Tochter der Maori
Neuseeland, 1845: Jahre lang ist Kitty mit ihrem Mann Rian zur See gefahren. In den Wirren eines Maori-Aufstandes werden sie getrennt. Kitty nimmt sich eines Maori-Findelkindes an
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Produktinformationen zu „Tochter der Maori “
Neuseeland, 1845: Jahre lang ist Kitty mit ihrem Mann Rian zur See gefahren. In den Wirren eines Maori-Aufstandes werden sie getrennt. Kitty nimmt sich eines Maori-Findelkindes an
Lese-Probe zu „Tochter der Maori “
Tochter der Maori von Deborah Challinor INTERMEZZO
Norfolk, England 1841
Dereham, April 1841
»Mrs Carlisle! Post!«
Emily Carlisle legte sorgsam das mazarinblaue Satinmieder zur Seite, das sie gerade bestickte. Sie bekam nicht sehr oft Post, und so war dies ein ausgezeichneter Vorwand, sich eine Pause von ihrer minutiösen Arbeit zu gestatten, auch wenn das Stück bis Freitag fertig sein musste. So sehr sie die Kundin schätzte, war es leider auch typisch für sie, die winzigsten Perlen der Welt am Hochzeitskleid ihrer Tochter aufgestickt zu verlangen. Und überdies pfauenblaue! Sie mussten ein Vermögen gekostet haben.
Emily lauschte den schweren Schritten ihres Hausmädchens auf dem Flur. Nellie, die zugleich als ihre Schneidergehilfin arbeitete, war ein pummeliges Ding, jedoch mit erstaunlich flinken Fingern und einem sicheren Blick dafür, wie ein Stoff fiel. Emily war froh, sie zu haben. Noch froher war sie, dass sie sich überhaupt wieder eine Hilfe leisten konnte, seit ihre Schneiderei so florierte.
Nellie zögerte an der Salontür und klopfte scheu an. Sie hatte längst gelernt, dass sie sich nicht an ihre Arbeitgeberin heranschleichen durfte, wenn sie an einem Auftrag arbeitete.
Emily bat sie herein. »Was hast du für mich? Ist es etwas Interessantes?«
Nellie fächerte die beiden Kuverts in ihrer molligen Hand auf. »Ja, da ist ein Brief von Mrs Feather ..., hm, Featherstone ... hä? Sagt man das so?« Nellie konnte lesen, allerdings nicht sonderlich gut, und vor allem tat sie sich mit den lachhaft schwer auszusprechenden Namen der Oberklasse schwer.
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»Man spricht es ›Fanshaw‹ aus, Nellie. Leg den Brief bitte zur Seite. Mit ihrem Kleid habe ich noch nicht einmal angefangen. Was hast du sonst noch?«
»Uuund«, verkündete Nellie und dehnte den Moment willentlich aus, weil sie wusste, dass Mrs Carlisle entzückt wäre, »einen von einer Miss Kitty Carlisle!«
»Kitty?«, wiederholte Emily und strahlte. Sie lief quer durchs Zimmer und riss Nellie den Brief aus der Hand. Beim Anblick der vertrauten eleganten Schrift schlug ihr Herz schneller. »Geh doch bitte Wasser aufsetzen, Nellie. Gewiss ist es schon Zeit für den Vormittagstee.«
Nellie begriff, wann ihre Anwesenheit nicht erwünscht war, und verließ lächelnd den Salon. Mrs Carlisle bekam nicht viele Briefe von ihrer eigensinnigen, zwanzigjährigen Tochter, daher verstand Nellie gut, dass ihre Herrin einige Minuten für sich sein wollte, um die jüngsten Neuigkeiten zu genießen. Und Neuigkeiten gab es sicherlich, Kitty schien ein rechter Wirbelwind zu sein, so wie sie aus Neuseeland verschwand, dann in Sydney, in Australien, auftauchte und nun Briefe aus den entlegensten Winkeln der Welt schrieb. Nellie war Kitty nie begegnet, jedoch voller Ehrfurcht vor ihr. Oder vor Kittys Ruf zumindest.
Emily wartete, bis Nellie draußen war, und riss dann das Kuvert auf. Als Absender war lediglich The High Seas, die Meere angegeben, was Emily ein Stirnrunzeln entlockte, das gleichermaßen verärgert wie besorgt war. Das Datum indes, Februar 1841, ließ ihr Herz abermals schneller schlagen. Bedeutete es, dass Kitty nicht weit weg von England war?
Emily war schon seit dem letzten Mai krank vor Sorge. Da war ein Brief von ihrer Schwägerin Sarah Kelleher aus Neuseeland mit der schockierenden Nachricht gekommen, dass Kitty von der Missionsstation in der Bay of Islands weggelaufen war und auch Emilys Bruder George, Sarahs Ehemann, »unter mysteriösen Umständen« verschwunden war. Eine schreckliche Tragödie, hatte Sarah geschrieben, aber weder in jenem noch in den nachfolgenden Briefen näher ausgeführt, was geschehen war.
Sarahs in ihrem ersten Brief geäußerte Vermutung, dass Kitty an Bord eines Schoners auf und davon wäre, möglicherweise nach Sydney, wurde Emily einige Wochen später von Kitty selbst bestätigt. Sie schrieb, dass in Neuseeland etwas Furchtbares geschehen sei und sie nun in Sydney war, sicher und gesund und unter Freunden. Es hatte Emilys Ängste ein wenig beruhigt, brachte sie aber weiterhin noch um den Schlaf, bis der nächste Brief eintraf, in dem Kitty schrieb, dass sie Arbeit gefunden hatte und von einer freundlichen Irin unter die Fittiche genommen worden sei, die im Haus neben dem, das sie gemietet hatte wohnte, dass sie vorerst nicht nach Neuseeland zurückkehren würde und Emily sich keine Sorgen machen sollte. Das Ganze ohne Absender.
Sie sollte sich keine Sorgen machen? Emily war außer sich vor Ärger und Sorge, die mit jedem weiteren kurzen Brief ihrer Tochter wuchsen, zumal Kitty ihr nur spärliche Informationen zukommen ließ. Emily hatte Sarah zurück geschrieben, hatte um mehr Einzelheiten bezüglich der »Tragö die« gebeten, doch ihre Schwägerin war ebenso ausweichend wie ihre Tochter. Emily fragte sich, was in aller Welt geschehen war. Und wo war George? Sie hatte Sarah wiederholt um Nachricht bezüglich seines Verbleibs gebeten, doch Sarah antwortete jeweils, dass er nicht gefunden wurde, aber die Wege des Herrn nun mal rätselhaft seien und George vielleicht den Lohn erhalten hätte, den er so reichlich verdiente.
Emily setzte sich auf das Sofa, faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.
„Meine liebste Mama,
Ich hoffe, Du erfreust Dich bester Gesundheit. Mir selbst geht es sehr gut, und ich habe wundervolle Neuigkeiten. Ich werde bald heiraten, einen Kapitän eines Handelsschiffs! Ich weiß, dass Du Dich für mich freuen wirst, war es Dir doch stets wichtig, dass ich einen Ehemann finde, und beinahe sehe ich Dich vor mir, wie Du diesen Brief liest!„
Emily schlug die Hand vor den Mund. Es war ein großes Glück, dass Kitty ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn darin dürfte nichts als blankes Entsetzen stehen. Ein Schiffskapitän!
„Sorge Dich nicht, Mama, denn ich werde keine einsame Seemannsfrau sein, weil ich mit meinem Ehemann segeln und all seine Abenteuer auf den Meeren mit ihm teilen werde, jeden Tag, für den Rest unseres wunderbaren Lebens als Ehepaar!"
Emily wurde beinahe ohnmächtig.
„Er wird Dir gefallen, Mama, dessen bin ich gewiss. Sein Name ist Rian Farrell, er ist neunundzwanzig Jahre alt und besitzt einen eigenen Schoner nebst einem Handelsunternehmen. Wir möchten schnellstmöglich heiraten ... „
Emily schluckte nervös und fragte sich, warum.
„ ... deshalb werde ich ihn bald nach Hause bringen, damit er Dich kennenlernen und Du unsere Hochzeit miterleben kannst. Ich würde gerne daheim in Dereham getraut werden, im Garten, und ich wünsche mir sehr, dass ich Dein Brautkleid tragen darf, wenn Du es gestattest. Ich weiß, dass Papa nicht bei uns sein kann, doch da Ihr beide eine solch glückliche Ehe hattet, glaube ich, dass unsere Ehe gleichfalls unter einem guten Stern stehen wird, wenn ich das Kleid trage, das Du für Papa getragen hast.
Wir möchten nur eine kleine Hochzeit. Ich vermute, dass nach wie vor über das getratscht wird, was geschah, bevor ich fortging, also wirst Du ohnedies nicht viele Gäste einladen wollen. Rians Crew würde gerne dabei sein. Sie sind ein recht bunter Haufen, wie Du feststellen wirst, aber allesamt wunderbare Menschen. Kannst Du bitte das Aufgebot bestellen, den Pfarrer bitten, uns zu trauen, und ein Hochzeitsessen arrangieren? Rian bittet mich, Dir mitzuteilen, dass er Dir nach unserer Ankunft sämtliche Auslagen erstatten wird.
Wir sind eben von San Francisco abgesegelt und haben noch Geschäftliches in Rio de Janeiro zu erledigen, was mehrere Wochen in Anspruch nehmen könnte. Daher nehme ich an, dass wir gegen Ende Mai ankommen werden. Rian sagte, dass wir in King's Lynn anlegen werden, weil es dort gute Werften gibt und an der Katipo (das ist sein Schoner) einige Arbeiten vorzunehmen sind.
Ich freue mich, Dich in Bälde wiederzusehen, meine liebste Mama, und sende Dir meine innigsten Grüße.
Deine Dich liebende Tochter, Kitty „
Emily ließ den Brief auf ihren Schoß fallen. Sie wusste nicht, ob sie weinen, in Ohnmacht sinken oder mit dem Fuß aufstampfen sollte. Letztlich ging sie nur zur Salontür und rief nach Nellie, ob der Tee schon fertig wäre.
Anschließend las sie den Brief ein zweites Mal und fragte sich, wie gut sie ihre Tochter noch kennen mochte, wenn sie endlich heimkam. Sogar Kittys Ausdrucksweise war verändert : Ihre Worte waren andere, und - was noch verstörender war - desgleichen ihre Haltung und ihre Einstellung. Emily nahm eine neue Leichtigkeit, eine Ungezwungenheit wahr. Ja, Kitty klang beinahe ... kolonial.
Emily seufzte zittrig. Ein Schiffskapitän. Du liebe Güte! Schon in der Vergangenheit erwies sich Kittys Urteilsvermögen in Bezug auf Männer als recht besorgniserregend, und Emily hatte keinerlei Grund zu der Annahme, dass sich daran etwas geändert hatte. Annähernd drei Jahre war jener extrem unglückliche Zwischenfall mit dem Lebemann Hugh Alexander her, weshalb Emily gezwungen war, Kitty nach Neuseeland zu schicken. Sie mochte sich nicht einmal ausmalen, was in der Zwischenzeit geschehen sein mochte, ihre Tochter zu einer noch absurderen Wahl zu veranlassen.
Und dies war das eigentliche Problem, oder nicht? Wegen der offensichtlichen Weigerung von Tochter und Schwägerin, Näheres zu berichten, war Emily auf ihre eigene Vorstellungskraft zurückgeworfen, und natürlich spielte Emilys Fantasie verrückt und bescherte ihr die entsetzlichsten Szenarien. Diese jüngste Nachricht befeuerte ihre Ängste noch. Segelte Kitty tatsächlich mit einer Bande von Abenteurern und Seeräubern um die Welt? Ohne Anstandsdame und mit dem Mann, den sie zu heiraten beabsichtigte? Hatte man so etwas schon gehört? Nein, hatte man nicht, und Emily müsste dafür sorgen, dass man es auch weiterhin nicht tat, zumindest was die Bewohner von Dereham anging. Die Leute redeten bis heute über Kitty und Hugh Alexander, wie Emily sehr wohl wusste, und diese neueste Entwicklung wäre ein wahres Fest für die Klatschmäuler des Dorfes.
Nellie kam herein und stellte das Teetablett auf den Beistelltisch neben dem Sofa.
»Es ist nur noch Shortbread da, Mrs Carlisle, aber das ist noch frisch. Ich habe ein Stück probiert.« Nellie sah sie prüfend an. »Mrs Carlisle? Geht es Ihnen nicht gut?«
Emily wurde jäh aus ihren unerfreulichen Gedanken gerissen. »Wie bitte?«
»Sie sehen aus, als wären Sie einem Geist begegnet.«
»Oh nein, es ist nur ... eine unerwartete Nachricht.«
»Keine schlechte, hoffe ich.« Nellie schien ernsthaft besorgt, als sie den Tee einschenkte.
»Nun, das dürfte eine Frage der persönlichen Sichtweise sein.« Emily nahm die Tasse und Untertasse, die Nellie ihr reichte, und wartete, dass das Mädchen sich setzte. Sie saßen bei allen Mahlzeiten und Erfrischungen zusammen, was viele Frauen niemals gestatten würden, wie Emily bekannt war. Doch Nellie und sie arbeiteten auch zusammen, weshalb die Grenzen in ihrem Fall ein wenig verschwammen, und vor allem litt Emily unter ihrer Einsamkeit. Sie griff nach einem Stück Shortbread. »Meine Tochter wird heiraten.«
»Na, das sind doch prächtige Neuigkeiten, nicht?«, fragte Nellie begeistert.
»Einen Schiffskapitän. Sie wird im Mai mit ihm herkommen. «
Nellie tunkte ihr Shortbread ein. Gewöhnlich untersagte Emily ihr das, aber heute bemerkte sie es gar nicht weiter.
»Und er holt sie ab, um sie herzubringen?«, fragte Nellie. »Von wo? Es ist doch nett von ihm, sie zu eskortieren, nicht?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Emily matt. »Anscheinend sind sie bereits, ähm, zusammen.«
Nellies runde Augen über dem Rand ihrer Teetasse wurden noch runder. Sie hüstelte ein wenig und stellte ihre Tasse ab. »Zusammen? Auf seinem Schiff?«
»Das muss ich wohl annehmen, ja.«
»Sie meinen, zusammen?« Nellie sah entsetzt aus.
»Oh, hör auf, Nellie«, fuhr Emily sie an. »Du klingst ja wie ein Papagei. Und kein kluger überdies.«
Nellies Bewunderung für Kitty Carlisle schnellte um mehrere Grad in die Höhe. Wie aufregend es sein musste, mit einem Schiffskapitän um die Welt zu segeln, mit dem man nicht mal verheiratet war! Er war zweifellos ein umwerfender Mann, sehr groß, mit blitzenden Augen und herrlichem dunklem Haar, das ihm immerfort in die hohe Stirn fiel. Und gewiss glänzte selbige Stirn meist vor Schweiß von all den wagemutigen, umwälzenden Entscheidungen, die er stündlich zu treffen hatte!
»Er ist ein Schleppkahnkapitän«, sagte Emily.
Nellie war sichtlich enttäuscht. »Ach, ist er?«
»Nein, aber ich wollte, dass dieser alberne Ausdruck aus deinem Gesicht verschwindet. Dies ist kein Jane-Austen- Roman, Nellie. Wir sprechen über meine Tochter!«
Beschämt schob Nellie sich noch ein Stück Shortbread in den Mund.
»Sie bittet darum, hier getraut zu werden, in diesem Haus«, sagte Emily. Sie erzählte nicht, dass es schon immer ihr Traum gewesen war, Kitty vor den Altar einer der größeren Kirchen von Norwich treten zu sehen, vielleicht sogar in einer der Kathedralen, auch wenn solch eine Pracht die Mittel der Familie bei Weitem überstieg.
»Aber das wird doch schön, nicht?«, beharrte Nellie. »Der Pfarrer hält so hübsche Trauungen ab, und bis Mai sind alle Frühlingsblumen in voller Blüte.«
»Ja, aber ich wünschte ...« Emily verstummte. Eines der Dinge, auf die sie sich am meisten gefreut hatte, war die stolze Miene ihres Mannes, wenn er Kitty zum Altar führte. Doch Lewis war seit über drei Jahren tot. Sie seufzte wieder. »Ja, der Pfarrer wird es sicherlich sehr feierlich machen. Ich muss morgen zu ihm gehen und alles mit ihm besprechen.«
Später am Tag ging Emily hinauf auf den Dachboden und öffnete die Truhe, in der sie ihr Brautkleid aufbewahrte. In dem Papier und dem Nesseltuch eingewickelt, der das Kleid schützen sollte, trug Emily es nach unten in ihr Schlafzimmer und legte es auf das Bett, das sie einst mit Lewis geteilt hatte. Vorsichtig öffnete sie die schützenden Lagen, bis das Kleid enthüllt war.
Bedruckter Musselin in einem dunklen Elfenbein, mit kupferfarbenen Seidenborten und Bändern am tiefen Ausschnitt und an den Manschetten der kurzen Puffärmel. Eine passende, auf dem Rücken zu bindende Seidenschärpe lief um die hohe Taille, und kupferfarbene, auf den Saum des langen Kleides aufgestickte Glasperlen bildeten ein raffiniertes, gefälliges Muster. In der Nachmittagssonne, die durch die Gazegardinen fiel, schimmerte die kupferfarbene Seide matt. Es gab auch farblich abgestimmte Satinschuhe mit Absatz, von denen Emily bereits wusste, dass Kitty sie nicht anziehen könnte, weil ihre Tochter trotz ihrer zierlichen Gestalt ziemlich große Füße hatte. An ihrem eigenen Hochzeitstag hatte Emily ihr Haar aufgesteckt und die weißen Perlen ihrer Mutter hineingeflochten. Diese Perlen lagen nun sicher verwahrt in Emilys Schmuckkästchen.
Gedankenverloren spielte Emily mit ihrem Onyxtrauerring und blickte hinab zu dem Kleid auf der weißen Tagesdecke. Ihr kamen die Tränen, als sie sich erinnerte, wie glücklich Lewis und sie an jenem Tag gewesen waren. Ihr Glück hatte ungetrübt angedauert, bis Lewis gänzlich unerwartet starb. Sie hatten im Juni 1815 geheiratet, kurz nach Napoleons Niederlage bei Waterloo. Napoleon war danach ins Exil nach St. Helena geschickt worden, und dieser Tage fühlte Emily sich, als wäre auch sie im Exil, verbannt zu einem Leben ohne Lewis, ohne Liebe. Sie hatte nur noch Kitty, und nun schien sie diese, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer guten Absichten, gleichfalls zu verlieren.
Als Mutter war es ihre Pflicht, Kitty die Heirat mit jemandem, den Emily noch nicht einmal kannte, zu verbieten, und vor allem mit einem Mann von solch niederer Moral, der offenbar zustimmte, dass Kitty ohne Anstandsdame mit ihm und seiner ohne Frage männlichen Mannschaft segelte - wenn nicht gar sie dazu bewegte. Aber Emily kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass die Entscheidung nicht die des mysteriösen Rian Farrell alleine gewesen sein konnte. Kitty würde nie etwas gegen ihren Willen machen.
Nein, sollte Emily versuchen, die Hochzeit zu unterbinden, würde Kitty einfach abreisen und Emily würde sie womöglich nie wiedersehen. Ihr blieb keine andere Wahl, als alles so zu arrangieren, wie Kitty es gewünscht hatte, und abzuwarten. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass ihre Tochter wusste, was sie tat.
Am letzten Maitag, als der Frühling in den Sommer hinüberglitt, war Emily im Garten hinter dem Haus, wo sie die Pfingstrosen schnitt und die Stockrosen festband, als das Geräusch von Kutschenrädern auf dem Kies vor dem Hauseingang sie innehalten ließ. Langsam richtete sie sich auf und hielt den Atem an. Nach einem nervenaufreibenden Moment von einer Minute oder mehr, erklang dann endlich die Stimme, nach der Emily sich schon so lange gesehnt hatte.
»Mama?«
Emily drehte sich um, und dort war sie, umrahmt vom Jelängerjelieber, der um die Hintertür wuchs. Rasch streifte Emily ihre Gartenhandschuhe ab und lief zum Haus. »Kitty! Kitty, mein Liebes!«
Kitty trat heraus, um ihr entgegenzugehen, ihr liebliches Gesicht nass von Tränen.
»Mama! Oh, Mama, wie wundervoll es ist, dich zu sehen. Du hast mir so sehr gefehlt.«
Sie umarmten sich herzlich und weinten beide.
»Mein Liebes«, schluchzte Emily. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder! Sarah schrieb, es hätte eine furchtbare Tragödie gegeben. Ich war so besorgt!« Und so zornig, ergänzte sie im Stillen.
»Ich weiß, Mama«, murmelte Kitty. »Es muss schrecklich für dich gewesen sein. Setzen wir uns, ja, und dann erzähle ich dir alles.«
»Das klingt nach einer sehr guten Idee.«
Emily putzte sich dezent die Nase, bevor sie ihre Tochter eingehend betrachtete. Kitty sah nicht viel anders aus als bei ihrer Abreise aus Dereham im November 1838. Sie war immer noch zierlich - obgleich Emily mit einem Anflug von Sorge bemerkte, dass der Busen ihrer Tochter ein wenig voller und ihre Hüften vielleicht ein kleines bisschen breiter waren - und immer noch bezaubernd schön. Ihr schwarzes Haar glänzte im Sonnenschein, und ihre rosigen Wangen verrieten, dass sie bei guter Gesundheit war. Ihr Teint war etwas dunkler, was der südlichen Sonne geschuldet sein musste, und ihre Hände waren nicht ganz so weich und makellos manikürt wie früher, aber ansonsten war sie dieselbe.
»Aber zuerst, Mama, möchte ich dir Rian vorstellen«, entgegnete Kitty.
Erst jetzt fiel Emily eine schemenhafte Gestalt im Hausflur hinter ihrer Tochter auf. Die Gestalt kam jetzt ins Licht und entpuppte sich als ein Mann von kräftiger Statur. Er war überdurchschnittlich groß, hatte blondes, im Nacken zu einem Zopf gebundenes Haar, ein leicht wettergegerbtes Gesicht und nachdenkliche graue Augen. Er wirkte ehrlich, offen und eigentlich recht normal.
»Mrs Carlisle«, sagte er, machte einen Schritt auf Emily zu und nahm ihre Hand. »Ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen. Kitty hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Seine Stimme war tief und überaus angenehm, und Emily musste entsetzt feststellen, dass ihr Klang sie auf eine Weise ansprach, wie sie es seit Lewis nicht mehr erlebt hatte. Sie zog ihre Hand zurück.
»Guten Morgen, Captain Farrell«, antwortete sie, mehr nicht, denn was sagte man zu einem Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach eine intime Beziehung zur unverheirateten Tochter hatte?
Kitty spürte das Zögern. »Wir haben schon Nellie, dein Hausmädchen, kennengelernt. Sie macht uns etwas zu essen. Wie lange arbeitet sie schon hier?«
Emily sah wieder zu ihrer Tochter. »Ungefähr ein Jahr. Sie ist mein Hausmädchen und meine Gehilfin zugleich. Ich nahm sie auf, als es mit der Schneiderei für mich allein zu viel wurde.«
»Nun, das sind doch gute Neuigkeiten«, sagte Kitty erfreut.
»Ja, und du hättest sie längst erfahren, hättest du jemals einen Absender auf deine Briefe geschrieben, Kitty.«
Kitty wandte sich strahlend an Rian. »Ich glaube, Mama und ich hätten gern einen Moment allein. Möchtest du vielleicht im Salon warten? Ich bin sicher, dass Nellie dir etwas zu trinken bringt.«
Die beiden wechselten einen verständigen Blick, und Emily überkam eine Welle von Kummer, hatte sie doch dieselbe Vertrautheit mit Lewis geteilt.
Rian lächelte Kitty zu und sagte leise : »Mo ghrá, natürlich. « Dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus.
Nach einer kleinen Weile sagte Emily : »Er ist anders, als ich erwartet hatte. Und Ire.«
Kitty setzte sich auf die Holzbank an der geweißten Hausmauer, löste die Schleife am Band ihrer Haube und nahm sie ab.
»Setz dich, Mama. Wir haben eine Menge zu bereden.«
»Das haben wir fürwahr«, bestätigte Emily. »Ich war furchtbar in Sorge, Kitty. Was in aller Welt denkst du dir nur? Was machst du nur?«
»Es ist eine lange Geschichte«, antwortete Kitty.
Emily setzte sich. »Oh, das dachte ich mir bereits, mein Liebes. Ich bin überglücklich, dich zu sehen, ja, wirklich, aber du schuldest mir einige Erklärungen.«
»Ich weiß, Mama, doch ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll.«
»Versuch's mit dem Anfang.«
Das tat Kitty. Sie erzählte ihrer Mutter von ihrem ersten Jahr in der Missionsstation von Paihia, wo sie bei ihrem Onkel George, dem Reverend, und ihrer Tante Sarah lebte, und ihrer wachsenden Freundschaft zu einem Mann namens Haunui und dessen Nichte Wai, einem von Sarahs Maori- Hausmädchen. Vieles davon kannte Emily bereits aus Kittys früheren Briefen. Und dann zögerte ihre Tochter. »Was jetzt kommt, ist nicht sehr angenehm, Mama. Du wirst schockiert und, wie ich fürchte, traurig sein, es zu hören.«
»Nichts könnte mich mehr schockieren oder trauriger machen als die Nachricht, dass du von Paihia fort bist und keiner wusste, wohin, Kitty, also rede weiter, bitte.«
»Hat Tante Sarah dir gar nichts berichtet?«, fragte Kitty verwundert.
»Nein. Sie war genauso verschlossen wie du, was mich in hohem Maße ärgerte und verwirrte.«
Kitty runzelte die Stirn ein wenig, bevor ihr Gesicht einen resignierten Ausdruck annahm. »Nun, es tut mir aufrichtig leid, Mama, und es gibt keine behutsame Art, es dir zu sagen, aber was geschah, war, dass Onkel George ... nun, Onkel George entwickelte Zuneigung zu Wai, und sie wurde schwanger. Als Tante Sarah es herausfand, warf sie uns beide aus dem Haus, mich und Wai.«
Emily sah aus, als hätte sie versehentlich die Hummel verschluckt, die eben noch träge um sie herumgeschwirrt war.
»Mama?«, fragte Kitty.
»George hat ein Mädchen geschwängert?«
»Ja, Wai, meine Freundin.«
»Wie ... wie alt war sie?«
»Fünfzehn.«
Emily starrte Kitty entsetzt an.
»Zu allem Unglück war Wais Vater der Häuptling der Region ... vielmehr glaubten wir, dass Häuptling Tupehu ihr Vater war, und es war lebenswichtig, dass er nicht erfuhr, was Onkel George getan hatte, denn es stand die Unterzeichnung des Vertrags bevor ...«
»Welcher Vertrag?«
»Der, mit dem die Maoris die Oberhoheit über Neuseeland an die Krone abtraten. Stand hier nichts davon in den Zeitungen?«
Emily überlegte kurz.
»Doch, ich entsinne mich, etwas darüber gelesen zu haben. Aber was hatte das mit George zu tun?« Plötzlich vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann das nicht von ihm glauben, Kitty. Er muss von Sinnen gewesen sein. Bist du sicher, dass es George war, dass sich dieses Mädchen das nicht bloß ausgedacht hat?«
»Ja, Mama«, antwortete Kitty außergewöhnlich streng und frostig. »Es war Onkel George. Wai hat nie gelogen, und ich wäre dir dankbar, nie wieder etwas Derartiges anzudeuten. Du machst dir ja keinen Begriff.«
Erschrocken und ein wenig eingeschüchtert von Kittys Ton, begriff Emily, dass ihre Tochter sich doch weit stärker verändert hatte, als sie zunächst annahm.
Kitty fuhr fort : »Wir hatten schreckliche Angst, dass Wais Vater, sollte er herausfinden, dass seine Tochter von einem Pakeha geschwängert wurde, noch dazu von einem Mann der Kirche, den Vertrag niemals unterzeichnen würde. Doch er fand es heraus, und deshalb mussten wir umgehend fort.« Sie beschloss, nicht zu erwähnen, dass Wai und sie buchstäblich um ihr Leben gerannt waren. »Rian nahm uns auf seinen Schoner, und dafür danke ich Gott, denn sonst wäre ich jetzt kaum hier, um es dir zu erzählen. Und, nein, Mama, Onkel George war nicht bei Verstand. Während des ersten Jahres, das ich in Paihia war, verlor er ihn zusehends, und zum Schluss wurde er fast zu einem rasenden Irren. Ich bin auch sicher, dass er Tante Sarah schlug.«
»Oh, die arme Sarah«, sagte Emily.
»Die arme Sarah, von wegen!«, konterte Kitty.
»Kitty!«
»Mama, sie hat nicht einmal gefragt, ob Wai eingewilligt hatte, mit ... mit Onkel George das Bett zu teilen! Nein, sie schimpfte sie sofort eine Hure und warf uns dann beide sehr grob aus dem Haus.«
»Davon hat sie kein Wort in ihren Briefen geschrieben«, stammelte Emily entgeistert.
»Nun ja, würdest du es an ihrer Stelle?«
»Nein, wohl nicht. Aber warum hat sie dich auch aus dem Haus gejagt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kitty. »Weil ich mit Wai befreundet war, nehme ich an. Vielleicht dachte sie auch, ich hätte gewusst, was vor sich ging.«
»Und wusstest du es?«
»Nein, ich war ahnungslos«, sagte Kitty und merkte, wie der frostige Schatten alter Schuld über sie hinwegzog.
»Seit wann wird George vermisst?«
Kitty zuckte mit den Schultern. »Sicher bin ich mir nicht, aber es muss kurz nach Wais und meiner Flucht gewesen sein, denn an jenem Tag hatte ich ihn noch gesehen. Hast du nichts von ihm gehört?«
»Nein. Sarah hat lediglich geschrieben, dass er verschwunden ist.« Und dann erinnerte Emily sich an die seltsamen Andeutungen ihrer Schwägerin, die nun ein wenig mehr Sinn ergaben. »Oh, der arme George.«
»Der wahnsinnige George«, korrigierte Kitty.
»Ich kann nicht behaupten, dass es mich besonders überrascht «, gestand Emily auf einmal. »Dass George seinen Verstand verlor, meine ich. Er war immer ein bisschen ... instabil. Dein Vater sagte oft, dass es sich bereits andeutete. Aus diesem Grund, und er war nicht der einzige, stand ich George nie besonders nahe. Dennoch bin ich entsetzt von dem, was er getan hat, hätte ich doch nie vermutet, dass er zu so etwas fähig wäre.«
»Tja, das war er. Und es hat Wais Leben ruiniert.«
»Was ist aus dem Kind geworden?«, fragte Emily mit einem ängstlichen Blick zu Kitty. »Ich nehme an, es ist meine Nichte oder mein Neffe, nicht wahr? Und dein Cousin oder deine Cousine.«
»›Es‹ ist ein kleiner Junge namens Tahi, und er ist jetzt beinahe ein Jahr alt. Wai brachte ihn in Sydney zur Welt, aber er wurde bald danach zurück nach Paihia gebracht.«
»Von seiner Mutter?«
»Nein«, sagte Kitty. »Von Wais richtigem Vater, Haunui. Es stellte sich heraus, dass Tupehu gar nicht ihr Vater war, obwohl ihre Mutter Tupehus Frau war. Das ist noch eine lange Geschichte.« Mehrere Sekunden lang nagte sie nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Wai starb bei der Entbindung.«
»Oh, Kitty, das tut mir leid.« Emily berührte sanft die Hand ihrer Tochter. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, dass sie dir viel bedeutet hat.«
»Ja, das hat sie, Mama. Das hat sie wirklich. Und deshalb werden wir eines Tages nach Sydney zurückkehren, ihre Gebeine holen und sie heim nach Neuseeland bringen.«
Rian saß im Salon, wo er sich abwechselnd durch den Kuchen- und Keksteller arbeitete, den Nellie ihm serviert hatte, und Däumchen drehte. Kitty war seit fast zwei Stunden mit ihrer Mutter draußen im Garten. Er verstand, dass sie eine Menge zu bereden hatten, trotzdem wünschte er, sie würden sich beeilen, denn er hatte inzwischen drei Tassen Tee getrunken und müsste sich dringend erleichtern, und da er vermutete, dass der Abort irgendwo hinten im Garten war, müsste er auf dem Weg dorthin an ihnen vorbei. Die Vorstellung indes, dass Mrs Emily Carlisle, deren riesige braune Augen Kittys allzu ähnlich waren, ihn dabei beobachtete, war ihm alles andere als lieb. Erst recht nicht, weil er vermutete, dass sie nicht unbedingt vernarrt in ihn war. Vielleicht könnte er zur Vordertür hinausgehen und sich irgendwo im Garten erleichtern. Doch bei seinem Pech würde ganz sicher jemand vorbeigehen, wenn er gerade auf einen Lavendelbusch urinierte, und dann wäre in ganz Dereham herum, dass Kitty Carlisle einen Mann heiratete, der nicht einmal den Anstand besaß, einen Abort aufzusuchen. Zum Glück wurde er von Kitty und ihrer Mutter gerettet, die in der Salontür erschienen.
Kitty lächelte, und Rian bemerkte, dass die kleinen Sorgenfalten, die sich in den letzten paar Wochen zwischen ihren Brauen gebildet hatten, verschwunden waren. »Wir haben dich nicht vergessen, mein Liebster«, sagte sie.
Emily Carlisle kam auf ihn zu, und abermals erstaunte ihn die auffällige Ähnlichkeit von Mutter und Tochter, obwohl die eine über zwanzig Jahre älter war als die andere. Er war beinahe versucht, zu Mrs Carlisle zu sagen, er wisse nun, woher ihre Tochter ihr bezauberndes Aussehen hätte. Aber nur beinahe. Es stimmte zwar, klänge jedoch abgedroschen, und er wollte seiner künftigen Schwiegermutter keineswegs den Eindruck eines oberflächlichen Schmeichlers vermitteln.
»Erlauben Sie mir bitte, noch einmal von vorn anzufangen, Captain«, sagte Emily und streckte ihm ihre Hand hin. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, und ich möchte Sie offiziell in dieser Familie willkommen heißen.«
Rian sprang auf, und Krümel rieselten von seinem Gehrock auf den Teppich. Er nahm Emilys Hand. »Haben Sie vielen Dannk, Mrs Carlisle. Es ist mir eine Ehre.«
Emily lächelte.
»Ganz meinerseits.«
Sie war bezaubernd, wenn sie lächelte, dachte Rian, genau wie ihre Tochter. Und sie schien ihm deutlich wohlgesinnter als zuvor.
Natürlich wusste Rian nicht, dass Kitty ihrer Mutter zwischenzeitlich erzählt hatte, Rian Farrell wäre alles, was sie sich je von einem Mann gewünscht hatte, dass sie ihn auf jeden Fall heiraten würde, er ihr mindestens einmal das Leben gerettet hatte, freundlich und anständig wäre und sie von Herzen liebte, und, nein, sie wäre in keinem heiklen Zustand. Darüber hinaus sagte sie Emily, Rian wäre kein Mann wie jeder andere, weshalb sie nicht erwarten dürfte, dass die beiden irgendwann sesshaft würden und ein Leben führen, wie es die meisten Leute für »normal« hielten. In den letzten achtzehn Monaten hatte Kitty erkannt, dass das Glück gepackt werden wollte, wo immer es sich anbot, weil es allzu schnell schwinden konnte - was gerade Emily wüsste. Und Kitty hätte vor, ihr Glück gut festzuhalten, indem sie mit Rian Farrell lebte, was immer dieses Leben beinhaltete. Sollte es Emily nicht gefallen, täte es Kitty leid. In dem Fall würden Rian und sie eben wieder in die kleine Gig steigen, die sie gemietet hatten, nach King's Lynn zurückkehren und, sobald die Katipo wieder seeklar war, einfach davonsegeln.
Emily hatte gewusst, dass Kitty es ernst meinte, und sie brauchte nur Sekunden, um zu entscheiden, dass eine Tochter, die mit einem etwas raubeinigen Kapitän verheiratet war und um die Welt segelte, besser war als keine.
»Sie müssen mir alles von sich erzählen, Captain«, fuhr Emily fort. »Aber zuerst bitte ich Nellie um mehr Tee. Ich fühle mich ein wenig ausgetrocknet - die Sonne ist doch ziemlich kräftig.«
Es fiel Rian schwer, bei der Erwähnung von mehr Tee nicht das Gesicht zu verziehen.
Als Emily fort war, kam Kitty auf ihn zu und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Na, das ging besser, als ich gedacht hätte.« Sie sah ihn verwundert an. »Was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.«
»Und ob ich die habe. Ist der Abort nach hinten raus?«
Kitty grinste. »Oh, armer Liebling! Ich hatte vergessen, es dir zu sagen. Ja, er ist hinter dem Gemüsegarten.«
Während er eilig und ein wenig steif aus dem Zimmer ging, setzte Kitty sich auf das Sofa und blickte sich um. Der Salon hatte sich in den letzten Jahren nicht sehr verändert, auch wenn die Schneiderei ihrer Mutter tatsächlich gut zu gehen schien, denn es lag ein neuer, hochwertiger Läufer auf dem Boden, und links und rechts vom Kamin standen zwei neue Ledersessel. Allerdings war Kitty froh, dass der alte Lieblingssessel ihres Vaters an seinem gewohnten Platz neben der Tischlampe stand, wo ihr Vater abends gern gelesen hatte. Sie fragte sich, ob seine Kleider, Bücher und sonstigen persönlichen Dinge noch oben waren. Wie sie ihre Mutter kannte, wahrscheinlich schon. Im oberen Stockwerk gab es ein Arbeitszimmer voller Bücherregale und drei Schlafzimmer, von denen das größte das ihrer Eltern gewesen war. Die nächsten Nächte würde Kitty in ihrem alten Zimmer schlafen, so wenig sie sich auch darauf freute. Rian und sie hatten keine Nacht getrennt verbracht seit jenem Tag im Juli letzten Jahres, als Haunui und das Baby Tahi in Paihia von Bord der Katipo gegangen waren und Kitty beschloss, er habe bei Rian an Bord zu bleiben. Heute war Montag, und sie hoffte, bis zum Ende der Woche vermählt zu sein, doch selbst das erschien ihr eine viel zu lange Wartezeit, bis sie wieder neben Rian schlafen durfte, seinen warmen, festen Leib neben ihrem spüren und seinem Atmen lauschen, während sie wach lag und darüber nachdachte, welches Glück sie hatte.
Nellie erschien mit mehr Tee, gefolgt von Emily und schließlich Rian, der merklich entspannter wirkte.
»Captain Farrell erzählt mir gerade von seinem Schoner«, sagte Emily munter. »Er sagt, dass die Katipo als die Schnellste ihrer Klasse gilt. Nicht wahr, Captain?«
»Stimmt«, antwortete Rian. »Das weiß Kitty natürlich schon. Immerhin segelt sie bereits seit ... einer Weile auf ihr.« Er verstummte lieber, ehe er sich in die Nesseln setzte.
»Ja, richtig«, sagte Emily und nahm Platz, wobei ihre Röcke laut raschelten. Dann sah sie Nellie streng an und bedeutete ihr, Tee einzuschenken, doch das Mädchen hatte nur Augen für Rian.
Nellie fand, dass Captain Rian Farrell einer der umwerfendsten, romantischsten Männer war, die sie jemals gesehen hatte. Zwar war er nicht ganz so riesig, wie er in ihrer Fantasie gewesen war, und sein Haar war nicht dunkel, doch einzelne Strähnen fielen ihm in die Stirn, und seine Augen blitzten allemal, ganz besonders, wenn er lächelte.
»Nellie, schenk bitte Tee ein, ja?«, sagte Emily laut und deutlich.
»Oh, ja«, murmelte Nellie und goss den Tee quer über das Tablett.
»Ach, du meine Güte«, schalt Emily. »Geh und hol einen Lappen.« Als Nellie beschämt aus dem Zimmer ging, ergänzte Emily : »Sie ist sonst nicht so ungeschickt. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.« Eigentlich ahnte sie es durchaus, und sie hoffte inständig, dass Captain Farrells Crew nicht so faszinierend war, wie Nellie den Captain selbst offenbar fand. »Also, Captain, erzählen Sie mir ein wenig von sich. Sie sind Ire, richtig?«
»Bin ich. In Dublin geboren und aufgewachsen. Nun, genauer gesagt in Kingstown, wo meine Familie einiges Land besitzt. Und, bitte, nennen Sie mich Rian.«
»Gern, Rian«, stimmte Emily zu. Sie zögerte, bevor sie rundheraus fragte : »Wie viel Land? Ungefähr?«
Kitty blickte verdrossen zur Zimmerdecke.
»Genug, um ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem Kitty für den Rest ihrer Tage komfortabel leben kann, sollte mir etwas zustoßen«, antwortete Rian. »Falls Sie das meinten. «
»Oh nein, ich wollte nicht ...« Weiter sprach sie nicht, denn sie bemerkte die wache Intelligenz in seinen grauen Augen und entschied, nicht weiterzuleugnen. »Nun, um ehrlich zu sein, ja, das meinte ich. Verzeihen Sie, aber ich denke ausschließlich an das Wohl meiner Tochter.«
»Selbstverständlich«, sagte Rian, bot Emily aber keine weiteren Informationen über seine Familie. Was Emily nicht sonderlich kümmerte ; sie würde Kitty später aushorchen, falls nötig.
Nellie kehrte mit einem Lappen zurück. Ihre Wangen glühten immer noch, während sie den vergossenen Tee aufwischte, drei Tassen einschenkte und wieder aus dem Salon huschte.
»Es wird dich freuen zu hören, Kitty«, sagte Emily und hielt Rian den Kuchenteller hin, der jedoch höflich ablehnte, »dass Reverend Goodall mir versichert hat, die Trauung jederzeit vornehmen zu können. Er bittet lediglich, ein paar Tage vorher Bescheid zu bekommen.«
»Ist das Aufgebot schon bestellt?«, fragte Kitty und nahm sich ein Stück Kuchen.
»Ja, das habe ich bereits im April erledigt. Ihr könntet morgen zu Reverend Goodall gehen und mit ihm besprechen, was ihr euch wünscht. Und ich konnte jemanden finden, der für die Erfrischungen sorgt. Nellies Mutter, um genau zu sein. Sie ist Köchin bei den Ormsbys.«
»Doch nicht Bernd und Ido Ormsby?«, fragte Kitty entgeistert.
Emily nickte.
»Oh nein!«, rief Kitty aus. »Du hast die doch nicht eingeladen, oder?«
»Natürlich nicht. Nicht nach den Dingen, die sie über deinen armen Vater verbreitet haben! Nein, Mrs Ingram ist bereit, für den Tag hierher zu kommen, und das zu einem sehr vernünftigen Preis. Ich weiß nicht, welches Arrangement sie mit den Ormsbys hat, und offen gesagt interessiert es mich auch nicht.«
»Den Ormsbys gehört eine der hiesigen Mühlen«, erklärte Kitty Rian. »Du würdest sie sicher nicht mögen. Sie sind unfassbar schrecklich.«
Rian zuckte mit den Schultern. Seinetwegen müssten gar keine Gäste zur Hochzeit kommen - ausgenommen seine Crew, verstand sich.
»Wen hast du eingeladen?«, fragte Kitty.
»Ach, nur einige wenige, du weißt schon«, antwortete Emily ausweichend. »Und ich habe es bloß beiläufig erwähnt, weil ich nicht sicher war, wann du nach Hause kommst.«
»Du meinst, du warst nicht sicher, ob du es mir ausreden kannst oder nicht«, sagte Kitty unverblümt.
Emily sah sie einen Moment stumm an, dann lachte sie. »Ja, das trifft es in etwa. Aber wir können Einladungen verschicken, sobald ihr mit dem Pfarrer gesprochen habt, wenn du willst. Es ist allerdings recht kurzfristig. Wie auch immer, es gibt nur eine Handvoll Leute, die ich gerne dabeihätte, aber vielleicht wünscht ihr noch andere Gäste.«
»Eigentlich nicht«, sagte Kitty. »Die Menschen, die mir wichtig sind, werden so oder so hier sein.«
»Ach ja?«
»Ja«, bestätigte Kitty.
Emily wandte sich zu Rian. »Was ist mit Ihren Eltern, Rian?«
»Nein, dazu ist keine Zeit. Überdies stehen meine Eltern und ich gegenwärtig nicht in allzu engem Kontakt.«
Ich würde zu gerne wissen, warum, dachte Emily, war aber viel zu höflich, um zu fragen.
»Und meine Schwester ist nach Australien ausgewandert«, fügte Rian hinzu, »demzufolge wird es von meiner Seite leider nur meine Crew sein. Die Männer sind auf dem Weg hierher. Ich rechne am Mittwoch mit ihnen, allerspätestens Donnerstag. Mir fiel eine Schankwirtschaft auf, als wir durch das Dorf fuhren. The White Hart? Wir werden dort wohnen, nehme ich an.«
Kitty stellte ihre Teetasse sehr laut in ihre Untertasse.
»Schön, dann wäre das geklärt«, sagte Emily lächelnd und bemühte sich vergebens, ihre Erleichterung zu verbergen. Sie drehte sich wieder Kitty zu. »Sehen wir uns nun das Brautkleid an, ja?«
Am Busen war das Kleid zu eng für Kitty, und es war ein bisschen zu kurz, deshalb ließ Emily die Miedernähte gekonnt aus und nähte am Rocksaum einen Streifen elfenbeinfarbener Seide an. Als sie fertig war, sah das Kleid aus, als wäre es für Kitty gemacht.
»Welche Schuhe willst du tragen?«, fragte sie Kitty am Mittwochmorgen, als sie das fertige Kleid in den Schrank in Kittys Schlafzimmer hängte.
Doch Kitty hörte ihr nicht zu. Sie beugte sich über den Fenstersims und schaute hinunter in den Garten, wo Rian, der zum Frühstück gekommen war, sich nützlich machte, indem er Kaminholz hackte. Emily hatte sehr schnell eine aufrichtige Zuneigung zu ihrem künftigen Schwiegersohn entwickelt und musste gestehen, dass sie verstand, was ihre Tochter in ihm sah. Er war offensichtlich klug und hatte einen scharfen Verstand, was Emily schätzte. Manches an ihm erinnerte sie an ihren geliebten Lewis. Außerdem hatte er eine gewisse Ausstrahlung, von der Emily nicht sagen konnte, ob es sich um ein solides Selbstvertrauen handelte oder eine unterschwellige Aura von Gefahr. So oder so machte sie ihn überaus anziehend. Und die Art, wie er Kitty ansah, vor allem, wenn er sich unbeobachtet wähnte, ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sie bewunderte und begehrte. »Kitty?«, sagte Emily lauter. »Ich habe dich etwas gefragt.«
Kitty stieß sich vom Fenster ab. »Entschuldige, Mama. Was hast du gesagt?«
»Ich sagte : Welche Schuhe willst du tragen?«
»Na ja, ich habe meine schwarzen Stiefel.«
»Oh, Kitty, du kannst doch an deinem Hochzeitstag keine schwarzen Stiefel tragen!«
»Weiß ich«, antwortete Kitty gereizt. Auf der Katipo trug sie die Stiefel gewöhnlich zu einer Männerhose, aber dies war kaum der geeignete Moment, ihrer Mutter das zu erzählen. »Und ich habe diese, aber sie passen nicht zu deinem Kleid.« Sie lüpfte den Saum ihres langen Kleides und enthüllte ein Paar recht ausgetretene braune Stiefel.
Emily zog ein unglückliches Gesicht. »Nein, die gehen auch nicht.« Dann fügte sie hinzu : »Und es ist jetzt dein Kleid, meine Liebe.«
Kitty bedachte ihre Mutter mit einem kleinen, traurigen Lächeln. »Dafür bin ich dir sehr dankbar, Mama. Es bedeutet mir viel.«
»Mir bedeutet es auch viel«, sagte Emily, in deren Augen plötzlich Tränen glänzten. »Ach, Liebes, als ich deinen Brief las, war ich zunächst entsetzt, ja, wirklich. Aber jetzt, da ich Rian sehe und ein wenig kennenlerne, denke ich ... nun, ich denke, dass alles gut werden könnte.«
»Wird es, Mama. Ich weiß, dass es das wird.«
Emily betrachtete das liebreizende, ruhige Gesicht ihrer Tochter und sagte : »Ja, ich glaube dir.«
Kitty wollte etwas sagen, wurde aber von einem gellenden Schrei aus dem Erdgeschoss daran gehindert.
Beide Frauen starrten einander mit großen Augen an.
»Mein Gott, das ist Nellie!«, rief Emily aus und lief aus dem Schlafzimmer, Kitty ihr auf den Fersen folgend. Ihre Schritte hallten auf der blanken Holztreppe.
Nellie stand mitten in der Küche. Um sie herum waren Schnittblumen auf dem Küchenboden verstreut, und sie hielt sich eine Hand vor die Augen.
»Nellie, was in Gottes Namen ist denn los?«, fragte Emily.
»Draußen, Mrs Carlisle, da ist ein Riese!«, stammelte Nellie hysterisch. »So etwas habe ich noch nie gesehen! Und pechschwarz ist er!«
Kitty spähte durch das Küchenfenster in den Garten, grinste und winkte lebhaft. »Die Crew«, sagte sie verzückt. »Sie sind hier! Kommt und lernt sie kennen.«
Gefolgt von Emily und einer ängstlichen, aber äußerst neugierigen Nellie, trat Kitty durch die Hintertür hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Die Crew stand um Rian versammelt, der seine Ärmel aufgekrempelt hatte, die Axt über der Schulter. Er fügte sich bestens in die Bande Waffenschieber und Schmuggler, die sie, wie Kitty wusste, waren. Emily, die ein wenig kurzsichtig war, jedoch zu eitel, es einzugestehen und eine Brille zu tragen, hielt erst den Atem an, als sie näher bei den Männern war.
Sie standen im Halbkreis. Zu Emilys Linker stand ein rotgesichtiger Mann mit einem langen schwarzen Zopf. Er trug ein Hemd und eine Hose aus hellem, weichem Stoff und um seine Hüften einen silberbeschlagenen Ledergürtel, in dem ein Messer steckte. Er nickte Emily zu. »Guten Morgen, Madam. «
»Mama, das ist Running Hawk, ein Seneca-Indianer aus dem Staat New York«, stellte Kitty ihn aufgeregt vor. »Aber wir nennen ihn nur Hawk.«
»Äh, guten Morgen, Mr Hawk«, antwortete Emily, deren gute Manieren von allein übernahmen.
Neben ihm stand ein säuerlich dreinblickender Mann mit rotbraunem Haar, einer großen Narbe auf der einen Wange, mehreren Zahnlücken und einem glitzernden Goldreif in jedem Ohr, der sich knapp verneigte. »Missus.«
»John Sharkey aus Newcastle«, erklärte Kitty, bevor ihre Mutter reagieren konnte, und zeigte auf den nächsten Mann. Dieser war klein und drahtig mit dunklem, fettigem Haar, einem Ziegenbärtchen und einem Schnurrbart mit gezwirbelten Enden. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte heiter. »Und dies ist Pierre.«
Der Mann verbeugte sich schwungvoll und sagte : »Bonjour, Madame. Je suis Pierre Babineaux, et je suis enchanté de faire vôtre connaissance.«
Etwas überrascht strengte Emily sich an, ihr eingerostetes Französisch wiederzubeleben. »Bonjour, Monsieur. Je suis heureuse également de vous rencontrer. De quelle région de la France êtes-vous?«
Pierre schüttelte den Kopf. »Non, Madame, pas de France. Je suis Arcadien de bayou, de Louisiane.«
»Oh, ich bitte um Verzeihung«, sagte Emily.
»Das ist eine leichte Fehler«, winkte Pierre großzügig ab, sodass Emily eine Wolke von Lavendelduft entgegenwehte. Dann lächelte er breit und bleckte mehrere Zähne, die aus massivem Gold zu sein schienen.
Neben ihm stand ein braunhäutiger Mann, dessen schwarze Locken bis auf seine Schultern fielen. Er hatte eine leicht gebogene Nase und war auf eine raue Weise gut aussehend, dachte Emily, obgleich er eher reserviert wirkte.
»Mama«, sagte Kitty, »dies ist Ropata, ein Maori vom Ngati-Kahungungu-Stamm von der Ostküste Neuseelands.«
Emily musterte ihn interessiert, schließlich war er der erste Maori, den sie sah. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch von dem hellhäutigen Mann zur Linken des Maori abgelenkt. Jener junge Mann dürfte fraglos schon manches Frauenherz gebrochen haben. Er hatte betörende dunkle Augen, dichte schwarze Locken und wunderschöne weiße Zähne, wie sein sehr charmantes Lächeln verriet.
Er verneigte sich. »Einen wunderschönen guten Morgen, Missus. Jetzt sehe ich, wie Kitty zu ihrer bezaubernden Schönheit kam, oh ja!«
»Danke«, antwortete Emily und hatte Mühe, nicht zu schmunzeln. Ein typischer irischer Charmeur!
»Das ist Mick Doyle, Mama«, sagte Kitty. »Seine Mutter kümmerte sich um uns, als wir in Sydney waren.«
»In dem Fall richten Sie Ihrer Mutter bitte meinen herzlichen Dank aus, wenn Sie sie das nächste Mal sehen, Mr Doyle«, bat Emily ihn.
»Wird gemacht«, antwortete Mick und dann - obwohl Emily sich nicht ganz sicher war - glaubte sie, dass er ihr zuzwinkerte.
Schließlich kam Kitty zu dem Mann, den Emily sehr angestrengt nicht anstarrte. Er war riesig, ein gewaltiger Kerl mit massigen Armen und Beinen, einer Haut von einem dunklen Blauschwarz und einem vollständig kahl rasierten Kopf.
Er trat vor und sagte mit der tiefsten Stimme, die Emily je gehört hatte : »Stets zu Diensten, Madam. Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, und hocherfreut, bei der Trauung Ihrer Tochter dabei sein zu dürfen. Kitty ist eine wunderbare junge Dame, und wir alle sind sehr glücklich, dass unser Captain sie überreden konnte, seine Frau zu werden.«
Emily blinzelte.
»Und dies ist Gideon«, stellte Kitty ihn vor, die sich prächtig amüsierte.
»Vielen Dank, Mr Gideon«, antwortete Emily. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Nellie sich auf die Gartenbank zurückgezogen hatte. Nun hielt sie sich die Hand vor den Mund statt vor die Augen.
»Nein, Madam, nur Gideon«, korrigierte er.
Emily würde gerne neben Nellie auf die Bank sinken. Über die letzten Tage hatte sie es geschafft, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Kitty Rian Farrell heiraten und mit ihm davonsegeln würde. Ihre mühsam erworbene Toleranz schwand indes rapide, als sie nun sah, mit was für Männern Kitty zusammenleben würde. Sie war ja auf einen recht rauen Haufen gefasst gewesen, aber gewiss nicht auf diese außergewöhnliche, zusammengewürfelte und entschieden verdächtig aussehende Horde. Die Hochzeit war erst am Freitag ; vielleicht konnte Emily sie ihrer Tochter doch noch ausreden. Sie blickte hinüber und sah, dass Kitty sie beobachtete. Dann schüttelte ihre Tochter sehr langsam den Kopf, und Emily spürte, dass es dafür zu spät war.
Kitty wachte mit einem Lächeln auf, und sie wusste auch, warum : Heute war der Tag, an dem sie Rian heiratete.
Sie setzte sich auf, streckte sich, stieg aus dem Bett und griff darunter nach dem Nachttopf. Nachdem sie ihn benutzt hatte, stellte sie ihn auf die Seite, um ihn später nach unten zu tragen. Ihr ging durch den Kopf, dass einer der vielen Vorzüge am Leben auf einem Schoner war, dass man alles einfach über die Reling kippte. Sie setzte sich für einen Moment auf die Fensterbank.
Der gestrige Donnerstag war reichlich ermüdend gewesen. Ihre Mutter und sie hatten einen Schuhmacher aufgesucht und tatsächlich ein Paar Schuhe für die Hochzeit gefunden. Danach waren sie in eine Teestube gegangen, wo Emilys Lächeln nach und nach schwand, bevor sie über ihrem halb gegessenen Ingwerkuchen in Tränen ausbrach.
Natürlich wusste Kitty, warum ihre Mutter weinte. Sie fühlte mit ihr und liebte sie zutiefst, war aber nicht bereit, all die herrlichen Türen zu schließen, die sich ihr über die vergangenen zwei Jahren langsam geöffnet hatten, und die Chance auf ein Leben voller Liebe und Leidenschaft, Herausforderung und Aufregung aufzugeben. Und Letztere waren Kitty beinahe so wichtig wie das Versprechen von Liebe. In ein Leben zurückzukehren, das aus nichts als alberner Etikette, begrenzten Horizonten und erdrückender Gleichförmigkeit bestand, würde sie umbringen.
Also hatte sie nicht noch einmal versucht, ihre Gründe für die Heirat zu erklären und sich zu rechtfertigen, was ohnedies nur in einen Streit mit ihrer Mutter gemündet hätte, sondern Emily nur gebeten, ihr zu vertrauen. Ihre Mutter hatte weiter geweint, selbstverständlich auf sehr damenhafte Art, aber letztlich versiegten die Tränen, und Emily nickte zustimmend. Sie rang Kitty allerdings das Versprechen ab, sofort heimzukehren, sollte etwas schiefgehen. Und das hatte Kitty ihr aufrichtig versprochen.
Nun lächelte sie wieder vor lauter Vorfreude, denn sie würde heute Mrs Kitty Farrell. Zugleich musste sie sich eingestehen, dass sie die Aussicht auf die Zeremonie erstaunlicherweise nervös machte. Aber die Vorstellung, den Rest ihres Lebens mit Rian zu verbringen, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, zu wissen, dass er sie von Herzen liebte und achtete, und jeden Tag gemeinsam zu neuen Abenteuern aufzubrechen ... die war himmlisch!
Nellie klopfte und steckte den Kopf zur Tür herein. »Miss Kitty, Ihre Mam fragt, ob Sie bereit zum Frühstück sind.«
Kitty kletterte von der Fensterbank. »Ehrlich, Nellie, hör auf, mich ›Miss Kitty‹ zu nennen. Da komme ich mir wie eine jungfräuliche alte Tante vor.«
»Verzeihung«, sagte Nellie zerknirscht und kam mit einem Tablett herein, auf dem sich ein Teller mit pochierten Eiern auf Toast und eine Kanne Tee befanden. Neben der Teekanne stand eine winzige Vase mit einer einzelnen cremeweißen Rosenblüte.
»Hat Mama die Rose gepflückt?«, fragte Kitty.
»Gleich heute Morgen«, bejahte Nellie.
Tränen brannten in Kittys Augen. Sie setzte sich auf den weißen Korbstuhl vor ihrer Frisierkommode, blickte die grellgelben Eier an und merkte, wie ihr Magen sich zusammenzog.
Rasch gab sie Nellie das Tablett zurück. »Oh nein, ich glaube nicht, dass ich heute Morgen etwas essen kann.«
Nellie sah sie unglücklich an. »Ihre Mam sagt, Sie müssen. Sie sagt, mit leerem Magen können Sie nicht heiraten.«
»Dann nehme ich den Tee«, bot Kitty an.
»Ich darf den Teller erst runterbringen, wenn er leer ist«, beharrte Nellie.
Allein von dem Geruch wurde Kitty übel. Sie stand auf, nahm Nellie den Teller wieder ab und trat ans Fenster. Entriegelte es, schob den Flügel hoch, warf die Eier hinaus und gab Nellie den Teller zurück. »Hier, jetzt ist er leer.«
Nellie guckte verdutzt, ehe sie hoch und kieksend zu lachen begann. Es war ein erstaunliches Lachen für solch ein scheues Mädchen.
»Nellie, möchtest du meine Brautjungfer sein?«, fragte Kitty aus einer spontanen Eingebung heraus. »Hawk ist Rians Trauzeuge, aber ich habe keine meiner alten Freundinnen eingeladen.«
»Ich?«, quiekte Nellie.
Kitty nickte.
Nellies runde Wangen färbten sich scharlachrot. »Ooh, ja, bitte! Ich war noch nie eine Brautjungfer.« Dann wurde sie wieder ernst. »Ach nein, ich habe doch gar nichts Hübsches anzuziehen.«
»Hast du denn kein Kleid, das du in die Kirche anziehst oder so?«
»Ich habe ein dunkelgrünes Kattunkleid. Da ist Spitze dran, aber es ist ein bisschen alt.«
»Macht nichts. Zieh das an und steck dir eine Rose ins Haar, dann siehst du hübsch aus.«
Nellie grinste von einem Ohr zum anderen und trottete fröhlich von dannen, um Kitty ein Bad einzulassen.
Kitty saß unruhig in ihrem Zimmer. Es war halb elf, und sie war eben mit dem Ankleiden fertig. Sie musste zugeben, dass das Brautkleid ihrer Mutter wunderschön an ihr wirkte, sie hatte sich ihr schimmerndes schwarzes Haar zu einem losen Knoten aufgesteckt, den sie mit ein paar cremefarbenen Rosenblüten geschmückt hatte. Ihr Haar reichte inzwischen wieder ein gutes Stück über ihre Schultern. Es war sehr schnell nachgewachsen, nachdem es fünfzehn Monate zuvor nach einem beinahe fatalen Unfall auf der Katipo sehr kurz geschnitten worden war. Pierre hatte sie regelmäßig mit einer ekelhaften Tinktur malträtiert, von der er schwor, sie wäre ein Geheimrezept aus seiner Heimat, das den Haarwuchs förderte. Selbiges Zaubermittel roch wie Erbrochenes und schmeckte noch scheußlicher, schien aber zu helfen. Von ihrer Mutter hatte sie eine Perlenkette bekommen ; kleine Perlen, aber wunderschön und ein altes Familienerbstück. Nun glänzten sie dezent auf Kittys zart sonnengebräunter Haut.
War sie zuvor schon nervös gewesen, stand Kitty jetzt unmittelbar vor einem Schweißausbruch, was gänzlich untypisch für sie war. Als sie im Bad saß, war ihr auf einmal der absurde Gedanke gekommen, dass Rian womöglich nicht zur Trauung erschien. Gestern Abend war er nicht wie üblich zum Essen bei ihnen gewesen, weil seine Männer darauf bestanden, dass er seine »letzte Nacht in Freiheit« mit ihnen im Gasthaus verbrachte und sich betrank, wie es ihm angeblich zustünde. Kitty hatte nur gelacht, als er es ihr erzählte, doch was war, wenn er es sich anders überlegt hatte? Was war, wenn am Abend etwas geschehen war, was ihn zu dem Schluss verleitete, lieber nicht an eine Frau gebunden zu sein, und er einfach nach King's Lynn zurückgefahren war, um für immer aus ihrem Leben zu segeln? Diese Vorstellung war so fürchterlich, dass Kitty schon meinte, sie sollte sich lieber die Mühe sparen, ihr Brautkleid anzuziehen. Ihre Mutter aber sagte ihr, sie solle nicht albern sein, denn sogar sie sähe, dass der Mann vollkommen hingerissen von ihr war. Deshalb sollte Kitty aus dem Bad steigen, ehe sie sich verkühlte.
So saß sie nun hier, sauber und duftend und hübsch herausgeputzt, doch leider war ihr übel vor Angst. Ihre Mutter hatte einige Gäste eingeladen, und Kitty wusste, dass sie eingetroffen waren und unten warteten. Mr Sanders, ein Lehrer von der Schule, an der auch Kittys Vater unterrichtet hatte, war mit seiner Frau Maud gekommen, die wiederum eine enge Freundin von Emily war. Die Nachbarn, Mr und Mrs Moon, waren ebenfalls da, genauso wie der alte Hector Billingsworth, der sich einmal wöchentlich Emilys Gartens annahm und den Emily ausgesprochen gern hatte. Und natürlich war Mrs Ingram, Nellies Mutter, schon seit dem frühen Morgen im Haus und bereitete das Hochzeitsessen vor. Das war alles. Soweit Kitty wusste, hatte ihre Mutter ausschließlich Leute eingeladen, von denen sie wusste, dass sie keinen Anstoß an Kittys Betragen nahmen - dem früheren wie dem heutigen -, und dafür war Kitty ihr dankbar.
»Kitty?« Emily erschien in der Tür. »Der Pfarrer ist da.«
»Ich will nicht nach unten gehen. Ich will ihn nicht sehen «, murmelte Kitty.
»Na, du musst wohl, wenn er dich trauen soll, Liebes.«
»Nein, ich meine, ich will ihn nicht sehen, ehe Rian da ist. Falls er kommt«, sagte Kitty finster. »Es könnte Pech bringen. «
Emily verzichtete darauf, mit den Augen zu rollen. »Pech bringt es nur, wenn dein künftiger Ehemann dich vor der Trauung in deinem Brautkleid sieht. Jetzt komm schon, sei nicht albern. Reverend Goodall möchte dich sprechen.«
»In meinem Schlafzimmer?«, fragte Kitty schockiert.
»Ja, wenn du nicht nach unten kommst.«
»Aber, Mama, was werden die Leute sagen?«
Emily reichte es allmählich mit Kittys düsterer Stimmung. »Ach um Himmels willen, Kitty, ist es nicht ein bisschen spät, sich darum zu sorgen? Jetzt lass das Schmollen und versuch, wenigstens ein bisschen wie eine aufgeregte Braut zu wirken. Ich hole den Pfarrer.«
Kitty blickte ihrer Mutter nach und wollte schreien, dass sie verrückt vor Angst war, doch irgendetwas - könnte es Stolz sein? - hinderte sie daran.
Eine Minute später betrat Reverend Goodall das Zimmer. Er war ein kleiner, rundlicher Mann und kannte Kitty schon, seit sie sechs Jahre alt war. Für die heutige, eher informelle Trauung hatte er Soutane, Chorhemd und Stola anstelle seines Messgewandes gewählt. Er war ein von Natur aus fröhlicher Mensch, erlebte jedoch einen seltenen Moment von Melancholie, als Emily Carlisle ihm eben mitteilte, dass es nach wie vor keine Neuigkeiten gab, was den Verbleib ihres Bruders George betraf. Dass ein Geistlicher verschwand, während er in einem entlegenen Winkel des Empires diente, hatte man zwar schon früher gehört, doch war es verstörender, wenn es sich um jemanden handelte, mit dem man persönlich bekannt war.
Trotzdem rang der Pfarrer sich sein heiterstes Lächeln ab und hoffte, dass es nicht so unglaubwürdig geriet wie Kittys. Ach herrje, dachte er, gibt es jetzt schon Kummer? Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt.
»Guten Morgen, Kitty, meine Liebe.«
»Guten Morgen, Reverend Goodall«, antwortete Kitty, und ihr angestrengtes Lächeln verflog.
»Du ziehst ein recht langes Gesicht für jemanden, der heiraten will, muss ich sagen!«
Kitty schwieg.
»Du hast doch keine Angst vor der Trauung, oder?«, fragte der Pfarrer. »Denn falls es das ist, kann ich dir versichern, dass sie beinahe jede Braut durchmacht, die ich bisher getraut habe. Es ist vollkommen normal für eine junge Frau, die sich in ein neues ...« Er verstummte. Eigentlich wollte er »Abenteuer« sagen, doch da er wusste, dass Kitty Carlisle bereits reichlich viele Abenteuer hinter sich hatte - und den Erzählungen nach recht bunte obendrein -, entschied er sich um. »Ein neues Leben begibt. Und mit einem Ehemann halst man sich eine große Verantwortung auf, glaube mir!« Er lachte leise, aber leider allein.
Nun begriff er, dass Kitty ernstlich Angst hatte. Er setzte sich hin, um ihr zu erklären, wie die Zeremonie ablaufen würde, weil er dachte, es könnte helfen, ihre Nerven zu beruhigen. Er war gerade bei dem Teil angelangt, wo das frischvermählte Paar den Kirchenbucheintrag unterzeichnete, da hörte er durchs offene Fenster, dass jemand vor dem Haus ankam.
Kitty sprang auf und blickte hinaus. Als sie sich wieder zum Pfarrer umdrehte, war sie vollends verwandelt. Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten.
»Er ist da! Rian ist hier!«, rief sie aus. »Rian ist hier!« Sie kam quer durchs Zimmer gelaufen, gab Reverend Goodall einen schmatzenden Kuss auf die Wange und rannte zur Tür. Der Reverend blieb sprachlos in dem Korbsessel zurück.
Kitty stürmte die Treppe hinunter, durch den mit blankem Stein gefliesten Flur und zur Vordertür hinaus, wo sie sich in Rians Arme warf. Er fing sie auf, schwang sie herum und drückte sie an sich. »Was ist mit dir?«, fragte er sanft und sah sie an. »Ich dachte, du kommst nicht«, sagte Kitty atemlos und
fühlte, wie sie rot wurde. »Liebste, mich hätten keine zehn Pferde aufgehalten.« »Ich dachte, du hast es dir vielleicht anders überlegt.« Rian küsste sie auf die Nasenspitze. »Mo ghrá, nie war ich mir einer Sache sicherer als dieser.« Kitty lachte laut. »Schön. Dann heiraten wir jetzt, nicht?« Und das taten sie.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167
»Man spricht es ›Fanshaw‹ aus, Nellie. Leg den Brief bitte zur Seite. Mit ihrem Kleid habe ich noch nicht einmal angefangen. Was hast du sonst noch?«
»Uuund«, verkündete Nellie und dehnte den Moment willentlich aus, weil sie wusste, dass Mrs Carlisle entzückt wäre, »einen von einer Miss Kitty Carlisle!«
»Kitty?«, wiederholte Emily und strahlte. Sie lief quer durchs Zimmer und riss Nellie den Brief aus der Hand. Beim Anblick der vertrauten eleganten Schrift schlug ihr Herz schneller. »Geh doch bitte Wasser aufsetzen, Nellie. Gewiss ist es schon Zeit für den Vormittagstee.«
Nellie begriff, wann ihre Anwesenheit nicht erwünscht war, und verließ lächelnd den Salon. Mrs Carlisle bekam nicht viele Briefe von ihrer eigensinnigen, zwanzigjährigen Tochter, daher verstand Nellie gut, dass ihre Herrin einige Minuten für sich sein wollte, um die jüngsten Neuigkeiten zu genießen. Und Neuigkeiten gab es sicherlich, Kitty schien ein rechter Wirbelwind zu sein, so wie sie aus Neuseeland verschwand, dann in Sydney, in Australien, auftauchte und nun Briefe aus den entlegensten Winkeln der Welt schrieb. Nellie war Kitty nie begegnet, jedoch voller Ehrfurcht vor ihr. Oder vor Kittys Ruf zumindest.
Emily wartete, bis Nellie draußen war, und riss dann das Kuvert auf. Als Absender war lediglich The High Seas, die Meere angegeben, was Emily ein Stirnrunzeln entlockte, das gleichermaßen verärgert wie besorgt war. Das Datum indes, Februar 1841, ließ ihr Herz abermals schneller schlagen. Bedeutete es, dass Kitty nicht weit weg von England war?
Emily war schon seit dem letzten Mai krank vor Sorge. Da war ein Brief von ihrer Schwägerin Sarah Kelleher aus Neuseeland mit der schockierenden Nachricht gekommen, dass Kitty von der Missionsstation in der Bay of Islands weggelaufen war und auch Emilys Bruder George, Sarahs Ehemann, »unter mysteriösen Umständen« verschwunden war. Eine schreckliche Tragödie, hatte Sarah geschrieben, aber weder in jenem noch in den nachfolgenden Briefen näher ausgeführt, was geschehen war.
Sarahs in ihrem ersten Brief geäußerte Vermutung, dass Kitty an Bord eines Schoners auf und davon wäre, möglicherweise nach Sydney, wurde Emily einige Wochen später von Kitty selbst bestätigt. Sie schrieb, dass in Neuseeland etwas Furchtbares geschehen sei und sie nun in Sydney war, sicher und gesund und unter Freunden. Es hatte Emilys Ängste ein wenig beruhigt, brachte sie aber weiterhin noch um den Schlaf, bis der nächste Brief eintraf, in dem Kitty schrieb, dass sie Arbeit gefunden hatte und von einer freundlichen Irin unter die Fittiche genommen worden sei, die im Haus neben dem, das sie gemietet hatte wohnte, dass sie vorerst nicht nach Neuseeland zurückkehren würde und Emily sich keine Sorgen machen sollte. Das Ganze ohne Absender.
Sie sollte sich keine Sorgen machen? Emily war außer sich vor Ärger und Sorge, die mit jedem weiteren kurzen Brief ihrer Tochter wuchsen, zumal Kitty ihr nur spärliche Informationen zukommen ließ. Emily hatte Sarah zurück geschrieben, hatte um mehr Einzelheiten bezüglich der »Tragö die« gebeten, doch ihre Schwägerin war ebenso ausweichend wie ihre Tochter. Emily fragte sich, was in aller Welt geschehen war. Und wo war George? Sie hatte Sarah wiederholt um Nachricht bezüglich seines Verbleibs gebeten, doch Sarah antwortete jeweils, dass er nicht gefunden wurde, aber die Wege des Herrn nun mal rätselhaft seien und George vielleicht den Lohn erhalten hätte, den er so reichlich verdiente.
Emily setzte sich auf das Sofa, faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.
„Meine liebste Mama,
Ich hoffe, Du erfreust Dich bester Gesundheit. Mir selbst geht es sehr gut, und ich habe wundervolle Neuigkeiten. Ich werde bald heiraten, einen Kapitän eines Handelsschiffs! Ich weiß, dass Du Dich für mich freuen wirst, war es Dir doch stets wichtig, dass ich einen Ehemann finde, und beinahe sehe ich Dich vor mir, wie Du diesen Brief liest!„
Emily schlug die Hand vor den Mund. Es war ein großes Glück, dass Kitty ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn darin dürfte nichts als blankes Entsetzen stehen. Ein Schiffskapitän!
„Sorge Dich nicht, Mama, denn ich werde keine einsame Seemannsfrau sein, weil ich mit meinem Ehemann segeln und all seine Abenteuer auf den Meeren mit ihm teilen werde, jeden Tag, für den Rest unseres wunderbaren Lebens als Ehepaar!"
Emily wurde beinahe ohnmächtig.
„Er wird Dir gefallen, Mama, dessen bin ich gewiss. Sein Name ist Rian Farrell, er ist neunundzwanzig Jahre alt und besitzt einen eigenen Schoner nebst einem Handelsunternehmen. Wir möchten schnellstmöglich heiraten ... „
Emily schluckte nervös und fragte sich, warum.
„ ... deshalb werde ich ihn bald nach Hause bringen, damit er Dich kennenlernen und Du unsere Hochzeit miterleben kannst. Ich würde gerne daheim in Dereham getraut werden, im Garten, und ich wünsche mir sehr, dass ich Dein Brautkleid tragen darf, wenn Du es gestattest. Ich weiß, dass Papa nicht bei uns sein kann, doch da Ihr beide eine solch glückliche Ehe hattet, glaube ich, dass unsere Ehe gleichfalls unter einem guten Stern stehen wird, wenn ich das Kleid trage, das Du für Papa getragen hast.
Wir möchten nur eine kleine Hochzeit. Ich vermute, dass nach wie vor über das getratscht wird, was geschah, bevor ich fortging, also wirst Du ohnedies nicht viele Gäste einladen wollen. Rians Crew würde gerne dabei sein. Sie sind ein recht bunter Haufen, wie Du feststellen wirst, aber allesamt wunderbare Menschen. Kannst Du bitte das Aufgebot bestellen, den Pfarrer bitten, uns zu trauen, und ein Hochzeitsessen arrangieren? Rian bittet mich, Dir mitzuteilen, dass er Dir nach unserer Ankunft sämtliche Auslagen erstatten wird.
Wir sind eben von San Francisco abgesegelt und haben noch Geschäftliches in Rio de Janeiro zu erledigen, was mehrere Wochen in Anspruch nehmen könnte. Daher nehme ich an, dass wir gegen Ende Mai ankommen werden. Rian sagte, dass wir in King's Lynn anlegen werden, weil es dort gute Werften gibt und an der Katipo (das ist sein Schoner) einige Arbeiten vorzunehmen sind.
Ich freue mich, Dich in Bälde wiederzusehen, meine liebste Mama, und sende Dir meine innigsten Grüße.
Deine Dich liebende Tochter, Kitty „
Emily ließ den Brief auf ihren Schoß fallen. Sie wusste nicht, ob sie weinen, in Ohnmacht sinken oder mit dem Fuß aufstampfen sollte. Letztlich ging sie nur zur Salontür und rief nach Nellie, ob der Tee schon fertig wäre.
Anschließend las sie den Brief ein zweites Mal und fragte sich, wie gut sie ihre Tochter noch kennen mochte, wenn sie endlich heimkam. Sogar Kittys Ausdrucksweise war verändert : Ihre Worte waren andere, und - was noch verstörender war - desgleichen ihre Haltung und ihre Einstellung. Emily nahm eine neue Leichtigkeit, eine Ungezwungenheit wahr. Ja, Kitty klang beinahe ... kolonial.
Emily seufzte zittrig. Ein Schiffskapitän. Du liebe Güte! Schon in der Vergangenheit erwies sich Kittys Urteilsvermögen in Bezug auf Männer als recht besorgniserregend, und Emily hatte keinerlei Grund zu der Annahme, dass sich daran etwas geändert hatte. Annähernd drei Jahre war jener extrem unglückliche Zwischenfall mit dem Lebemann Hugh Alexander her, weshalb Emily gezwungen war, Kitty nach Neuseeland zu schicken. Sie mochte sich nicht einmal ausmalen, was in der Zwischenzeit geschehen sein mochte, ihre Tochter zu einer noch absurderen Wahl zu veranlassen.
Und dies war das eigentliche Problem, oder nicht? Wegen der offensichtlichen Weigerung von Tochter und Schwägerin, Näheres zu berichten, war Emily auf ihre eigene Vorstellungskraft zurückgeworfen, und natürlich spielte Emilys Fantasie verrückt und bescherte ihr die entsetzlichsten Szenarien. Diese jüngste Nachricht befeuerte ihre Ängste noch. Segelte Kitty tatsächlich mit einer Bande von Abenteurern und Seeräubern um die Welt? Ohne Anstandsdame und mit dem Mann, den sie zu heiraten beabsichtigte? Hatte man so etwas schon gehört? Nein, hatte man nicht, und Emily müsste dafür sorgen, dass man es auch weiterhin nicht tat, zumindest was die Bewohner von Dereham anging. Die Leute redeten bis heute über Kitty und Hugh Alexander, wie Emily sehr wohl wusste, und diese neueste Entwicklung wäre ein wahres Fest für die Klatschmäuler des Dorfes.
Nellie kam herein und stellte das Teetablett auf den Beistelltisch neben dem Sofa.
»Es ist nur noch Shortbread da, Mrs Carlisle, aber das ist noch frisch. Ich habe ein Stück probiert.« Nellie sah sie prüfend an. »Mrs Carlisle? Geht es Ihnen nicht gut?«
Emily wurde jäh aus ihren unerfreulichen Gedanken gerissen. »Wie bitte?«
»Sie sehen aus, als wären Sie einem Geist begegnet.«
»Oh nein, es ist nur ... eine unerwartete Nachricht.«
»Keine schlechte, hoffe ich.« Nellie schien ernsthaft besorgt, als sie den Tee einschenkte.
»Nun, das dürfte eine Frage der persönlichen Sichtweise sein.« Emily nahm die Tasse und Untertasse, die Nellie ihr reichte, und wartete, dass das Mädchen sich setzte. Sie saßen bei allen Mahlzeiten und Erfrischungen zusammen, was viele Frauen niemals gestatten würden, wie Emily bekannt war. Doch Nellie und sie arbeiteten auch zusammen, weshalb die Grenzen in ihrem Fall ein wenig verschwammen, und vor allem litt Emily unter ihrer Einsamkeit. Sie griff nach einem Stück Shortbread. »Meine Tochter wird heiraten.«
»Na, das sind doch prächtige Neuigkeiten, nicht?«, fragte Nellie begeistert.
»Einen Schiffskapitän. Sie wird im Mai mit ihm herkommen. «
Nellie tunkte ihr Shortbread ein. Gewöhnlich untersagte Emily ihr das, aber heute bemerkte sie es gar nicht weiter.
»Und er holt sie ab, um sie herzubringen?«, fragte Nellie. »Von wo? Es ist doch nett von ihm, sie zu eskortieren, nicht?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Emily matt. »Anscheinend sind sie bereits, ähm, zusammen.«
Nellies runde Augen über dem Rand ihrer Teetasse wurden noch runder. Sie hüstelte ein wenig und stellte ihre Tasse ab. »Zusammen? Auf seinem Schiff?«
»Das muss ich wohl annehmen, ja.«
»Sie meinen, zusammen?« Nellie sah entsetzt aus.
»Oh, hör auf, Nellie«, fuhr Emily sie an. »Du klingst ja wie ein Papagei. Und kein kluger überdies.«
Nellies Bewunderung für Kitty Carlisle schnellte um mehrere Grad in die Höhe. Wie aufregend es sein musste, mit einem Schiffskapitän um die Welt zu segeln, mit dem man nicht mal verheiratet war! Er war zweifellos ein umwerfender Mann, sehr groß, mit blitzenden Augen und herrlichem dunklem Haar, das ihm immerfort in die hohe Stirn fiel. Und gewiss glänzte selbige Stirn meist vor Schweiß von all den wagemutigen, umwälzenden Entscheidungen, die er stündlich zu treffen hatte!
»Er ist ein Schleppkahnkapitän«, sagte Emily.
Nellie war sichtlich enttäuscht. »Ach, ist er?«
»Nein, aber ich wollte, dass dieser alberne Ausdruck aus deinem Gesicht verschwindet. Dies ist kein Jane-Austen- Roman, Nellie. Wir sprechen über meine Tochter!«
Beschämt schob Nellie sich noch ein Stück Shortbread in den Mund.
»Sie bittet darum, hier getraut zu werden, in diesem Haus«, sagte Emily. Sie erzählte nicht, dass es schon immer ihr Traum gewesen war, Kitty vor den Altar einer der größeren Kirchen von Norwich treten zu sehen, vielleicht sogar in einer der Kathedralen, auch wenn solch eine Pracht die Mittel der Familie bei Weitem überstieg.
»Aber das wird doch schön, nicht?«, beharrte Nellie. »Der Pfarrer hält so hübsche Trauungen ab, und bis Mai sind alle Frühlingsblumen in voller Blüte.«
»Ja, aber ich wünschte ...« Emily verstummte. Eines der Dinge, auf die sie sich am meisten gefreut hatte, war die stolze Miene ihres Mannes, wenn er Kitty zum Altar führte. Doch Lewis war seit über drei Jahren tot. Sie seufzte wieder. »Ja, der Pfarrer wird es sicherlich sehr feierlich machen. Ich muss morgen zu ihm gehen und alles mit ihm besprechen.«
Später am Tag ging Emily hinauf auf den Dachboden und öffnete die Truhe, in der sie ihr Brautkleid aufbewahrte. In dem Papier und dem Nesseltuch eingewickelt, der das Kleid schützen sollte, trug Emily es nach unten in ihr Schlafzimmer und legte es auf das Bett, das sie einst mit Lewis geteilt hatte. Vorsichtig öffnete sie die schützenden Lagen, bis das Kleid enthüllt war.
Bedruckter Musselin in einem dunklen Elfenbein, mit kupferfarbenen Seidenborten und Bändern am tiefen Ausschnitt und an den Manschetten der kurzen Puffärmel. Eine passende, auf dem Rücken zu bindende Seidenschärpe lief um die hohe Taille, und kupferfarbene, auf den Saum des langen Kleides aufgestickte Glasperlen bildeten ein raffiniertes, gefälliges Muster. In der Nachmittagssonne, die durch die Gazegardinen fiel, schimmerte die kupferfarbene Seide matt. Es gab auch farblich abgestimmte Satinschuhe mit Absatz, von denen Emily bereits wusste, dass Kitty sie nicht anziehen könnte, weil ihre Tochter trotz ihrer zierlichen Gestalt ziemlich große Füße hatte. An ihrem eigenen Hochzeitstag hatte Emily ihr Haar aufgesteckt und die weißen Perlen ihrer Mutter hineingeflochten. Diese Perlen lagen nun sicher verwahrt in Emilys Schmuckkästchen.
Gedankenverloren spielte Emily mit ihrem Onyxtrauerring und blickte hinab zu dem Kleid auf der weißen Tagesdecke. Ihr kamen die Tränen, als sie sich erinnerte, wie glücklich Lewis und sie an jenem Tag gewesen waren. Ihr Glück hatte ungetrübt angedauert, bis Lewis gänzlich unerwartet starb. Sie hatten im Juni 1815 geheiratet, kurz nach Napoleons Niederlage bei Waterloo. Napoleon war danach ins Exil nach St. Helena geschickt worden, und dieser Tage fühlte Emily sich, als wäre auch sie im Exil, verbannt zu einem Leben ohne Lewis, ohne Liebe. Sie hatte nur noch Kitty, und nun schien sie diese, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer guten Absichten, gleichfalls zu verlieren.
Als Mutter war es ihre Pflicht, Kitty die Heirat mit jemandem, den Emily noch nicht einmal kannte, zu verbieten, und vor allem mit einem Mann von solch niederer Moral, der offenbar zustimmte, dass Kitty ohne Anstandsdame mit ihm und seiner ohne Frage männlichen Mannschaft segelte - wenn nicht gar sie dazu bewegte. Aber Emily kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass die Entscheidung nicht die des mysteriösen Rian Farrell alleine gewesen sein konnte. Kitty würde nie etwas gegen ihren Willen machen.
Nein, sollte Emily versuchen, die Hochzeit zu unterbinden, würde Kitty einfach abreisen und Emily würde sie womöglich nie wiedersehen. Ihr blieb keine andere Wahl, als alles so zu arrangieren, wie Kitty es gewünscht hatte, und abzuwarten. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass ihre Tochter wusste, was sie tat.
Am letzten Maitag, als der Frühling in den Sommer hinüberglitt, war Emily im Garten hinter dem Haus, wo sie die Pfingstrosen schnitt und die Stockrosen festband, als das Geräusch von Kutschenrädern auf dem Kies vor dem Hauseingang sie innehalten ließ. Langsam richtete sie sich auf und hielt den Atem an. Nach einem nervenaufreibenden Moment von einer Minute oder mehr, erklang dann endlich die Stimme, nach der Emily sich schon so lange gesehnt hatte.
»Mama?«
Emily drehte sich um, und dort war sie, umrahmt vom Jelängerjelieber, der um die Hintertür wuchs. Rasch streifte Emily ihre Gartenhandschuhe ab und lief zum Haus. »Kitty! Kitty, mein Liebes!«
Kitty trat heraus, um ihr entgegenzugehen, ihr liebliches Gesicht nass von Tränen.
»Mama! Oh, Mama, wie wundervoll es ist, dich zu sehen. Du hast mir so sehr gefehlt.«
Sie umarmten sich herzlich und weinten beide.
»Mein Liebes«, schluchzte Emily. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder! Sarah schrieb, es hätte eine furchtbare Tragödie gegeben. Ich war so besorgt!« Und so zornig, ergänzte sie im Stillen.
»Ich weiß, Mama«, murmelte Kitty. »Es muss schrecklich für dich gewesen sein. Setzen wir uns, ja, und dann erzähle ich dir alles.«
»Das klingt nach einer sehr guten Idee.«
Emily putzte sich dezent die Nase, bevor sie ihre Tochter eingehend betrachtete. Kitty sah nicht viel anders aus als bei ihrer Abreise aus Dereham im November 1838. Sie war immer noch zierlich - obgleich Emily mit einem Anflug von Sorge bemerkte, dass der Busen ihrer Tochter ein wenig voller und ihre Hüften vielleicht ein kleines bisschen breiter waren - und immer noch bezaubernd schön. Ihr schwarzes Haar glänzte im Sonnenschein, und ihre rosigen Wangen verrieten, dass sie bei guter Gesundheit war. Ihr Teint war etwas dunkler, was der südlichen Sonne geschuldet sein musste, und ihre Hände waren nicht ganz so weich und makellos manikürt wie früher, aber ansonsten war sie dieselbe.
»Aber zuerst, Mama, möchte ich dir Rian vorstellen«, entgegnete Kitty.
Erst jetzt fiel Emily eine schemenhafte Gestalt im Hausflur hinter ihrer Tochter auf. Die Gestalt kam jetzt ins Licht und entpuppte sich als ein Mann von kräftiger Statur. Er war überdurchschnittlich groß, hatte blondes, im Nacken zu einem Zopf gebundenes Haar, ein leicht wettergegerbtes Gesicht und nachdenkliche graue Augen. Er wirkte ehrlich, offen und eigentlich recht normal.
»Mrs Carlisle«, sagte er, machte einen Schritt auf Emily zu und nahm ihre Hand. »Ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen. Kitty hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Seine Stimme war tief und überaus angenehm, und Emily musste entsetzt feststellen, dass ihr Klang sie auf eine Weise ansprach, wie sie es seit Lewis nicht mehr erlebt hatte. Sie zog ihre Hand zurück.
»Guten Morgen, Captain Farrell«, antwortete sie, mehr nicht, denn was sagte man zu einem Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach eine intime Beziehung zur unverheirateten Tochter hatte?
Kitty spürte das Zögern. »Wir haben schon Nellie, dein Hausmädchen, kennengelernt. Sie macht uns etwas zu essen. Wie lange arbeitet sie schon hier?«
Emily sah wieder zu ihrer Tochter. »Ungefähr ein Jahr. Sie ist mein Hausmädchen und meine Gehilfin zugleich. Ich nahm sie auf, als es mit der Schneiderei für mich allein zu viel wurde.«
»Nun, das sind doch gute Neuigkeiten«, sagte Kitty erfreut.
»Ja, und du hättest sie längst erfahren, hättest du jemals einen Absender auf deine Briefe geschrieben, Kitty.«
Kitty wandte sich strahlend an Rian. »Ich glaube, Mama und ich hätten gern einen Moment allein. Möchtest du vielleicht im Salon warten? Ich bin sicher, dass Nellie dir etwas zu trinken bringt.«
Die beiden wechselten einen verständigen Blick, und Emily überkam eine Welle von Kummer, hatte sie doch dieselbe Vertrautheit mit Lewis geteilt.
Rian lächelte Kitty zu und sagte leise : »Mo ghrá, natürlich. « Dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus.
Nach einer kleinen Weile sagte Emily : »Er ist anders, als ich erwartet hatte. Und Ire.«
Kitty setzte sich auf die Holzbank an der geweißten Hausmauer, löste die Schleife am Band ihrer Haube und nahm sie ab.
»Setz dich, Mama. Wir haben eine Menge zu bereden.«
»Das haben wir fürwahr«, bestätigte Emily. »Ich war furchtbar in Sorge, Kitty. Was in aller Welt denkst du dir nur? Was machst du nur?«
»Es ist eine lange Geschichte«, antwortete Kitty.
Emily setzte sich. »Oh, das dachte ich mir bereits, mein Liebes. Ich bin überglücklich, dich zu sehen, ja, wirklich, aber du schuldest mir einige Erklärungen.«
»Ich weiß, Mama, doch ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll.«
»Versuch's mit dem Anfang.«
Das tat Kitty. Sie erzählte ihrer Mutter von ihrem ersten Jahr in der Missionsstation von Paihia, wo sie bei ihrem Onkel George, dem Reverend, und ihrer Tante Sarah lebte, und ihrer wachsenden Freundschaft zu einem Mann namens Haunui und dessen Nichte Wai, einem von Sarahs Maori- Hausmädchen. Vieles davon kannte Emily bereits aus Kittys früheren Briefen. Und dann zögerte ihre Tochter. »Was jetzt kommt, ist nicht sehr angenehm, Mama. Du wirst schockiert und, wie ich fürchte, traurig sein, es zu hören.«
»Nichts könnte mich mehr schockieren oder trauriger machen als die Nachricht, dass du von Paihia fort bist und keiner wusste, wohin, Kitty, also rede weiter, bitte.«
»Hat Tante Sarah dir gar nichts berichtet?«, fragte Kitty verwundert.
»Nein. Sie war genauso verschlossen wie du, was mich in hohem Maße ärgerte und verwirrte.«
Kitty runzelte die Stirn ein wenig, bevor ihr Gesicht einen resignierten Ausdruck annahm. »Nun, es tut mir aufrichtig leid, Mama, und es gibt keine behutsame Art, es dir zu sagen, aber was geschah, war, dass Onkel George ... nun, Onkel George entwickelte Zuneigung zu Wai, und sie wurde schwanger. Als Tante Sarah es herausfand, warf sie uns beide aus dem Haus, mich und Wai.«
Emily sah aus, als hätte sie versehentlich die Hummel verschluckt, die eben noch träge um sie herumgeschwirrt war.
»Mama?«, fragte Kitty.
»George hat ein Mädchen geschwängert?«
»Ja, Wai, meine Freundin.«
»Wie ... wie alt war sie?«
»Fünfzehn.«
Emily starrte Kitty entsetzt an.
»Zu allem Unglück war Wais Vater der Häuptling der Region ... vielmehr glaubten wir, dass Häuptling Tupehu ihr Vater war, und es war lebenswichtig, dass er nicht erfuhr, was Onkel George getan hatte, denn es stand die Unterzeichnung des Vertrags bevor ...«
»Welcher Vertrag?«
»Der, mit dem die Maoris die Oberhoheit über Neuseeland an die Krone abtraten. Stand hier nichts davon in den Zeitungen?«
Emily überlegte kurz.
»Doch, ich entsinne mich, etwas darüber gelesen zu haben. Aber was hatte das mit George zu tun?« Plötzlich vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann das nicht von ihm glauben, Kitty. Er muss von Sinnen gewesen sein. Bist du sicher, dass es George war, dass sich dieses Mädchen das nicht bloß ausgedacht hat?«
»Ja, Mama«, antwortete Kitty außergewöhnlich streng und frostig. »Es war Onkel George. Wai hat nie gelogen, und ich wäre dir dankbar, nie wieder etwas Derartiges anzudeuten. Du machst dir ja keinen Begriff.«
Erschrocken und ein wenig eingeschüchtert von Kittys Ton, begriff Emily, dass ihre Tochter sich doch weit stärker verändert hatte, als sie zunächst annahm.
Kitty fuhr fort : »Wir hatten schreckliche Angst, dass Wais Vater, sollte er herausfinden, dass seine Tochter von einem Pakeha geschwängert wurde, noch dazu von einem Mann der Kirche, den Vertrag niemals unterzeichnen würde. Doch er fand es heraus, und deshalb mussten wir umgehend fort.« Sie beschloss, nicht zu erwähnen, dass Wai und sie buchstäblich um ihr Leben gerannt waren. »Rian nahm uns auf seinen Schoner, und dafür danke ich Gott, denn sonst wäre ich jetzt kaum hier, um es dir zu erzählen. Und, nein, Mama, Onkel George war nicht bei Verstand. Während des ersten Jahres, das ich in Paihia war, verlor er ihn zusehends, und zum Schluss wurde er fast zu einem rasenden Irren. Ich bin auch sicher, dass er Tante Sarah schlug.«
»Oh, die arme Sarah«, sagte Emily.
»Die arme Sarah, von wegen!«, konterte Kitty.
»Kitty!«
»Mama, sie hat nicht einmal gefragt, ob Wai eingewilligt hatte, mit ... mit Onkel George das Bett zu teilen! Nein, sie schimpfte sie sofort eine Hure und warf uns dann beide sehr grob aus dem Haus.«
»Davon hat sie kein Wort in ihren Briefen geschrieben«, stammelte Emily entgeistert.
»Nun ja, würdest du es an ihrer Stelle?«
»Nein, wohl nicht. Aber warum hat sie dich auch aus dem Haus gejagt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kitty. »Weil ich mit Wai befreundet war, nehme ich an. Vielleicht dachte sie auch, ich hätte gewusst, was vor sich ging.«
»Und wusstest du es?«
»Nein, ich war ahnungslos«, sagte Kitty und merkte, wie der frostige Schatten alter Schuld über sie hinwegzog.
»Seit wann wird George vermisst?«
Kitty zuckte mit den Schultern. »Sicher bin ich mir nicht, aber es muss kurz nach Wais und meiner Flucht gewesen sein, denn an jenem Tag hatte ich ihn noch gesehen. Hast du nichts von ihm gehört?«
»Nein. Sarah hat lediglich geschrieben, dass er verschwunden ist.« Und dann erinnerte Emily sich an die seltsamen Andeutungen ihrer Schwägerin, die nun ein wenig mehr Sinn ergaben. »Oh, der arme George.«
»Der wahnsinnige George«, korrigierte Kitty.
»Ich kann nicht behaupten, dass es mich besonders überrascht «, gestand Emily auf einmal. »Dass George seinen Verstand verlor, meine ich. Er war immer ein bisschen ... instabil. Dein Vater sagte oft, dass es sich bereits andeutete. Aus diesem Grund, und er war nicht der einzige, stand ich George nie besonders nahe. Dennoch bin ich entsetzt von dem, was er getan hat, hätte ich doch nie vermutet, dass er zu so etwas fähig wäre.«
»Tja, das war er. Und es hat Wais Leben ruiniert.«
»Was ist aus dem Kind geworden?«, fragte Emily mit einem ängstlichen Blick zu Kitty. »Ich nehme an, es ist meine Nichte oder mein Neffe, nicht wahr? Und dein Cousin oder deine Cousine.«
»›Es‹ ist ein kleiner Junge namens Tahi, und er ist jetzt beinahe ein Jahr alt. Wai brachte ihn in Sydney zur Welt, aber er wurde bald danach zurück nach Paihia gebracht.«
»Von seiner Mutter?«
»Nein«, sagte Kitty. »Von Wais richtigem Vater, Haunui. Es stellte sich heraus, dass Tupehu gar nicht ihr Vater war, obwohl ihre Mutter Tupehus Frau war. Das ist noch eine lange Geschichte.« Mehrere Sekunden lang nagte sie nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Wai starb bei der Entbindung.«
»Oh, Kitty, das tut mir leid.« Emily berührte sanft die Hand ihrer Tochter. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, dass sie dir viel bedeutet hat.«
»Ja, das hat sie, Mama. Das hat sie wirklich. Und deshalb werden wir eines Tages nach Sydney zurückkehren, ihre Gebeine holen und sie heim nach Neuseeland bringen.«
Rian saß im Salon, wo er sich abwechselnd durch den Kuchen- und Keksteller arbeitete, den Nellie ihm serviert hatte, und Däumchen drehte. Kitty war seit fast zwei Stunden mit ihrer Mutter draußen im Garten. Er verstand, dass sie eine Menge zu bereden hatten, trotzdem wünschte er, sie würden sich beeilen, denn er hatte inzwischen drei Tassen Tee getrunken und müsste sich dringend erleichtern, und da er vermutete, dass der Abort irgendwo hinten im Garten war, müsste er auf dem Weg dorthin an ihnen vorbei. Die Vorstellung indes, dass Mrs Emily Carlisle, deren riesige braune Augen Kittys allzu ähnlich waren, ihn dabei beobachtete, war ihm alles andere als lieb. Erst recht nicht, weil er vermutete, dass sie nicht unbedingt vernarrt in ihn war. Vielleicht könnte er zur Vordertür hinausgehen und sich irgendwo im Garten erleichtern. Doch bei seinem Pech würde ganz sicher jemand vorbeigehen, wenn er gerade auf einen Lavendelbusch urinierte, und dann wäre in ganz Dereham herum, dass Kitty Carlisle einen Mann heiratete, der nicht einmal den Anstand besaß, einen Abort aufzusuchen. Zum Glück wurde er von Kitty und ihrer Mutter gerettet, die in der Salontür erschienen.
Kitty lächelte, und Rian bemerkte, dass die kleinen Sorgenfalten, die sich in den letzten paar Wochen zwischen ihren Brauen gebildet hatten, verschwunden waren. »Wir haben dich nicht vergessen, mein Liebster«, sagte sie.
Emily Carlisle kam auf ihn zu, und abermals erstaunte ihn die auffällige Ähnlichkeit von Mutter und Tochter, obwohl die eine über zwanzig Jahre älter war als die andere. Er war beinahe versucht, zu Mrs Carlisle zu sagen, er wisse nun, woher ihre Tochter ihr bezauberndes Aussehen hätte. Aber nur beinahe. Es stimmte zwar, klänge jedoch abgedroschen, und er wollte seiner künftigen Schwiegermutter keineswegs den Eindruck eines oberflächlichen Schmeichlers vermitteln.
»Erlauben Sie mir bitte, noch einmal von vorn anzufangen, Captain«, sagte Emily und streckte ihm ihre Hand hin. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, und ich möchte Sie offiziell in dieser Familie willkommen heißen.«
Rian sprang auf, und Krümel rieselten von seinem Gehrock auf den Teppich. Er nahm Emilys Hand. »Haben Sie vielen Dannk, Mrs Carlisle. Es ist mir eine Ehre.«
Emily lächelte.
»Ganz meinerseits.«
Sie war bezaubernd, wenn sie lächelte, dachte Rian, genau wie ihre Tochter. Und sie schien ihm deutlich wohlgesinnter als zuvor.
Natürlich wusste Rian nicht, dass Kitty ihrer Mutter zwischenzeitlich erzählt hatte, Rian Farrell wäre alles, was sie sich je von einem Mann gewünscht hatte, dass sie ihn auf jeden Fall heiraten würde, er ihr mindestens einmal das Leben gerettet hatte, freundlich und anständig wäre und sie von Herzen liebte, und, nein, sie wäre in keinem heiklen Zustand. Darüber hinaus sagte sie Emily, Rian wäre kein Mann wie jeder andere, weshalb sie nicht erwarten dürfte, dass die beiden irgendwann sesshaft würden und ein Leben führen, wie es die meisten Leute für »normal« hielten. In den letzten achtzehn Monaten hatte Kitty erkannt, dass das Glück gepackt werden wollte, wo immer es sich anbot, weil es allzu schnell schwinden konnte - was gerade Emily wüsste. Und Kitty hätte vor, ihr Glück gut festzuhalten, indem sie mit Rian Farrell lebte, was immer dieses Leben beinhaltete. Sollte es Emily nicht gefallen, täte es Kitty leid. In dem Fall würden Rian und sie eben wieder in die kleine Gig steigen, die sie gemietet hatten, nach King's Lynn zurückkehren und, sobald die Katipo wieder seeklar war, einfach davonsegeln.
Emily hatte gewusst, dass Kitty es ernst meinte, und sie brauchte nur Sekunden, um zu entscheiden, dass eine Tochter, die mit einem etwas raubeinigen Kapitän verheiratet war und um die Welt segelte, besser war als keine.
»Sie müssen mir alles von sich erzählen, Captain«, fuhr Emily fort. »Aber zuerst bitte ich Nellie um mehr Tee. Ich fühle mich ein wenig ausgetrocknet - die Sonne ist doch ziemlich kräftig.«
Es fiel Rian schwer, bei der Erwähnung von mehr Tee nicht das Gesicht zu verziehen.
Als Emily fort war, kam Kitty auf ihn zu und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Na, das ging besser, als ich gedacht hätte.« Sie sah ihn verwundert an. »Was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.«
»Und ob ich die habe. Ist der Abort nach hinten raus?«
Kitty grinste. »Oh, armer Liebling! Ich hatte vergessen, es dir zu sagen. Ja, er ist hinter dem Gemüsegarten.«
Während er eilig und ein wenig steif aus dem Zimmer ging, setzte Kitty sich auf das Sofa und blickte sich um. Der Salon hatte sich in den letzten Jahren nicht sehr verändert, auch wenn die Schneiderei ihrer Mutter tatsächlich gut zu gehen schien, denn es lag ein neuer, hochwertiger Läufer auf dem Boden, und links und rechts vom Kamin standen zwei neue Ledersessel. Allerdings war Kitty froh, dass der alte Lieblingssessel ihres Vaters an seinem gewohnten Platz neben der Tischlampe stand, wo ihr Vater abends gern gelesen hatte. Sie fragte sich, ob seine Kleider, Bücher und sonstigen persönlichen Dinge noch oben waren. Wie sie ihre Mutter kannte, wahrscheinlich schon. Im oberen Stockwerk gab es ein Arbeitszimmer voller Bücherregale und drei Schlafzimmer, von denen das größte das ihrer Eltern gewesen war. Die nächsten Nächte würde Kitty in ihrem alten Zimmer schlafen, so wenig sie sich auch darauf freute. Rian und sie hatten keine Nacht getrennt verbracht seit jenem Tag im Juli letzten Jahres, als Haunui und das Baby Tahi in Paihia von Bord der Katipo gegangen waren und Kitty beschloss, er habe bei Rian an Bord zu bleiben. Heute war Montag, und sie hoffte, bis zum Ende der Woche vermählt zu sein, doch selbst das erschien ihr eine viel zu lange Wartezeit, bis sie wieder neben Rian schlafen durfte, seinen warmen, festen Leib neben ihrem spüren und seinem Atmen lauschen, während sie wach lag und darüber nachdachte, welches Glück sie hatte.
Nellie erschien mit mehr Tee, gefolgt von Emily und schließlich Rian, der merklich entspannter wirkte.
»Captain Farrell erzählt mir gerade von seinem Schoner«, sagte Emily munter. »Er sagt, dass die Katipo als die Schnellste ihrer Klasse gilt. Nicht wahr, Captain?«
»Stimmt«, antwortete Rian. »Das weiß Kitty natürlich schon. Immerhin segelt sie bereits seit ... einer Weile auf ihr.« Er verstummte lieber, ehe er sich in die Nesseln setzte.
»Ja, richtig«, sagte Emily und nahm Platz, wobei ihre Röcke laut raschelten. Dann sah sie Nellie streng an und bedeutete ihr, Tee einzuschenken, doch das Mädchen hatte nur Augen für Rian.
Nellie fand, dass Captain Rian Farrell einer der umwerfendsten, romantischsten Männer war, die sie jemals gesehen hatte. Zwar war er nicht ganz so riesig, wie er in ihrer Fantasie gewesen war, und sein Haar war nicht dunkel, doch einzelne Strähnen fielen ihm in die Stirn, und seine Augen blitzten allemal, ganz besonders, wenn er lächelte.
»Nellie, schenk bitte Tee ein, ja?«, sagte Emily laut und deutlich.
»Oh, ja«, murmelte Nellie und goss den Tee quer über das Tablett.
»Ach, du meine Güte«, schalt Emily. »Geh und hol einen Lappen.« Als Nellie beschämt aus dem Zimmer ging, ergänzte Emily : »Sie ist sonst nicht so ungeschickt. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.« Eigentlich ahnte sie es durchaus, und sie hoffte inständig, dass Captain Farrells Crew nicht so faszinierend war, wie Nellie den Captain selbst offenbar fand. »Also, Captain, erzählen Sie mir ein wenig von sich. Sie sind Ire, richtig?«
»Bin ich. In Dublin geboren und aufgewachsen. Nun, genauer gesagt in Kingstown, wo meine Familie einiges Land besitzt. Und, bitte, nennen Sie mich Rian.«
»Gern, Rian«, stimmte Emily zu. Sie zögerte, bevor sie rundheraus fragte : »Wie viel Land? Ungefähr?«
Kitty blickte verdrossen zur Zimmerdecke.
»Genug, um ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem Kitty für den Rest ihrer Tage komfortabel leben kann, sollte mir etwas zustoßen«, antwortete Rian. »Falls Sie das meinten. «
»Oh nein, ich wollte nicht ...« Weiter sprach sie nicht, denn sie bemerkte die wache Intelligenz in seinen grauen Augen und entschied, nicht weiterzuleugnen. »Nun, um ehrlich zu sein, ja, das meinte ich. Verzeihen Sie, aber ich denke ausschließlich an das Wohl meiner Tochter.«
»Selbstverständlich«, sagte Rian, bot Emily aber keine weiteren Informationen über seine Familie. Was Emily nicht sonderlich kümmerte ; sie würde Kitty später aushorchen, falls nötig.
Nellie kehrte mit einem Lappen zurück. Ihre Wangen glühten immer noch, während sie den vergossenen Tee aufwischte, drei Tassen einschenkte und wieder aus dem Salon huschte.
»Es wird dich freuen zu hören, Kitty«, sagte Emily und hielt Rian den Kuchenteller hin, der jedoch höflich ablehnte, »dass Reverend Goodall mir versichert hat, die Trauung jederzeit vornehmen zu können. Er bittet lediglich, ein paar Tage vorher Bescheid zu bekommen.«
»Ist das Aufgebot schon bestellt?«, fragte Kitty und nahm sich ein Stück Kuchen.
»Ja, das habe ich bereits im April erledigt. Ihr könntet morgen zu Reverend Goodall gehen und mit ihm besprechen, was ihr euch wünscht. Und ich konnte jemanden finden, der für die Erfrischungen sorgt. Nellies Mutter, um genau zu sein. Sie ist Köchin bei den Ormsbys.«
»Doch nicht Bernd und Ido Ormsby?«, fragte Kitty entgeistert.
Emily nickte.
»Oh nein!«, rief Kitty aus. »Du hast die doch nicht eingeladen, oder?«
»Natürlich nicht. Nicht nach den Dingen, die sie über deinen armen Vater verbreitet haben! Nein, Mrs Ingram ist bereit, für den Tag hierher zu kommen, und das zu einem sehr vernünftigen Preis. Ich weiß nicht, welches Arrangement sie mit den Ormsbys hat, und offen gesagt interessiert es mich auch nicht.«
»Den Ormsbys gehört eine der hiesigen Mühlen«, erklärte Kitty Rian. »Du würdest sie sicher nicht mögen. Sie sind unfassbar schrecklich.«
Rian zuckte mit den Schultern. Seinetwegen müssten gar keine Gäste zur Hochzeit kommen - ausgenommen seine Crew, verstand sich.
»Wen hast du eingeladen?«, fragte Kitty.
»Ach, nur einige wenige, du weißt schon«, antwortete Emily ausweichend. »Und ich habe es bloß beiläufig erwähnt, weil ich nicht sicher war, wann du nach Hause kommst.«
»Du meinst, du warst nicht sicher, ob du es mir ausreden kannst oder nicht«, sagte Kitty unverblümt.
Emily sah sie einen Moment stumm an, dann lachte sie. »Ja, das trifft es in etwa. Aber wir können Einladungen verschicken, sobald ihr mit dem Pfarrer gesprochen habt, wenn du willst. Es ist allerdings recht kurzfristig. Wie auch immer, es gibt nur eine Handvoll Leute, die ich gerne dabeihätte, aber vielleicht wünscht ihr noch andere Gäste.«
»Eigentlich nicht«, sagte Kitty. »Die Menschen, die mir wichtig sind, werden so oder so hier sein.«
»Ach ja?«
»Ja«, bestätigte Kitty.
Emily wandte sich zu Rian. »Was ist mit Ihren Eltern, Rian?«
»Nein, dazu ist keine Zeit. Überdies stehen meine Eltern und ich gegenwärtig nicht in allzu engem Kontakt.«
Ich würde zu gerne wissen, warum, dachte Emily, war aber viel zu höflich, um zu fragen.
»Und meine Schwester ist nach Australien ausgewandert«, fügte Rian hinzu, »demzufolge wird es von meiner Seite leider nur meine Crew sein. Die Männer sind auf dem Weg hierher. Ich rechne am Mittwoch mit ihnen, allerspätestens Donnerstag. Mir fiel eine Schankwirtschaft auf, als wir durch das Dorf fuhren. The White Hart? Wir werden dort wohnen, nehme ich an.«
Kitty stellte ihre Teetasse sehr laut in ihre Untertasse.
»Schön, dann wäre das geklärt«, sagte Emily lächelnd und bemühte sich vergebens, ihre Erleichterung zu verbergen. Sie drehte sich wieder Kitty zu. »Sehen wir uns nun das Brautkleid an, ja?«
Am Busen war das Kleid zu eng für Kitty, und es war ein bisschen zu kurz, deshalb ließ Emily die Miedernähte gekonnt aus und nähte am Rocksaum einen Streifen elfenbeinfarbener Seide an. Als sie fertig war, sah das Kleid aus, als wäre es für Kitty gemacht.
»Welche Schuhe willst du tragen?«, fragte sie Kitty am Mittwochmorgen, als sie das fertige Kleid in den Schrank in Kittys Schlafzimmer hängte.
Doch Kitty hörte ihr nicht zu. Sie beugte sich über den Fenstersims und schaute hinunter in den Garten, wo Rian, der zum Frühstück gekommen war, sich nützlich machte, indem er Kaminholz hackte. Emily hatte sehr schnell eine aufrichtige Zuneigung zu ihrem künftigen Schwiegersohn entwickelt und musste gestehen, dass sie verstand, was ihre Tochter in ihm sah. Er war offensichtlich klug und hatte einen scharfen Verstand, was Emily schätzte. Manches an ihm erinnerte sie an ihren geliebten Lewis. Außerdem hatte er eine gewisse Ausstrahlung, von der Emily nicht sagen konnte, ob es sich um ein solides Selbstvertrauen handelte oder eine unterschwellige Aura von Gefahr. So oder so machte sie ihn überaus anziehend. Und die Art, wie er Kitty ansah, vor allem, wenn er sich unbeobachtet wähnte, ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sie bewunderte und begehrte. »Kitty?«, sagte Emily lauter. »Ich habe dich etwas gefragt.«
Kitty stieß sich vom Fenster ab. »Entschuldige, Mama. Was hast du gesagt?«
»Ich sagte : Welche Schuhe willst du tragen?«
»Na ja, ich habe meine schwarzen Stiefel.«
»Oh, Kitty, du kannst doch an deinem Hochzeitstag keine schwarzen Stiefel tragen!«
»Weiß ich«, antwortete Kitty gereizt. Auf der Katipo trug sie die Stiefel gewöhnlich zu einer Männerhose, aber dies war kaum der geeignete Moment, ihrer Mutter das zu erzählen. »Und ich habe diese, aber sie passen nicht zu deinem Kleid.« Sie lüpfte den Saum ihres langen Kleides und enthüllte ein Paar recht ausgetretene braune Stiefel.
Emily zog ein unglückliches Gesicht. »Nein, die gehen auch nicht.« Dann fügte sie hinzu : »Und es ist jetzt dein Kleid, meine Liebe.«
Kitty bedachte ihre Mutter mit einem kleinen, traurigen Lächeln. »Dafür bin ich dir sehr dankbar, Mama. Es bedeutet mir viel.«
»Mir bedeutet es auch viel«, sagte Emily, in deren Augen plötzlich Tränen glänzten. »Ach, Liebes, als ich deinen Brief las, war ich zunächst entsetzt, ja, wirklich. Aber jetzt, da ich Rian sehe und ein wenig kennenlerne, denke ich ... nun, ich denke, dass alles gut werden könnte.«
»Wird es, Mama. Ich weiß, dass es das wird.«
Emily betrachtete das liebreizende, ruhige Gesicht ihrer Tochter und sagte : »Ja, ich glaube dir.«
Kitty wollte etwas sagen, wurde aber von einem gellenden Schrei aus dem Erdgeschoss daran gehindert.
Beide Frauen starrten einander mit großen Augen an.
»Mein Gott, das ist Nellie!«, rief Emily aus und lief aus dem Schlafzimmer, Kitty ihr auf den Fersen folgend. Ihre Schritte hallten auf der blanken Holztreppe.
Nellie stand mitten in der Küche. Um sie herum waren Schnittblumen auf dem Küchenboden verstreut, und sie hielt sich eine Hand vor die Augen.
»Nellie, was in Gottes Namen ist denn los?«, fragte Emily.
»Draußen, Mrs Carlisle, da ist ein Riese!«, stammelte Nellie hysterisch. »So etwas habe ich noch nie gesehen! Und pechschwarz ist er!«
Kitty spähte durch das Küchenfenster in den Garten, grinste und winkte lebhaft. »Die Crew«, sagte sie verzückt. »Sie sind hier! Kommt und lernt sie kennen.«
Gefolgt von Emily und einer ängstlichen, aber äußerst neugierigen Nellie, trat Kitty durch die Hintertür hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Die Crew stand um Rian versammelt, der seine Ärmel aufgekrempelt hatte, die Axt über der Schulter. Er fügte sich bestens in die Bande Waffenschieber und Schmuggler, die sie, wie Kitty wusste, waren. Emily, die ein wenig kurzsichtig war, jedoch zu eitel, es einzugestehen und eine Brille zu tragen, hielt erst den Atem an, als sie näher bei den Männern war.
Sie standen im Halbkreis. Zu Emilys Linker stand ein rotgesichtiger Mann mit einem langen schwarzen Zopf. Er trug ein Hemd und eine Hose aus hellem, weichem Stoff und um seine Hüften einen silberbeschlagenen Ledergürtel, in dem ein Messer steckte. Er nickte Emily zu. »Guten Morgen, Madam. «
»Mama, das ist Running Hawk, ein Seneca-Indianer aus dem Staat New York«, stellte Kitty ihn aufgeregt vor. »Aber wir nennen ihn nur Hawk.«
»Äh, guten Morgen, Mr Hawk«, antwortete Emily, deren gute Manieren von allein übernahmen.
Neben ihm stand ein säuerlich dreinblickender Mann mit rotbraunem Haar, einer großen Narbe auf der einen Wange, mehreren Zahnlücken und einem glitzernden Goldreif in jedem Ohr, der sich knapp verneigte. »Missus.«
»John Sharkey aus Newcastle«, erklärte Kitty, bevor ihre Mutter reagieren konnte, und zeigte auf den nächsten Mann. Dieser war klein und drahtig mit dunklem, fettigem Haar, einem Ziegenbärtchen und einem Schnurrbart mit gezwirbelten Enden. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte heiter. »Und dies ist Pierre.«
Der Mann verbeugte sich schwungvoll und sagte : »Bonjour, Madame. Je suis Pierre Babineaux, et je suis enchanté de faire vôtre connaissance.«
Etwas überrascht strengte Emily sich an, ihr eingerostetes Französisch wiederzubeleben. »Bonjour, Monsieur. Je suis heureuse également de vous rencontrer. De quelle région de la France êtes-vous?«
Pierre schüttelte den Kopf. »Non, Madame, pas de France. Je suis Arcadien de bayou, de Louisiane.«
»Oh, ich bitte um Verzeihung«, sagte Emily.
»Das ist eine leichte Fehler«, winkte Pierre großzügig ab, sodass Emily eine Wolke von Lavendelduft entgegenwehte. Dann lächelte er breit und bleckte mehrere Zähne, die aus massivem Gold zu sein schienen.
Neben ihm stand ein braunhäutiger Mann, dessen schwarze Locken bis auf seine Schultern fielen. Er hatte eine leicht gebogene Nase und war auf eine raue Weise gut aussehend, dachte Emily, obgleich er eher reserviert wirkte.
»Mama«, sagte Kitty, »dies ist Ropata, ein Maori vom Ngati-Kahungungu-Stamm von der Ostküste Neuseelands.«
Emily musterte ihn interessiert, schließlich war er der erste Maori, den sie sah. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch von dem hellhäutigen Mann zur Linken des Maori abgelenkt. Jener junge Mann dürfte fraglos schon manches Frauenherz gebrochen haben. Er hatte betörende dunkle Augen, dichte schwarze Locken und wunderschöne weiße Zähne, wie sein sehr charmantes Lächeln verriet.
Er verneigte sich. »Einen wunderschönen guten Morgen, Missus. Jetzt sehe ich, wie Kitty zu ihrer bezaubernden Schönheit kam, oh ja!«
»Danke«, antwortete Emily und hatte Mühe, nicht zu schmunzeln. Ein typischer irischer Charmeur!
»Das ist Mick Doyle, Mama«, sagte Kitty. »Seine Mutter kümmerte sich um uns, als wir in Sydney waren.«
»In dem Fall richten Sie Ihrer Mutter bitte meinen herzlichen Dank aus, wenn Sie sie das nächste Mal sehen, Mr Doyle«, bat Emily ihn.
»Wird gemacht«, antwortete Mick und dann - obwohl Emily sich nicht ganz sicher war - glaubte sie, dass er ihr zuzwinkerte.
Schließlich kam Kitty zu dem Mann, den Emily sehr angestrengt nicht anstarrte. Er war riesig, ein gewaltiger Kerl mit massigen Armen und Beinen, einer Haut von einem dunklen Blauschwarz und einem vollständig kahl rasierten Kopf.
Er trat vor und sagte mit der tiefsten Stimme, die Emily je gehört hatte : »Stets zu Diensten, Madam. Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, und hocherfreut, bei der Trauung Ihrer Tochter dabei sein zu dürfen. Kitty ist eine wunderbare junge Dame, und wir alle sind sehr glücklich, dass unser Captain sie überreden konnte, seine Frau zu werden.«
Emily blinzelte.
»Und dies ist Gideon«, stellte Kitty ihn vor, die sich prächtig amüsierte.
»Vielen Dank, Mr Gideon«, antwortete Emily. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Nellie sich auf die Gartenbank zurückgezogen hatte. Nun hielt sie sich die Hand vor den Mund statt vor die Augen.
»Nein, Madam, nur Gideon«, korrigierte er.
Emily würde gerne neben Nellie auf die Bank sinken. Über die letzten Tage hatte sie es geschafft, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Kitty Rian Farrell heiraten und mit ihm davonsegeln würde. Ihre mühsam erworbene Toleranz schwand indes rapide, als sie nun sah, mit was für Männern Kitty zusammenleben würde. Sie war ja auf einen recht rauen Haufen gefasst gewesen, aber gewiss nicht auf diese außergewöhnliche, zusammengewürfelte und entschieden verdächtig aussehende Horde. Die Hochzeit war erst am Freitag ; vielleicht konnte Emily sie ihrer Tochter doch noch ausreden. Sie blickte hinüber und sah, dass Kitty sie beobachtete. Dann schüttelte ihre Tochter sehr langsam den Kopf, und Emily spürte, dass es dafür zu spät war.
Kitty wachte mit einem Lächeln auf, und sie wusste auch, warum : Heute war der Tag, an dem sie Rian heiratete.
Sie setzte sich auf, streckte sich, stieg aus dem Bett und griff darunter nach dem Nachttopf. Nachdem sie ihn benutzt hatte, stellte sie ihn auf die Seite, um ihn später nach unten zu tragen. Ihr ging durch den Kopf, dass einer der vielen Vorzüge am Leben auf einem Schoner war, dass man alles einfach über die Reling kippte. Sie setzte sich für einen Moment auf die Fensterbank.
Der gestrige Donnerstag war reichlich ermüdend gewesen. Ihre Mutter und sie hatten einen Schuhmacher aufgesucht und tatsächlich ein Paar Schuhe für die Hochzeit gefunden. Danach waren sie in eine Teestube gegangen, wo Emilys Lächeln nach und nach schwand, bevor sie über ihrem halb gegessenen Ingwerkuchen in Tränen ausbrach.
Natürlich wusste Kitty, warum ihre Mutter weinte. Sie fühlte mit ihr und liebte sie zutiefst, war aber nicht bereit, all die herrlichen Türen zu schließen, die sich ihr über die vergangenen zwei Jahren langsam geöffnet hatten, und die Chance auf ein Leben voller Liebe und Leidenschaft, Herausforderung und Aufregung aufzugeben. Und Letztere waren Kitty beinahe so wichtig wie das Versprechen von Liebe. In ein Leben zurückzukehren, das aus nichts als alberner Etikette, begrenzten Horizonten und erdrückender Gleichförmigkeit bestand, würde sie umbringen.
Also hatte sie nicht noch einmal versucht, ihre Gründe für die Heirat zu erklären und sich zu rechtfertigen, was ohnedies nur in einen Streit mit ihrer Mutter gemündet hätte, sondern Emily nur gebeten, ihr zu vertrauen. Ihre Mutter hatte weiter geweint, selbstverständlich auf sehr damenhafte Art, aber letztlich versiegten die Tränen, und Emily nickte zustimmend. Sie rang Kitty allerdings das Versprechen ab, sofort heimzukehren, sollte etwas schiefgehen. Und das hatte Kitty ihr aufrichtig versprochen.
Nun lächelte sie wieder vor lauter Vorfreude, denn sie würde heute Mrs Kitty Farrell. Zugleich musste sie sich eingestehen, dass sie die Aussicht auf die Zeremonie erstaunlicherweise nervös machte. Aber die Vorstellung, den Rest ihres Lebens mit Rian zu verbringen, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, zu wissen, dass er sie von Herzen liebte und achtete, und jeden Tag gemeinsam zu neuen Abenteuern aufzubrechen ... die war himmlisch!
Nellie klopfte und steckte den Kopf zur Tür herein. »Miss Kitty, Ihre Mam fragt, ob Sie bereit zum Frühstück sind.«
Kitty kletterte von der Fensterbank. »Ehrlich, Nellie, hör auf, mich ›Miss Kitty‹ zu nennen. Da komme ich mir wie eine jungfräuliche alte Tante vor.«
»Verzeihung«, sagte Nellie zerknirscht und kam mit einem Tablett herein, auf dem sich ein Teller mit pochierten Eiern auf Toast und eine Kanne Tee befanden. Neben der Teekanne stand eine winzige Vase mit einer einzelnen cremeweißen Rosenblüte.
»Hat Mama die Rose gepflückt?«, fragte Kitty.
»Gleich heute Morgen«, bejahte Nellie.
Tränen brannten in Kittys Augen. Sie setzte sich auf den weißen Korbstuhl vor ihrer Frisierkommode, blickte die grellgelben Eier an und merkte, wie ihr Magen sich zusammenzog.
Rasch gab sie Nellie das Tablett zurück. »Oh nein, ich glaube nicht, dass ich heute Morgen etwas essen kann.«
Nellie sah sie unglücklich an. »Ihre Mam sagt, Sie müssen. Sie sagt, mit leerem Magen können Sie nicht heiraten.«
»Dann nehme ich den Tee«, bot Kitty an.
»Ich darf den Teller erst runterbringen, wenn er leer ist«, beharrte Nellie.
Allein von dem Geruch wurde Kitty übel. Sie stand auf, nahm Nellie den Teller wieder ab und trat ans Fenster. Entriegelte es, schob den Flügel hoch, warf die Eier hinaus und gab Nellie den Teller zurück. »Hier, jetzt ist er leer.«
Nellie guckte verdutzt, ehe sie hoch und kieksend zu lachen begann. Es war ein erstaunliches Lachen für solch ein scheues Mädchen.
»Nellie, möchtest du meine Brautjungfer sein?«, fragte Kitty aus einer spontanen Eingebung heraus. »Hawk ist Rians Trauzeuge, aber ich habe keine meiner alten Freundinnen eingeladen.«
»Ich?«, quiekte Nellie.
Kitty nickte.
Nellies runde Wangen färbten sich scharlachrot. »Ooh, ja, bitte! Ich war noch nie eine Brautjungfer.« Dann wurde sie wieder ernst. »Ach nein, ich habe doch gar nichts Hübsches anzuziehen.«
»Hast du denn kein Kleid, das du in die Kirche anziehst oder so?«
»Ich habe ein dunkelgrünes Kattunkleid. Da ist Spitze dran, aber es ist ein bisschen alt.«
»Macht nichts. Zieh das an und steck dir eine Rose ins Haar, dann siehst du hübsch aus.«
Nellie grinste von einem Ohr zum anderen und trottete fröhlich von dannen, um Kitty ein Bad einzulassen.
Kitty saß unruhig in ihrem Zimmer. Es war halb elf, und sie war eben mit dem Ankleiden fertig. Sie musste zugeben, dass das Brautkleid ihrer Mutter wunderschön an ihr wirkte, sie hatte sich ihr schimmerndes schwarzes Haar zu einem losen Knoten aufgesteckt, den sie mit ein paar cremefarbenen Rosenblüten geschmückt hatte. Ihr Haar reichte inzwischen wieder ein gutes Stück über ihre Schultern. Es war sehr schnell nachgewachsen, nachdem es fünfzehn Monate zuvor nach einem beinahe fatalen Unfall auf der Katipo sehr kurz geschnitten worden war. Pierre hatte sie regelmäßig mit einer ekelhaften Tinktur malträtiert, von der er schwor, sie wäre ein Geheimrezept aus seiner Heimat, das den Haarwuchs förderte. Selbiges Zaubermittel roch wie Erbrochenes und schmeckte noch scheußlicher, schien aber zu helfen. Von ihrer Mutter hatte sie eine Perlenkette bekommen ; kleine Perlen, aber wunderschön und ein altes Familienerbstück. Nun glänzten sie dezent auf Kittys zart sonnengebräunter Haut.
War sie zuvor schon nervös gewesen, stand Kitty jetzt unmittelbar vor einem Schweißausbruch, was gänzlich untypisch für sie war. Als sie im Bad saß, war ihr auf einmal der absurde Gedanke gekommen, dass Rian womöglich nicht zur Trauung erschien. Gestern Abend war er nicht wie üblich zum Essen bei ihnen gewesen, weil seine Männer darauf bestanden, dass er seine »letzte Nacht in Freiheit« mit ihnen im Gasthaus verbrachte und sich betrank, wie es ihm angeblich zustünde. Kitty hatte nur gelacht, als er es ihr erzählte, doch was war, wenn er es sich anders überlegt hatte? Was war, wenn am Abend etwas geschehen war, was ihn zu dem Schluss verleitete, lieber nicht an eine Frau gebunden zu sein, und er einfach nach King's Lynn zurückgefahren war, um für immer aus ihrem Leben zu segeln? Diese Vorstellung war so fürchterlich, dass Kitty schon meinte, sie sollte sich lieber die Mühe sparen, ihr Brautkleid anzuziehen. Ihre Mutter aber sagte ihr, sie solle nicht albern sein, denn sogar sie sähe, dass der Mann vollkommen hingerissen von ihr war. Deshalb sollte Kitty aus dem Bad steigen, ehe sie sich verkühlte.
So saß sie nun hier, sauber und duftend und hübsch herausgeputzt, doch leider war ihr übel vor Angst. Ihre Mutter hatte einige Gäste eingeladen, und Kitty wusste, dass sie eingetroffen waren und unten warteten. Mr Sanders, ein Lehrer von der Schule, an der auch Kittys Vater unterrichtet hatte, war mit seiner Frau Maud gekommen, die wiederum eine enge Freundin von Emily war. Die Nachbarn, Mr und Mrs Moon, waren ebenfalls da, genauso wie der alte Hector Billingsworth, der sich einmal wöchentlich Emilys Gartens annahm und den Emily ausgesprochen gern hatte. Und natürlich war Mrs Ingram, Nellies Mutter, schon seit dem frühen Morgen im Haus und bereitete das Hochzeitsessen vor. Das war alles. Soweit Kitty wusste, hatte ihre Mutter ausschließlich Leute eingeladen, von denen sie wusste, dass sie keinen Anstoß an Kittys Betragen nahmen - dem früheren wie dem heutigen -, und dafür war Kitty ihr dankbar.
»Kitty?« Emily erschien in der Tür. »Der Pfarrer ist da.«
»Ich will nicht nach unten gehen. Ich will ihn nicht sehen «, murmelte Kitty.
»Na, du musst wohl, wenn er dich trauen soll, Liebes.«
»Nein, ich meine, ich will ihn nicht sehen, ehe Rian da ist. Falls er kommt«, sagte Kitty finster. »Es könnte Pech bringen. «
Emily verzichtete darauf, mit den Augen zu rollen. »Pech bringt es nur, wenn dein künftiger Ehemann dich vor der Trauung in deinem Brautkleid sieht. Jetzt komm schon, sei nicht albern. Reverend Goodall möchte dich sprechen.«
»In meinem Schlafzimmer?«, fragte Kitty schockiert.
»Ja, wenn du nicht nach unten kommst.«
»Aber, Mama, was werden die Leute sagen?«
Emily reichte es allmählich mit Kittys düsterer Stimmung. »Ach um Himmels willen, Kitty, ist es nicht ein bisschen spät, sich darum zu sorgen? Jetzt lass das Schmollen und versuch, wenigstens ein bisschen wie eine aufgeregte Braut zu wirken. Ich hole den Pfarrer.«
Kitty blickte ihrer Mutter nach und wollte schreien, dass sie verrückt vor Angst war, doch irgendetwas - könnte es Stolz sein? - hinderte sie daran.
Eine Minute später betrat Reverend Goodall das Zimmer. Er war ein kleiner, rundlicher Mann und kannte Kitty schon, seit sie sechs Jahre alt war. Für die heutige, eher informelle Trauung hatte er Soutane, Chorhemd und Stola anstelle seines Messgewandes gewählt. Er war ein von Natur aus fröhlicher Mensch, erlebte jedoch einen seltenen Moment von Melancholie, als Emily Carlisle ihm eben mitteilte, dass es nach wie vor keine Neuigkeiten gab, was den Verbleib ihres Bruders George betraf. Dass ein Geistlicher verschwand, während er in einem entlegenen Winkel des Empires diente, hatte man zwar schon früher gehört, doch war es verstörender, wenn es sich um jemanden handelte, mit dem man persönlich bekannt war.
Trotzdem rang der Pfarrer sich sein heiterstes Lächeln ab und hoffte, dass es nicht so unglaubwürdig geriet wie Kittys. Ach herrje, dachte er, gibt es jetzt schon Kummer? Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt.
»Guten Morgen, Kitty, meine Liebe.«
»Guten Morgen, Reverend Goodall«, antwortete Kitty, und ihr angestrengtes Lächeln verflog.
»Du ziehst ein recht langes Gesicht für jemanden, der heiraten will, muss ich sagen!«
Kitty schwieg.
»Du hast doch keine Angst vor der Trauung, oder?«, fragte der Pfarrer. »Denn falls es das ist, kann ich dir versichern, dass sie beinahe jede Braut durchmacht, die ich bisher getraut habe. Es ist vollkommen normal für eine junge Frau, die sich in ein neues ...« Er verstummte. Eigentlich wollte er »Abenteuer« sagen, doch da er wusste, dass Kitty Carlisle bereits reichlich viele Abenteuer hinter sich hatte - und den Erzählungen nach recht bunte obendrein -, entschied er sich um. »Ein neues Leben begibt. Und mit einem Ehemann halst man sich eine große Verantwortung auf, glaube mir!« Er lachte leise, aber leider allein.
Nun begriff er, dass Kitty ernstlich Angst hatte. Er setzte sich hin, um ihr zu erklären, wie die Zeremonie ablaufen würde, weil er dachte, es könnte helfen, ihre Nerven zu beruhigen. Er war gerade bei dem Teil angelangt, wo das frischvermählte Paar den Kirchenbucheintrag unterzeichnete, da hörte er durchs offene Fenster, dass jemand vor dem Haus ankam.
Kitty sprang auf und blickte hinaus. Als sie sich wieder zum Pfarrer umdrehte, war sie vollends verwandelt. Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten.
»Er ist da! Rian ist hier!«, rief sie aus. »Rian ist hier!« Sie kam quer durchs Zimmer gelaufen, gab Reverend Goodall einen schmatzenden Kuss auf die Wange und rannte zur Tür. Der Reverend blieb sprachlos in dem Korbsessel zurück.
Kitty stürmte die Treppe hinunter, durch den mit blankem Stein gefliesten Flur und zur Vordertür hinaus, wo sie sich in Rians Arme warf. Er fing sie auf, schwang sie herum und drückte sie an sich. »Was ist mit dir?«, fragte er sanft und sah sie an. »Ich dachte, du kommst nicht«, sagte Kitty atemlos und
fühlte, wie sie rot wurde. »Liebste, mich hätten keine zehn Pferde aufgehalten.« »Ich dachte, du hast es dir vielleicht anders überlegt.« Rian küsste sie auf die Nasenspitze. »Mo ghrá, nie war ich mir einer Sache sicherer als dieser.« Kitty lachte laut. »Schön. Dann heiraten wir jetzt, nicht?« Und das taten sie.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167
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Bibliographische Angaben
- Autor: DEBORAH CHALLINOR
- 416 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3955690202
- ISBN-13: 9783955690205
- Erscheinungsdatum: 05.05.2017
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