Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Rotkäppchen trifft auf Twilight. Das Fantasyhighlight zum Blockbuster mit Amanda Seyfried und Gary Oldman.
Zehn Jahre ist es her, dass Valerie von einem Werwolf verschont wurde. Nun steht Peter, ihr Kindheitsfreund und ihre...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond “
Rotkäppchen trifft auf Twilight. Das Fantasyhighlight zum Blockbuster mit Amanda Seyfried und Gary Oldman.
Zehn Jahre ist es her, dass Valerie von einem Werwolf verschont wurde. Nun steht Peter, ihr Kindheitsfreund und ihre große Liebe wieder vor ihr. Valerie würde alles dafür tun, um mit Peter zusammen zu sein. Doch dann wird ihre Schwester tot aufgefunden, und die Spuren deuten darauf hin, dass der Werwolf zurück ist. Und es scheint, dass er es auf Valerie abgesehen hat.
Zum Kinostart im März!
Klappentext zu „Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond “
Er tötet andere, sie will er lebend<br /><br />Zehn Jahre ist es her, dass Valeries Kindheitsfreund Peter verschwand und Valerie beim nächsten Vollmond einem Werwolf gegenüberstand - und von diesem verschont wurde. Nun ist Peter wieder da, und als sie ihn wiedersieht, packt die jetzt siebzehnjährige Valerie dieselbe wilde Leidenschaft wie dereinst. Zwar ist sie dem wohlhabenden Henry Lazar versprochen, aber Valerie würde alles dafür tun, um Peter nicht wieder zu verlieren. Doch dann wird am Tag nach Vollmond der leblose Körper eines jungen Mädchens gefunden. Kratzspuren und Bisse sprechen eine eindeutige Sprache: Der Werwolf ist zurück, und er hat sich ausgerechnet Valeries Schwester Lucie geholt. Alles deutet darauf hin, dass der Wolf allein wegen Valerie gekommen ist und nicht ruhen wird, bis er auch sie in seiner Gewalt hat...<br /><br />
"Spannung, Gefühl, ein Schuss Fantasy und Mystery, machen diesen Roman zu einem fesselnden Leseabenteuer." -- Media-Mania.de
"Überzeugt mit viel Spannung und einer romantischen Liebesgeschichte." -- Main Post
"Überzeugt mit viel Spannung und einer romantischen Liebesgeschichte." -- Main Post
Lese-Probe zu „Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond “
Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond von Sarah Blakley-CartwrightVorwort
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Im August 2009 wurde mir ein Drehbuch mit dem Titel The Girl with the Red Riding Hood (»Das Mädchen mit
dem Rotkäppchen«) zugesandt, geschrieben von David Leslie Johnson nach einer Idee von Leonardo DiCaprio. DiCaprios Produktionsfirma Appian Way hatte das Projekt zusammen mit Warner Bros. entwickelt. Ich war sofort Feuer und Flamme für die Idee, eine neue, düstere und hintergründige Version des klassischen Märchens zu erzählen.
Märchen sind vielschichtige Modelle, die uns dabei helfen, eigene Welten zu erschaffen und zu verstehen, und nichts anderes habe ich mit diesem versucht. Ich hatte den Kopf voller Ideen und Bilder, mit denen ich diese Welt erlebbar machen könnte. Zur Inspiration nutzte ich kreative Quellen in meiner Umgebung - die Gemälde meiner Schwester für das Magische und Atmosphärische, aktuelle Modehits für die Kostüme, ein kleines Buch über nordrussische Architektur, das ich aus meiner Teenagerzeit aufgehoben habe, für die Gestaltung von Daggorhorn.
An dieser Version von Rotkäppchen interessierte mich besonders das moderne Empfinden der Figuren und ihre Beziehungen. Die Geschichte behandelt Themen wie die Ängste Jugendlicher und die Tücken des Erwachsenwerdens und Sichverliebens. Und natürlich kommt auch der große böse Wolf darin vor. Der Wolf in unserer Geschichte steht für eine dunkle, gefährliche Seite des Menschen und leistet einer paranoiden Gesellschaft Vorschub.
Diese soziale Paranoia hat mich bei der weiteren Bearbeitung des Drehbuchs nicht mehr losgelassen und ist schließlich auch in die Daggorhorner Architektur eingeflossen. Die Dorfbewohner leben in Hütten, die wie kleine Festungen anmuten - sie sind auf Pfählen errichtet und mit schweren Fensterläden und Leitern versehen, die bei Einbruch der Dunkelheit eingezogen werden. Die Menschen in dem Dorf schützen sich aber nicht nur physisch, sondern sind auch emotional auf der Hut, und in dem Augenblick, als der jahrzehntelange Friede mit dem Wolf zerbricht, beginnen auch ihre Beziehungen untereinander zu bröckeln.
Je tiefer wir in diese Welt eintauchten, desto klarer wurde mir, dass die Figuren und ihre Vorgeschichten zu komplex für den Film wurden, und so wollte ich dabei helfen, einen Roman auf den Weg zu bringen, der das verschlungene emotionale Geflecht in dem Dorf Daggorhorn eingehend beleuchtet.
Bei einem Besuch in New York traf ich meine Freundin Sarah Blakley-Cartwright. Sie hatte soeben ihr Studium am Barnard College mit Auszeichnung absolviert und einen Abschluss in Kreativem Schreiben gemacht. Ich kenne Sarah seit meinem dreizehnten Lebensjahr - sie hat sogar in allen meinen vier vorausgegangenen Filmen kleinere Rollen gespielt. Sie war schon immer ein origineller, poetischer Geist - voller wunderlicher Einfälle -, und ich erkannte, dass sie für dieses Projekt wie geschaffen wäre.
Kaum hatte ich mit Sarah über die Idee gesprochen, stürzte sie sich kopfüber in die Arbeit. Sie flog ins kanadische Vancouver, als wir dort die Kulissen für den Film bauten, und tauchte vollkommen in die Welt von Red Riding Hood ein. Sie sprach mit allen Schauspielern über ihre Figuren, wohnte Proben bei und tanzte in der Festszene über glühende Kohlen. Sarah war wirklich aktiv an der Entstehung der Geschichte beteiligt.
Ich glaube, Sarah hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der die Welt der Figuren vertieft. Sie gibt uns die Möglichkeit, in den gefühlvollen Momenten zu verweilen, jenen, die uns erkennen lassen, dass Rotkäppchen nicht nur ein Märchen ist, sondern eine universelle Geschichte über die Liebe, den Mut und das Erwachsenwerden.
Viel Spaß!
Catherine Hardwicke
Kapitel 1
Von der schwindelnden Höhe des Baumes aus konnte das kleine Mädchen alles sehen. Tief unten im Tal-
grund lag das verschlafene Dorf Daggorhorn. Von hier oben sah es aus wie ein fernes und fremdes Land. Wie ein Ort, über den sie nichts wusste, ein Ort ohne angespitzte Schanzpfähle, ein Ort, in dem nicht die Angst zu Hause war.
So hoch oben in der Luft hatte Valerie immer das Gefühl, sie könnte auch jemand anders sein. Sie könnte ein Tier sein - ein Falke, stolz und unnahbar, nur auf das eigene Überleben bedacht und ganz für sich.
Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, wusste sie, dass sie irgendwie anders war als die anderen im Dorf. Valerie wahrte immer einen gewissen Abstand zu ihnen, selbst zu ihren Freundinnen, die nett und offenherzig waren. Sie konnte nicht anders. Ihre ältere Schwester Lucie war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich verbunden fühlte. Lucie und sie waren wie die zwei ineinander verwachsenen Weinreben in dem Lied, das die älteren Leute im Dorf sangen.
Lucie war die Einzige.
Valerie spähte an ihren baumelnden nackten Füßen vorbei und überlegte, warum sie eigentlich hier hochgeklettert war. Natürlich war es ihr verboten, aber das war nicht der Grund. Und auch nicht das Abenteuer des Kletterns, denn das hatte schon vor einem Jahr seinen Reiz verloren, als sie zum ersten Mal den obersten Ast erreichte und nicht mehr weiterkonnte, weil über ihr nur noch Himmel war.
Sie kletterte hier herauf, weil sie da unten, im Dorf, nicht frei atmen konnte. Wenn sie nicht herauskam, wurde sie von einer Traurigkeit befallen, die auf ihr lastete wie eine dichte Schneedecke. Hier oben auf ihrem Baum strich die Luft kühl über ihr Gesicht und sie fühlte sich unbesiegbar. Angst hinunterzufallen hatte sie nie. So etwas war in dieser schwerelosen Welt nicht möglich.
»Valerie!«
Suzettes Stimme drang durch das Blätterwerk herauf. Sie war wie eine Hand, die sie wieder zur Erde hinabzog.
Am Tonfall ihrer Mutter merkte sie, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie zog die Knie ein, stemmte sich in die Hocke und begann mit dem Abstieg. Wenn sie senkrecht nach unten blickte, konnte sie das steile Dach von Großmutters Haus sehen, das direkt in das Geäst des Baumes gebaut und mit einem dichten Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt war. Das Haus war zwischen knorrigen Ästen verkeilt, als wäre es während eines Sturms dort stecken geblieben. Valerie wunderte sich immer wieder, wie es bloß hierher geraten war, aber sie fragte nie nach, denn eine Erklärung hätte den schönen Zauber zerstören können.
Der Winter nahte, und die Herbstblätter hatten begonnen, ihren Griff zu lockern und sich von den Ästen zu lösen. Manche erzitterten und fielen ab, als Valerie durch den Baum nach unten stieg. Sie hatte den ganzen Nachmittag im Wipfel gehockt und dem Gemurmel der Frauen gelauscht, das leise von unten zu ihr heraufgeweht war. Ihre Stimmen waren ihr heute gedämpfter, heiserer als sonst vorgekommen, als hätten sie sich Geheimnisse zugeraunt.
Als sie sich den unteren Ästen näherte, die am Hausdach kratzten, sah sie, wie Großmutter, die Füße unterm Kleid verbogen, auf die Veranda herausgeschwebt kam. Großmutter war die schönste Frau, die Valerie kannte. Sie trug lange Stufenröcke aus Seide, die bei jedem Schritt hin und her wogten. Setzte sie den rechten Fuß vor, schwang der Rock nach links. Sie hatte schöne, zarte Fußknöchel wie die kleine Tänzerin aus Holz in ihrem Schmuckkästchen. Das gefiel Valerie und machte ihr zugleich Angst, denn sie sahen so zerbrechlich aus.
Valerie selber war ganz und gar nicht zerbrechlich, sie sprang vom untersten Ast und landete mit einem leisen, aber satten Plumps auf der Veranda.
Sie war auch nicht empfindlich wie die anderen Mädchen mit ihren rosigen Pausbacken. Valeries Wangen waren schmal und blaß. Sie selbst fand sich eigentlich nicht hübsch, so sie sich überhaupt Gedanken über ihr Aussehen machte. Doch niemand, der sie sah, vergaß je wieder das maisblonde Mädchen mit den verstörend grünen Augen, die leuchteten wie von einem Blitz entflammt. Mit ihrem wissenden Blick wirkte sie älter, als sie war.
»Kommt, Mädchen!«, rief ihre Mutter aus dem Inneren des Hauses, Besorgnis trübte ihre Stimme. »Wir müssen heute Abend früh zurück.« Valerie war unten angelangt, bevor jemand überhaupt merkte, dass sie auf dem Baum gewesen war.
Durch die offene Tür sah sie, wie Lucie zu ihrer Mutter lief, in den Armen eine Puppe, die sie mit Stoffresten bekleidet hatte, die Großmutter ihr zu diesem Zweck geschenkt hatte. Valerie wäre gern mehr wie ihre Schwester gewesen.
Lucies Hände waren weich und rund, fast wie Kissen, und das bewunderte Valerie. Ihre waren knochig und dürr, kratzig von Schwielen und eckig. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass andere sie deshalb nicht liebenswert fanden und nicht anfassen wollten.
Ihre ältere Schwester war ein besserer Mensch als sie, so viel war gewiss. Lucie war netter, gutmütiger, geduldiger. Sie wäre niemals über das Baumhaus hinausgeklettert, denn ihr war klar, dass vernünftige Leute dort oben nichts verloren hatten.
»Mädchen! Heute ist Vollmondnacht!«, drang die Stimme ihrer Mutter jetzt zu ihr heraus. »Und wir sind an der Reihe«, setzte sie traurig hinzu und verstummte.
Valerie wusste nicht, was sie damit meinte, dass sie »an der Reihe« waren. Sie hoffte, dass es sich um eine Überraschung handelte, dass sie etwas bekommen würden. Als sie nach unten spähte, entdeckte sie auf dem Waldboden ein paar Zeichen, die wie Pfeile aussahen.
Peter.
Ihre Augen weiteten sich, und sie huschte die steile, staubige Treppe des Baumhauses hinunter, um die Zeichen genauer in Augenschein zu nehmen.
Nein, die sind nicht von Peter, dachte sie, als sie erkannte, dass es sich nur um irgendwelche Kratzer in der Erde handelte.
Aber was ist, wenn ... ?
Die Zeichen führten in den Wald. Kurz entschlossen und ohne darüber nachzudenken, was sie tun sollte und was Lucie tun würde, ging sie ihnen nach.
Natürlich führten sie nirgendwohin. Kaum war sie zehn Schritte gegangen, hörten die Zeichen auf. Sie war zornig auf sich selbst, weil sie auf so alberne Ideen kam, aber auch froh, dass niemand gesehen hatte, wie sie ihnen für nichts und wieder nichts gefolgt war.
Peter, Valeries bester Freund, hinterließ immer Zeichen für sie, indem er mit einem Stock Pfeile in die Erde kratzte. Die Pfeile wiesen ihr den Weg zu ihm, oft zu einem Versteck tief im Wald.
Aber nun war er schon seit Monaten fort, ihr Freund. Sie waren unzertrennlich gewesen, und Valerie konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass er nicht wiederkam. Als er fortging, war das, wie wenn man einen Strick durchschneidet - von dem nur zwei ausfasernde Hälften zurückbleiben.
Peter war nicht wie die anderen Jungen, die einen hänselten und sich prügelten. Er verstand sie. Er verstand ihre Abenteuerlust. Er verstand, dass sie sich nicht an die Regeln halten wollte. Und er behandelte sie nie wie ein Mädchen.
»Valerie!« Jetzt rief Großmutters Stimme. Ihrem Ruf musste man zügiger Folge leisten als dem ihrer Mutter, denn sie konnte ihre Drohungen tatsächlich wahr machen. Valerie schüttelte die rätselhaften Erinnerungen, die sich ja doch zu keinem Bild fügen ließen, ab und lief zurück.
»Hier unten, Großmutter.« Sie lehnte sich gegen den Baum, dessen Rinde rau war wie Sandpapier. Sie schloss die Augen, um das Gefühl voll auszukosten - und vernahm das Rumpeln von Wagenrädern, das wie ein aufziehendes Gewitter klang.
Auch Großmutter hörte es, glitt die Treppe herunter auf den Waldboden, schlang die Arme um Valerie und drückte ihr Gesicht gegen die kühle Seide ihrer Bluse und das klobige Allerlei ihrer Amulette. Das Kinn an Großmutters Schulter geschmiegt, sah Valerie zu, wie Lucy und ihre Mutter bedächtig die steile Treppe herabstiegen.
»Heute Nacht müsst ihr stark sein, meine Süßen«, flüsterte Großmutter. Valerie verharrte reglos und ließ sich drücken, außerstande, ihre Verwirrung zum Ausdruck zu bringen. Für Valerie hatten jeder Mensch und jeder Ort einen eigenen Geruch - manchmal erschien ihr die ganze Welt wie ein Garten. Sie fand, dass Großmutter nach zerriebenem Laub roch, und nach etwas anderem, Kräftigerem, das sie nicht einordnen konnte.
Sobald Großmutter Valerie losließ, reichte Lucie ihrer Schwester einen Strauß aus Kräutern und Blumen, den sie im Wald gepflückt hatte.
Der Wagen, den zwei kräftige Arbeitspferde zogen, holperte über die zerfurchte Straße. Die Holzfäller hockten in Trauben auf den frisch geschlagenen Baumstümpfen, die ein Stück nach vorn rutschten, als der Wagen vor Großmutters Baum mit einem Ruck zum Stehen kam. Zwischen den Männern waren Äste gestapelt, die dicksten unten und die dünnsten oben. Valerie fand, dass die Mitfahrer selbst wie aus Holz geschnitzt aussahen.
Ihr Vater, Cesaire, früher ein gut aussehender Mann, saß hinten im Wagen. Er stand auf und streckte Lucie die Arme entgegen, hütete sich aber, auch Valerie seine Hilfe anzubieten. Er stank nach Schweiß und Bier und Valerie mied seine Nähe.
»Ich liebe dich, Großmutter!«, rief Lucie über die Schulter hinweg, während sie und ihre Mutter von Cesaire in den Wagen hinaufgezogen wurden. Valerie kletterte ohne Hilfe nach oben. Die Zügel schnalzten und der Wagen rollte schwerfällig an.
Ein Holzfäller rutschte zur Seite, um für Suzette und die Mädchen Platz zu machen, woraufhin Cesaire sich zu dem Mann hinüberbeugte und ihm einen schallenden Schmatz auf die Wange gab.
»Cesaire!«, zischte Suzette und warf ihm unauffällig einen tadelnden Blick zu, während um sie herum im Wagen Gespräche angeknüpft wurden. »Es überrascht mich, dass du zu dieser späten Stunde noch wach bist.«
Valerie hörte Vorwürfe wie diesen nicht zum ersten Mal. Sie wurden nie offen ausgesprochen, sondern stets hinter einer scherzhaften oder geistreichen Bemerkung versteckt. Und dennoch gab ihr der verächtliche Ton, in dem sie vorgebracht wurden, jedes Mal einen Stich.
Sie blickte zu ihrer Schwester. Sie hatte ihre Mutter nicht gehört, denn sie lachte gerade über einen Witz, den einer der Männer gemacht hatte. Lucie behauptete immer, dass ihre Eltern sich liebten und dass Liebe sich nicht in großen Gesten zeigte, sondern im Alltäglichen, einfach darin, dass man füreinander da war, zur Arbeit ging und abends wieder nach Hause kam. Valerie hatte versucht, ihr zu glauben, aber sie konnte nicht. Irgendwas sagte ihr, dass Liebe mehr sein musste - und nicht so vernünftig.
Jetzt hielt sie sich an den hinteren Holmen des Wagens fest, lehnte sich hinaus und betrachtete den Boden, der unter ihr weggezogen wurde. Ihr wurde schwindlig und sie drehte sich wieder nach vorn.
»Mein Baby.« Suzette zog sie auf ihren Schoß und Valerie ließ es geschehen. Ihre blasse, hübsche Mutter roch nach Mandeln und feinem Mehl.
Als der Wagen die Black Raven Woods hinter sich ließ und am Silberfluss entlangrumpelte, kam die düstere Silhouette des Dorfes in Sicht. Schon aus der Ferne warf der Schrecken seine Schatten voraus: Pfähle, Eisenspitzen und Widerhaken, die steil herausragten. Der Wachturm des Getreidespeichers, das größte Bauwerk im Dorf, reckte sich in die Höhe.
Das Erste, was man spürte, wenn man über die Kuppe kam, war Angst.
Daggorhorn war ein Dorf voller Menschen, die Angst hatten, Menschen, die sich selbst in ihren Betten nicht sicher fühlten, schutzlos und verwundbar auf Schritt und Tritt.
Die Menschen hatten begonnen zu glauben, dass sie diese Qualen verdient hatten - dass sie etwas Unrechtes getan hatten und Böses in sich trugen.
Tag für Tag konnte Valerie beobachten, wie sich die Dorfbewohner vor Angst duckten, und spüren, dass sie anders war als sie. Mehr als das Außen fürchtete sie eine Dunkelheit, die aus ihrem Inneren kam. Anscheinend war sie die Einzige, die so empfand.
Ausgenommen Peter, versteht sich.
Valerie dachte an die Zeit, als er noch da war, als sie beide noch zusammen waren, furchtlos, unbekümmert und voller Lebensfreude. Heute verübelte sie den Dorfbewohnern ihre Angst, sie verübelte ihnen den Verlust ihres Freundes.
Sobald man das schwere Holztor passiert hatte, sah das Dorf aus wie jedes andere im Königreich. Die Pferdehufe wirbelten Staubwolken auf wie in allen Ortschaften dieser Art und jedes Gesicht war einem vertraut. Hunde streunten durch die Straßen, mit leeren schlaffen Bäuchen, die so über den Rippen spannten, dass ihr Fell wie gestreift aussah. Leitern lehnten sachte an Veranden. Moos quoll aus Dachritzen und kroch über die Hauswände und niemand unternahm etwas dagegen.
Heute Abend hatten es alle im Dorf eilig, ihre Tiere in den Stall zu bringen.
Heute war Wolfsnacht, wie immer bei Vollmond, seit Menschengedenken.
Schafe wurden zusammengetrieben und hinter dicke Türen gesperrt. Hühner wurden von einem Familienmitglied an das andere weitergereicht und reckten, als sie Leitern hinaufgeschubst wurden, die Hälse, machten sie so lang, dass Valerie befürchtete, sie könnten sie sich selbst aus den Leibern reißen.
Übersetzung: Reiner Pfleiderer
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München
Im August 2009 wurde mir ein Drehbuch mit dem Titel The Girl with the Red Riding Hood (»Das Mädchen mit
dem Rotkäppchen«) zugesandt, geschrieben von David Leslie Johnson nach einer Idee von Leonardo DiCaprio. DiCaprios Produktionsfirma Appian Way hatte das Projekt zusammen mit Warner Bros. entwickelt. Ich war sofort Feuer und Flamme für die Idee, eine neue, düstere und hintergründige Version des klassischen Märchens zu erzählen.
Märchen sind vielschichtige Modelle, die uns dabei helfen, eigene Welten zu erschaffen und zu verstehen, und nichts anderes habe ich mit diesem versucht. Ich hatte den Kopf voller Ideen und Bilder, mit denen ich diese Welt erlebbar machen könnte. Zur Inspiration nutzte ich kreative Quellen in meiner Umgebung - die Gemälde meiner Schwester für das Magische und Atmosphärische, aktuelle Modehits für die Kostüme, ein kleines Buch über nordrussische Architektur, das ich aus meiner Teenagerzeit aufgehoben habe, für die Gestaltung von Daggorhorn.
An dieser Version von Rotkäppchen interessierte mich besonders das moderne Empfinden der Figuren und ihre Beziehungen. Die Geschichte behandelt Themen wie die Ängste Jugendlicher und die Tücken des Erwachsenwerdens und Sichverliebens. Und natürlich kommt auch der große böse Wolf darin vor. Der Wolf in unserer Geschichte steht für eine dunkle, gefährliche Seite des Menschen und leistet einer paranoiden Gesellschaft Vorschub.
Diese soziale Paranoia hat mich bei der weiteren Bearbeitung des Drehbuchs nicht mehr losgelassen und ist schließlich auch in die Daggorhorner Architektur eingeflossen. Die Dorfbewohner leben in Hütten, die wie kleine Festungen anmuten - sie sind auf Pfählen errichtet und mit schweren Fensterläden und Leitern versehen, die bei Einbruch der Dunkelheit eingezogen werden. Die Menschen in dem Dorf schützen sich aber nicht nur physisch, sondern sind auch emotional auf der Hut, und in dem Augenblick, als der jahrzehntelange Friede mit dem Wolf zerbricht, beginnen auch ihre Beziehungen untereinander zu bröckeln.
Je tiefer wir in diese Welt eintauchten, desto klarer wurde mir, dass die Figuren und ihre Vorgeschichten zu komplex für den Film wurden, und so wollte ich dabei helfen, einen Roman auf den Weg zu bringen, der das verschlungene emotionale Geflecht in dem Dorf Daggorhorn eingehend beleuchtet.
Bei einem Besuch in New York traf ich meine Freundin Sarah Blakley-Cartwright. Sie hatte soeben ihr Studium am Barnard College mit Auszeichnung absolviert und einen Abschluss in Kreativem Schreiben gemacht. Ich kenne Sarah seit meinem dreizehnten Lebensjahr - sie hat sogar in allen meinen vier vorausgegangenen Filmen kleinere Rollen gespielt. Sie war schon immer ein origineller, poetischer Geist - voller wunderlicher Einfälle -, und ich erkannte, dass sie für dieses Projekt wie geschaffen wäre.
Kaum hatte ich mit Sarah über die Idee gesprochen, stürzte sie sich kopfüber in die Arbeit. Sie flog ins kanadische Vancouver, als wir dort die Kulissen für den Film bauten, und tauchte vollkommen in die Welt von Red Riding Hood ein. Sie sprach mit allen Schauspielern über ihre Figuren, wohnte Proben bei und tanzte in der Festszene über glühende Kohlen. Sarah war wirklich aktiv an der Entstehung der Geschichte beteiligt.
Ich glaube, Sarah hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der die Welt der Figuren vertieft. Sie gibt uns die Möglichkeit, in den gefühlvollen Momenten zu verweilen, jenen, die uns erkennen lassen, dass Rotkäppchen nicht nur ein Märchen ist, sondern eine universelle Geschichte über die Liebe, den Mut und das Erwachsenwerden.
Viel Spaß!
Catherine Hardwicke
Kapitel 1
Von der schwindelnden Höhe des Baumes aus konnte das kleine Mädchen alles sehen. Tief unten im Tal-
grund lag das verschlafene Dorf Daggorhorn. Von hier oben sah es aus wie ein fernes und fremdes Land. Wie ein Ort, über den sie nichts wusste, ein Ort ohne angespitzte Schanzpfähle, ein Ort, in dem nicht die Angst zu Hause war.
So hoch oben in der Luft hatte Valerie immer das Gefühl, sie könnte auch jemand anders sein. Sie könnte ein Tier sein - ein Falke, stolz und unnahbar, nur auf das eigene Überleben bedacht und ganz für sich.
Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, wusste sie, dass sie irgendwie anders war als die anderen im Dorf. Valerie wahrte immer einen gewissen Abstand zu ihnen, selbst zu ihren Freundinnen, die nett und offenherzig waren. Sie konnte nicht anders. Ihre ältere Schwester Lucie war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich verbunden fühlte. Lucie und sie waren wie die zwei ineinander verwachsenen Weinreben in dem Lied, das die älteren Leute im Dorf sangen.
Lucie war die Einzige.
Valerie spähte an ihren baumelnden nackten Füßen vorbei und überlegte, warum sie eigentlich hier hochgeklettert war. Natürlich war es ihr verboten, aber das war nicht der Grund. Und auch nicht das Abenteuer des Kletterns, denn das hatte schon vor einem Jahr seinen Reiz verloren, als sie zum ersten Mal den obersten Ast erreichte und nicht mehr weiterkonnte, weil über ihr nur noch Himmel war.
Sie kletterte hier herauf, weil sie da unten, im Dorf, nicht frei atmen konnte. Wenn sie nicht herauskam, wurde sie von einer Traurigkeit befallen, die auf ihr lastete wie eine dichte Schneedecke. Hier oben auf ihrem Baum strich die Luft kühl über ihr Gesicht und sie fühlte sich unbesiegbar. Angst hinunterzufallen hatte sie nie. So etwas war in dieser schwerelosen Welt nicht möglich.
»Valerie!«
Suzettes Stimme drang durch das Blätterwerk herauf. Sie war wie eine Hand, die sie wieder zur Erde hinabzog.
Am Tonfall ihrer Mutter merkte sie, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Sie zog die Knie ein, stemmte sich in die Hocke und begann mit dem Abstieg. Wenn sie senkrecht nach unten blickte, konnte sie das steile Dach von Großmutters Haus sehen, das direkt in das Geäst des Baumes gebaut und mit einem dichten Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt war. Das Haus war zwischen knorrigen Ästen verkeilt, als wäre es während eines Sturms dort stecken geblieben. Valerie wunderte sich immer wieder, wie es bloß hierher geraten war, aber sie fragte nie nach, denn eine Erklärung hätte den schönen Zauber zerstören können.
Der Winter nahte, und die Herbstblätter hatten begonnen, ihren Griff zu lockern und sich von den Ästen zu lösen. Manche erzitterten und fielen ab, als Valerie durch den Baum nach unten stieg. Sie hatte den ganzen Nachmittag im Wipfel gehockt und dem Gemurmel der Frauen gelauscht, das leise von unten zu ihr heraufgeweht war. Ihre Stimmen waren ihr heute gedämpfter, heiserer als sonst vorgekommen, als hätten sie sich Geheimnisse zugeraunt.
Als sie sich den unteren Ästen näherte, die am Hausdach kratzten, sah sie, wie Großmutter, die Füße unterm Kleid verbogen, auf die Veranda herausgeschwebt kam. Großmutter war die schönste Frau, die Valerie kannte. Sie trug lange Stufenröcke aus Seide, die bei jedem Schritt hin und her wogten. Setzte sie den rechten Fuß vor, schwang der Rock nach links. Sie hatte schöne, zarte Fußknöchel wie die kleine Tänzerin aus Holz in ihrem Schmuckkästchen. Das gefiel Valerie und machte ihr zugleich Angst, denn sie sahen so zerbrechlich aus.
Valerie selber war ganz und gar nicht zerbrechlich, sie sprang vom untersten Ast und landete mit einem leisen, aber satten Plumps auf der Veranda.
Sie war auch nicht empfindlich wie die anderen Mädchen mit ihren rosigen Pausbacken. Valeries Wangen waren schmal und blaß. Sie selbst fand sich eigentlich nicht hübsch, so sie sich überhaupt Gedanken über ihr Aussehen machte. Doch niemand, der sie sah, vergaß je wieder das maisblonde Mädchen mit den verstörend grünen Augen, die leuchteten wie von einem Blitz entflammt. Mit ihrem wissenden Blick wirkte sie älter, als sie war.
»Kommt, Mädchen!«, rief ihre Mutter aus dem Inneren des Hauses, Besorgnis trübte ihre Stimme. »Wir müssen heute Abend früh zurück.« Valerie war unten angelangt, bevor jemand überhaupt merkte, dass sie auf dem Baum gewesen war.
Durch die offene Tür sah sie, wie Lucie zu ihrer Mutter lief, in den Armen eine Puppe, die sie mit Stoffresten bekleidet hatte, die Großmutter ihr zu diesem Zweck geschenkt hatte. Valerie wäre gern mehr wie ihre Schwester gewesen.
Lucies Hände waren weich und rund, fast wie Kissen, und das bewunderte Valerie. Ihre waren knochig und dürr, kratzig von Schwielen und eckig. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass andere sie deshalb nicht liebenswert fanden und nicht anfassen wollten.
Ihre ältere Schwester war ein besserer Mensch als sie, so viel war gewiss. Lucie war netter, gutmütiger, geduldiger. Sie wäre niemals über das Baumhaus hinausgeklettert, denn ihr war klar, dass vernünftige Leute dort oben nichts verloren hatten.
»Mädchen! Heute ist Vollmondnacht!«, drang die Stimme ihrer Mutter jetzt zu ihr heraus. »Und wir sind an der Reihe«, setzte sie traurig hinzu und verstummte.
Valerie wusste nicht, was sie damit meinte, dass sie »an der Reihe« waren. Sie hoffte, dass es sich um eine Überraschung handelte, dass sie etwas bekommen würden. Als sie nach unten spähte, entdeckte sie auf dem Waldboden ein paar Zeichen, die wie Pfeile aussahen.
Peter.
Ihre Augen weiteten sich, und sie huschte die steile, staubige Treppe des Baumhauses hinunter, um die Zeichen genauer in Augenschein zu nehmen.
Nein, die sind nicht von Peter, dachte sie, als sie erkannte, dass es sich nur um irgendwelche Kratzer in der Erde handelte.
Aber was ist, wenn ... ?
Die Zeichen führten in den Wald. Kurz entschlossen und ohne darüber nachzudenken, was sie tun sollte und was Lucie tun würde, ging sie ihnen nach.
Natürlich führten sie nirgendwohin. Kaum war sie zehn Schritte gegangen, hörten die Zeichen auf. Sie war zornig auf sich selbst, weil sie auf so alberne Ideen kam, aber auch froh, dass niemand gesehen hatte, wie sie ihnen für nichts und wieder nichts gefolgt war.
Peter, Valeries bester Freund, hinterließ immer Zeichen für sie, indem er mit einem Stock Pfeile in die Erde kratzte. Die Pfeile wiesen ihr den Weg zu ihm, oft zu einem Versteck tief im Wald.
Aber nun war er schon seit Monaten fort, ihr Freund. Sie waren unzertrennlich gewesen, und Valerie konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass er nicht wiederkam. Als er fortging, war das, wie wenn man einen Strick durchschneidet - von dem nur zwei ausfasernde Hälften zurückbleiben.
Peter war nicht wie die anderen Jungen, die einen hänselten und sich prügelten. Er verstand sie. Er verstand ihre Abenteuerlust. Er verstand, dass sie sich nicht an die Regeln halten wollte. Und er behandelte sie nie wie ein Mädchen.
»Valerie!« Jetzt rief Großmutters Stimme. Ihrem Ruf musste man zügiger Folge leisten als dem ihrer Mutter, denn sie konnte ihre Drohungen tatsächlich wahr machen. Valerie schüttelte die rätselhaften Erinnerungen, die sich ja doch zu keinem Bild fügen ließen, ab und lief zurück.
»Hier unten, Großmutter.« Sie lehnte sich gegen den Baum, dessen Rinde rau war wie Sandpapier. Sie schloss die Augen, um das Gefühl voll auszukosten - und vernahm das Rumpeln von Wagenrädern, das wie ein aufziehendes Gewitter klang.
Auch Großmutter hörte es, glitt die Treppe herunter auf den Waldboden, schlang die Arme um Valerie und drückte ihr Gesicht gegen die kühle Seide ihrer Bluse und das klobige Allerlei ihrer Amulette. Das Kinn an Großmutters Schulter geschmiegt, sah Valerie zu, wie Lucy und ihre Mutter bedächtig die steile Treppe herabstiegen.
»Heute Nacht müsst ihr stark sein, meine Süßen«, flüsterte Großmutter. Valerie verharrte reglos und ließ sich drücken, außerstande, ihre Verwirrung zum Ausdruck zu bringen. Für Valerie hatten jeder Mensch und jeder Ort einen eigenen Geruch - manchmal erschien ihr die ganze Welt wie ein Garten. Sie fand, dass Großmutter nach zerriebenem Laub roch, und nach etwas anderem, Kräftigerem, das sie nicht einordnen konnte.
Sobald Großmutter Valerie losließ, reichte Lucie ihrer Schwester einen Strauß aus Kräutern und Blumen, den sie im Wald gepflückt hatte.
Der Wagen, den zwei kräftige Arbeitspferde zogen, holperte über die zerfurchte Straße. Die Holzfäller hockten in Trauben auf den frisch geschlagenen Baumstümpfen, die ein Stück nach vorn rutschten, als der Wagen vor Großmutters Baum mit einem Ruck zum Stehen kam. Zwischen den Männern waren Äste gestapelt, die dicksten unten und die dünnsten oben. Valerie fand, dass die Mitfahrer selbst wie aus Holz geschnitzt aussahen.
Ihr Vater, Cesaire, früher ein gut aussehender Mann, saß hinten im Wagen. Er stand auf und streckte Lucie die Arme entgegen, hütete sich aber, auch Valerie seine Hilfe anzubieten. Er stank nach Schweiß und Bier und Valerie mied seine Nähe.
»Ich liebe dich, Großmutter!«, rief Lucie über die Schulter hinweg, während sie und ihre Mutter von Cesaire in den Wagen hinaufgezogen wurden. Valerie kletterte ohne Hilfe nach oben. Die Zügel schnalzten und der Wagen rollte schwerfällig an.
Ein Holzfäller rutschte zur Seite, um für Suzette und die Mädchen Platz zu machen, woraufhin Cesaire sich zu dem Mann hinüberbeugte und ihm einen schallenden Schmatz auf die Wange gab.
»Cesaire!«, zischte Suzette und warf ihm unauffällig einen tadelnden Blick zu, während um sie herum im Wagen Gespräche angeknüpft wurden. »Es überrascht mich, dass du zu dieser späten Stunde noch wach bist.«
Valerie hörte Vorwürfe wie diesen nicht zum ersten Mal. Sie wurden nie offen ausgesprochen, sondern stets hinter einer scherzhaften oder geistreichen Bemerkung versteckt. Und dennoch gab ihr der verächtliche Ton, in dem sie vorgebracht wurden, jedes Mal einen Stich.
Sie blickte zu ihrer Schwester. Sie hatte ihre Mutter nicht gehört, denn sie lachte gerade über einen Witz, den einer der Männer gemacht hatte. Lucie behauptete immer, dass ihre Eltern sich liebten und dass Liebe sich nicht in großen Gesten zeigte, sondern im Alltäglichen, einfach darin, dass man füreinander da war, zur Arbeit ging und abends wieder nach Hause kam. Valerie hatte versucht, ihr zu glauben, aber sie konnte nicht. Irgendwas sagte ihr, dass Liebe mehr sein musste - und nicht so vernünftig.
Jetzt hielt sie sich an den hinteren Holmen des Wagens fest, lehnte sich hinaus und betrachtete den Boden, der unter ihr weggezogen wurde. Ihr wurde schwindlig und sie drehte sich wieder nach vorn.
»Mein Baby.« Suzette zog sie auf ihren Schoß und Valerie ließ es geschehen. Ihre blasse, hübsche Mutter roch nach Mandeln und feinem Mehl.
Als der Wagen die Black Raven Woods hinter sich ließ und am Silberfluss entlangrumpelte, kam die düstere Silhouette des Dorfes in Sicht. Schon aus der Ferne warf der Schrecken seine Schatten voraus: Pfähle, Eisenspitzen und Widerhaken, die steil herausragten. Der Wachturm des Getreidespeichers, das größte Bauwerk im Dorf, reckte sich in die Höhe.
Das Erste, was man spürte, wenn man über die Kuppe kam, war Angst.
Daggorhorn war ein Dorf voller Menschen, die Angst hatten, Menschen, die sich selbst in ihren Betten nicht sicher fühlten, schutzlos und verwundbar auf Schritt und Tritt.
Die Menschen hatten begonnen zu glauben, dass sie diese Qualen verdient hatten - dass sie etwas Unrechtes getan hatten und Böses in sich trugen.
Tag für Tag konnte Valerie beobachten, wie sich die Dorfbewohner vor Angst duckten, und spüren, dass sie anders war als sie. Mehr als das Außen fürchtete sie eine Dunkelheit, die aus ihrem Inneren kam. Anscheinend war sie die Einzige, die so empfand.
Ausgenommen Peter, versteht sich.
Valerie dachte an die Zeit, als er noch da war, als sie beide noch zusammen waren, furchtlos, unbekümmert und voller Lebensfreude. Heute verübelte sie den Dorfbewohnern ihre Angst, sie verübelte ihnen den Verlust ihres Freundes.
Sobald man das schwere Holztor passiert hatte, sah das Dorf aus wie jedes andere im Königreich. Die Pferdehufe wirbelten Staubwolken auf wie in allen Ortschaften dieser Art und jedes Gesicht war einem vertraut. Hunde streunten durch die Straßen, mit leeren schlaffen Bäuchen, die so über den Rippen spannten, dass ihr Fell wie gestreift aussah. Leitern lehnten sachte an Veranden. Moos quoll aus Dachritzen und kroch über die Hauswände und niemand unternahm etwas dagegen.
Heute Abend hatten es alle im Dorf eilig, ihre Tiere in den Stall zu bringen.
Heute war Wolfsnacht, wie immer bei Vollmond, seit Menschengedenken.
Schafe wurden zusammengetrieben und hinter dicke Türen gesperrt. Hühner wurden von einem Familienmitglied an das andere weitergereicht und reckten, als sie Leitern hinaufgeschubst wurden, die Hälse, machten sie so lang, dass Valerie befürchtete, sie könnten sie sich selbst aus den Leibern reißen.
Übersetzung: Reiner Pfleiderer
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München
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Autoren-Porträt von Sarah Blakley-Cartwright
Sarah Blakley-Cartwright wuchs in Los Angeles und Mexico auf. Seit ihrer Kindheit verfasst sie Texte, für die sie bereits mehrere Preise erhalten hat. Sie lebt in New York City und in Vancouver, wo sie parallel zur Entstehung des Films "Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond" einen Roman mit gleichem Inhalt verfasste.David L. Johnson stammt aus Ohio, studierte dort Fotografie und Filmwissenschaften und arbeitete als Produktionsassistent für den Regisseur und Drehbuchschreiber Frank Darabont, unter anderem für den Oscar-nominierten Film, "Die Verurteilten". Er verfasste das Drehbuch zu "Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond". Johnson lebt im kalifornischen Burbank.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Blakley-Cartwright
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2010, 289 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Mitarbeit: Johnson, David L.; Übersetzung: Pfleiderer, Reiner
- Übersetzer: Reiner Pfleiderer
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570161242
- ISBN-13: 9783570161241
Rezension zu „Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond “
"Überzeugt mit viel Spannung und einer romantischen Liebesgeschichte."
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