedhof passiert, und Raffael hat den Kopf geschüttelt.
Also hab ich ihn auf den Schoß genommen und versucht, ihm die Sache zu erklären, obwohl ich ja selbst noch nichts, wirklich gar nichts begriffen hatte.
Ich hab ihm gesagt, dass Svenja jetzt in einem Sarg liegt. In einer großen, schönen Kiste aus Holz. Aber das ist nicht die Svenja, die er kennt, die darin liegt, das ist nur ihr Körper, ihre Hülle. Ihre Seele ist längst davongeflogen, und wahrscheinlich wird sie ewig weiterleben. So genau wissen wir das ja alle nicht. Aber ich bin sicher, dass sie immer bei ihm ist. Vielleicht sogar gerade jetzt, hier in diesem Zimmer.
Raffael sah sich augenblicklich um.
›Du kannst sie nicht sehen, Raffael, nur spüren‹, sagte ich. ›Du kannst vielleicht fühlen, dass sie bei dir ist und dich beschützt. Und wenn du mit ihr sprichst, wird sie dir eine Antwort geben. Aber die hörst du nicht, du bekommst sie nur durch deine Gedanken. Verstehst du das?‹
Raffael nickte.
Es war furchtbar schwer, weil ich auf keinen Fall etwas Falsches sagen wollte.
Und dann erklärte ich ihm, dass alle Menschen sterben müssen, aber niemand weiß, wann. Die meisten sterben erst, wenn sie sehr alt sind. Und dann geht es allen Menschen so wie jetzt Svenja. Sie sind unsterblich.
Raffael war ganz ernst. Ich war mir sicher, dass er alles verstanden hatte, und hoffte, dass er dadurch ein klein wenig getröstet war.
›Möchtest du morgen mitkommen auf den Friedhof, wenn Svenjas Hülle in einem Sarg in der Erde vergraben wird?‹, hab ich ihn schließlich gefragt, und Raffael nickte.
Er wollte auf keinen Fall bei Oma oder bei Fiete bleiben.
Als ich aufstand, wollte ich wissen, ob er noch irgendeinen Wunsch hatte.
›Ich möchte tot sein‹, antwortete Raffael.
Das war der einzige Satz, den er nach Svenjas Tod sagte.
Als es so weit war, stand er zwischen uns am Grab. Unbeweglich und stumm.
Und vergoss keine Träne.
Aber als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stieß er einen fürchterlichen Schrei aus. Es war ein Ton, der Gläser und Scheiben platzen lässt. Wie der Schrei eines Tieres, dem das Fell bei lebendigem Leib über den Kopf gezogen wird.
Noch heute wache ich nachts auf.
Von diesem einen grauenhaften, gellenden Schrei.«
»Und was war später? Ich meine, wie hat Raffael das alles verarbeitet? «
»Gar nicht. Er zog sich in sich zurück, kam nicht mehr zum Vorschein, und wir kamen nie mehr an ihn heran.
Wir hatten beide Kinder verloren.«
2
Berlin, Mai 2011
Ganz allmählich kam er zu sich, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er zu Hause in seinem Bett lag, dass der Erker dort war, wo er immer war, dass der Spiegel dort hing, wo er immer hing, und das fahle Licht des Vormittags ins Zimmer schien.
Er schloss die Augen, um sich noch einmal kurz seinen Träumen hinzugeben. Doch er schaffte es nicht, sich zu entspannen.
Irgendetwas war anders als sonst.
Irritiert fuhr er mit der Hand über seinen Körper. Und fasste in etwas Feuchtes, Klebriges.
Du lieber Himmel! Er hatte seine Sachen noch an. Das war völlig ungewohnt, denn normalerweise schlief er nackt.
Jetzt öffnete er erneut die Augen und hob den Oberkörper ein wenig an. Was er sah, brachte ihn fast um den Verstand: Vollständig angekleidet lag er in seinem Bett, und T-Shirt, Jacke und Jeans waren voller Blut. Tief durchtränkt und an manchen Stellen bereits getrocknet, hart und steif.
Fassungslos fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und merkte zu spät, dass auch seine Hände blutverkrustet waren.
Der Ekel machte ihn fast bewegungsunfähig.
Er rührte sich nicht. Das Entsetzen saß ihm direkt in der Kehle und schnürte ihm den Atem ab. Er konnte es nicht glauben.
Schließlich riss er das T-Shirt hoch. Sein Bauch war unversehrt.
Er tastete sich hektisch ab. Hals, Brust, Bauch, Arme, fuhr mit der Hand in die Hose, bis zum Schritt - nirgends eine Wunde oder ein Schmerz.
Verdammt noch mal, woher kam das Blut?
Er blinzelte zur Uhr. Die digitalen Ziffern des Radioweckers zeigten zehn Uhr dreiundzwanzig.
Mühsam stand er auf. In seinem Kopf explodierten Stiche wie ein Feuerwerk, aber er ignorierte sie und taperte langsam und vorsichtig zum Spiegel.
Jetzt erst wurde ihm das Ausmaß des Desasters richtig klar: Er sah aus, als ob er ein Schwein geschlachtet hätte.
Ihm brach der kalte Schweiß aus.
Bleib ruhig, dachte er, ganz ruhig. Es gibt für alles eine Erklärung, du kommst bloß nicht drauf. Und mit diesem schmerzenden Kopf und der Übelkeit, die sich in ihm auszubreiten begann, schon gar nicht.
Er starrte auf sein Spiegelbild, verstand überhaupt nichts mehr und bekam das nackte Grausen. Auf dem Tisch lagen Zigaretten. Mit zitternden Fingern nestelte er eine aus der Packung, zündete sie an und rauchte mit schnell aufeinanderfolgenden, tiefen Zügen.
Mein Blut ist es nicht, mein Blut ist es nicht, hämmerte sein Gehirn in einer Endlosschleife. Ich blute nicht, ich bin nicht verletzt, ich bin okay. Ich bin okay. Ich bin okay.
Aber von wem ist das Blut dann? Was war passiert?
Stumm stellte er sich wieder vor den Spiegel und stierte auf seine besudelten Sachen, als könnte er ihnen die Wahrheit entlocken oder die Spur einer Ahnung auslösen.
Doch er hatte keinerlei Erinnerung an den gestrigen Abend.
Nicht die geringste.
Er ließ die Zigarette in eine halb volle Bierflasche fallen. Es zischte leise.
War heute Donnerstag oder Freitag? Verflucht, noch nicht einmal das wusste er. Er torkelte, zog den Reißverschluss seiner Jeans auf und stieg so vorsichtig aus der Hose, als täte jede Berührung mit dem Stoff fürchterlich weh.
Das Blut war durch die Jeans bis auf seine Haut durchgedrungen, und seine Oberschenkel hatten rötlich braune Flecken. Er glaubte, sich übergeben zu müssen, so widerlich fand er das.
Er warf die Jacke auf den Boden und versuchte das T-Shirt auszuziehen. Dabei weitete er den Halsausschnitt, bis das Hemd zerriss und er es über den Kopf ziehen konnte, ohne mit dem Blut in Berührung zu kommen.
Er sah sich um. Über sein Bettlaken zogen sich einige bräunliche Streifen von getrocknetem Blut. Er riss das Laken von der Matratze und warf es auf den blutigen Haufen.
Er konnte es einfach nicht begreifen.
Woher kam das Blut?
Und was war denn heute für ein Tag?
Auf dem Schreibtisch lag sein Kalender. Hektisch blätterte er darin herum, aber das half ihm nicht weiter, weil er nichts eingetragen hatte.
Sein Handy. Es müsste in der Jacke sein, und da stand auf dem Display das Datum.
Also musste er wieder die Jacke berühren. Er würgte, als er vorsichtig die innere Brusttasche befühlte. Das Handy war nicht da. Dann vielleicht vorn rechts außen. Oh Gott, das Blut war sogar in die Jackentasche gesickert. Er schluckte mehrmals, fuhr vorsichtig mit der Hand hinein.
Die Tasche war leer.
Er überlegte. Merkwürdig, rechts in der Jackentasche hatte er doch immer das Messer. Sein Messer! Verdammte Scheiße, wo war sein Messer?
Es war nicht irgendein Messer. Nicht er hatte sich das Messer ausgesucht, sondern das Messer ihn. Darum war es ihm so wichtig, und darum hatte er sich auch immer sicher gefühlt, wenn es in der Jackentasche schwer in seiner Hand lag.
Die Szene stand ihm vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Berlin, U-Bahnhof Kaiserdamm, nachts um kurz nach eins. Vor fast zwei Jahren.
Er hatte auf einer Bank gesessen, auf die U-Bahn gewartet, und war dabei eingeschlafen. Eine Viertelstunde oder eine halbe war vergangen, als er durch laute Stimmen geweckt wurde. Zwei Typen attackierten einen Mann, der wesentlich älter war als sie. Ungefähr Mitte dreißig, schmächtig und unauffällig gekleidet. Völlig unvorstellbar, dass diese graue Maus die beiden, die sicher nicht älter als achtzehn oder zwanzig waren, provoziert hatte.
Sie schubsten ihn immer näher an die Gleise heran. Der Mann schrie und flehte, ihn in Ruhe zu lassen.
Wie gelähmt saß er da, und ihm wurde heiß, denn er wagte nicht einzugreifen. Aber genauso wenig konnte er in dieser Situation davonrennen. Ein Handy, um die Polizei zu rufen, hatte er - wie so oft - nicht dabei und schämte sich unsagbar, weil er nichts tun konnte.
Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Das Geräusch klackernder, hastiger Absätze auf den Stufen. Irgendjemand rannte, aber er wusste nicht, ob dieser jemand floh oder auf den Bahnsteig kam.
Vielleicht hatten ja auch schon andere die Szene beobachtet.
Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller, aber die Typen beachteten ihn gar nicht. Wenn er sich jetzt entfernte, würden sie ihn bemerken, da war er sich sicher, also versuchte er weiterhin, still und unsichtbar zu bleiben.
Die Typen boxten dem Mann ins Gesicht, in den Magen und in die Nieren und hielten ihn gleichzeitig am Mantel fest, sodass er nicht zusammenbrechen konnte. Das Blut lief ihm aus der Nase, und man sah, dass er sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Der Mann war fertig, aber das interessierte die beiden Typen nicht.
Einer zog ein Messer aus der Tasche und ließ es aus der Scheide schnellen. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte die Klinge im kalten Licht der Neonbeleuchtung auf, dann stach der Typ dem Mann das Messer in den Bauch.
Dies alles war blitzschnell und völlig geräuschlos passiert.
Der Mann fiel einem der beiden Typen in die Arme und hing dort wie ein schlaffer Sack, als ein Martinshorn zu hören war und immer näher kam. Offensichtlich hatte doch jemand die Polizei alarmiert.
Der Angreifer zog das Messer aus dem Bauch des Mannes, ließ ihn fallen und kickte das Messer über den Bahnsteig. Es schlidderte weit.
Dann flüchteten die beiden Typen.
Das Messer lag nur einen halben Meter von ihm entfernt.
Ohne zu überlegen, was er tat, stellte er seine Tasche darauf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, und der Mann regte sich nicht.
Er ging zu dem Verletzten, fühlte ihm den Puls, redete ihm Mut zu und kam sich dabei ungeheuer schäbig vor, weil er glaubte zu lügen. Immerhin war es möglich, dass der Mann jetzt, in diesem Moment, oder in wenigen Minuten starb.
Sekunden später stürmten Polizisten den Bahnsteig, und augenblicklich brach Chaos aus. Schaulustige standen herum, der Notarzt kam und transportierte den lebensgefährlich Verletzten ab.
Er wurde als Zeuge befragt, und als er seine Aussage gemacht hatte, ließ er unbemerkt das Messer in seiner Tasche verschwinden und ging nach Hause.
Vom Kaiserdamm musste er eine Dreiviertelstunde bis zu seiner Wohnung laufen, aber das war egal. Er besaß ein Messer. Ein Springmesser, das vor einer Stunde noch in einem menschlichen Körper gesteckt hatte.
Und dieses Messer war nun weg.
Ihm wurde immer übler, und das Zittern wurde stärker.
In der linken Jackentasche fand er das Handy. Er klappte es auf. Der Akku war fast leer, aber er konnte sehen, dass heute Samstag war, kurz nach halb elf.
Ach ja. Gestern war Premiere gewesen. Romeo und Julia, richtig, und danach Premierenfeier in der Kantine. Zumindest das fiel ihm wieder ein.
Erinnern konnte er sich noch an die ersten beiden großen Bier, die er hastig hinuntergeschüttet hatte. Während der Vorstellung hatte er auch schon Bier getrunken, aber dennoch ständig das Gefühl gehabt zu verdursten.
Und dann? Wie lange hatten sie in der Kantine gesessen? Und war er mit den Kollegen noch weiter um die Häuser gezogen?
Nichts. Da kam kein Bild mehr, keine Idee, keine Ahnung, was passiert sein könnte. Er hatte einen totalen Filmriss.
Und wieder sah er vor sich seine Sachen und dieses verdammte Blut.
Duschen, dachte er, ich muss duschen. Sonst fange ich noch an zu kotzen.
Vorsichtig machte er einen Spaltbreit die Tür auf. Der Flur war leer. Es war auch vollkommen still in der Wohnung. Vielleicht war Lilo gar nicht zu Hause?
Sie darf mich nicht sehen, dachte er, auf gar keinen Fall darf ich ihr begegnen.
Noch einmal sah er sich um, dann schloss er seine Zimmertür ab, nahm den Schlüssel in die Hand und huschte ins Bad.
Die heiße Dusche war wie eine Erlösung.
Das warme Wasser lief an seinem Körper hinab und verschwand als blutig-blassrosa Rinnsal im Abfluss.
© Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Sabine Thiesler
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reinen Tatort und Polizeiruf 110.Bereits mit ihrem ersten Roman Der Kindersammler stand sie monatelang auf den Bestsellerlisten. Ebenso mit den folgenden Büchern Hexenkind, Die Totengräberin, Der Menschenräuber und Nachtprinzessin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Thiesler
- 540 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955690229
- ISBN-13: 9783955690229
Kommentare zu "Bewusstlos"
0 Gebrauchte Artikel zu „Bewusstlos“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 23Schreiben Sie einen Kommentar zu "Bewusstlos".
Kommentar verfassen