Der Fall Peggy
Die Geschichte eines Skandals
2001 verschwindet die 9-jährige Peggy spurlos. Ein Täter ist schnell gefunden und verurteilt: der geistig behinderte Ulvi Kulac. Doch es war ein Fehlurteil auf Betreiben von Politik und Justiz: Der Fall sollte schnell beendet werden. Da decken Nachforschungen den Skandal auf ...
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Produktinformationen zu „Der Fall Peggy “
2001 verschwindet die 9-jährige Peggy spurlos. Ein Täter ist schnell gefunden und verurteilt: der geistig behinderte Ulvi Kulac. Doch es war ein Fehlurteil auf Betreiben von Politik und Justiz: Der Fall sollte schnell beendet werden. Da decken Nachforschungen den Skandal auf ...
Klappentext zu „Der Fall Peggy “
Ein Mädchen verschwindet. Ein Mann wird verurteilt. Ein Skandal beginnt.Ein Fall, der das ganze Land bewegt: 2001 verschwand die 9-jährige Peggy Knobloch aus dem oberfränkischen Lichtenberg spurlos. Der geistig zurückgebliebene Ulvi Kulac wurde wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Es gab keine Zeugen, keine DNA, keine Blutspuren, keine konkreten Beweise und vor allem - keine Leiche. Ina Jung und Christoph Lemmer, die über viele Jahre den Fall investigativ recherchiert haben, weisen nun nach, dass die Polizei gezielt auf die Verurteilung von Ulvi Kulac hingearbeitet hat - nicht, weil er der Täter war, sondern damit der Fall endlich zu den Akten gelegt werden kann. Kein Justizirrtum, sondern - schlimmer - ein systematisches Fehlurteil auf Betreiben von Politik und Justiz. Doch es gibt Hoffnung: 2014 wird das Verfahren wieder aufgenommen, auch dank der Recherchen des Autorenduos. Ina Jung und Christoph Lemmer erzählen in diesem Buch den Fall Peggy neu und mit bisher unbekannten Fakten - und decken eine beklemmende Wahrheit auf.Was seit der Veröffentlichung dieses Buches geschehen ist, erfahren Sie im aktuellen Update "Der Fall Peggy - Die Wiederaufnahme" - Das eBook ist überall im Online-Buchhandel erhältlich!
Ein Fall, der das ganze Land bewegt: 2001 verschwand die 9-jährige Peggy Knobloch aus dem oberfränkischen Lichtenberg spurlos. Der geistig zurückgebliebene Ulvi Kulac wurde wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Es gab keine Zeugen, keine DNA, keine Blutspuren, keine konkreten Beweise und vor allem - keine Leiche. Ina Jung und Christoph Lemmer, die über viele Jahre den Fall investigativ recherchiert haben, weisen nun nach, dass die Polizei gezielt auf die Verurteilung von Ulvi Kulac hingearbeitet hat - nicht, weil er der Täter war, sondern damit der Fall endlich zu den Akten gelegt werden kann. Kein Justizirrtum, sondern - schlimmer - ein systematisches Fehlurteil auf Betreiben von Politik und Justiz. Doch es gibt Hoffnung: 2014 wird das Verfahren wieder aufgenommen, auch dank der Recherchen des Autorenduos. Ina Jung und Christoph Lemmer erzählen in diesem Buch den Fall Peggy neu und mit bisher unbekannten Fakten - und decken eine beklemmende Wahrheit auf.
Lese-Probe zu „Der Fall Peggy “
Der Fall Peggy von Ina Jung und Christoph LemmerEin Kind verschwindet
Kapitel 1
Lichtenberg, 7. Mai 2001
Lichtenberg ist ein 1200-Seelen-Ort im Frankenwald, gelegen am Fuß einer mittelalterlichen Burgruine. Hinter dem Schlossberg erstreckt sich zunächst das Lohbachtal, dahinter folgt das Höllental, und nur wenige Kilometer entfernt befand sich früher der ehemalige Grenzstreifen zur DDR. Es ist eine eigenartige Gegend, rauh und irgendwie melancholisch. Der Sage nach trieb der Teufel einst sein Unwesen im Höllental. Nur eine Phantasiegeschichte derer, die im Bergbau ihr Glück suchten? Geheimnisvoll wirkt es schon, das tiefe Tal, in dem Lichtenberg liegt, geschnitten aus Basaltstein, gezeichnet von schroffen Felspartien. Die Gegend ist durchzogen von unzähligen Stollen, Höhlen und Schächten. Wanderer lieben die Landschaft und den Ort mit seinem mittelalterlichen Kern. Die farbigen Fassaden, die Häuser mit den Sitzbänken davor, die kleinen Gärten entlang der Mauer mit ihren Blumenmeeren und den Obstbäumen, unter denen hier und da ein verwitterter schmiedeeiserner Gartentisch steht. Lichtenberg - eine Idylle mit kleinen Gässchen und vielen romantischen Ausblicken.
... mehr
Vierzig Jahre lang schlummerte der Ort im Landkreis Hof eher still am Rande der westlichen Welt vor sich hin. Als sich der Eiserne Vorhang 1989 plötzlich hob, lag der Ort mit einem Mal mittendrin, im Herzen Deutschlands, im Herzen Europas. Ganze Kolonnen ostdeutscher Wagen der Marken Trabant und Wartburg tuckerten über die ehemalige Grenze, Oberfranken war für Sachsen und Thüringer die erste Anlaufstelle - zum Einkaufen oder einfach nur zum Schauen und Staunen. Einige blieben, zogen dauerhaft aus dem Osten hierher, in der Hoffnung, jenseits der einstigen Grenze ihr Glück zu finden. In den Jahren nach der Wiedervereinigung rutschte das einstige »Zonenrandgebiet« im Norden Bayerns indes wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Das änderte sich schlagartig am 7. Mai 2001. An jenem Tag verschwand die neunjährige Peggy Knobloch. In den Wochen und Monaten danach drängten sich in Lichtenberg Reporter und Fernsehteams, republikweit sorgte der Fall für Schlagzeilen. Doch während das Interesse der Medien mit der Zeit nachließ, der kleine Ort in Oberfranken wieder aus dem kollektiven Gedächtnis rutschte, ist der mysteriöse Fall in der Region bis heute Gesprächsthema. Denn seit dem 7. Mai 2001 liegt ein dunkler Schatten über Lichtenberg.
*
Der 7. Mai des Jahres 2001 ist ein Montag. Ein Tag, an dem es nicht richtig hell werden will. Der Nebel hängt tief in den engen Gassen von Lichtenberg, es ist ungewöhnlich kühl. Gegen halb acht verlässt die neunjährige Peggy das blau gestrichene Haus am Marktplatz 8 (kein Platz im eigentlichen Sinne, sondern der Name einer Straße, die vom Henri-Marteau- Platz durch den Ortskern bis zum Schlossberg hinaufführt). Hier lebt sie mit ihrer Mutter Susanne, ihrer dreijährigen Halbschwester Jessica und dem Lebensgefährten der Mutter, Ahmet Yilmaz, in einer Dreizimmerwohnung im Hinterhaus des Anwesens. Wie beinahe jeden Morgen ist ihr erstes Ziel der kleine Lebensmittelladen von Jürgen Langheinrich nur wenige Schritte entfernt. Der Ladenbesitzer ist bereits seit Stunden auf den Beinen. Im Morgengrauen hat er die angelieferten Backwaren in die Auslage gelegt, dann in seiner Wohnung über dem Geschäft gefrühstückt und seine pflegebedürftige Mutter versorgt. »Es war ein komischer Tag«, wird er später aussagen, »so nebelig, so diesig, so ganz anormal für diese Gegend. Es mag zwar jetzt komisch klingen, aber ich bezeichne den Tag mal als unheimlich.«
Kurz nach halb acht betritt Peggy den Laden. Sie ist Langheinrichs erste Kundin. Ein hübsches Mädchen mit mittelblonden Haaren, stahlblauen Augen und leicht abstehenden Ohren. An jenem Morgen entscheidet sie sich für eine Käsestange, eine Caprisonne und zwei Chupa-Chups- Lutscher für insgesamt 3,10 DM. Sie lässt die Summe anschreiben, Mutter oder Stiefvater begleichen die Rechnung für gewöhnlich am Ende der Schulwoche.
Peggy ist spät dran. Sie legt nicht einmal ihren pinkfarbenen McNeill-Schulranzen mit den gelben Reflektorstreifen und den bunten Stofftier-Anhängern ab. Jürgen Langheinrich stopft den Pausensnack rasch in die kleine Außentasche, dann eilt das Mädchen auch schon davon. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie gerannt ist.« Auch davon, dass die Stofftiere am Ranzen, darunter eine Diddl - Maus, deswegen auf und ab gehüpft seien, wird er den Ermittlern später berichten.
Um 7.50 Uhr ist Schulbeginn. Peggy trifft gerade noch rechtzeitig ein. Auf dem Stundenplan stehen Mathematik, Deutsch, Heimat- und Sachkunde, noch einmal Deutsch, Kunst und schließlich in der sechsten Stunde Musik. Um
12.50 Uhr endet der Schultag für die Neunjährige, die es nicht besonders eilig zu haben scheint. Sie hilft gemeinsam mit ihrer Freundin Miriam Eder der Hausmeisterin beim Ausleeren des Papierkorbs im Klassenzimmer und beim Abwischen der Tische. Dann sucht sie noch eine Weile nach ihrem Geldbeutel, den sie schließlich in einem der Fächer unter den Bänken findet. Erst um 13.05 Uhr verlassen die Mädchen das Schulgelände. Die Hausmeisterin schaut den beiden noch nach, wie sie den Sportplatzweg entlang Richtung Nailaer Straße schlendern.
Zu dieser Zeit geht auch der Schüler Christian Otto nach Hause. Er sieht die Freundinnen an einem Kaugummiautomaten am Straßenrand stehen.
Zehn Minuten später erreichen Peggy und Miriam das Anwesen der Familie Eder. Es ist 13.15 Uhr, als Miriams Schwester Manuela aus dem Küchenfenster blickt und die Mädchen am Gartentor schwatzen sieht. Doris Gebhart, die Mutter einer Mitschülerin, fährt in diesem Moment am Haus der Eders vorbei und winkt den beiden aus dem Auto zu. Peggy habe sogar noch zurückgegrüßt, erinnert sie sich. Doris Gebhart weiß genau, dass sie die Schülerinnen um
13.15 Uhr gesehen hat. Zum einen kommt ihr Mann jeden Tag kurz nach eins von der Arbeit heim. Zum anderen hat sie heute auf ihre Tochter Sonja gewartet, eine Klassenkameradin von Peggy, um gemeinsam mit ihr ein paar Besorgungen zu machen. Zwischen 13.15 und 13.30 Uhr sieht eine weitere Zeugin Peggy zügigen Schrittes die Nailaer Straße entlanglaufen. Claudia Ritter hat, wie jeden Montag, bei ihren Eltern zu Mittag gegessen. Ihr Vater bestätigt später, dass Claudia sich gegen 13.15 Uhr auf den Heimweg gemacht hat. Die Zeugin sagt bei ihrer Befragung durch die Polizei aus: »Ich habe sie nicht eingeholt, sie war ein paar Schritte vor mir. [...] Aufgrund ihrer Haare erkannte ich sie als Peggy.« Auch den pinkfarbenen Schulranzen erwähnt Claudia Ritter, an dem, so ihre Erinnerung, unter anderem ein graues Plüschtier baumelte. Peggy sei weiter Richtung Marktplatz gelaufen und habe sich nahe dem Henri-Marteau-Platz auf Höhe der Raiffeisenbank kurz umgedreht, weshalb sie das Mädchen nun zweifelsfrei erkannt habe.
Gegen halb zwei biegt der Schulbus aus Naila um die Kurve am Henri-Marteau-Platz. Durch die Scheibe sieht die Schülerin Hilke Schümann Peggy an der Raiffeisenbank vorbei in Richtung Marktplatz laufen. »Ich sah ihren Schulranzen. Er war rosa, und es waren Figuren dran. Außerdem sah ich ihre langen blonden Haare. Ich weiß auch noch, dass sie eine Jacke anhatte und eine olivgrüne Hose.« Der Busfahrer Werner Lohr kann bei seiner späteren Befragung zwar keine Aussage zu Peggy machen, wohl aber bestätigt er Hilkes Angabe, der Bus habe den Henri-Marteau-Platz gegen halb zwei erreicht.
Peggy ist zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Schritte von zu Hause entfernt. Ob sie jemals in der Wohnung am Marktplatz 8 angekommen ist und diese später vielleicht noch einmal verlassen hat, kann niemand mit Sicherheit sagen. Denn von halb zwei an ist der Verbleib des Mädchens rätselhaft.
Als Susanne Knobloch am Abend des 7. Mai um Viertel nach acht von ihrer Spätschicht aus dem Alten- und Pflegeheim im nahe gelegenen Langenbach heimkommt, ist ihre Tochter nicht da. Die Wohnungstür ist abgeschlossen, in keinem der Zimmer brennt Licht, und im Flur liegt auch nicht wie sonst der achtlos hingeworfene Schulranzen, über den Susanne schon so oft gestolpert ist.
Die Tatsache, dass Peggy nicht zu Hause ist, beunruhigt die Mutter zunächst nicht. Ihre Tochter ist ein Schlüsselkind, sie musste früher als manche ihrer Klassenkameraden selbständig werden. Aber Susanne Knobloch hat Vorkehrungen getroffen für die Zeiten, in denen sie arbeitet. Im selben Haus wohnen alte Freunde von ihr, Maik und Elke Kaiser, die vor drei Jahren nach Lichtenberg gezogen waren. Sie stammen wie Susanne Knobloch aus der Gegend um Halle in Sachsen-Anhalt. Elke und Susanne sprechen sich regelmäßig ab, sie versuchen, ihre Schichten so zu legen, dass immer eine von ihnen auf die Kinder achten kann. So auch an diesem 7. Mai. Die Kaisers, die gegen Mittag von einem Termin in Weiden zurück sein wollten, sollten Jessica am Nachmittag vom Kindergarten abholen. Peggy wird wohl ebenfalls oben bei den Nachbarn sein, mag sich Susanne Knobloch gedacht haben.
Als sie an der Tür der Kaisers klingelt, hört sie Getrappel im Flur. Es ist Jessica, die ihrer Mutter freudig entgegenrennt. Die beiden Freundinnen plaudern eine Weile miteinander, erst dann fragt Susanne nach Peggy. Elke erzählt, sie habe das Mädchen den ganzen Tag über nicht gesehen. Aber das Kind werde sicher gleich auftauchen, vielleicht habe es beim Spielen mit Freunden die Zeit vergessen.
Zurück in ihrer Wohnung, greift Susanne Knobloch zum Telefonhörer. Sie erkundigt sich bei Mitschülern, ruft jeden an, bei dem Peggy nach der Schule hängengeblieben sein könnte. Nichts. Niemand weiß, wo das Kind steckt. Miriam immerhin erzählt, sie seien gemeinsam ein Stück des Weges nach Hause gegangen, mehr wisse sie aber nicht. Auch in einigen Cafés und Wirtshäusern Lichtenbergs fragt Susanne Knobloch telefonisch nach. Doch nirgends erhält sie eine Auskunft über Peggys Verbleib. Um halb zehn ruft Susanne Knobloch bei den Kaisers an und bittet Elke, nach unten zu kommen. Elke solle bitte auf Jessica aufpassen, während sie mit dem Auto all die Adressen abklappern würde, bei denen niemand das Telefon abgehoben hat. Ihre Tour durch den Ort endet ohne Ergebnis.
Um 21.56 Uhr meldet sie Peggy telefonisch bei der zuständigen Polizeidienststelle in Naila als vermisst. Danach, gegen 22.15 Uhr, informiert sie ihren Lebenspartner Ahmet Yilmaz. Er arbeitet zu dieser Zeit noch, hat Spätschicht in einer Textilfabrik in Sparneck. Aus den Vernehmungsprotokollen geht hervor, dass Ahmet nach Hause fuhr, später aber noch einmal aufbrach, um an der Raststätte Berg eine Taschenlampe für die Suche nach Peggy zu kaufen.
Um 23.45 Uhr verständigt die Polizei in Naila die Rufbereitschaft der Kriminalpolizeiinspektion (KPI) Hof an der Saale und informiert die Kollegen über eine »abgängige Person «. Sofort wird »Einsatz 1« ausgelöst. Zwei Beamte mit dem Fahrzeug »90/12« treffen in den Nachtstunden zum
8. Mai, um 0.45 Uhr, am Freizeitzentrum Lichtenberg ein. Dort haben sich bereits mehrere Streifen des Polizeidienststellenbereiches (PD) sowie der stellvertretende Dienststellenleiter der Polizeiinspektion (PI) Naila eingefunden. Der Einsatzleiter kommt wenige Minuten später. Beamte der Verkehrspolizeiinspektion Hof beginnen damit, das Gelände um den Freizeitpark und den dortigen Weiher zu durchkämmen. Auch entlang des vermuteten Heimwegs des Mädchens von der Schule suchen sie nach Spuren.
Parallel dazu wird um 1.15 Uhr Peggys Mitschülerin Miriam Eder aus dem Bett geklingelt. Sie habe das Mädchen offenbar zuletzt gesehen, hatte Susanne Knobloch der Polizei erzählt. Die Beamten befragen das verschlafene und verschreckte Kind im Beisein ihrer Mutter. Von Miriam erfahren sie, dass die beiden Mädchen nach Schulschluss gemeinsam nach Hause geschlendert seien, sich ihre Wege vor dem Ederschen Wohnhaus in der Nailaer Straße aber getrennt hätten. Miriam erwähnt noch, dass Peggy versprochen habe, am nächsten Tag Barbie-Puppen in die Schule mitzubringen.
Die Ermittler beschließen, das Mädchen für den Rest der Nacht in Ruhe zu lassen und am folgenden Tag erneut zu vernehmen. Bevor sie gehen, gibt Miriams Mutter den Beamten ungefragt noch eine Information mit auf den Weg: Sie habe ihrer Tochter vor einigen Wochen den Kontakt mit Peggy eigentlich untersagt, da diese »zum Streunen neige«.
Um 1.32 Uhr sendet die PI Naila die erste Personenbeschreibung an das LKA München, an die PD Hof und die KPI Hof. Um Intrapol-Ausschreibung wird gebeten:
Das Mädchen ist ca. 134 cm groß, schlank, dunkelblonde, schulterlange, glatte Haare, olivgrüne Hose, orangefarbenes Sweatshirt mit Aufdruck ›Glöckner von Notre-Dame‹, Turnschuhe mit hohen Sohlen, Windjacke mit gelbem Aufdruck ›TSV Lichtenberg‹.
Eine Dreiviertelstunde später fahren Beamte vor dem blauen Haus am Marktplatz 8 im historischen Kern von Lichtenberg vor. Peggys Mutter wirkt gefasst. Sie gibt an, dass Peggys Schulranzen fehle. Auch ihr Nachthemd und der Kinder-Laptop seien nicht aufzufinden. Dafür liege ihr Kuschelkissen - trotz des allgemeinen Durcheinanders im Kinderzimmer - fein säuberlich drapiert auf dem Bett. Susanne Knobloch äußert den Beamten gegenüber ihr Befremden, dass Elke Kaiser sie nicht beizeiten darüber informiert habe, dass Peggy nach der Schule nicht erschienen sei. Die Kaisers selbst werden dazu erst am folgenden Tag vernommen.
Am Ende dieser ersten Befragung händigt Susanne Knobloch den Beamten noch ein Foto von Peggy aus.
*
Nicht nur in Lichtenberg stehen in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 2001 Ermittler vor der Tür überraschter und verschlafener Menschen. Auch fünfzehn Kilometer entfernt in Schwarzenbach am Wald, wo Peggys Urgroßmutter Ruth und ihr Opa Horst wohnen, wird gründlich nach dem Mädchen gesucht. Die Polizisten durchforsten das ganze Haus samt Keller und auch den Garten mit der Laube. Ohne Ergebnis.
Und im mittelfränkischen Heroldsberg klingeln zwei Beamte der Polizeidienststelle Erlangen gegen 3 Uhr morgens Martin Schwarz aus dem Bett. Peggys leiblicher Vater öffnet das Schlafzimmerfenster zur Straße, um nachzusehen, wer um diese Uhrzeit geläutet hat. Die Beamten rufen vom Bürgersteig herauf, ob er der Vater von Peggy sei und etwas über ihren Verbleib wisse - das Kind sei offenbar »stiften gegangen«. Schwarz reagiert überrascht. Er könne dazu nichts sagen, er habe seine Tochter seit Jahren nicht gesehen, erklärt er den Beamten, denen diese Antwort fürs Erste ausreicht. Sie verschwinden ohne weitere Nachfrage und ohne die Wohnung, in der Schwarz mit seiner Frau Ines lebt, durchsucht zu haben.
Gegen 3.30 Uhr setzt sich Ahmet Yilmaz an den Computer in der Wohnung am Markplatz 8 und erstellt Fahndungsplakate. Eines ist mit dem Datum des 7. Mai versehen, das andere mit dem des Folgetages. Über den Fotos von Peggy steht in großen Lettern: »Gesucht wird PEGGY KNOBLOCH / BITTE HELFEN SIE MIT. Vermisst seit 07.05.01 bzw. 08.05.01 ca. 14 UHR. Bitte hinweise [kleingeschrieben] an die Polizei ODER [hier folgt seine Handynummer]«.
Zur gleichen Zeit brechen die Einsatzkräfte aus Hof die Suche im Gelände um den Freizeitpark ab - ohne Ergebnis.
Um 4 Uhr klingelt Susanne Knoblochs Telefon. Für einen kurzen Moment keimt Hoffnung auf. Aber es ist nur ein Beamter, der von ihr wissen will, ob sie ihr Einverständnis zu einer Öffentlichkeitsfahndung mit Namensnennung und Bild geben würde. Die Mutter willigt ein.
Gut eine Stunde später ruft Susanne bei ihrer Mutter Renate an. Diese gibt später zu Protokoll:
Am 8. Mai, 5.15 Uhr hat bei uns zu Hause das Telefon geklingelt, und Susanne hat mir gesagt, dass Peggy fort ist. Ich weiß die Uhrzeit deshalb noch so genau, weil ich auf die Uhr geschaut habe, weil ich normalerweise erst um halb sechs aufstehe und sonst niemand um eine solche Uhrzeit anruft. Meine Tochter sagte mir unter Tränen:
»Die Peggy ist weg.« Ich fragte: »Wie weg.« Sie sagte: »Na weg«, und ich sagte: »Sie kann doch nicht einfach weg sein.« Ich musste mich dann erst einmal setzen und Luft holen.
Wenig später geht für die Polizisten der Einsatz in jener Nacht zu Ende. Um 5.49 Uhr gibt die Kripo-Inspektion Hof unter dem Vermerk »EVAP Vermisste / abgängige Person « eine Lagemeldung heraus, laut der »in Lichtenberg die neunjährige Schülerin Peggy Knobloch, geb. 6.4.92, wh. Lichtenberg, Marktplatz 8, nach der Schule nicht nach Hause kam und seitdem vermisst wird«. Sie sei nur 300 Meter von ihrer Wohnung entfernt zuletzt gesehen worden. »Dort dürfte sie nie angekommen sein.«
© 2013 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Vierzig Jahre lang schlummerte der Ort im Landkreis Hof eher still am Rande der westlichen Welt vor sich hin. Als sich der Eiserne Vorhang 1989 plötzlich hob, lag der Ort mit einem Mal mittendrin, im Herzen Deutschlands, im Herzen Europas. Ganze Kolonnen ostdeutscher Wagen der Marken Trabant und Wartburg tuckerten über die ehemalige Grenze, Oberfranken war für Sachsen und Thüringer die erste Anlaufstelle - zum Einkaufen oder einfach nur zum Schauen und Staunen. Einige blieben, zogen dauerhaft aus dem Osten hierher, in der Hoffnung, jenseits der einstigen Grenze ihr Glück zu finden. In den Jahren nach der Wiedervereinigung rutschte das einstige »Zonenrandgebiet« im Norden Bayerns indes wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Das änderte sich schlagartig am 7. Mai 2001. An jenem Tag verschwand die neunjährige Peggy Knobloch. In den Wochen und Monaten danach drängten sich in Lichtenberg Reporter und Fernsehteams, republikweit sorgte der Fall für Schlagzeilen. Doch während das Interesse der Medien mit der Zeit nachließ, der kleine Ort in Oberfranken wieder aus dem kollektiven Gedächtnis rutschte, ist der mysteriöse Fall in der Region bis heute Gesprächsthema. Denn seit dem 7. Mai 2001 liegt ein dunkler Schatten über Lichtenberg.
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Der 7. Mai des Jahres 2001 ist ein Montag. Ein Tag, an dem es nicht richtig hell werden will. Der Nebel hängt tief in den engen Gassen von Lichtenberg, es ist ungewöhnlich kühl. Gegen halb acht verlässt die neunjährige Peggy das blau gestrichene Haus am Marktplatz 8 (kein Platz im eigentlichen Sinne, sondern der Name einer Straße, die vom Henri-Marteau- Platz durch den Ortskern bis zum Schlossberg hinaufführt). Hier lebt sie mit ihrer Mutter Susanne, ihrer dreijährigen Halbschwester Jessica und dem Lebensgefährten der Mutter, Ahmet Yilmaz, in einer Dreizimmerwohnung im Hinterhaus des Anwesens. Wie beinahe jeden Morgen ist ihr erstes Ziel der kleine Lebensmittelladen von Jürgen Langheinrich nur wenige Schritte entfernt. Der Ladenbesitzer ist bereits seit Stunden auf den Beinen. Im Morgengrauen hat er die angelieferten Backwaren in die Auslage gelegt, dann in seiner Wohnung über dem Geschäft gefrühstückt und seine pflegebedürftige Mutter versorgt. »Es war ein komischer Tag«, wird er später aussagen, »so nebelig, so diesig, so ganz anormal für diese Gegend. Es mag zwar jetzt komisch klingen, aber ich bezeichne den Tag mal als unheimlich.«
Kurz nach halb acht betritt Peggy den Laden. Sie ist Langheinrichs erste Kundin. Ein hübsches Mädchen mit mittelblonden Haaren, stahlblauen Augen und leicht abstehenden Ohren. An jenem Morgen entscheidet sie sich für eine Käsestange, eine Caprisonne und zwei Chupa-Chups- Lutscher für insgesamt 3,10 DM. Sie lässt die Summe anschreiben, Mutter oder Stiefvater begleichen die Rechnung für gewöhnlich am Ende der Schulwoche.
Peggy ist spät dran. Sie legt nicht einmal ihren pinkfarbenen McNeill-Schulranzen mit den gelben Reflektorstreifen und den bunten Stofftier-Anhängern ab. Jürgen Langheinrich stopft den Pausensnack rasch in die kleine Außentasche, dann eilt das Mädchen auch schon davon. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie gerannt ist.« Auch davon, dass die Stofftiere am Ranzen, darunter eine Diddl - Maus, deswegen auf und ab gehüpft seien, wird er den Ermittlern später berichten.
Um 7.50 Uhr ist Schulbeginn. Peggy trifft gerade noch rechtzeitig ein. Auf dem Stundenplan stehen Mathematik, Deutsch, Heimat- und Sachkunde, noch einmal Deutsch, Kunst und schließlich in der sechsten Stunde Musik. Um
12.50 Uhr endet der Schultag für die Neunjährige, die es nicht besonders eilig zu haben scheint. Sie hilft gemeinsam mit ihrer Freundin Miriam Eder der Hausmeisterin beim Ausleeren des Papierkorbs im Klassenzimmer und beim Abwischen der Tische. Dann sucht sie noch eine Weile nach ihrem Geldbeutel, den sie schließlich in einem der Fächer unter den Bänken findet. Erst um 13.05 Uhr verlassen die Mädchen das Schulgelände. Die Hausmeisterin schaut den beiden noch nach, wie sie den Sportplatzweg entlang Richtung Nailaer Straße schlendern.
Zu dieser Zeit geht auch der Schüler Christian Otto nach Hause. Er sieht die Freundinnen an einem Kaugummiautomaten am Straßenrand stehen.
Zehn Minuten später erreichen Peggy und Miriam das Anwesen der Familie Eder. Es ist 13.15 Uhr, als Miriams Schwester Manuela aus dem Küchenfenster blickt und die Mädchen am Gartentor schwatzen sieht. Doris Gebhart, die Mutter einer Mitschülerin, fährt in diesem Moment am Haus der Eders vorbei und winkt den beiden aus dem Auto zu. Peggy habe sogar noch zurückgegrüßt, erinnert sie sich. Doris Gebhart weiß genau, dass sie die Schülerinnen um
13.15 Uhr gesehen hat. Zum einen kommt ihr Mann jeden Tag kurz nach eins von der Arbeit heim. Zum anderen hat sie heute auf ihre Tochter Sonja gewartet, eine Klassenkameradin von Peggy, um gemeinsam mit ihr ein paar Besorgungen zu machen. Zwischen 13.15 und 13.30 Uhr sieht eine weitere Zeugin Peggy zügigen Schrittes die Nailaer Straße entlanglaufen. Claudia Ritter hat, wie jeden Montag, bei ihren Eltern zu Mittag gegessen. Ihr Vater bestätigt später, dass Claudia sich gegen 13.15 Uhr auf den Heimweg gemacht hat. Die Zeugin sagt bei ihrer Befragung durch die Polizei aus: »Ich habe sie nicht eingeholt, sie war ein paar Schritte vor mir. [...] Aufgrund ihrer Haare erkannte ich sie als Peggy.« Auch den pinkfarbenen Schulranzen erwähnt Claudia Ritter, an dem, so ihre Erinnerung, unter anderem ein graues Plüschtier baumelte. Peggy sei weiter Richtung Marktplatz gelaufen und habe sich nahe dem Henri-Marteau-Platz auf Höhe der Raiffeisenbank kurz umgedreht, weshalb sie das Mädchen nun zweifelsfrei erkannt habe.
Gegen halb zwei biegt der Schulbus aus Naila um die Kurve am Henri-Marteau-Platz. Durch die Scheibe sieht die Schülerin Hilke Schümann Peggy an der Raiffeisenbank vorbei in Richtung Marktplatz laufen. »Ich sah ihren Schulranzen. Er war rosa, und es waren Figuren dran. Außerdem sah ich ihre langen blonden Haare. Ich weiß auch noch, dass sie eine Jacke anhatte und eine olivgrüne Hose.« Der Busfahrer Werner Lohr kann bei seiner späteren Befragung zwar keine Aussage zu Peggy machen, wohl aber bestätigt er Hilkes Angabe, der Bus habe den Henri-Marteau-Platz gegen halb zwei erreicht.
Peggy ist zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Schritte von zu Hause entfernt. Ob sie jemals in der Wohnung am Marktplatz 8 angekommen ist und diese später vielleicht noch einmal verlassen hat, kann niemand mit Sicherheit sagen. Denn von halb zwei an ist der Verbleib des Mädchens rätselhaft.
Als Susanne Knobloch am Abend des 7. Mai um Viertel nach acht von ihrer Spätschicht aus dem Alten- und Pflegeheim im nahe gelegenen Langenbach heimkommt, ist ihre Tochter nicht da. Die Wohnungstür ist abgeschlossen, in keinem der Zimmer brennt Licht, und im Flur liegt auch nicht wie sonst der achtlos hingeworfene Schulranzen, über den Susanne schon so oft gestolpert ist.
Die Tatsache, dass Peggy nicht zu Hause ist, beunruhigt die Mutter zunächst nicht. Ihre Tochter ist ein Schlüsselkind, sie musste früher als manche ihrer Klassenkameraden selbständig werden. Aber Susanne Knobloch hat Vorkehrungen getroffen für die Zeiten, in denen sie arbeitet. Im selben Haus wohnen alte Freunde von ihr, Maik und Elke Kaiser, die vor drei Jahren nach Lichtenberg gezogen waren. Sie stammen wie Susanne Knobloch aus der Gegend um Halle in Sachsen-Anhalt. Elke und Susanne sprechen sich regelmäßig ab, sie versuchen, ihre Schichten so zu legen, dass immer eine von ihnen auf die Kinder achten kann. So auch an diesem 7. Mai. Die Kaisers, die gegen Mittag von einem Termin in Weiden zurück sein wollten, sollten Jessica am Nachmittag vom Kindergarten abholen. Peggy wird wohl ebenfalls oben bei den Nachbarn sein, mag sich Susanne Knobloch gedacht haben.
Als sie an der Tür der Kaisers klingelt, hört sie Getrappel im Flur. Es ist Jessica, die ihrer Mutter freudig entgegenrennt. Die beiden Freundinnen plaudern eine Weile miteinander, erst dann fragt Susanne nach Peggy. Elke erzählt, sie habe das Mädchen den ganzen Tag über nicht gesehen. Aber das Kind werde sicher gleich auftauchen, vielleicht habe es beim Spielen mit Freunden die Zeit vergessen.
Zurück in ihrer Wohnung, greift Susanne Knobloch zum Telefonhörer. Sie erkundigt sich bei Mitschülern, ruft jeden an, bei dem Peggy nach der Schule hängengeblieben sein könnte. Nichts. Niemand weiß, wo das Kind steckt. Miriam immerhin erzählt, sie seien gemeinsam ein Stück des Weges nach Hause gegangen, mehr wisse sie aber nicht. Auch in einigen Cafés und Wirtshäusern Lichtenbergs fragt Susanne Knobloch telefonisch nach. Doch nirgends erhält sie eine Auskunft über Peggys Verbleib. Um halb zehn ruft Susanne Knobloch bei den Kaisers an und bittet Elke, nach unten zu kommen. Elke solle bitte auf Jessica aufpassen, während sie mit dem Auto all die Adressen abklappern würde, bei denen niemand das Telefon abgehoben hat. Ihre Tour durch den Ort endet ohne Ergebnis.
Um 21.56 Uhr meldet sie Peggy telefonisch bei der zuständigen Polizeidienststelle in Naila als vermisst. Danach, gegen 22.15 Uhr, informiert sie ihren Lebenspartner Ahmet Yilmaz. Er arbeitet zu dieser Zeit noch, hat Spätschicht in einer Textilfabrik in Sparneck. Aus den Vernehmungsprotokollen geht hervor, dass Ahmet nach Hause fuhr, später aber noch einmal aufbrach, um an der Raststätte Berg eine Taschenlampe für die Suche nach Peggy zu kaufen.
Um 23.45 Uhr verständigt die Polizei in Naila die Rufbereitschaft der Kriminalpolizeiinspektion (KPI) Hof an der Saale und informiert die Kollegen über eine »abgängige Person «. Sofort wird »Einsatz 1« ausgelöst. Zwei Beamte mit dem Fahrzeug »90/12« treffen in den Nachtstunden zum
8. Mai, um 0.45 Uhr, am Freizeitzentrum Lichtenberg ein. Dort haben sich bereits mehrere Streifen des Polizeidienststellenbereiches (PD) sowie der stellvertretende Dienststellenleiter der Polizeiinspektion (PI) Naila eingefunden. Der Einsatzleiter kommt wenige Minuten später. Beamte der Verkehrspolizeiinspektion Hof beginnen damit, das Gelände um den Freizeitpark und den dortigen Weiher zu durchkämmen. Auch entlang des vermuteten Heimwegs des Mädchens von der Schule suchen sie nach Spuren.
Parallel dazu wird um 1.15 Uhr Peggys Mitschülerin Miriam Eder aus dem Bett geklingelt. Sie habe das Mädchen offenbar zuletzt gesehen, hatte Susanne Knobloch der Polizei erzählt. Die Beamten befragen das verschlafene und verschreckte Kind im Beisein ihrer Mutter. Von Miriam erfahren sie, dass die beiden Mädchen nach Schulschluss gemeinsam nach Hause geschlendert seien, sich ihre Wege vor dem Ederschen Wohnhaus in der Nailaer Straße aber getrennt hätten. Miriam erwähnt noch, dass Peggy versprochen habe, am nächsten Tag Barbie-Puppen in die Schule mitzubringen.
Die Ermittler beschließen, das Mädchen für den Rest der Nacht in Ruhe zu lassen und am folgenden Tag erneut zu vernehmen. Bevor sie gehen, gibt Miriams Mutter den Beamten ungefragt noch eine Information mit auf den Weg: Sie habe ihrer Tochter vor einigen Wochen den Kontakt mit Peggy eigentlich untersagt, da diese »zum Streunen neige«.
Um 1.32 Uhr sendet die PI Naila die erste Personenbeschreibung an das LKA München, an die PD Hof und die KPI Hof. Um Intrapol-Ausschreibung wird gebeten:
Das Mädchen ist ca. 134 cm groß, schlank, dunkelblonde, schulterlange, glatte Haare, olivgrüne Hose, orangefarbenes Sweatshirt mit Aufdruck ›Glöckner von Notre-Dame‹, Turnschuhe mit hohen Sohlen, Windjacke mit gelbem Aufdruck ›TSV Lichtenberg‹.
Eine Dreiviertelstunde später fahren Beamte vor dem blauen Haus am Marktplatz 8 im historischen Kern von Lichtenberg vor. Peggys Mutter wirkt gefasst. Sie gibt an, dass Peggys Schulranzen fehle. Auch ihr Nachthemd und der Kinder-Laptop seien nicht aufzufinden. Dafür liege ihr Kuschelkissen - trotz des allgemeinen Durcheinanders im Kinderzimmer - fein säuberlich drapiert auf dem Bett. Susanne Knobloch äußert den Beamten gegenüber ihr Befremden, dass Elke Kaiser sie nicht beizeiten darüber informiert habe, dass Peggy nach der Schule nicht erschienen sei. Die Kaisers selbst werden dazu erst am folgenden Tag vernommen.
Am Ende dieser ersten Befragung händigt Susanne Knobloch den Beamten noch ein Foto von Peggy aus.
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Nicht nur in Lichtenberg stehen in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 2001 Ermittler vor der Tür überraschter und verschlafener Menschen. Auch fünfzehn Kilometer entfernt in Schwarzenbach am Wald, wo Peggys Urgroßmutter Ruth und ihr Opa Horst wohnen, wird gründlich nach dem Mädchen gesucht. Die Polizisten durchforsten das ganze Haus samt Keller und auch den Garten mit der Laube. Ohne Ergebnis.
Und im mittelfränkischen Heroldsberg klingeln zwei Beamte der Polizeidienststelle Erlangen gegen 3 Uhr morgens Martin Schwarz aus dem Bett. Peggys leiblicher Vater öffnet das Schlafzimmerfenster zur Straße, um nachzusehen, wer um diese Uhrzeit geläutet hat. Die Beamten rufen vom Bürgersteig herauf, ob er der Vater von Peggy sei und etwas über ihren Verbleib wisse - das Kind sei offenbar »stiften gegangen«. Schwarz reagiert überrascht. Er könne dazu nichts sagen, er habe seine Tochter seit Jahren nicht gesehen, erklärt er den Beamten, denen diese Antwort fürs Erste ausreicht. Sie verschwinden ohne weitere Nachfrage und ohne die Wohnung, in der Schwarz mit seiner Frau Ines lebt, durchsucht zu haben.
Gegen 3.30 Uhr setzt sich Ahmet Yilmaz an den Computer in der Wohnung am Markplatz 8 und erstellt Fahndungsplakate. Eines ist mit dem Datum des 7. Mai versehen, das andere mit dem des Folgetages. Über den Fotos von Peggy steht in großen Lettern: »Gesucht wird PEGGY KNOBLOCH / BITTE HELFEN SIE MIT. Vermisst seit 07.05.01 bzw. 08.05.01 ca. 14 UHR. Bitte hinweise [kleingeschrieben] an die Polizei ODER [hier folgt seine Handynummer]«.
Zur gleichen Zeit brechen die Einsatzkräfte aus Hof die Suche im Gelände um den Freizeitpark ab - ohne Ergebnis.
Um 4 Uhr klingelt Susanne Knoblochs Telefon. Für einen kurzen Moment keimt Hoffnung auf. Aber es ist nur ein Beamter, der von ihr wissen will, ob sie ihr Einverständnis zu einer Öffentlichkeitsfahndung mit Namensnennung und Bild geben würde. Die Mutter willigt ein.
Gut eine Stunde später ruft Susanne bei ihrer Mutter Renate an. Diese gibt später zu Protokoll:
Am 8. Mai, 5.15 Uhr hat bei uns zu Hause das Telefon geklingelt, und Susanne hat mir gesagt, dass Peggy fort ist. Ich weiß die Uhrzeit deshalb noch so genau, weil ich auf die Uhr geschaut habe, weil ich normalerweise erst um halb sechs aufstehe und sonst niemand um eine solche Uhrzeit anruft. Meine Tochter sagte mir unter Tränen:
»Die Peggy ist weg.« Ich fragte: »Wie weg.« Sie sagte: »Na weg«, und ich sagte: »Sie kann doch nicht einfach weg sein.« Ich musste mich dann erst einmal setzen und Luft holen.
Wenig später geht für die Polizisten der Einsatz in jener Nacht zu Ende. Um 5.49 Uhr gibt die Kripo-Inspektion Hof unter dem Vermerk »EVAP Vermisste / abgängige Person « eine Lagemeldung heraus, laut der »in Lichtenberg die neunjährige Schülerin Peggy Knobloch, geb. 6.4.92, wh. Lichtenberg, Marktplatz 8, nach der Schule nicht nach Hause kam und seitdem vermisst wird«. Sie sei nur 300 Meter von ihrer Wohnung entfernt zuletzt gesehen worden. »Dort dürfte sie nie angekommen sein.«
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Autoren-Porträt von Ina Jung, Christoph Lemmer
Jung, InaIna Jung ist Journalistin und Filmautorin beim Bayerischen Fernsehen. Für das Drehbuch zu dem auf dem Fall von Peggy Knobloch basierenden Spielfilm "Das unsichtbare Mädchen" erhielt sie den Bayerischen Fernsehpreis 2012.Lemmer, Christoph
Christoph Lemmer, geboren 1961 in West-Berlin, studierte BWL und arbeitet seit 1980 als Journalist für Printmedien und Hörfunk.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Ina Jung , Christoph Lemmer
- 2013, 344 Seiten, 15 Abbildungen, Masse: 14,8 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426276119
- ISBN-13: 9783426276112
- Erscheinungsdatum: 02.05.2013
Rezension zu „Der Fall Peggy “
"Im Fall der vor zwölf Jahren in Oberfranken verschwundenen Peggy konzentrieren sich die Ermittlungen derzeit auf einen 29 Jahre alten Mann aus Halle in Sachsen-Anhalt. Es handelt sich bei dem Mann um die Person, die die Journalisten Ina Jung und Christoph Lemmer in ihrem im Mai erschienenen Buch "Der Fall Peggy" beschreiben und als potenziellen Täter benennen." Süddeutsche Zeitung 20130804
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