Du bist in meiner Hand
Vom Schicksal verraten, durch die Liebe gerettet: zwei junge Mädchen in der Gewalt von Menschenhändlern
Ein Tsunami setzt dem glücklichen Leben der beiden Schwestern Ahalya und Sita ein jähes Ende. Die indischen...
Ein Tsunami setzt dem glücklichen Leben der beiden Schwestern Ahalya und Sita ein jähes Ende. Die indischen...
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Produktinformationen zu „Du bist in meiner Hand “
Vom Schicksal verraten, durch die Liebe gerettet: zwei junge Mädchen in der Gewalt von Menschenhändlern
Ein Tsunami setzt dem glücklichen Leben der beiden Schwestern Ahalya und Sita ein jähes Ende. Die indischen Mädchen verlieren ihre gesamte Familie. Bei dem Versuch, in ihr Internat zu kommen, werden die beiden von Mädchenhändlern entführt. In Mumbai erwartet sie ein schreckliches Schicksal: Sie werden an ein Bordell verkauft. Gleichzeitig erlebt der junge Anwalt Thomas, wie ihm sein Leben entgleitet: Ehe kaputt, Karriere im Eimer. Frustriert nimmt er einen Job bei einer NGO in Mumbai an. Dort erfährt er von dem erschütternden Fall der beiden Schwestern. Er setzt alles daran, Ahalya und Sita zu befreien. Doch die Bordellbesitzer pflegen besten Kontakt zu Polizei und Justiz.
Ein Tsunami setzt dem glücklichen Leben der beiden Schwestern Ahalya und Sita ein jähes Ende. Die indischen Mädchen verlieren ihre gesamte Familie. Bei dem Versuch, in ihr Internat zu kommen, werden die beiden von Mädchenhändlern entführt. In Mumbai erwartet sie ein schreckliches Schicksal: Sie werden an ein Bordell verkauft. Gleichzeitig erlebt der junge Anwalt Thomas, wie ihm sein Leben entgleitet: Ehe kaputt, Karriere im Eimer. Frustriert nimmt er einen Job bei einer NGO in Mumbai an. Dort erfährt er von dem erschütternden Fall der beiden Schwestern. Er setzt alles daran, Ahalya und Sita zu befreien. Doch die Bordellbesitzer pflegen besten Kontakt zu Polizei und Justiz.
Lese-Probe zu „Du bist in meiner Hand “
Du bist in meiner Hand von Corban AddisonAus dem Amerikanischen von Birgit Moosmüller
Erster Teil
1
Kinder spielen am Meeresstrand der Welten.
Rabindranath Tagore
Tamil Nadu - Indien
An dem Morgen, als ihre Welt zerbrach, lag das Meer ganz ruhig da. Sie waren Schwestern - Ahalya war siebzehn, Sita zwei Jahre jünger. Wie schon ihre Mutter waren sie Kinder des Meeres. Als ihr Vater, ein Software-Manager, mit der Familie aus den Ebenen von Delhi nach Chennai an der Koromandelküste umgezogen war, hatten Ahalya und Sita es wie eine Heimkehr empfunden. Sie betrachteten das Meer als ihren Freund und Gefährten, nie hätten sie geglaubt, dass es sich gegen sie wenden könnte. Aber sie waren jung und wussten noch wenig von Leid und Schmerz.
Ahalya spürte es, als im Morgengrauen die Erde bebte. Sie warf einen Blick zu Sita, die neben ihr schlief, und wunderte sich, dass ihre Schwester nicht aufwachte. Die Erschütterungen waren heftig, hörten aber schnell wieder auf, und Ahalya fragte sich anschließend, ob sie das Beben nur geträumt hatte. Im Erdgeschoss rührte sich niemand. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, ein Sonntag, und ganz Indien schlief.
Ahalya kuschelte sich wieder in ihre Decke und atmete den süßen Sandelholzduft ein, den das Haar ihrer Schwester verströmte. Ihre Gedanken wanderten zu dem pfauenblauen Salwar Kameez, einem Geschenk ihres Vaters für den bevorstehenden Konzertabend am Konservatorium von Mylapore. In diesen Wochen um den Jahreswechsel war die Madras-Musiksaison in vollem Gange. Ihr Vater hatte ihnen Karten für ein Geigenkonzert besorgt, das an diesem Abend um acht Uhr stattfinden sollte. Ahalya und Sita lernten beide Geige.
... mehr
Allmählich erwachte der Haushalt. Um Viertel nach sieben holte Jaya, die langjährige Haushälterin der Familie, ein kleines Gefäß voll Kalkstaub aus der Kommode am Fußende ihres Bettes und trat damit vor die Haustür. Sie fegte den Eingangsbereich zunächst mit einem steifen Besen, streute anschließend weiße Kalkpunkte auf den Boden und verband diese dann mit eleganten Linien zur Sternform einer Jasminblüte. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, legte sie die Handflächen zum Gebet aneinander und bat Lakshmi, die hinduistische Glücksgöttin, um einen guten Tag. Nachdem sie auf diese Weise das Kolam- Ritual vollzogen hatte, ging sie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Ahalya erwachte erst wieder, als schon helles Sonnenlicht durch die Vorhänge fiel. Sita, die immer früh aufstand, war schon fast fertig angezogen. Ihr tiefschwarzes Haar glänzte, noch feucht von der Dusche. Ahalya sah zu, wie ihre Schwester sich vor dem Spiegel schminkte, und lächelte. Sita war zart gebaut und hatte die feinen Gesichtszüge und großen, ausdrucksvollen Augen ihrer Mutter Ambini geerbt. Für ihr Alter wirkte sie recht schmal, erst die Pubertät würde ihr weiblichere Formen verleihen. Sita selbst war über ihr mädchenhaftes Aussehen weniger glücklich, auch wenn Ahalya und Ambini ihr immer wieder versicherten, dass sich die von ihr herbeigesehnten Veränderungen mit der Zeit ganz von selbst einstellen würden.
Um Sitas Vorsprung wieder wettzumachen und nicht zu spät zum Frühstück zu kommen, schlüpfte Ahalya eilig in einen gelben Churidar, einen Hosenanzug, und schlang sich einen farblich passenden Schal um den Hals.
»Fertig, meine Liebe?«, wandte sich Ahalya auf Englisch an Sita. Im Haushalt der Familie Ghai galt die Regel, dass die Mädchen nur dann Hindi oder Tamil sprechen durften, wenn ein Erwachsener sie in der jeweiligen Sprache anredete. Wie alle Inder der gehobenen Mittelschicht träumten ihre Eltern davon, sie zum Studium nach England zu schicken, am besten nach Oxford oder Cambridge. An dem von Klosterschwestern geführten Internat, das die Mädchen besuchten, wurden neben Englisch auch die Landessprache Hindi und Tamil - die alte, regionale Sprache der Einwohner von Tamil Nadu - unterrichtet, aber die Klosterschwestern bevorzugten Englisch, und die Mädchen widersetzten sich nicht.
»Ja«, seufzte Sita und warf dabei einen unzufriedenen Blick in den Spiegel, »ich schätze schon.«
»Ach, Sita«, schalt Ahalya sie, »mit gerunzelter Stirn wirst du Vikram Pillai aber nicht gefallen.«
Ahalyas Bemerkung zeitigte die gewünschte Wirkung: Beim Gedanken an die abendlichen Pläne der Familie hellte sich Sitas Miene sichtlich auf. Vikram Pillai war ihr Lieblingsgeiger.
»Glaubst du, wir werden Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen? «, fragte Sita. »Die Schlange nach dem Konzert ist immer so lang.«
»Frag Baba«, gab ihr Ahalya zur Antwort. Sie musste an die Überraschung denken, die sie und ihr Vater für Sita geplant hatten - und die sie bis dahin erfolgreich vor ihr geheim gehalten hatten. »Bei seinen Beziehungen kann man nie wissen.«
»Ich frage ihn beim Frühstück.« Mit diesen Worten stürmte Sita zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.
Ahalya lachte leise vor sich hin und folgte ihrer Schwester ins Wohnzimmer. Zusammen vollzogen die Mädchen dort die Puja, das Morgengebet, vor den Familiengöttern Ganesha - dem Elefantengott des Glückes - und Rama - der Inkarnation von Vishnu -, die beide auf einem Altar in einer Ecke des Raumes standen. Wie die meisten Angehörigen der Kaufmannskaste waren die Ghais eher weltlich orientiert und besuchten einen Tempel oder Schrein nur bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie die Götter um einen besonderen Segen baten. Kam jedoch die Großmutter der Mädchen zu Besuch, wurden jedes Mal die Räucherstäbchen angezündet und alle Vorkehrungen für die Puja getroffen, und sämtliche Familienmitglieder nahmen an dem Ritual teil.
Als die Schwestern schließlich das Esszimmer betraten, waren dort bereits ihr Vater Naresh, ihre Mutter und ihre Großmutter zum Frühstück versammelt. Ehe Ahalya und Sita sich setzten, berührten sie in einer traditionellen Respektsbezeigung die Füße ihres Vaters. Naresh lächelte und gab beiden ein Küsschen auf die Wange.
»Guten Morgen, Baba.«
»Guten Morgen, meine Schönen.«
»Baba, kennst du jemanden, der Vikram Pillai kennt?«, fragte Sita.
Naresh sah für einen Moment Ahalya an, ehe er Sita augenzwinkernd zur Antwort gab: »Nach heute Abend bestimmt.«
Sita zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«
Naresh griff in seine Tasche. »Eigentlich wollte ich damit noch bis später warten, aber wenn du mich schon fragst ...« Er zog einen VIP-Ausweis hervor und legte ihn auf den Tisch. »Wir treffen ihn vor dem Konzert.«
Sita sah den Ausweis an und begann zu strahlen. Langsam sank sie auf die Knie und berührte ein zweites Mal den Fuß ihres Vaters.
»Danke, Baba. Kann Ahalya auch mit?«
»Aber natürlich«, antwortete Naresh und legte drei weitere VIP-Ausweise neben den ersten. »Und deine Mutter und Großmutter auch.«
Sitas Blick wanderte von ihrer Schwester zu ihrem Vater, und ihr Lächeln wurde noch ein Stückchen breiter.
Während die beiden Mädchen ihre Plätze einnahmen, wuselte Jaya um sie herum und verteilte die Schüsseln voll Reis, Kokosnuss- Chutney, Masala Dosa - mit Kartoffeln gefüllten Crêpes - und Chapati - Brotfladen - auf dem Tisch.
Als Nachspeise servierte Jaya frisch gepflückte Chickoo - kiwiartige Früchte - und Mysore Pak, eine an Karamellbonbons erinnernde süße Köstlichkeit. Während Ahalya in eine Chickoo schnitt, fiel ihr das Beben vom frühen Morgen wieder ein.
»Baba, hast du das Erdbeben gespürt?«, fragte sie.
»Was für ein Erdbeben?«, erkundigte sich ihre Großmutter.
Naresh musste lachen. »Du Glückliche hast wirklich einen tiefen Schlaf, Naani.« Mit einem beruhigenden Gesichtsausdruck wandte er sich seiner Tochter zu. »Das Beben war heftig, hat aber keinen Schaden angerichtet.«
»Erdbeben verheißen nichts Gutes«, erklärte die alte Frau und umklammerte dabei mit beiden Händen ihre Serviette.
»Sie sind ein wissenschaftliches Phänomen«, stellte Naresh in sanftem Ton richtig, »und dieses war harmlos. Wir brauchen uns deswegen keine Sorgen zu machen.« Er wandte sich wieder Ahalya zu und wechselte das Thema: »Erzähl uns von Schwester Naomi. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, ging es ihr nicht gut.«
Die Familie frühstückte in aller Ruhe weiter, während Ahalya ihrem Vater über die Direktorin von St. Mary's berichtete. Durchs offene Fenster wehte eine kühle Brise herein. Sita wurde allmählich unruhig und bat Naresh, aufstehen zu dürfen. Dann schnappte sie sich ein Stück Mysore Pak und stürmte aus dem Haus in Richtung Strand. Ahalya musste lächeln.
»Darf ich auch schon gehen?«, fragte sie ihren Vater.
Er nickte. »Ich glaube, unsere kleine Überraschung war eine gute Idee.«
»Das denke ich auch«, pflichtete sie ihm bei. Dann schlüpfte sie rasch in ihre Sandalen und folgte ihrer Schwester hinaus in den Sonnenschein.
Gegen zwanzig nach acht waren alle bis auf Jaya und die Großmutter der Mädchen zum Strand aufgebrochen. Das bescheidene Haus der Familie stand auf einem Ufergrundstück, knapp fünfundzwanzig Kilometer südlich von Chennai und etwa anderthalb Kilometer von einem der zahlreichen Fischerdörfer entlang der Küste Tamil Nadus entfernt. Nach indischen Maßstäben handelte es sich um eine ländliche Gegend, und Ambini, die in dicht besiedelten Vierteln von Mylapore groß geworden war, empfand sie als abgelegen. Trotzdem nahm sie das Opfer, so weit weg von der Stadt zu leben, gern in Kauf, wenn ihre Kinder dafür so nahe an der Heimat ihrer Vorfahren aufwuchsen.
Ahalya wanderte den Strand entlang, während Sita auf der Suche nach Muscheln direkt am Rand des Wassers dahinlief. Naresh und Ambini folgten ihnen in einvernehmlichem Schweigen. Die Ghais spazierten nach Norden, in Richtung Fischerdorf. Dabei trafen sie nur auf ein älteres Paar, das still im Sand saß, und zwei Jungen, die mit Kieselsteinen nach den Vögeln warfen. Ansonsten war der Strand menschenleer.
Kurz vor neun fiel Ahalya etwas Seltsames auf: Die Wellen, die vom Wind an den Strand geworfen wurden, klatschten nicht mehr so weit über den Sand wie noch ein paar Minuten zuvor. Während das Mädchen die leichte Brandung beobachtete, schien das Meer vor ihren Augen zurückzuweichen. Schon bald lagen etwa fünfzehn Meter nasser Sand frei. Die beiden Jungen lieferten sich ein Wettrennen über die schlammige Fläche und jauchzten vor Vergnügen, als sie dem entschwindenden Ozean nachjagten. Während Ahalya das Schauspiel mit einem unguten Gefühl beobachtete, wirkte Sita eher neugierig.
»Idhar kya ho raha hai?«, verfiel sie zurück in ihre Muttersprache Hindi. »Was ist da los?«
»Das weiß ich auch nicht so genau«, antwortete Ahalya auf Englisch.
Ahalya sah die Welle als Erste. Erschrocken deutete sie auf eine schmale weiße Linie am Horizont. In weniger als zehn Sekunden wurde die Linie breiter und entpuppte sich als hohe, herandonnernde Flutwelle. Sie kam so schnell näher, dass den Ghais kaum Zeit zum Reagieren blieb. Naresh winkte und rief, doch seine Worte wurden vom hungrigen Donner der Welle verschluckt.
Ahalya griff nach Sitas Hand und zerrte ihre Schwester auf eine Gruppe von Palmen zu, wobei sie im weichen Sand nur mühsam vorankam. Für einen Moment wirbelte brackiges Wasser um ihre Beine, dann war die Welle da und trug sie hoch. Ahalya überschlug sich. Salzwasser strömte ihr in die Nase, verstopfte ihr die Ohren und brannte in ihren Augen.
Während sie zum Licht emporstrebte, hatte sie das Gefühl zu ersticken. Einen Augenblick später durchbrach sie die Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft.
Sie sah eine verschwommene Bewegung, ein Flattern von Farbe - Sitas türkisen Churidar. Sie bekam die Hand ihrer Schwester zu fassen, verlor sie im heftigen Sog der Welle aber sofort wieder. Stattdessen streiften ihre Finger die glatte Rinde einer Palme. Ahalya warf sich dem Baum entgegen und kämpfte mit den Beinen verzweifelt gegen die Strömung an, griff aber erneut ins Leere.
Sie wurde schrecklich herumgewirbelt und sah den Palmen- stamm erst den Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufprall. In ihrem Kopf explodierte der Schmerz, dennoch schlang sie Arme und Beine um den Baum und klammerte sich fest. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie blauen Himmel zwischen den im Wind hin und her wehenden Palmwedeln hindurchschimmern. Um sie herum herrschte eine unheimliche Stille. Ihr Kopf fühlte sich an wie in zwei Hälften gespalten. Es vergingen noch mehrere Sekunden, ehe sich das Meer langsam zurückzog und das Land wieder freigab. Ahalya entdeckte in der Ferne Sitas Gesicht und hörte sie rufen.
»Ahalya, hilf mir!«
Ihr Mund war voller Salzwasser, sie brachte nur ein Wort heraus, nicht mehr als ein Krächzen: »Warte!« Sie spuckte aus und versuchte es erneut: »Warte, Sita! Warte, bis das Wasser sinkt.«
Was es dann auch tat. Endlich.
Ahalya ließ sich langsam am Stamm der Palme hinuntergleiten, bis ihre Füße nassen Boden berührten. Der Churidar hing ihr in Fetzen vom Leib, und Blut lief ihr übers Gesicht. Sie watete über die schlammige Fläche zu Sita und löste deren steife Arme von dem Baumstamm, der sie gerettet hatte. Während sie ihre Schwester beschützend in den Arm nahm, spähte sie durch das Palmenwäldchen in Richtung Strand. Der schreckliche Anblick, der sich dort bot, drang zunächst gar nicht richtig in ihr Bewusstsein. Die Dornbüsche, die den Strand säumten, hatten keine Blätter mehr. Um sie herum trieben dunkle Umrisse auf der Oberfläche des schlammigen Wassers.
Ahalya starrte auf die dunklen Schatten und rang nach Luft. Schlagartig begriff sie.
»Idhar aavo!«, befahl sie Sita auf Hindi. »Komm!«
Sie nahm ihre Schwester an der Hand und führte sie durch das knietiefe Wasser. Der erste Leichnam, auf den sie stießen, war der von Ambini. Ihr Körper war mit Schlamm bedeckt und jeder freiliegende Zentimeter Haut von Dornen durchbohrt. Ihre Augen standen offen, und ihr Gesicht war eine einzige Maske des Grauens.
Der Anblick ihrer Mutter ließ Sita zu Stein erstarren. Sie umklammerte die Hand ihrer großen Schwester so fest, dass diese vor Schmerz aufschrie und sich mit einer heftigen Bewegung aus ihrem Griff befreite. Ahalya sank weinend auf die Knie, während Sita nur fassungslos zu Boden starrte. Erst nach einem langen Augenblick brach auch sie in Schluchzen aus. Sie barg das Gesicht in beiden Händen und begann am ganzen Leib krampfhaft zu zittern.
Ahalya schlang die Arme um ihre Schwester und drückte sie eine Weile an sich. Dann führte sie sie weg von Ambini. Es dauerte nicht lange, bis sie auf einen weiteren Toten stießen, einen von den Jungen aus der Gegend. Sita wurde wieder ganz starr vor Entsetzen, sodass Ahalya sie fast tragen musste, während sie sich durch den Schlamm, der einmal der Strand gewesen war, auf das Haus der Familie zubewegten. Ahalya wusste, dass ihre einzige Hoffnung darin bestand, ihren Vater zu finden.
Wäre Sita nicht gestolpert, hätten sie Nareshs Leichnam vermutlich übersehen. Als Ahalya sich zu ihrer Schwester hinunterbeugte, um ihr aufzuhelfen, bemerkte sie landeinwärts auf den Resten einer Salzwasserlagune einen weiteren dunklen Umriss. Naresh war von der Welle durch den Palmenhain gespült worden und am Rand der Lagune zwischen ein paar Felsblöcken hängen geblieben.
Ahalya zerrte ihre Schwester die kurze Strecke bis zu ihrem Vater. Einen langen Moment starrte sie den Toten fassungslos an. Dann begriff sie allmählich und schluchzte auf. Ihr Vater konnte einfach nicht tot sein; nicht er, der ihr doch so vieles für die Zukunft versprochen hatte.
»Schau«, flüsterte Sita und deutete dabei in Richtung Süden.
Ahalya wischte sich die Tränen aus den Augen und folgte dem Blick ihrer Schwester, hinweg über eine fremde, von der Welle kahl gewaschene Welt. In der Ferne stand ihr Haus. Der Anblick der vertrauten Silhouette überraschte Ahalya ebenso wie die plötzliche Stille ihrer Schwester. Sita hatte zu weinen aufgehört und beide Arme schützend um sich geschlungen. Ahalya sah den gequälten Ausdruck in ihren Augen, dennoch versuchte sie, neuen Mut zu fassen. Vielleicht hatten Jaya oder ihre Großmutter überlebt. Die Vorstellung, dass sie und Sita womöglich ganz allein zurückgeblieben waren, erschien ihr unerträglich.
Mühsam wateten die beiden Mädchen weiter durch die überschwemmte Landschaft auf die Überreste des Gebäudes zu, das fast ein Jahrzehnt lang ihr Zuhause gewesen war. Vor der alles zerstörenden Welle hatte die Landschaft rund um das Haus einem Naturschutzgebiet aus blühenden Gärten und Obstbäumen geglichen. Bald nachdem Naresh mit seiner Familie aus Delhi hergezogen war, hatte er nahe am Haus einen Ashoka-Baum zu Ehren von Sita gepflanzt. Als Kind hatte sie oft unter dem immergrünen Bäumchen gespielt und sich vorgestellt, wie ihre Namenspatronin, die Heldin des indischen Nationalepos Ramayana, von Hanuman, dem edlen Affengott, aus ihrer Gefangenschaft auf der Insel Lanka gerettet wurde. Jetzt waren der Ashoka-Baum und all seine ehemals grünen Gefährten nur noch zerzauste Gerippe: kahle Stämme ohne Blätter, Äste und Blüten.
Sita blieb neben den Resten ihres geliebten Baumes stehen, aber Ahalya zog sie weiter. Die Fenster im Erdgeschoss waren von der Welle herausgerissen worden, und die meisten Möbel trieben nun im überfluteten Hof. Trotzdem wirkte das Gebäude insgesamt intakt. Während die Mädchen sich der weit offen stehenden Haustür näherten, lauschte Ahalya angestrengt nach menschlichen Stimmen, konnte jedoch keine hören. Im Haus war es still wie in einer Krypta.
Beim Betreten der Diele rümpfte Ahalya die Nase, weil die Luft so modrig roch. Als sie einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer warf, sah sie ihre Großmutter mit dem Gesicht nach unten neben einer schlammverkrusteten Couch in der braunen Brühe treiben. Neue Tränen schossen ihr in die Augen, doch inzwischen war sie zu erschöpft zum Weinen. Nachdem sie auf ihren toten Vater gestoßen waren, hatte sie schon halb damit gerechnet, dass ihre Großmutter ebenfalls ums Leben gekommen war.
Ahalya watete durch das Wohnzimmer hinüber in die Küche und betete dabei inständig, Jaya möge überlebt haben. Die Haushälterin hatte bereits vor Ahalyas Geburt zur Familie Ghai gehört.
Als Ahalya nun mit der apathischen Sita im Schlepptau die Küche betrat, fand sie dort ein wüstes Durcheinander vor. Umgefallene Körbe, Behälter mit Reinigungsmitteln, Glasgefäße voller Süßigkeiten, Mangos, Papayas und Kokosnüsse trieben im stehenden Wasser. Unter der Oberfläche lagen Töpfe, Pfannen, Schüsseln und Silberbesteck wie gesunkene Wracks über den Boden verstreut. Von Jaya aber fehlte jede Spur.
Ahalya wollte die Küche bereits wieder verlassen, um im Wohnzimmer weiterzusuchen, als ihr auffiel, dass die Holztür zur Speisekammer einen Spalt offen stand. Sie sah die Hand, bevor ihre Schwester sie entdeckte, und schob die Tür ganz auf. Dort lag die tote Jaya eingekeilt in der Enge der kleinen Kammer. Etwas Friedliches umgab sie. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als schliefe sie nur. Trotzdem war ihre Haut kalt und klamm, als die Mädchen sie berührten.
Das Schwindelgefühl überfiel Ahalya ohne Vorwarnung. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden. Während sie dort im wadentiefen Wasser stand, traf die Wahrheit sie hart wie ein körperlicher Schlag: Sie und Sita waren nun Waisen. Die einzigen lebenden Verwandten, die sie noch hatten, waren Tanten und Cousins und Cousinen im fernen Delhi, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Ahalya gab sich einen Ruck und führte ihre Schwester die Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinauf.
Die Flutwelle war bis über die Treppe gestiegen, sodass auch im ersten Stock eine Schlammschicht den Boden bedeckte, aber die Fenster und Möbel waren unbeschädigt geblieben. Ahalyas ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einziges Ziel: die Tasche, in der sich ihr Handy befand. Wenn sie es schaffte, Schwester Naomi zu erreichen und mit Sita bis in die Klosterschule von St. Mary's in Tiruvallur zu gelangen, waren sie gerettet.
Sie entdeckte ihre Tasche mit dem Handy auf dem Nachttisch und tippte eilig Schwester Naomis Nummer ein. Während das Telefon läutete, hörte sie ein fernes, aus Richtung Osten kommendes Rauschen. Ahalya blickte durch das Fenster auf die mit schlammbraunen Flecken übersäte Fläche des Golfs von Bengalen hinaus und wollte ihren Augen nicht trauen: Eine weitere Wasserwand walzte auf den Strand zu. Binnen weniger Sekunden steigerte sich das Rauschen zu einem grollenden Tosen und übertönte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Hallo? Hallo? Ahalya? Sita?« Ahalya vergaß Schwester Naomi. In ihrer Welt gab es nur noch ihre Schwester und die zweite todbringende Welle.
Die tosenden Wassermassen erreichten das Haus und überfluteten das Erdgeschoss. Das Gebäude bebte und ächzte, während die Welle sich gegen sein Fundament warf. Ahalya schlug die Schlafzimmertür zu und scheuchte Sita aufs Bett. Sie schlang die Arme um ihre zitternde kleine Schwester und fragte sich, ob Shiva beschlossen hatte, die Welt nicht mit Feuer, sondern mit Wasser zu vernichten.
Der Schrecken der zweiten Welle schien kein Ende zu nehmen. Brackiges Wasser quoll durch den Spalt unter der Schlafzimmertür und breitete sich fächerförmig über den Boden aus. Die Schwestern kauerten aneinandergedrängt auf dem Bett, während das Wasser stieg. Plötzlich schien sich das Haus unter ihnen zu bewegen, und der Boden neigte sich. Die Schlafzimmertür flog auf, und braunes Wasser strömte herein. Ahalya kreischte entsetzt auf, während Sita den Kopf im feuchten Stoff von Ahalyas schlammverschmiertem Churidar vergrub. Ahalya schloss die Augen und bat Lakshmi in einem stummen Gebet, ihre Schwester und sie von ihren Sünden freizusprechen und sicher ins nächste Leben zu geleiten.
In ihrem losgelösten Zustand bekam sie kaum mit, dass das Tosen langsam nachließ und schließlich ganz aufhörte. Das Haus hielt auch dann noch stand, als die Strömung die Richtung wechselte und die zweite Flutwelle sich wieder ins Meer zurückzog. Die beiden Schwestern blieben wie versteinert auf dem Bett sitzen. Die verwüstete Welt, die die Welle zurückließ, schien auf unheimliche Weise aller Geräusche beraubt.
»Ahalya?«, flüsterte Sita nach einer ganzen Weile. »Wo sollen wir denn jetzt hin?«
Ahalya blinzelte. Langsam konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Behutsam löste sie sich von ihrer Schwester und spürte das Telefon in ihrer Hand. Mit tauben Fingern tippte sie erneut die vertrauten Zahlen ein.
»Wir müssen nach St. Mary's«, erklärte sie. »Schwester Naomi wird wissen, was zu tun ist.«
»Aber wie sollen wir dorthin kommen?«, fragte Sita ängstlich. »Es ist niemand da, der uns fahren kann.«
Ahalya schloss die Augen und lauschte dem Läuten des Telefons. Schwester Naomi hob ab. Besorgt fragte sie, was denn passiert sei und ob sie sich in Gefahr befänden. Als Ahalya ihr antwortete, schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen. Eine Welle habe sie überrollt, erklärte sie. Ihre Familie sei tot. Sie und Sita hätten überlebt, aber ihr Zuhause sei völlig zerstört.
Ein paar lange Sekunden war in der Leitung nur Rauschen zu hören, dann fand Schwester Naomi ihre Stimme wieder. Sie wies Ahalya an, zur Straße zu gehen und sich von einem Nachbarn nach Chennai mitnehmen zu lassen.
»Steigt nur bei jemandem ein, dem ihr vertraut«, mahnte sie. »Wir erwarten euch.«
Nachdem Ahalya das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich an Sita. »Wir müssen jemanden mit einem Wagen finden. Komm, wir brauchen etwas Trockenes zum Anziehen.«
Sie führte ihre Schwester zu einer Kommode hinüber, half ihr, die nassen, schmutzigen Sachen auszuziehen, und reichte ihr einen sauberen Churidar. Sie selbst zog sich ebenfalls um. Anschließend trat sie in der Hoffnung, sich das Gesicht waschen zu können, ans Waschbecken, doch es kam kein Wasser. Sie würden sich erst waschen können, wenn sie St. Mary's erreichten.
Sita war schon auf dem Weg zur Tür, doch Ahalya hielt noch einmal inne, um ein Foto vom Schreibtisch zu holen. Es zeigte die Familie Ghai an Weihnachten vor einem Jahr. Sie löste das Foto aus seinem Rahmen und schob es unter den Bund ihres Churidars. Dann griff sie nach einem kleinen Holzkästchen und steckte es zusammen mit ihrem Handy in einen Stoffbeutel. In dem Kästchen befand sich der Goldschmuck, den die beiden Schwestern im Lauf der Jahre geschenkt bekommen hatten. Ahalya warf einen letzten Blick in den Raum und nickte ihm zum Abschied zu. Alles andere würde sie zurücklassen.
Die Schwestern gingen die Treppe hinunter und wateten durch die Diele hinaus in den Vorhof. Draußen brannte die Sonne vom Himmel. Das stehende Wasser, das die zweite Welle hinterlassen hatte, roch bereits nach totem Fisch. Ahalya führte Sita um die Rückseite des halb zerstörten Hauses, hinaus auf die Straße. Die zwei Autos der Familie, die vor der Flut in der Zufahrt gestanden hatten, waren nirgendwo zu sehen. Ahalya überlegte, ob sie einen letzten Blick auf das Haus werfen sollte, widerstand jedoch der Versuchung. Die zerstörte Welt um sie war nicht mehr das Zuhause, das sie gekannt hatten. Ihre frühere Welt gab es jetzt nur noch in ihrer Erinnerung.
Als sie die Hauptstraße erreichten, sahen sie, dass sie über und über mit dem angeschwemmten Holz aus dem Palmenhain übersät war. Ahalya spürte einen Anflug von Panik. Wer würde sich unter solchen Bedingungen auf die Straße wagen? Aber dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht jemand aus dem Fischerdorf mitnehmen konnte. Sie wusste, dass ihre Chancen nicht gut standen. Die meisten Dorfbewohner lebten in Strandhütten, die von den Wellen vermutlich völlig zerstört worden waren. Trotzdem würden diejenigen, die überlebt hatten, Lebensmittel und Hilfe aus Chennai brauchen. Früher oder später musste sich jemand aus dem Dorf auf den Weg dorthin machen.
Schweigend gingen die Schwestern Seite an Seite dahin. Sie legten fast anderthalb Kilometer zurück, ohne irgendein Anzeichen von Leben zu entdecken. Die ganze Bodenvegetation war weggespült, sodass die Erde zu beiden Seiten des Asphalts nackt und trostlos wirkte. Als die beiden Mädchen schließlich den Rand des Fischerdorfs erreichten, schwitzten sie bereits heftig und hatten großen Durst. Selbst im Winter brannte die südindische Sonne gnadenlos vom Himmel.
Ahalya führte ihre Schwester die Straße entlang, die zum Meer hinunter verlief. Als sie sich dem Strand näherten, sahen sie einen Mann in einem schlammverschmierten weißen Hemd - einem Lungi - auf sich zukommen. In seinen Armen hielt er ein Kind. Hinter dem Mann folgte eine traurige Prozession weiterer Fischer, von denen die meisten Palmkörbe auf dem Kopf und bunte Säcke auf den Schultern trugen.
Der Mann blieb vor Ahalya stehen. »Vanakkam«, grüßte sie auf die übliche Weise. »Wohin geht ihr?«
Der Mann war so aufgelöst, dass er ihre Frage gar nicht zur Kenntnis nahm. Stattdessen fuchtelte er mit einem Arm wild in der Luft herum und berichtete ihr von den Wellen.
»Ich war mit meinem Boot draußen«, erklärte er, »und habe überhaupt nichts davon mitbekommen. Bei meiner Rückkehr war alles weg. Meine Frau, meine Kinder ...« Er drehte sich um und machte eine ausladende Handbewegung, die seine zerlumpte Gefolgschaft mit einschloss. »Nur wir sind übrig geblieben. «
Ahalya spürte den Kummer des Mannes und stählte sich zugleich gegen ihren eigenen, indem sie sich auf die vor ihnen liegenden Probleme konzentrierte.
»Euer Dorfoberhaupt hat doch einen Lieferwagen«, sagte sie. »Wo ist der?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Kaputt.«
»Und euer Trinkwasser? Bestimmt habt ihr noch volle Fässer aus der Monsunzeit.«
»Die hat es alle weggespült.«
»Wohin geht ihr?«, fragte sie erneut.
»Nach Mahabalipuram«, antwortete der Mann. »Wir haben dort Verwandte.«
Nur mit Mühe konnte Ahalya ihre Enttäuschung verbergen. Mahabalipuram lag acht Kilometer in die falsche Richtung. »Wir müssen nach Chennai.«
Der Mann sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Das schafft ihr nie.«
Ahalya entgegnete trotzig: »Und ob wir das schaffen!«
Die Schwestern begleiteten die Dorfbewohner zurück zur Hauptstraße, wo sich ihre Wege trennten.
»Wir sollten nach Kovallam gehen«, meldete sich Sita leise zu Wort. »Vielleicht kommen wir von dort mit einem Bus weiter.«
Ahalya nickte. Kovallam war ein größeres Fischerdorf, das gut drei Kilometer in nördlicher Richtung lag. Selbst wenn sie dort keinen Bus fanden, war sie ziemlich sicher, dass sie auf dem Markt von Kovallam zumindest Trinkwasser bekommen würden. Erst einmal brauchten sie etwas zu trinken, alles Weitere würde sich dann zeigen.
In der tropischen Hitze ging es nur langsam voran. Hin und wieder brachte eine Brise vom Ozean etwas Erfrischung. Ansonsten war ihr Fußmarsch eintönig und qualvoll. Ihre nassen, sandverkrusteten Sandalen sorgten dafür, dass ihre Füße bald wund gescheuert waren.
Als sie Kovallam schließlich erreichten, waren beide beinahe am Ende ihrer Kräfte. Am Stand der Sonne schätzte Ahalya, dass es mittlerweile fast elf Uhr war. Wenn nicht irgendein Glücksfall eintrat, hatten sie kaum eine Chance, die Klosterschule vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Im Dorf Kovallam ging es zu wie in einem Bienenstock. Ochsenkarren und andere hölzerne Gefährte drängten sich mit Autos und Fußgängern auf den engen, vom Wasser noch feuchten Straßen. Ahalya hielt eine alte Frau in einem schlammverkrusteten Sari an und fragte sie nach einem Bus in Richtung Chennai, doch die Frau war vor Kummer völlig außer sich.
»Mein Sohn«, rief sie, »er war am Strand! Habt ihr ihn gesehen? «
Ahalya schüttelte bedauernd den Kopf und wandte sich dann ab. Als Nächstes bat sie einen Mann, der einen Korb mit reifen Bananen trug, um Hilfe, aber er starrte sie nur mit leerem Blick an. Ein anderer Mann, der einen mit Trauben beladenen Handkarren hinter sich herzog, reagierte mit einem kurzen Kopfschütteln.
»Wisst ihr denn nicht, was hier passiert ist?«, fügte er hinzu und spuckte einen Schwall Betelsaft auf die Straße. »Kein Mensch kann sagen, ob die Busse überhaupt noch fahren.«
Ahalya kämpfte gegen eine plötzliche Woge der Verzweiflung an. Sie musste Ruhe bewahren, sonst würde sie vielleicht eine vorschnelle Entscheidung treffen und sie beide in Gefahr bringen.
Sie führte Sita in den Markt von Kovallam hinein. Wie erwartet waren nur bei ein paar Ständen die Rollläden hochgezogen. Sie fragte einen Zuckerrohrverkäufer, ob er eine Flasche Wasser entbehren könne. Sie bemühte sich um ihr nettestes Lächeln, während sie ihm erklärte, dass die Welle ihre Börse fortgespült habe und sie deshalb nicht über Geld verfüge. Der Verkäufer musterte sie ohne jedes Mitgefühl.
»Hier müssen alle bezahlen«, entgegnete er schroff. »Wir haben nichts zu verschenken.«
Ahalya griff wieder nach Sitas Hand und steuerte auf einen Gemüseverkäufer zu. Sie schilderte ihm ihre Lage, woraufhin ihr der Mann voller Mitgefühl zwei Flaschen Wasser reichte und ihnen ein Fleckchen Schatten unter einem Sonnenschirm anbot.
»Nandri«, sagte Ahalya, die das Wasser dankbar entgegennahm und sofort eine Flasche an Sita weiterreichte. »Danke.«
Die Mädchen tranken durstig. Nachdem Sita ihre Flasche geleert hatte, lehnte sie den Kopf an Ahalyas Schulter und döste ein wenig vor sich hin. Ahalya dagegen widerstand dem Drang zu schlafen und ließ den Blick über den Markt schweifen, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht. Ihr Vater kannte in Kovallam etliche Männer, an deren Namen sie sich jedoch nicht erinnern konnte.
Als sie auch nach einiger Zeit niemanden sah, der ihr bekannt vorgekommen wäre, überlegte sie, wie viel der Schmuck in ihrem Beutel auf der Straße wohl wert war. Wie viel würde es kosten, sich von einem Fahrer nach Chennai bringen zu lassen? Ihre Intuition riet ihr, lieber kein Taxi zu nehmen, aber bisher hatte sie keine Busse durch den Markt fahren sehen, und sie bezweifelte, dass an diesem Nachmittag überhaupt einer die Fahrt in die gewünschte Richtung antreten würde. Zu Fuß hatten Sita und sie keine Chance, es bis nach Chennai zu schaffen, zumindest nicht im Lauf des Nachmittags, und sie kannte keinen Ort außerhalb der Stadt, wo sie die Nacht in Sicherheit verbringen konnten.
Die Mädchen ruhten sich über eine Stunde lang im Schatten des Sonnenschirms aus. Sita rührte sich nicht, und auch Ahalya schlief schließlich ein. Als sie wieder aufwachte, stellte sie fest, dass die Sonne ihren Zenit bereits überschritten hatte. Sie musste bald eine Entscheidung treffen.
Sie wandte sich dem Verkäufer zu, um ihn wegen eines Fahrers zu fragen, aber in dem Moment sprang ihr ein Gesicht in der Menge ins Auge, das ihr bekannt vorkam. Sie hatte es schon einmal gesehen, und zwar bei einem abendlichen Empfang, zu dem sie ihren Vater im Frühjahr begleitet hatten. Der Mann hatte ihren Vater herzlich begrüßt, und ihr Vater hatte entsprechend reagiert. Ahalya konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern, vergaß aber nie ein Gesicht.
Sie kniff Sita leicht in den Arm, um sie zu wecken. Nachdem sie ihrer Schwester eingeschärft hatte, sich ja nicht von der Stelle zu rühren, schlängelte sie sich zwischen Kühen, Autos und Rikschas hindurch auf den Mann zu.
»Sir«, sprach sie ihn auf Englisch an, »ich bin Ahalya Ghai. Naresh Ghai ist mein Vater. Erinnern Sie sich an mich?«
Der Mann sah sie einen Moment fragend an, dann zog sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber natürlich«, antwortete er in steifem Englisch. »Ich bin Ramesh Narayanan. Wir haben uns bei einem Treffen der Historischen Gesellschaft von Tamil kennengelernt. « Verwundert sah er sie an. »Was machst du hier? Bist du mit deinem Vater unterwegs?«
Die Frage versetzte Ahalya einen Stich mitten ins Herz. Sie sammelte sich kurz, dann erzählte sie ihm stockend die schreckliche Wahrheit über ihre Familie.
Während sie berichtete, wich das Blut aus Rameshs Gesicht. Ihm war anzusehen, dass er krampfhaft nach den richtigen Worten suchte. Schließlich fragte er nur: »Wo ist deine Schwester? «
Ahalya deutete auf den Stand des Gemüseverkäufers. »Wir sind unterwegs zu unserer Klosterschule in Tiruvallur. Die Nonnen werden sich um uns kümmern.«
Rameshs Blick wanderte zwischen Ahalya und Sita hin und her. »Ihr werdet eine Mitfahrgelegenheit brauchen.«
Ahalya nickte. »Bis hierher sind wir zu Fuß gegangen, aber Sita ist schon sehr müde.«
Ramesh schürzte die Lippen. »Dann seid ihr in der gleichen Lage wie ich. Der Bus, mit dem ich gekommen bin, fährt nicht mehr. Ich versuche schon die ganze Zeit, einen Fahrer aufzutreiben, der mich zurück nach Chennai bringt.« Er hielt einen Moment inne und bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern, dass ihr bei Einbruch der Nacht in Tiruvallur seid. Das ist das Mindeste, was ich für die Töchter von Naresh Ghai tun kann.«
Ahalya war schier überwältigt vor Erleichterung.
»Warte bei deiner Schwester«, wies Ramesh sie an. »Ich komme euch holen, sobald ich kann.«
Nach einiger Zeit kehrte Ramesh mit einem drahtigen Mann zurück, der über einer khakigrünen Hose ein weites, Kurta genanntes Hemd trug. Der Mann hatte eingefallene Wangen, kalte Augen und eine Narbe am Kinn. Nach einem Blick auf die Schwestern nickte er Ramesh zu. Ahalya verspürte gegenüber dem narbengesichtigen Mann ein instinktives Misstrauen, hatte aber keine andere Wahl, als Rameshs Hilfe anzunehmen.
»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Sita mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Ramesh antwortete ihr: »Dieser Mann - er heißt Kanan - hat einen Lieferwagen mit Vierradantrieb. Er ist der einzige Mensch in ganz Kovallam, der bereit ist, sich nach den Wellen noch auf die Straße zu wagen, noch dazu zu einem erstaunlich fairen Preis. Wir können uns glücklich schätzen, ihn gefunden zu haben.«
Ahalya nahm ihre Schwester an der Hand. »Keine Angst«, meinte sie beruhigend.
Sie folgten Kanan über den Marktplatz bis zu einer mit bunten Stoffen geschmückten Gasse. Der Wagen - ein staubiger blauer Toyota - hatte schon bessere Tage gesehen. Unter dem Vorwand, sie bekomme leicht Platzangst, lehnte Ahalya Rameshs Angebot ab, sich mit Sita nach vorn neben den Fahrer zu setzen, und gab ihrer Schwester ein Zeichen, auf die Ladefläche zu klettern. Die Vorstellung, so nahe bei dem narbengesichtigen Mann zu sitzen, war ihr höchst unangenehm.
Kanan ließ den Motor an und legte den Gang ein, dann setzte er den Wagen mit einem Ruck in Bewegung. Nachdem sie sich durch die Straßen von Kovallam gekämpft hatten, nahm Kanan die Schnellstraße in Richtung Chennai.
Die Wellen hatten die landschaftlich vorher so schöne Küstenebene in einen schlammigen Sumpf verwandelt und die Straße in eine Schlickfläche mit einer schnell austrocknenden Sandkruste, die das Vorankommen des Wagens erschwerte. Obwohl hier kaum andere Fahrzeuge unterwegs waren, brauchten sie eine ganze Stunde, um Neelankarai zu erreichen, den südlichsten Vorort von Chennai, und eine weitere Stunde bis nach Thiruvanmiyur, das knapp drei Kilometer vom Fluss Adyar entfernt lag. Die Wellen hatten viele der Gebäude entlang der Küste zerstört, Straßen überflutet, Autos umgeworfen und ganze Flotten von Fischerbooten an Land gespült. Die East Coast Road war voller Fußgänger, und der Verkehr bewegte sich in Schrittgeschwindigkeit.
Knapp einen Kilometer vor dem Flussdelta kam der Verkehr gänzlich zum Erliegen. Lautes Gehupe brach los, und die Fahrer stießen wilde Flüche aus, doch nichts ging vorwärts. Nach zehn frustrierenden Minuten legte Kanan den Rückwärtsgang ein und fuhr auf einer landeinwärts verlaufenden Straße in Richtung Thomasberg. Als sie schließlich bei Saidapet den Fluss überquerten, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Die Durchgangsstraßen nördlich des Flusses hatten allem Anschein nach keinen Schaden genommen.
Ihr Fahrer bog nach Osten in Richtung Mylapore und der Küste ab. Das Gewimmel von Autos, Lieferwagen, Bussen, Fahrrädern und Rikschas spendete Ahalya ein klein wenig Trost. Sie warf Sita einen aufmunternden Blick zu.
»Bald sind wir da«, bemerkte sie mit einem Lächeln, das ihre Schwester jedoch unerwidert ließ.
»Wie wird es mit uns weitergehen?«, fragte Sita.
»Das weiß ich auch nicht«, gestand Ahalya.
Erneut kämpfte sie gegen den großen Kummer an, der unaufhörlich an ihrem Herzen zerrte, doch dieses Mal war der Druck zu groß. Tränen brannten ihr in den Augen und liefen ihr übers Gesicht. Während sie Sita in den Arm nahm, versprach sie im Stillen Lakshmi, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um ihre Schwester zu beschützen. Sie würde ihr wie eine Mutter sein und sämtliche Opfer bringen, die nötig waren, damit Sita eines Tages ein neues Leben beginnen konnte. Von nun an trug sie für ihre Schwester die Verantwortung.
Sie durfte nicht versagen.
Kurz vor sechs Uhr abends kam der Wegen neben einem exklusiv wirkenden Wohnkomplex zum Stehen. Auf die von Bäumen gesäumte Straße fielen bereits lange Schatten, bald würde die Sonne untergehen. Ramesh stieg aus, strich sein Hemd glatt und lächelte die Mädchen mitfühlend an.
»Ich bedauere sehr, dass ich euch nicht die ganze Strecke bis nach Tiruvallur begleiten kann«, erklärte er, »aber ich habe heute Abend einen Termin in Chennai. Ich habe Kanan dafür bezahlt, dass er euch den Rest des Weges fährt.«
Er reichte Ahalya eine Visitenkarte mit seiner Handynummer. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ihr eure Familie verloren habt. Solltet ihr jemals Hilfe brauchen, dann ruft mich an.« Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich von ihnen.
Kanan sprach kein Wort mit den Schwestern, nachdem Ramesh sie verlassen hatte. Er telefonierte kurz auf seinem Handy, wendete dann den Wagen und fuhr nach Nordwesten, in Richtung Stadtmitte. Sie überquerten den Fluss Kuvam und bogen nach links auf eine der größeren Durchgangsstraßen ab. Kanan steuerte den Wagen durch den dichten Verkehr in Richtung der westlichen Vororte.
Alles sah gut aus, bis sie die Kreuzung an der Jawaharlal Nehru Road erreichten. Abrupt bog Kanan plötzlich nach links in ein Industriegebiet ab.
»Neengal enna seigirirgal?«, fragte ihn Ahalya, während sie an die Scheibe klopfte, die die Ladefläche vom Führerhaus trennte. »Was tun Sie denn da?«
Ohne ihr die geringste Beachtung zu schenken, fuhr Kanan schnell die Schotterstraße entlang. Inzwischen befanden sie sich in einem Viertel mit heruntergekommenen Wohnungen. Rundherum wimmelte es nur so von verdreckten Kindern und räudigen Hunden. In dunklen Hauseingängen standen rauchende Männer, und hin und wieder sah Ahalya auf einer schmalen Terrasse ein älteres Paar, das schweigend nebeneinandersaß. Dies hier war ein Ort, wo die Menschen seit Generationen ein Leben am Rande der Gesellschaft fristeten - ein Ort, wo die Leute wegsahen und keine Fragen stellten. Hier würde ihnen niemand zu Hilfe kommen, wenn sie schrie. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Kanan war kein vertrauenswürdiger Mensch.
Sie fasste in ihren Beutel, um ihr Handy herauszuholen. Ausgerechnet in dem Moment stieg Kanan auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem Ahalya das Handy hastig in ihrem Churidar versteckt hatte, blickte sie sich um. Der Wagen stand am Ende einer Reihe schäbiger Wohnungen. Über ihnen ragte eine hohe Steinmauer auf. Die Ecke war schlecht beleuchtet, und abgesehen von drei Männern, die in dem schwachen Licht beieinanderstanden, konnte Ahalya keine Menschenseele entdecken. Die Männer traten an die Ladefläche, und der jüngste von ihnen stieg hinauf.
Er beugte sich zu den Mädchen hinunter. »Ihr habt von uns nichts zu befürchten«, erklärte er. »Wenn ihr brav macht, was wir euch sagen, tun wir euch nichts.« Sein Blick fiel auf Ahalyas Beutel. »Was haben wir denn hier?«, fragte er und griff danach.
Ahalya hielt die Tasche fest. Ohne zu zögern schlug ihr der junge Mann mit dem Handrücken ins Gesicht - so fest, dass ihr die Wange brannte und sie Blut auf der Lippe schmeckte. Neben ihr brach Sita in erschrockenes Wimmern aus. Der brutale Schlag war so plötzlich und überraschend gekommen. Ahalya ließ die Tasche los.
Der junge Mann leerte ihren Inhalt auf die Ladefläche, griff nach dem Holzkästchen und öffnete den Verschluss. Der Schmuck funkelte im Lichtschein einer Straßenlampe.
»Kanan, du alter Halunke!«, rief er triumphierend, während er eine von Sitas Halsketten hochhielt. »Sieh mal, was du uns da gebracht hast! Du musst von Ganesha gesegnet sein.«
»Umso besser«, wandte sich Kanan an einen fetten Mann mit pockennarbigem Gesicht, »dann könnt ihr meine Provision gleich verdoppeln.« Der Fette verzog das Gesicht, woraufhin Kanan sofort einen Rückzieher machte. »Schon gut, schon gut, verdoppeln wäre zu viel. Gebt mir das Eineinhalbfache.«
»In Ordnung«, antwortete der fette Mann und blätterte ihm die Scheine hin. »Und jetzt verschwinde.«
Nachdem der junge Mann die Mädchen angewiesen hatte, von der Ladefläche zu steigen, sprang Kanan zurück in sein Führerhaus, ließ den Motor an und düste in einer Staubwolke davon.
Der junge Mann nahm Sita am Arm, während der fette Ahalya nicht von der Seite wich. Der Dritte im Bunde, ein Brille tragender Mann mit einer silbernen Armbanduhr, trödelte hinter ihnen her. Ahalyas Herz klopfte wie wild, als die Männer sie in einen dunklen Gang und dann eine Treppe hinaufführten. Die Tür zu einer Wohnung stand offen. Über der Tür war ein Hamsa-Glücksbringer aufgehängt, als Talisman gegen den bösen Blick.
Die Männer scheuchten die Mädchen ins Wohnzimmer, wo eine übergewichtige Frau auf der Couch saß und fernsah. Sie blickte nur kurz zu den Mädchen auf, ehe sie sich wieder ihrer Sendung zuwandte. Der junge und der fette Mann verabschiedeten sich per Handschlag von dem Brillenträger, den sie Chako nannten. Dabei sprach der fette Mann kurz mit Chako, aber so leise, dass Ahalya nichts verstand außer der Ankündigung des fetten Mannes, am Morgen wiederzukommen.
Nachdem Chako sich von den anderen verabschiedet hatte, schloss er die Tür und legte zwei Riegel vor. Anschließend wandte er sich mit ausdrucksloser Miene an die Mädchen.
»Habt ihr Hunger?«, fragte er.
Ahalyas Magen knurrte. Der Gedanke an Essen war ihr in den letzten Stunden überhaupt nicht gekommen. Sie wechselte einen Blick mit Sita, ehe sie Chakos Frage mit einem Nicken beantwortete. Chako drehte sich zu der Frau um und richtete in Tamil einen harschen Befehl an sie, woraufhin die Frau sich von der Couch erhob, den Mädchen einen gereizten Blick zuwarf und in Richtung Küche davonstapfte.
Wenige Minuten später tauchte sie mit zwei dampfenden Tellern Reis und Kichererbsen-Kartoffel-Chutney sowie einem Krug Wasser wieder auf. Heißhungrig schlangen die Schwestern das Essen hinunter. Es war zu stark gewürzt und das Wasser lauwarm und ungefiltert, aber das war Ahalya längst egal. Sie mussten den rechten Augenblick abwarten, bis sie allein waren und sie Schwester Naomi anrufen konnte.
Nach dem Essen befahl Chako den Mädchen, sich zu seiner Frau auf die Couch zu setzen. Er selbst ließ sich nicht weit von ihnen entfernt in einem Sessel nieder. Chakos Frau verfolgte gebannt eine Talkshow, die die Mädchen nie hatten sehen dürfen. Der prominente Gast war eine tamilische Schauspielerin, und das Gespräch drehte sich um ihren neuesten Film, ein schwülstiges Drama, das inmitten des Bürgerkriegs in Sri Lanka spielte.
Ahalya saß in stummer Fassungslosigkeit neben ihrer Schwester. Binnen eines einzigen Tages waren alle ihre Familienangehörigen vom Meer getötet und Sita und sie entführt worden. Was hatten Chako und seine Frau mit ihnen vor? Waren andere Mädchen auch schon hier eingesperrt gewesen, oder waren sie die ersten? Ahalya fiel ein, dass Kanan von dem fetten Mann eine Provision ausbezahlt bekommen hatte, was darauf hindeutete, dass sie das schon öfter gemacht hatten. Aber aus welchem Grund?
Die Talkshow dauerte eine Stunde. Danach schaltete Chako auf einen internationalen Nachrichtensender um. Ahalya und Sita richteten sich auf und verfolgten gebannt den Bericht über die Verwüstungen, die riesige Flutwellen an der Küste des Indischen Ozeans angerichtet hatten. Verwaiste Babys schrien auf den Armen von Helfern, Frauen schluchzten vor laufender Kamera, und ganze Dörfer lagen verwüstet da, niedergewalzt von einer Wasserwand, die ohne Vorwarnung über sie hereingebrochen war.
Dem Nachrichtensprecher zufolge war der Tsunami durch ein heftiges Erdbeben vor der Küste Indonesiens ausgelöst worden. Eine Reihe durch das Beben verursachter Wellen hatten sich mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets vom Epizentrum ausgebreitet. Binnen einer Zeitspanne von weniger als drei Stunden hatte der Tsunami dafür gesorgt, dass nun Tausende von Menschen, die über die Gefahr nicht informiert worden waren, tot an den Küsten von Indonesien, Thailand, Malaysia, Sri Lanka, Indien und der Andamanen und Nikobaren lagen. Der Sender brachte Schätzungen zur Zahl der Todesopfer. Einige gingen davon aus, dass insgesamt etwa fünfzigtausend Menschen ums Leben gekommen waren, andere rechneten mit fünfmal so vielen Toten. Das Ausmaß der Katastrophe war unvorstellbar.
Sie verfolgten die Berichte bis zehn Uhr. Als Chako schließlich den Fernseher ausschaltete, führte er Ahalya und Sita in ein kleines, mit zwei Betten und einem Schreibtisch ausgestattetes Zimmer. Er teilte den Schwestern mit, dass sie zusammen in dem einen Bett und er und seine Frau in dem anderen schlafen würden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich ein Fenster, das mit rostenden Jalousien und Eisenstangen versehen war.
Ein paar Minuten später kam Chakos Frau herein. Sie trug bereits ihr Nachthemd und hatte ein Glas Wasser und zwei kleine Pillen dabei. Chako erklärte den Mädchen, dass die Pillen ihnen beim Einschlafen helfen sollten. Ahalya überlegte fieberhaft. Geistesgegenwärtig beschloss sie, die Pille heimlich unter die Zunge zu klemmen und nur das Wasser zu schlucken. Ihr Telefon steckte immer noch in ihrem Hosenbund. Sie hatte vor, es zu benutzen, sobald alle eingeschlafen waren. Chakos Frau aber wühlte mit dem Zeigefinger in ihrem Mund herum und entdeckte ihre List.
»Dummes Gör«, fauchte die Frau, während sie Ahalya einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, »du weißt wohl nicht, was gut für dich ist!« Sie schob Ahalya die Pille erneut in den Mund und zwang sie, sie zu schlucken.
Chako warf einen Blick auf seine funkelnde Uhr und wünschte den Schwestern eine gute Nacht. Nachdem er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen hatte, drehte er mit einem hörbaren Klicken den Schlüssel im Schloss um. Seine Frau ließ sich auf dem Bett nieder, das näher am Fenster stand, und fixierte Ahalya mit finsterem Blick.
»Ihr kommt hier nicht raus«, erklärte sie. »Versucht es lieber nicht, sonst kommt Chako mit einem Messer. Andere haben es schon auf die harte Tour gelernt. Und stört ja nicht meinen Schlaf.«
Ahalya und Sita legten sich nebeneinander aufs Bett. Sita weinte leise ins Laken, bis sie allmählich in den Schlaf hinüberglitt. In dem verzweifelten Versuch, die unsichtbaren Mächte fernzuhalten, die ihre Welt in einen Albtraum verwandelt hatten, schlang Ahalya die Arme schützend um ihre Schwester. Während das Beruhigungsmittel langsam zu wirken begann, kämpfte Ahalya gegen den Schlaf an, doch das Medikament verwirrte ihr die Sinne und ließ ihre Augenlider immer schwerer werden.
Mit letzter Kraft schob sie ihr Handy noch tiefer in ihren Churidar. Dann erlahmte ihre Gegenwehr, und sie verlor das Bewusstsein.
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Allmählich erwachte der Haushalt. Um Viertel nach sieben holte Jaya, die langjährige Haushälterin der Familie, ein kleines Gefäß voll Kalkstaub aus der Kommode am Fußende ihres Bettes und trat damit vor die Haustür. Sie fegte den Eingangsbereich zunächst mit einem steifen Besen, streute anschließend weiße Kalkpunkte auf den Boden und verband diese dann mit eleganten Linien zur Sternform einer Jasminblüte. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, legte sie die Handflächen zum Gebet aneinander und bat Lakshmi, die hinduistische Glücksgöttin, um einen guten Tag. Nachdem sie auf diese Weise das Kolam- Ritual vollzogen hatte, ging sie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Ahalya erwachte erst wieder, als schon helles Sonnenlicht durch die Vorhänge fiel. Sita, die immer früh aufstand, war schon fast fertig angezogen. Ihr tiefschwarzes Haar glänzte, noch feucht von der Dusche. Ahalya sah zu, wie ihre Schwester sich vor dem Spiegel schminkte, und lächelte. Sita war zart gebaut und hatte die feinen Gesichtszüge und großen, ausdrucksvollen Augen ihrer Mutter Ambini geerbt. Für ihr Alter wirkte sie recht schmal, erst die Pubertät würde ihr weiblichere Formen verleihen. Sita selbst war über ihr mädchenhaftes Aussehen weniger glücklich, auch wenn Ahalya und Ambini ihr immer wieder versicherten, dass sich die von ihr herbeigesehnten Veränderungen mit der Zeit ganz von selbst einstellen würden.
Um Sitas Vorsprung wieder wettzumachen und nicht zu spät zum Frühstück zu kommen, schlüpfte Ahalya eilig in einen gelben Churidar, einen Hosenanzug, und schlang sich einen farblich passenden Schal um den Hals.
»Fertig, meine Liebe?«, wandte sich Ahalya auf Englisch an Sita. Im Haushalt der Familie Ghai galt die Regel, dass die Mädchen nur dann Hindi oder Tamil sprechen durften, wenn ein Erwachsener sie in der jeweiligen Sprache anredete. Wie alle Inder der gehobenen Mittelschicht träumten ihre Eltern davon, sie zum Studium nach England zu schicken, am besten nach Oxford oder Cambridge. An dem von Klosterschwestern geführten Internat, das die Mädchen besuchten, wurden neben Englisch auch die Landessprache Hindi und Tamil - die alte, regionale Sprache der Einwohner von Tamil Nadu - unterrichtet, aber die Klosterschwestern bevorzugten Englisch, und die Mädchen widersetzten sich nicht.
»Ja«, seufzte Sita und warf dabei einen unzufriedenen Blick in den Spiegel, »ich schätze schon.«
»Ach, Sita«, schalt Ahalya sie, »mit gerunzelter Stirn wirst du Vikram Pillai aber nicht gefallen.«
Ahalyas Bemerkung zeitigte die gewünschte Wirkung: Beim Gedanken an die abendlichen Pläne der Familie hellte sich Sitas Miene sichtlich auf. Vikram Pillai war ihr Lieblingsgeiger.
»Glaubst du, wir werden Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen? «, fragte Sita. »Die Schlange nach dem Konzert ist immer so lang.«
»Frag Baba«, gab ihr Ahalya zur Antwort. Sie musste an die Überraschung denken, die sie und ihr Vater für Sita geplant hatten - und die sie bis dahin erfolgreich vor ihr geheim gehalten hatten. »Bei seinen Beziehungen kann man nie wissen.«
»Ich frage ihn beim Frühstück.« Mit diesen Worten stürmte Sita zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.
Ahalya lachte leise vor sich hin und folgte ihrer Schwester ins Wohnzimmer. Zusammen vollzogen die Mädchen dort die Puja, das Morgengebet, vor den Familiengöttern Ganesha - dem Elefantengott des Glückes - und Rama - der Inkarnation von Vishnu -, die beide auf einem Altar in einer Ecke des Raumes standen. Wie die meisten Angehörigen der Kaufmannskaste waren die Ghais eher weltlich orientiert und besuchten einen Tempel oder Schrein nur bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie die Götter um einen besonderen Segen baten. Kam jedoch die Großmutter der Mädchen zu Besuch, wurden jedes Mal die Räucherstäbchen angezündet und alle Vorkehrungen für die Puja getroffen, und sämtliche Familienmitglieder nahmen an dem Ritual teil.
Als die Schwestern schließlich das Esszimmer betraten, waren dort bereits ihr Vater Naresh, ihre Mutter und ihre Großmutter zum Frühstück versammelt. Ehe Ahalya und Sita sich setzten, berührten sie in einer traditionellen Respektsbezeigung die Füße ihres Vaters. Naresh lächelte und gab beiden ein Küsschen auf die Wange.
»Guten Morgen, Baba.«
»Guten Morgen, meine Schönen.«
»Baba, kennst du jemanden, der Vikram Pillai kennt?«, fragte Sita.
Naresh sah für einen Moment Ahalya an, ehe er Sita augenzwinkernd zur Antwort gab: »Nach heute Abend bestimmt.«
Sita zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«
Naresh griff in seine Tasche. »Eigentlich wollte ich damit noch bis später warten, aber wenn du mich schon fragst ...« Er zog einen VIP-Ausweis hervor und legte ihn auf den Tisch. »Wir treffen ihn vor dem Konzert.«
Sita sah den Ausweis an und begann zu strahlen. Langsam sank sie auf die Knie und berührte ein zweites Mal den Fuß ihres Vaters.
»Danke, Baba. Kann Ahalya auch mit?«
»Aber natürlich«, antwortete Naresh und legte drei weitere VIP-Ausweise neben den ersten. »Und deine Mutter und Großmutter auch.«
Sitas Blick wanderte von ihrer Schwester zu ihrem Vater, und ihr Lächeln wurde noch ein Stückchen breiter.
Während die beiden Mädchen ihre Plätze einnahmen, wuselte Jaya um sie herum und verteilte die Schüsseln voll Reis, Kokosnuss- Chutney, Masala Dosa - mit Kartoffeln gefüllten Crêpes - und Chapati - Brotfladen - auf dem Tisch.
Als Nachspeise servierte Jaya frisch gepflückte Chickoo - kiwiartige Früchte - und Mysore Pak, eine an Karamellbonbons erinnernde süße Köstlichkeit. Während Ahalya in eine Chickoo schnitt, fiel ihr das Beben vom frühen Morgen wieder ein.
»Baba, hast du das Erdbeben gespürt?«, fragte sie.
»Was für ein Erdbeben?«, erkundigte sich ihre Großmutter.
Naresh musste lachen. »Du Glückliche hast wirklich einen tiefen Schlaf, Naani.« Mit einem beruhigenden Gesichtsausdruck wandte er sich seiner Tochter zu. »Das Beben war heftig, hat aber keinen Schaden angerichtet.«
»Erdbeben verheißen nichts Gutes«, erklärte die alte Frau und umklammerte dabei mit beiden Händen ihre Serviette.
»Sie sind ein wissenschaftliches Phänomen«, stellte Naresh in sanftem Ton richtig, »und dieses war harmlos. Wir brauchen uns deswegen keine Sorgen zu machen.« Er wandte sich wieder Ahalya zu und wechselte das Thema: »Erzähl uns von Schwester Naomi. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, ging es ihr nicht gut.«
Die Familie frühstückte in aller Ruhe weiter, während Ahalya ihrem Vater über die Direktorin von St. Mary's berichtete. Durchs offene Fenster wehte eine kühle Brise herein. Sita wurde allmählich unruhig und bat Naresh, aufstehen zu dürfen. Dann schnappte sie sich ein Stück Mysore Pak und stürmte aus dem Haus in Richtung Strand. Ahalya musste lächeln.
»Darf ich auch schon gehen?«, fragte sie ihren Vater.
Er nickte. »Ich glaube, unsere kleine Überraschung war eine gute Idee.«
»Das denke ich auch«, pflichtete sie ihm bei. Dann schlüpfte sie rasch in ihre Sandalen und folgte ihrer Schwester hinaus in den Sonnenschein.
Gegen zwanzig nach acht waren alle bis auf Jaya und die Großmutter der Mädchen zum Strand aufgebrochen. Das bescheidene Haus der Familie stand auf einem Ufergrundstück, knapp fünfundzwanzig Kilometer südlich von Chennai und etwa anderthalb Kilometer von einem der zahlreichen Fischerdörfer entlang der Küste Tamil Nadus entfernt. Nach indischen Maßstäben handelte es sich um eine ländliche Gegend, und Ambini, die in dicht besiedelten Vierteln von Mylapore groß geworden war, empfand sie als abgelegen. Trotzdem nahm sie das Opfer, so weit weg von der Stadt zu leben, gern in Kauf, wenn ihre Kinder dafür so nahe an der Heimat ihrer Vorfahren aufwuchsen.
Ahalya wanderte den Strand entlang, während Sita auf der Suche nach Muscheln direkt am Rand des Wassers dahinlief. Naresh und Ambini folgten ihnen in einvernehmlichem Schweigen. Die Ghais spazierten nach Norden, in Richtung Fischerdorf. Dabei trafen sie nur auf ein älteres Paar, das still im Sand saß, und zwei Jungen, die mit Kieselsteinen nach den Vögeln warfen. Ansonsten war der Strand menschenleer.
Kurz vor neun fiel Ahalya etwas Seltsames auf: Die Wellen, die vom Wind an den Strand geworfen wurden, klatschten nicht mehr so weit über den Sand wie noch ein paar Minuten zuvor. Während das Mädchen die leichte Brandung beobachtete, schien das Meer vor ihren Augen zurückzuweichen. Schon bald lagen etwa fünfzehn Meter nasser Sand frei. Die beiden Jungen lieferten sich ein Wettrennen über die schlammige Fläche und jauchzten vor Vergnügen, als sie dem entschwindenden Ozean nachjagten. Während Ahalya das Schauspiel mit einem unguten Gefühl beobachtete, wirkte Sita eher neugierig.
»Idhar kya ho raha hai?«, verfiel sie zurück in ihre Muttersprache Hindi. »Was ist da los?«
»Das weiß ich auch nicht so genau«, antwortete Ahalya auf Englisch.
Ahalya sah die Welle als Erste. Erschrocken deutete sie auf eine schmale weiße Linie am Horizont. In weniger als zehn Sekunden wurde die Linie breiter und entpuppte sich als hohe, herandonnernde Flutwelle. Sie kam so schnell näher, dass den Ghais kaum Zeit zum Reagieren blieb. Naresh winkte und rief, doch seine Worte wurden vom hungrigen Donner der Welle verschluckt.
Ahalya griff nach Sitas Hand und zerrte ihre Schwester auf eine Gruppe von Palmen zu, wobei sie im weichen Sand nur mühsam vorankam. Für einen Moment wirbelte brackiges Wasser um ihre Beine, dann war die Welle da und trug sie hoch. Ahalya überschlug sich. Salzwasser strömte ihr in die Nase, verstopfte ihr die Ohren und brannte in ihren Augen.
Während sie zum Licht emporstrebte, hatte sie das Gefühl zu ersticken. Einen Augenblick später durchbrach sie die Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft.
Sie sah eine verschwommene Bewegung, ein Flattern von Farbe - Sitas türkisen Churidar. Sie bekam die Hand ihrer Schwester zu fassen, verlor sie im heftigen Sog der Welle aber sofort wieder. Stattdessen streiften ihre Finger die glatte Rinde einer Palme. Ahalya warf sich dem Baum entgegen und kämpfte mit den Beinen verzweifelt gegen die Strömung an, griff aber erneut ins Leere.
Sie wurde schrecklich herumgewirbelt und sah den Palmen- stamm erst den Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufprall. In ihrem Kopf explodierte der Schmerz, dennoch schlang sie Arme und Beine um den Baum und klammerte sich fest. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie blauen Himmel zwischen den im Wind hin und her wehenden Palmwedeln hindurchschimmern. Um sie herum herrschte eine unheimliche Stille. Ihr Kopf fühlte sich an wie in zwei Hälften gespalten. Es vergingen noch mehrere Sekunden, ehe sich das Meer langsam zurückzog und das Land wieder freigab. Ahalya entdeckte in der Ferne Sitas Gesicht und hörte sie rufen.
»Ahalya, hilf mir!«
Ihr Mund war voller Salzwasser, sie brachte nur ein Wort heraus, nicht mehr als ein Krächzen: »Warte!« Sie spuckte aus und versuchte es erneut: »Warte, Sita! Warte, bis das Wasser sinkt.«
Was es dann auch tat. Endlich.
Ahalya ließ sich langsam am Stamm der Palme hinuntergleiten, bis ihre Füße nassen Boden berührten. Der Churidar hing ihr in Fetzen vom Leib, und Blut lief ihr übers Gesicht. Sie watete über die schlammige Fläche zu Sita und löste deren steife Arme von dem Baumstamm, der sie gerettet hatte. Während sie ihre Schwester beschützend in den Arm nahm, spähte sie durch das Palmenwäldchen in Richtung Strand. Der schreckliche Anblick, der sich dort bot, drang zunächst gar nicht richtig in ihr Bewusstsein. Die Dornbüsche, die den Strand säumten, hatten keine Blätter mehr. Um sie herum trieben dunkle Umrisse auf der Oberfläche des schlammigen Wassers.
Ahalya starrte auf die dunklen Schatten und rang nach Luft. Schlagartig begriff sie.
»Idhar aavo!«, befahl sie Sita auf Hindi. »Komm!«
Sie nahm ihre Schwester an der Hand und führte sie durch das knietiefe Wasser. Der erste Leichnam, auf den sie stießen, war der von Ambini. Ihr Körper war mit Schlamm bedeckt und jeder freiliegende Zentimeter Haut von Dornen durchbohrt. Ihre Augen standen offen, und ihr Gesicht war eine einzige Maske des Grauens.
Der Anblick ihrer Mutter ließ Sita zu Stein erstarren. Sie umklammerte die Hand ihrer großen Schwester so fest, dass diese vor Schmerz aufschrie und sich mit einer heftigen Bewegung aus ihrem Griff befreite. Ahalya sank weinend auf die Knie, während Sita nur fassungslos zu Boden starrte. Erst nach einem langen Augenblick brach auch sie in Schluchzen aus. Sie barg das Gesicht in beiden Händen und begann am ganzen Leib krampfhaft zu zittern.
Ahalya schlang die Arme um ihre Schwester und drückte sie eine Weile an sich. Dann führte sie sie weg von Ambini. Es dauerte nicht lange, bis sie auf einen weiteren Toten stießen, einen von den Jungen aus der Gegend. Sita wurde wieder ganz starr vor Entsetzen, sodass Ahalya sie fast tragen musste, während sie sich durch den Schlamm, der einmal der Strand gewesen war, auf das Haus der Familie zubewegten. Ahalya wusste, dass ihre einzige Hoffnung darin bestand, ihren Vater zu finden.
Wäre Sita nicht gestolpert, hätten sie Nareshs Leichnam vermutlich übersehen. Als Ahalya sich zu ihrer Schwester hinunterbeugte, um ihr aufzuhelfen, bemerkte sie landeinwärts auf den Resten einer Salzwasserlagune einen weiteren dunklen Umriss. Naresh war von der Welle durch den Palmenhain gespült worden und am Rand der Lagune zwischen ein paar Felsblöcken hängen geblieben.
Ahalya zerrte ihre Schwester die kurze Strecke bis zu ihrem Vater. Einen langen Moment starrte sie den Toten fassungslos an. Dann begriff sie allmählich und schluchzte auf. Ihr Vater konnte einfach nicht tot sein; nicht er, der ihr doch so vieles für die Zukunft versprochen hatte.
»Schau«, flüsterte Sita und deutete dabei in Richtung Süden.
Ahalya wischte sich die Tränen aus den Augen und folgte dem Blick ihrer Schwester, hinweg über eine fremde, von der Welle kahl gewaschene Welt. In der Ferne stand ihr Haus. Der Anblick der vertrauten Silhouette überraschte Ahalya ebenso wie die plötzliche Stille ihrer Schwester. Sita hatte zu weinen aufgehört und beide Arme schützend um sich geschlungen. Ahalya sah den gequälten Ausdruck in ihren Augen, dennoch versuchte sie, neuen Mut zu fassen. Vielleicht hatten Jaya oder ihre Großmutter überlebt. Die Vorstellung, dass sie und Sita womöglich ganz allein zurückgeblieben waren, erschien ihr unerträglich.
Mühsam wateten die beiden Mädchen weiter durch die überschwemmte Landschaft auf die Überreste des Gebäudes zu, das fast ein Jahrzehnt lang ihr Zuhause gewesen war. Vor der alles zerstörenden Welle hatte die Landschaft rund um das Haus einem Naturschutzgebiet aus blühenden Gärten und Obstbäumen geglichen. Bald nachdem Naresh mit seiner Familie aus Delhi hergezogen war, hatte er nahe am Haus einen Ashoka-Baum zu Ehren von Sita gepflanzt. Als Kind hatte sie oft unter dem immergrünen Bäumchen gespielt und sich vorgestellt, wie ihre Namenspatronin, die Heldin des indischen Nationalepos Ramayana, von Hanuman, dem edlen Affengott, aus ihrer Gefangenschaft auf der Insel Lanka gerettet wurde. Jetzt waren der Ashoka-Baum und all seine ehemals grünen Gefährten nur noch zerzauste Gerippe: kahle Stämme ohne Blätter, Äste und Blüten.
Sita blieb neben den Resten ihres geliebten Baumes stehen, aber Ahalya zog sie weiter. Die Fenster im Erdgeschoss waren von der Welle herausgerissen worden, und die meisten Möbel trieben nun im überfluteten Hof. Trotzdem wirkte das Gebäude insgesamt intakt. Während die Mädchen sich der weit offen stehenden Haustür näherten, lauschte Ahalya angestrengt nach menschlichen Stimmen, konnte jedoch keine hören. Im Haus war es still wie in einer Krypta.
Beim Betreten der Diele rümpfte Ahalya die Nase, weil die Luft so modrig roch. Als sie einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer warf, sah sie ihre Großmutter mit dem Gesicht nach unten neben einer schlammverkrusteten Couch in der braunen Brühe treiben. Neue Tränen schossen ihr in die Augen, doch inzwischen war sie zu erschöpft zum Weinen. Nachdem sie auf ihren toten Vater gestoßen waren, hatte sie schon halb damit gerechnet, dass ihre Großmutter ebenfalls ums Leben gekommen war.
Ahalya watete durch das Wohnzimmer hinüber in die Küche und betete dabei inständig, Jaya möge überlebt haben. Die Haushälterin hatte bereits vor Ahalyas Geburt zur Familie Ghai gehört.
Als Ahalya nun mit der apathischen Sita im Schlepptau die Küche betrat, fand sie dort ein wüstes Durcheinander vor. Umgefallene Körbe, Behälter mit Reinigungsmitteln, Glasgefäße voller Süßigkeiten, Mangos, Papayas und Kokosnüsse trieben im stehenden Wasser. Unter der Oberfläche lagen Töpfe, Pfannen, Schüsseln und Silberbesteck wie gesunkene Wracks über den Boden verstreut. Von Jaya aber fehlte jede Spur.
Ahalya wollte die Küche bereits wieder verlassen, um im Wohnzimmer weiterzusuchen, als ihr auffiel, dass die Holztür zur Speisekammer einen Spalt offen stand. Sie sah die Hand, bevor ihre Schwester sie entdeckte, und schob die Tür ganz auf. Dort lag die tote Jaya eingekeilt in der Enge der kleinen Kammer. Etwas Friedliches umgab sie. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als schliefe sie nur. Trotzdem war ihre Haut kalt und klamm, als die Mädchen sie berührten.
Das Schwindelgefühl überfiel Ahalya ohne Vorwarnung. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden. Während sie dort im wadentiefen Wasser stand, traf die Wahrheit sie hart wie ein körperlicher Schlag: Sie und Sita waren nun Waisen. Die einzigen lebenden Verwandten, die sie noch hatten, waren Tanten und Cousins und Cousinen im fernen Delhi, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Ahalya gab sich einen Ruck und führte ihre Schwester die Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinauf.
Die Flutwelle war bis über die Treppe gestiegen, sodass auch im ersten Stock eine Schlammschicht den Boden bedeckte, aber die Fenster und Möbel waren unbeschädigt geblieben. Ahalyas ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einziges Ziel: die Tasche, in der sich ihr Handy befand. Wenn sie es schaffte, Schwester Naomi zu erreichen und mit Sita bis in die Klosterschule von St. Mary's in Tiruvallur zu gelangen, waren sie gerettet.
Sie entdeckte ihre Tasche mit dem Handy auf dem Nachttisch und tippte eilig Schwester Naomis Nummer ein. Während das Telefon läutete, hörte sie ein fernes, aus Richtung Osten kommendes Rauschen. Ahalya blickte durch das Fenster auf die mit schlammbraunen Flecken übersäte Fläche des Golfs von Bengalen hinaus und wollte ihren Augen nicht trauen: Eine weitere Wasserwand walzte auf den Strand zu. Binnen weniger Sekunden steigerte sich das Rauschen zu einem grollenden Tosen und übertönte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Hallo? Hallo? Ahalya? Sita?« Ahalya vergaß Schwester Naomi. In ihrer Welt gab es nur noch ihre Schwester und die zweite todbringende Welle.
Die tosenden Wassermassen erreichten das Haus und überfluteten das Erdgeschoss. Das Gebäude bebte und ächzte, während die Welle sich gegen sein Fundament warf. Ahalya schlug die Schlafzimmertür zu und scheuchte Sita aufs Bett. Sie schlang die Arme um ihre zitternde kleine Schwester und fragte sich, ob Shiva beschlossen hatte, die Welt nicht mit Feuer, sondern mit Wasser zu vernichten.
Der Schrecken der zweiten Welle schien kein Ende zu nehmen. Brackiges Wasser quoll durch den Spalt unter der Schlafzimmertür und breitete sich fächerförmig über den Boden aus. Die Schwestern kauerten aneinandergedrängt auf dem Bett, während das Wasser stieg. Plötzlich schien sich das Haus unter ihnen zu bewegen, und der Boden neigte sich. Die Schlafzimmertür flog auf, und braunes Wasser strömte herein. Ahalya kreischte entsetzt auf, während Sita den Kopf im feuchten Stoff von Ahalyas schlammverschmiertem Churidar vergrub. Ahalya schloss die Augen und bat Lakshmi in einem stummen Gebet, ihre Schwester und sie von ihren Sünden freizusprechen und sicher ins nächste Leben zu geleiten.
In ihrem losgelösten Zustand bekam sie kaum mit, dass das Tosen langsam nachließ und schließlich ganz aufhörte. Das Haus hielt auch dann noch stand, als die Strömung die Richtung wechselte und die zweite Flutwelle sich wieder ins Meer zurückzog. Die beiden Schwestern blieben wie versteinert auf dem Bett sitzen. Die verwüstete Welt, die die Welle zurückließ, schien auf unheimliche Weise aller Geräusche beraubt.
»Ahalya?«, flüsterte Sita nach einer ganzen Weile. »Wo sollen wir denn jetzt hin?«
Ahalya blinzelte. Langsam konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Behutsam löste sie sich von ihrer Schwester und spürte das Telefon in ihrer Hand. Mit tauben Fingern tippte sie erneut die vertrauten Zahlen ein.
»Wir müssen nach St. Mary's«, erklärte sie. »Schwester Naomi wird wissen, was zu tun ist.«
»Aber wie sollen wir dorthin kommen?«, fragte Sita ängstlich. »Es ist niemand da, der uns fahren kann.«
Ahalya schloss die Augen und lauschte dem Läuten des Telefons. Schwester Naomi hob ab. Besorgt fragte sie, was denn passiert sei und ob sie sich in Gefahr befänden. Als Ahalya ihr antwortete, schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen. Eine Welle habe sie überrollt, erklärte sie. Ihre Familie sei tot. Sie und Sita hätten überlebt, aber ihr Zuhause sei völlig zerstört.
Ein paar lange Sekunden war in der Leitung nur Rauschen zu hören, dann fand Schwester Naomi ihre Stimme wieder. Sie wies Ahalya an, zur Straße zu gehen und sich von einem Nachbarn nach Chennai mitnehmen zu lassen.
»Steigt nur bei jemandem ein, dem ihr vertraut«, mahnte sie. »Wir erwarten euch.«
Nachdem Ahalya das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich an Sita. »Wir müssen jemanden mit einem Wagen finden. Komm, wir brauchen etwas Trockenes zum Anziehen.«
Sie führte ihre Schwester zu einer Kommode hinüber, half ihr, die nassen, schmutzigen Sachen auszuziehen, und reichte ihr einen sauberen Churidar. Sie selbst zog sich ebenfalls um. Anschließend trat sie in der Hoffnung, sich das Gesicht waschen zu können, ans Waschbecken, doch es kam kein Wasser. Sie würden sich erst waschen können, wenn sie St. Mary's erreichten.
Sita war schon auf dem Weg zur Tür, doch Ahalya hielt noch einmal inne, um ein Foto vom Schreibtisch zu holen. Es zeigte die Familie Ghai an Weihnachten vor einem Jahr. Sie löste das Foto aus seinem Rahmen und schob es unter den Bund ihres Churidars. Dann griff sie nach einem kleinen Holzkästchen und steckte es zusammen mit ihrem Handy in einen Stoffbeutel. In dem Kästchen befand sich der Goldschmuck, den die beiden Schwestern im Lauf der Jahre geschenkt bekommen hatten. Ahalya warf einen letzten Blick in den Raum und nickte ihm zum Abschied zu. Alles andere würde sie zurücklassen.
Die Schwestern gingen die Treppe hinunter und wateten durch die Diele hinaus in den Vorhof. Draußen brannte die Sonne vom Himmel. Das stehende Wasser, das die zweite Welle hinterlassen hatte, roch bereits nach totem Fisch. Ahalya führte Sita um die Rückseite des halb zerstörten Hauses, hinaus auf die Straße. Die zwei Autos der Familie, die vor der Flut in der Zufahrt gestanden hatten, waren nirgendwo zu sehen. Ahalya überlegte, ob sie einen letzten Blick auf das Haus werfen sollte, widerstand jedoch der Versuchung. Die zerstörte Welt um sie war nicht mehr das Zuhause, das sie gekannt hatten. Ihre frühere Welt gab es jetzt nur noch in ihrer Erinnerung.
Als sie die Hauptstraße erreichten, sahen sie, dass sie über und über mit dem angeschwemmten Holz aus dem Palmenhain übersät war. Ahalya spürte einen Anflug von Panik. Wer würde sich unter solchen Bedingungen auf die Straße wagen? Aber dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht jemand aus dem Fischerdorf mitnehmen konnte. Sie wusste, dass ihre Chancen nicht gut standen. Die meisten Dorfbewohner lebten in Strandhütten, die von den Wellen vermutlich völlig zerstört worden waren. Trotzdem würden diejenigen, die überlebt hatten, Lebensmittel und Hilfe aus Chennai brauchen. Früher oder später musste sich jemand aus dem Dorf auf den Weg dorthin machen.
Schweigend gingen die Schwestern Seite an Seite dahin. Sie legten fast anderthalb Kilometer zurück, ohne irgendein Anzeichen von Leben zu entdecken. Die ganze Bodenvegetation war weggespült, sodass die Erde zu beiden Seiten des Asphalts nackt und trostlos wirkte. Als die beiden Mädchen schließlich den Rand des Fischerdorfs erreichten, schwitzten sie bereits heftig und hatten großen Durst. Selbst im Winter brannte die südindische Sonne gnadenlos vom Himmel.
Ahalya führte ihre Schwester die Straße entlang, die zum Meer hinunter verlief. Als sie sich dem Strand näherten, sahen sie einen Mann in einem schlammverschmierten weißen Hemd - einem Lungi - auf sich zukommen. In seinen Armen hielt er ein Kind. Hinter dem Mann folgte eine traurige Prozession weiterer Fischer, von denen die meisten Palmkörbe auf dem Kopf und bunte Säcke auf den Schultern trugen.
Der Mann blieb vor Ahalya stehen. »Vanakkam«, grüßte sie auf die übliche Weise. »Wohin geht ihr?«
Der Mann war so aufgelöst, dass er ihre Frage gar nicht zur Kenntnis nahm. Stattdessen fuchtelte er mit einem Arm wild in der Luft herum und berichtete ihr von den Wellen.
»Ich war mit meinem Boot draußen«, erklärte er, »und habe überhaupt nichts davon mitbekommen. Bei meiner Rückkehr war alles weg. Meine Frau, meine Kinder ...« Er drehte sich um und machte eine ausladende Handbewegung, die seine zerlumpte Gefolgschaft mit einschloss. »Nur wir sind übrig geblieben. «
Ahalya spürte den Kummer des Mannes und stählte sich zugleich gegen ihren eigenen, indem sie sich auf die vor ihnen liegenden Probleme konzentrierte.
»Euer Dorfoberhaupt hat doch einen Lieferwagen«, sagte sie. »Wo ist der?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Kaputt.«
»Und euer Trinkwasser? Bestimmt habt ihr noch volle Fässer aus der Monsunzeit.«
»Die hat es alle weggespült.«
»Wohin geht ihr?«, fragte sie erneut.
»Nach Mahabalipuram«, antwortete der Mann. »Wir haben dort Verwandte.«
Nur mit Mühe konnte Ahalya ihre Enttäuschung verbergen. Mahabalipuram lag acht Kilometer in die falsche Richtung. »Wir müssen nach Chennai.«
Der Mann sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Das schafft ihr nie.«
Ahalya entgegnete trotzig: »Und ob wir das schaffen!«
Die Schwestern begleiteten die Dorfbewohner zurück zur Hauptstraße, wo sich ihre Wege trennten.
»Wir sollten nach Kovallam gehen«, meldete sich Sita leise zu Wort. »Vielleicht kommen wir von dort mit einem Bus weiter.«
Ahalya nickte. Kovallam war ein größeres Fischerdorf, das gut drei Kilometer in nördlicher Richtung lag. Selbst wenn sie dort keinen Bus fanden, war sie ziemlich sicher, dass sie auf dem Markt von Kovallam zumindest Trinkwasser bekommen würden. Erst einmal brauchten sie etwas zu trinken, alles Weitere würde sich dann zeigen.
In der tropischen Hitze ging es nur langsam voran. Hin und wieder brachte eine Brise vom Ozean etwas Erfrischung. Ansonsten war ihr Fußmarsch eintönig und qualvoll. Ihre nassen, sandverkrusteten Sandalen sorgten dafür, dass ihre Füße bald wund gescheuert waren.
Als sie Kovallam schließlich erreichten, waren beide beinahe am Ende ihrer Kräfte. Am Stand der Sonne schätzte Ahalya, dass es mittlerweile fast elf Uhr war. Wenn nicht irgendein Glücksfall eintrat, hatten sie kaum eine Chance, die Klosterschule vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Im Dorf Kovallam ging es zu wie in einem Bienenstock. Ochsenkarren und andere hölzerne Gefährte drängten sich mit Autos und Fußgängern auf den engen, vom Wasser noch feuchten Straßen. Ahalya hielt eine alte Frau in einem schlammverkrusteten Sari an und fragte sie nach einem Bus in Richtung Chennai, doch die Frau war vor Kummer völlig außer sich.
»Mein Sohn«, rief sie, »er war am Strand! Habt ihr ihn gesehen? «
Ahalya schüttelte bedauernd den Kopf und wandte sich dann ab. Als Nächstes bat sie einen Mann, der einen Korb mit reifen Bananen trug, um Hilfe, aber er starrte sie nur mit leerem Blick an. Ein anderer Mann, der einen mit Trauben beladenen Handkarren hinter sich herzog, reagierte mit einem kurzen Kopfschütteln.
»Wisst ihr denn nicht, was hier passiert ist?«, fügte er hinzu und spuckte einen Schwall Betelsaft auf die Straße. »Kein Mensch kann sagen, ob die Busse überhaupt noch fahren.«
Ahalya kämpfte gegen eine plötzliche Woge der Verzweiflung an. Sie musste Ruhe bewahren, sonst würde sie vielleicht eine vorschnelle Entscheidung treffen und sie beide in Gefahr bringen.
Sie führte Sita in den Markt von Kovallam hinein. Wie erwartet waren nur bei ein paar Ständen die Rollläden hochgezogen. Sie fragte einen Zuckerrohrverkäufer, ob er eine Flasche Wasser entbehren könne. Sie bemühte sich um ihr nettestes Lächeln, während sie ihm erklärte, dass die Welle ihre Börse fortgespült habe und sie deshalb nicht über Geld verfüge. Der Verkäufer musterte sie ohne jedes Mitgefühl.
»Hier müssen alle bezahlen«, entgegnete er schroff. »Wir haben nichts zu verschenken.«
Ahalya griff wieder nach Sitas Hand und steuerte auf einen Gemüseverkäufer zu. Sie schilderte ihm ihre Lage, woraufhin ihr der Mann voller Mitgefühl zwei Flaschen Wasser reichte und ihnen ein Fleckchen Schatten unter einem Sonnenschirm anbot.
»Nandri«, sagte Ahalya, die das Wasser dankbar entgegennahm und sofort eine Flasche an Sita weiterreichte. »Danke.«
Die Mädchen tranken durstig. Nachdem Sita ihre Flasche geleert hatte, lehnte sie den Kopf an Ahalyas Schulter und döste ein wenig vor sich hin. Ahalya dagegen widerstand dem Drang zu schlafen und ließ den Blick über den Markt schweifen, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht. Ihr Vater kannte in Kovallam etliche Männer, an deren Namen sie sich jedoch nicht erinnern konnte.
Als sie auch nach einiger Zeit niemanden sah, der ihr bekannt vorgekommen wäre, überlegte sie, wie viel der Schmuck in ihrem Beutel auf der Straße wohl wert war. Wie viel würde es kosten, sich von einem Fahrer nach Chennai bringen zu lassen? Ihre Intuition riet ihr, lieber kein Taxi zu nehmen, aber bisher hatte sie keine Busse durch den Markt fahren sehen, und sie bezweifelte, dass an diesem Nachmittag überhaupt einer die Fahrt in die gewünschte Richtung antreten würde. Zu Fuß hatten Sita und sie keine Chance, es bis nach Chennai zu schaffen, zumindest nicht im Lauf des Nachmittags, und sie kannte keinen Ort außerhalb der Stadt, wo sie die Nacht in Sicherheit verbringen konnten.
Die Mädchen ruhten sich über eine Stunde lang im Schatten des Sonnenschirms aus. Sita rührte sich nicht, und auch Ahalya schlief schließlich ein. Als sie wieder aufwachte, stellte sie fest, dass die Sonne ihren Zenit bereits überschritten hatte. Sie musste bald eine Entscheidung treffen.
Sie wandte sich dem Verkäufer zu, um ihn wegen eines Fahrers zu fragen, aber in dem Moment sprang ihr ein Gesicht in der Menge ins Auge, das ihr bekannt vorkam. Sie hatte es schon einmal gesehen, und zwar bei einem abendlichen Empfang, zu dem sie ihren Vater im Frühjahr begleitet hatten. Der Mann hatte ihren Vater herzlich begrüßt, und ihr Vater hatte entsprechend reagiert. Ahalya konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern, vergaß aber nie ein Gesicht.
Sie kniff Sita leicht in den Arm, um sie zu wecken. Nachdem sie ihrer Schwester eingeschärft hatte, sich ja nicht von der Stelle zu rühren, schlängelte sie sich zwischen Kühen, Autos und Rikschas hindurch auf den Mann zu.
»Sir«, sprach sie ihn auf Englisch an, »ich bin Ahalya Ghai. Naresh Ghai ist mein Vater. Erinnern Sie sich an mich?«
Der Mann sah sie einen Moment fragend an, dann zog sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber natürlich«, antwortete er in steifem Englisch. »Ich bin Ramesh Narayanan. Wir haben uns bei einem Treffen der Historischen Gesellschaft von Tamil kennengelernt. « Verwundert sah er sie an. »Was machst du hier? Bist du mit deinem Vater unterwegs?«
Die Frage versetzte Ahalya einen Stich mitten ins Herz. Sie sammelte sich kurz, dann erzählte sie ihm stockend die schreckliche Wahrheit über ihre Familie.
Während sie berichtete, wich das Blut aus Rameshs Gesicht. Ihm war anzusehen, dass er krampfhaft nach den richtigen Worten suchte. Schließlich fragte er nur: »Wo ist deine Schwester? «
Ahalya deutete auf den Stand des Gemüseverkäufers. »Wir sind unterwegs zu unserer Klosterschule in Tiruvallur. Die Nonnen werden sich um uns kümmern.«
Rameshs Blick wanderte zwischen Ahalya und Sita hin und her. »Ihr werdet eine Mitfahrgelegenheit brauchen.«
Ahalya nickte. »Bis hierher sind wir zu Fuß gegangen, aber Sita ist schon sehr müde.«
Ramesh schürzte die Lippen. »Dann seid ihr in der gleichen Lage wie ich. Der Bus, mit dem ich gekommen bin, fährt nicht mehr. Ich versuche schon die ganze Zeit, einen Fahrer aufzutreiben, der mich zurück nach Chennai bringt.« Er hielt einen Moment inne und bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern, dass ihr bei Einbruch der Nacht in Tiruvallur seid. Das ist das Mindeste, was ich für die Töchter von Naresh Ghai tun kann.«
Ahalya war schier überwältigt vor Erleichterung.
»Warte bei deiner Schwester«, wies Ramesh sie an. »Ich komme euch holen, sobald ich kann.«
Nach einiger Zeit kehrte Ramesh mit einem drahtigen Mann zurück, der über einer khakigrünen Hose ein weites, Kurta genanntes Hemd trug. Der Mann hatte eingefallene Wangen, kalte Augen und eine Narbe am Kinn. Nach einem Blick auf die Schwestern nickte er Ramesh zu. Ahalya verspürte gegenüber dem narbengesichtigen Mann ein instinktives Misstrauen, hatte aber keine andere Wahl, als Rameshs Hilfe anzunehmen.
»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Sita mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Ramesh antwortete ihr: »Dieser Mann - er heißt Kanan - hat einen Lieferwagen mit Vierradantrieb. Er ist der einzige Mensch in ganz Kovallam, der bereit ist, sich nach den Wellen noch auf die Straße zu wagen, noch dazu zu einem erstaunlich fairen Preis. Wir können uns glücklich schätzen, ihn gefunden zu haben.«
Ahalya nahm ihre Schwester an der Hand. »Keine Angst«, meinte sie beruhigend.
Sie folgten Kanan über den Marktplatz bis zu einer mit bunten Stoffen geschmückten Gasse. Der Wagen - ein staubiger blauer Toyota - hatte schon bessere Tage gesehen. Unter dem Vorwand, sie bekomme leicht Platzangst, lehnte Ahalya Rameshs Angebot ab, sich mit Sita nach vorn neben den Fahrer zu setzen, und gab ihrer Schwester ein Zeichen, auf die Ladefläche zu klettern. Die Vorstellung, so nahe bei dem narbengesichtigen Mann zu sitzen, war ihr höchst unangenehm.
Kanan ließ den Motor an und legte den Gang ein, dann setzte er den Wagen mit einem Ruck in Bewegung. Nachdem sie sich durch die Straßen von Kovallam gekämpft hatten, nahm Kanan die Schnellstraße in Richtung Chennai.
Die Wellen hatten die landschaftlich vorher so schöne Küstenebene in einen schlammigen Sumpf verwandelt und die Straße in eine Schlickfläche mit einer schnell austrocknenden Sandkruste, die das Vorankommen des Wagens erschwerte. Obwohl hier kaum andere Fahrzeuge unterwegs waren, brauchten sie eine ganze Stunde, um Neelankarai zu erreichen, den südlichsten Vorort von Chennai, und eine weitere Stunde bis nach Thiruvanmiyur, das knapp drei Kilometer vom Fluss Adyar entfernt lag. Die Wellen hatten viele der Gebäude entlang der Küste zerstört, Straßen überflutet, Autos umgeworfen und ganze Flotten von Fischerbooten an Land gespült. Die East Coast Road war voller Fußgänger, und der Verkehr bewegte sich in Schrittgeschwindigkeit.
Knapp einen Kilometer vor dem Flussdelta kam der Verkehr gänzlich zum Erliegen. Lautes Gehupe brach los, und die Fahrer stießen wilde Flüche aus, doch nichts ging vorwärts. Nach zehn frustrierenden Minuten legte Kanan den Rückwärtsgang ein und fuhr auf einer landeinwärts verlaufenden Straße in Richtung Thomasberg. Als sie schließlich bei Saidapet den Fluss überquerten, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Die Durchgangsstraßen nördlich des Flusses hatten allem Anschein nach keinen Schaden genommen.
Ihr Fahrer bog nach Osten in Richtung Mylapore und der Küste ab. Das Gewimmel von Autos, Lieferwagen, Bussen, Fahrrädern und Rikschas spendete Ahalya ein klein wenig Trost. Sie warf Sita einen aufmunternden Blick zu.
»Bald sind wir da«, bemerkte sie mit einem Lächeln, das ihre Schwester jedoch unerwidert ließ.
»Wie wird es mit uns weitergehen?«, fragte Sita.
»Das weiß ich auch nicht«, gestand Ahalya.
Erneut kämpfte sie gegen den großen Kummer an, der unaufhörlich an ihrem Herzen zerrte, doch dieses Mal war der Druck zu groß. Tränen brannten ihr in den Augen und liefen ihr übers Gesicht. Während sie Sita in den Arm nahm, versprach sie im Stillen Lakshmi, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um ihre Schwester zu beschützen. Sie würde ihr wie eine Mutter sein und sämtliche Opfer bringen, die nötig waren, damit Sita eines Tages ein neues Leben beginnen konnte. Von nun an trug sie für ihre Schwester die Verantwortung.
Sie durfte nicht versagen.
Kurz vor sechs Uhr abends kam der Wegen neben einem exklusiv wirkenden Wohnkomplex zum Stehen. Auf die von Bäumen gesäumte Straße fielen bereits lange Schatten, bald würde die Sonne untergehen. Ramesh stieg aus, strich sein Hemd glatt und lächelte die Mädchen mitfühlend an.
»Ich bedauere sehr, dass ich euch nicht die ganze Strecke bis nach Tiruvallur begleiten kann«, erklärte er, »aber ich habe heute Abend einen Termin in Chennai. Ich habe Kanan dafür bezahlt, dass er euch den Rest des Weges fährt.«
Er reichte Ahalya eine Visitenkarte mit seiner Handynummer. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ihr eure Familie verloren habt. Solltet ihr jemals Hilfe brauchen, dann ruft mich an.« Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich von ihnen.
Kanan sprach kein Wort mit den Schwestern, nachdem Ramesh sie verlassen hatte. Er telefonierte kurz auf seinem Handy, wendete dann den Wagen und fuhr nach Nordwesten, in Richtung Stadtmitte. Sie überquerten den Fluss Kuvam und bogen nach links auf eine der größeren Durchgangsstraßen ab. Kanan steuerte den Wagen durch den dichten Verkehr in Richtung der westlichen Vororte.
Alles sah gut aus, bis sie die Kreuzung an der Jawaharlal Nehru Road erreichten. Abrupt bog Kanan plötzlich nach links in ein Industriegebiet ab.
»Neengal enna seigirirgal?«, fragte ihn Ahalya, während sie an die Scheibe klopfte, die die Ladefläche vom Führerhaus trennte. »Was tun Sie denn da?«
Ohne ihr die geringste Beachtung zu schenken, fuhr Kanan schnell die Schotterstraße entlang. Inzwischen befanden sie sich in einem Viertel mit heruntergekommenen Wohnungen. Rundherum wimmelte es nur so von verdreckten Kindern und räudigen Hunden. In dunklen Hauseingängen standen rauchende Männer, und hin und wieder sah Ahalya auf einer schmalen Terrasse ein älteres Paar, das schweigend nebeneinandersaß. Dies hier war ein Ort, wo die Menschen seit Generationen ein Leben am Rande der Gesellschaft fristeten - ein Ort, wo die Leute wegsahen und keine Fragen stellten. Hier würde ihnen niemand zu Hilfe kommen, wenn sie schrie. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Kanan war kein vertrauenswürdiger Mensch.
Sie fasste in ihren Beutel, um ihr Handy herauszuholen. Ausgerechnet in dem Moment stieg Kanan auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem Ahalya das Handy hastig in ihrem Churidar versteckt hatte, blickte sie sich um. Der Wagen stand am Ende einer Reihe schäbiger Wohnungen. Über ihnen ragte eine hohe Steinmauer auf. Die Ecke war schlecht beleuchtet, und abgesehen von drei Männern, die in dem schwachen Licht beieinanderstanden, konnte Ahalya keine Menschenseele entdecken. Die Männer traten an die Ladefläche, und der jüngste von ihnen stieg hinauf.
Er beugte sich zu den Mädchen hinunter. »Ihr habt von uns nichts zu befürchten«, erklärte er. »Wenn ihr brav macht, was wir euch sagen, tun wir euch nichts.« Sein Blick fiel auf Ahalyas Beutel. »Was haben wir denn hier?«, fragte er und griff danach.
Ahalya hielt die Tasche fest. Ohne zu zögern schlug ihr der junge Mann mit dem Handrücken ins Gesicht - so fest, dass ihr die Wange brannte und sie Blut auf der Lippe schmeckte. Neben ihr brach Sita in erschrockenes Wimmern aus. Der brutale Schlag war so plötzlich und überraschend gekommen. Ahalya ließ die Tasche los.
Der junge Mann leerte ihren Inhalt auf die Ladefläche, griff nach dem Holzkästchen und öffnete den Verschluss. Der Schmuck funkelte im Lichtschein einer Straßenlampe.
»Kanan, du alter Halunke!«, rief er triumphierend, während er eine von Sitas Halsketten hochhielt. »Sieh mal, was du uns da gebracht hast! Du musst von Ganesha gesegnet sein.«
»Umso besser«, wandte sich Kanan an einen fetten Mann mit pockennarbigem Gesicht, »dann könnt ihr meine Provision gleich verdoppeln.« Der Fette verzog das Gesicht, woraufhin Kanan sofort einen Rückzieher machte. »Schon gut, schon gut, verdoppeln wäre zu viel. Gebt mir das Eineinhalbfache.«
»In Ordnung«, antwortete der fette Mann und blätterte ihm die Scheine hin. »Und jetzt verschwinde.«
Nachdem der junge Mann die Mädchen angewiesen hatte, von der Ladefläche zu steigen, sprang Kanan zurück in sein Führerhaus, ließ den Motor an und düste in einer Staubwolke davon.
Der junge Mann nahm Sita am Arm, während der fette Ahalya nicht von der Seite wich. Der Dritte im Bunde, ein Brille tragender Mann mit einer silbernen Armbanduhr, trödelte hinter ihnen her. Ahalyas Herz klopfte wie wild, als die Männer sie in einen dunklen Gang und dann eine Treppe hinaufführten. Die Tür zu einer Wohnung stand offen. Über der Tür war ein Hamsa-Glücksbringer aufgehängt, als Talisman gegen den bösen Blick.
Die Männer scheuchten die Mädchen ins Wohnzimmer, wo eine übergewichtige Frau auf der Couch saß und fernsah. Sie blickte nur kurz zu den Mädchen auf, ehe sie sich wieder ihrer Sendung zuwandte. Der junge und der fette Mann verabschiedeten sich per Handschlag von dem Brillenträger, den sie Chako nannten. Dabei sprach der fette Mann kurz mit Chako, aber so leise, dass Ahalya nichts verstand außer der Ankündigung des fetten Mannes, am Morgen wiederzukommen.
Nachdem Chako sich von den anderen verabschiedet hatte, schloss er die Tür und legte zwei Riegel vor. Anschließend wandte er sich mit ausdrucksloser Miene an die Mädchen.
»Habt ihr Hunger?«, fragte er.
Ahalyas Magen knurrte. Der Gedanke an Essen war ihr in den letzten Stunden überhaupt nicht gekommen. Sie wechselte einen Blick mit Sita, ehe sie Chakos Frage mit einem Nicken beantwortete. Chako drehte sich zu der Frau um und richtete in Tamil einen harschen Befehl an sie, woraufhin die Frau sich von der Couch erhob, den Mädchen einen gereizten Blick zuwarf und in Richtung Küche davonstapfte.
Wenige Minuten später tauchte sie mit zwei dampfenden Tellern Reis und Kichererbsen-Kartoffel-Chutney sowie einem Krug Wasser wieder auf. Heißhungrig schlangen die Schwestern das Essen hinunter. Es war zu stark gewürzt und das Wasser lauwarm und ungefiltert, aber das war Ahalya längst egal. Sie mussten den rechten Augenblick abwarten, bis sie allein waren und sie Schwester Naomi anrufen konnte.
Nach dem Essen befahl Chako den Mädchen, sich zu seiner Frau auf die Couch zu setzen. Er selbst ließ sich nicht weit von ihnen entfernt in einem Sessel nieder. Chakos Frau verfolgte gebannt eine Talkshow, die die Mädchen nie hatten sehen dürfen. Der prominente Gast war eine tamilische Schauspielerin, und das Gespräch drehte sich um ihren neuesten Film, ein schwülstiges Drama, das inmitten des Bürgerkriegs in Sri Lanka spielte.
Ahalya saß in stummer Fassungslosigkeit neben ihrer Schwester. Binnen eines einzigen Tages waren alle ihre Familienangehörigen vom Meer getötet und Sita und sie entführt worden. Was hatten Chako und seine Frau mit ihnen vor? Waren andere Mädchen auch schon hier eingesperrt gewesen, oder waren sie die ersten? Ahalya fiel ein, dass Kanan von dem fetten Mann eine Provision ausbezahlt bekommen hatte, was darauf hindeutete, dass sie das schon öfter gemacht hatten. Aber aus welchem Grund?
Die Talkshow dauerte eine Stunde. Danach schaltete Chako auf einen internationalen Nachrichtensender um. Ahalya und Sita richteten sich auf und verfolgten gebannt den Bericht über die Verwüstungen, die riesige Flutwellen an der Küste des Indischen Ozeans angerichtet hatten. Verwaiste Babys schrien auf den Armen von Helfern, Frauen schluchzten vor laufender Kamera, und ganze Dörfer lagen verwüstet da, niedergewalzt von einer Wasserwand, die ohne Vorwarnung über sie hereingebrochen war.
Dem Nachrichtensprecher zufolge war der Tsunami durch ein heftiges Erdbeben vor der Küste Indonesiens ausgelöst worden. Eine Reihe durch das Beben verursachter Wellen hatten sich mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets vom Epizentrum ausgebreitet. Binnen einer Zeitspanne von weniger als drei Stunden hatte der Tsunami dafür gesorgt, dass nun Tausende von Menschen, die über die Gefahr nicht informiert worden waren, tot an den Küsten von Indonesien, Thailand, Malaysia, Sri Lanka, Indien und der Andamanen und Nikobaren lagen. Der Sender brachte Schätzungen zur Zahl der Todesopfer. Einige gingen davon aus, dass insgesamt etwa fünfzigtausend Menschen ums Leben gekommen waren, andere rechneten mit fünfmal so vielen Toten. Das Ausmaß der Katastrophe war unvorstellbar.
Sie verfolgten die Berichte bis zehn Uhr. Als Chako schließlich den Fernseher ausschaltete, führte er Ahalya und Sita in ein kleines, mit zwei Betten und einem Schreibtisch ausgestattetes Zimmer. Er teilte den Schwestern mit, dass sie zusammen in dem einen Bett und er und seine Frau in dem anderen schlafen würden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich ein Fenster, das mit rostenden Jalousien und Eisenstangen versehen war.
Ein paar Minuten später kam Chakos Frau herein. Sie trug bereits ihr Nachthemd und hatte ein Glas Wasser und zwei kleine Pillen dabei. Chako erklärte den Mädchen, dass die Pillen ihnen beim Einschlafen helfen sollten. Ahalya überlegte fieberhaft. Geistesgegenwärtig beschloss sie, die Pille heimlich unter die Zunge zu klemmen und nur das Wasser zu schlucken. Ihr Telefon steckte immer noch in ihrem Hosenbund. Sie hatte vor, es zu benutzen, sobald alle eingeschlafen waren. Chakos Frau aber wühlte mit dem Zeigefinger in ihrem Mund herum und entdeckte ihre List.
»Dummes Gör«, fauchte die Frau, während sie Ahalya einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, »du weißt wohl nicht, was gut für dich ist!« Sie schob Ahalya die Pille erneut in den Mund und zwang sie, sie zu schlucken.
Chako warf einen Blick auf seine funkelnde Uhr und wünschte den Schwestern eine gute Nacht. Nachdem er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen hatte, drehte er mit einem hörbaren Klicken den Schlüssel im Schloss um. Seine Frau ließ sich auf dem Bett nieder, das näher am Fenster stand, und fixierte Ahalya mit finsterem Blick.
»Ihr kommt hier nicht raus«, erklärte sie. »Versucht es lieber nicht, sonst kommt Chako mit einem Messer. Andere haben es schon auf die harte Tour gelernt. Und stört ja nicht meinen Schlaf.«
Ahalya und Sita legten sich nebeneinander aufs Bett. Sita weinte leise ins Laken, bis sie allmählich in den Schlaf hinüberglitt. In dem verzweifelten Versuch, die unsichtbaren Mächte fernzuhalten, die ihre Welt in einen Albtraum verwandelt hatten, schlang Ahalya die Arme schützend um ihre Schwester. Während das Beruhigungsmittel langsam zu wirken begann, kämpfte Ahalya gegen den Schlaf an, doch das Medikament verwirrte ihr die Sinne und ließ ihre Augenlider immer schwerer werden.
Mit letzter Kraft schob sie ihr Handy noch tiefer in ihren Churidar. Dann erlahmte ihre Gegenwehr, und sie verlor das Bewusstsein.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Corban Addison
Corban Addison studierte an der University of Virginia Jura und arbeitete sieben Jahre lang als Prozessanwalt. In verschiedenen Initiativen setzt er sich für die Menschenrechte ein. Besonders das Thema moderne Sklaverei treibt ihn seit Langem um. Für seinen Debütroman "Du bist in meiner Hand" recherchierte er vor Ort in Mumbai: Er sprach mit Experten und Aktivisten und traf undercover auch Opfer in Bordellen. Corban Addison lebt mit seiner Frau und den gemeinsamen zwei Kindern in Charlottesville, Virginia.
Bibliographische Angaben
- Autor: Corban Addison
- 480 Seiten, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- ISBN-10: 3955690059
- ISBN-13: 9783955690052
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