Zwei halbe Leben
"Eine dramatische Geschichte, emotional erzählt. Leserinnen werden dieses Buch lieben. Großartig!"
Dora Heldt
Frankfurt, 1944: Ein Bombenangriff führt Sophie und Max zusammen. Sie werden in einem Bunker...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zwei halbe Leben “
"Eine dramatische Geschichte, emotional erzählt. Leserinnen werden dieses Buch lieben. Großartig!"
Dora Heldt
Frankfurt, 1944: Ein Bombenangriff führt Sophie und Max zusammen. Sie werden in einem Bunker verschüttet und sind für einige Tage zusammen eingeschlossen. Obwohl sie beide verheiratet sind, verlieben sie sich und wissen eigentlich: Sie sind füreinander bestimmt. Nach ihrer Befreiung kehren sie zu ihren Familien zurück - doch sie vereinbaren, einmal im Jahr am Frankfurter Römer aufeinander zu warten. Für fünf Minuten. Wenn sie sich treffen, werden sie ihr Leben ändern und zusammen sein. Wenn nicht - Wie wird das Schicksal über sie entscheiden?
Lese-Probe zu „Zwei halbe Leben “
Zwei halbe Leben von Rebecca Stephan1
Frankfurt am Main, Stadtteil Sachsenhausen
Offenbacher Landstraße/Luftschutzkeller
18. März 1944, 22 Uhr 11
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Sie sah nichts, obwohl sie ihre Augen so weit aufgerissen hatte, wie es nur ging. Dafür roch sie den Staub, er roch intensiv und setzte sich überall fest. Am liebsten hätte sie nicht geatmet, aber das ging ja nicht. Warum um alles in der Welt war das hier so dunkel? Während sie sich behutsam vorwärts tastete, musste sie husten. ›Bleib ruhig‹, ermahnte sie sich immer wieder. ›Das Licht ist ausgefallen. Das ist ganz normal bei einem solchen Angriff. Such die Wand und dann gehst du an der Wand entlang, und zwar so lange, bis du zu einer Tür kommst. Draußen ist es dunkel, es ist also völlig unmöglich, dass von irgendwoher Licht hier reinfällt. Atme durch. Auf gar keinen Fall darfst du jetzt panisch werden. Wenn du panisch wirst, handelst du unüberlegt. Und unüberlegtes Handeln kannst du dir in dieser Situation nicht leisten.‹
Langsam arbeitete sie sich durch Geröll. Sie spürte die Steine. Tastete sich weiter nach vorn. Und kam endlich zu einer Wand, jedenfalls hoffte sie, dass es eine Wand war. Etwas stand davor, nur was? Und alles bröckelte.
Obwohl sie tapfer sein wollte und nicht panisch, durchflutete sie Angst: ›Was mache ich, wenn es hier überhaupt keine Wand und vor allen Dingen keinen Ausgang mehr gibt? Was ist, wenn ich hier eingeschlossen bin, der ganze Schotter ein Hinauskommen unmöglich macht? Das darf nicht sein. Es muss einen Ausgang geben.‹ Sie fühlte sich so allein - sie war ja auch allein, außer ihr war niemand in diesen Teil des Kellers gelaufen. Alle hatten versucht herauszukommen und waren in die andere Richtung gerannt.
»Hallo?«, sagte sie in die Stille, aber niemand antwortete. Sie ging weiter, fühlte überall nur kalten Stein und manchmal ein Stück hochragendes, zersplittertes Holz.
Von außen drangen keine Geräusche zu ihr. Nachdem vorhin die Bomben so nah bei ihnen eingeschlagen hatten, war sie instinktiv in den hinteren Teil des Kellers gerannt. Das war vielleicht ein Fehler gewesen. Möglicherweise war nämlich jetzt der kleine Durchgang verschüttet. Und möglicherweise würde auch niemand nach ihr suchen, weil man annahm, sie sei tot. Oder weil keiner ahnte, dass sie überhaupt hier drin war. Weil sie ja nur zufällig hier in Sachsenhausen gewesen war. Bei ihrer Freundin Lotti. Wo war Lotti?
»Hallo?« Sie merkte, wie verzweifelt sie klang.
»Ja«, kam es im nächsten Moment leise zurück. Eine Männerstimme. Sie war so froh darüber, nicht alleine zu sein, dass sie vor Erleichterung beinahe zu weinen anfing.
Sie tastete sich langsam in die Richtung vor, aus der die Stimme gekommen war, und stolperte über Schutt. »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Mann. »Wir wissen nicht, ob noch etwas einstürzen könnte.«
Ein wenig später hatte sie ihn erreicht und kniete auf dem kalten Boden, fragte ihn, ob er verletzt sei.
»Ich weiß es nicht. Irgendwas liegt auf meinem Bein.« Blind fuhren ihre Hände an ihm herunter, dann spürte sie Widerstand. Es war etwas aus Holz. Beim dritten Versuch schaffte sie es, drückte es hoch und er konnte die Beine hervorziehen. »Danke«, sagte der Mann leise und schien sich aufzusetzen. Sehen konnte sie das nicht; es war stockfinster.
»Sind wir allein?«, fragte er nach einigen Augenblicken. »Offenbar schon. Nachdem vorn alles eingestürzt ist, bin ich nach hinten gerannt«, antwortete sie ihm. »Man konnte ja kaum seine Hand vor den Augen erkennen, deswegen weiß ich nicht, ob noch andere außer uns hier sind.«
»Wir müssen das überprüfen«, sagte der Mann. »Vielleicht ist jemand bewusstlos.«
Sie nickte, obwohl sie ihn ja gar nicht sehen konnte. Noch nicht einmal schemenhaft konnte sie etwas wahrnehmen, die Dunkelheit war übermächtig. Und wieder griff die Angst nach ihr - was, wenn es hier überhaupt keine Luftzufuhr gab? Wenn der Sauerstoff immer weniger würde und sie es nicht schafften, hier herauszukommen? Was war dann?
»Es scheint, als ob hier alles zugeschüttet ist.« Der Mann stand jetzt neben ihr, sie konnte seinen Geruch wahrnehmen. Er roch herb. Intensiv herb. Von links kam das Geräusch von knarrendem Holz, Steine schienen zu rollen. Er tastete nach ihrer Hand und zog sie in die andere Ecke, während ein Balken brach und noch mehr Schutt herunterprasselte.
Es war merkwürdig für sie, aber in seiner Nähe fühlte sie sich sicher. So, als ob sie wüsste, dass ihr bei ihm nichts passieren konnte.
Eine halbe Stunde später hatten sie festgestellt, dass sich niemand außer ihnen beiden in diesem Teil des Luftschutzkellers befand. Zwar waren sie sicher, dass niemand da sein konnte, aber sie schauten trotzdem noch einmal nach, suchten alles ab. Nichts. Niemand. Sie wussten auch, dass es äußerst schwierig sein würde, ohne Werkzeug hier herauszukommen. Wo sie den Ausgang vermuteten, lagen schwere Steine, das hatten sie ertastet; es würde Tage dauern, sich hier auch nur ansatzweise einen Weg freizuschaufeln.
»Sind Sie durstig?«, fragte der Mann. Über solch profane Dinge hatte sie sich bislang keine Gedanken gemacht. Aber nun merkte sie, dass sie tatsächlich durstig war, sehr sogar, doch bevor sie das sagen konnte, spürte sie das kalte Metall einer Feldflasche an ihrem rechten Unterarm. »Hier, bitte«, sagte der Mann. »Mein Name ist übrigens Maximilian.«
»Sophie.« Dankbar schraubte sie die Flasche auf und trank.
»Wir müssen vorsichtig sein«, erklärte er kurze Zeit später. »Wir wissen nichts über die Statik des Gebäudes. «
»Wird man uns denn nicht suchen?« Sie versuchte, das aufsteigende ungute Gefühl zu unterdrücken. »Doch«, sprach sie weiter, noch bevor Maximilian antworten konnte. »Natürlich wird man uns suchen. Ich habe ja Familie. Meine Familie wird mich finden wollen. Mein Mann, er wird sich fragen, wo ich bin, und meine Kin-
der ... sie ... ich muss doch wieder nach Hause zurück.«
Maximilian antwortete ihr nicht gleich, Sophie hörte ihn nur gleichmäßig atmen. »Es ist Krieg.« Seine Stimme klang resigniert. »Und wir wissen nicht, wie es da draußen überhaupt aussieht. Wir wissen im Moment gar nichts. Nur, dass wir am Leben sind. Wir beide.« Die letzten Worte klangen warm und so, als wollten sie ihr die Angst nehmen. Maximilian hatte eine tiefe Stimme, sie hörte sich gut an. Sicher. Sophie waren Stimmen schon immer wichtig gewesen. Sie fragte sich, wie er wohl aussehen mochte. Ob er dunkle Haare hatte oder ob sie blond waren. Jedenfalls musste er größer sein als sie, das hörte man, denn seine Stimme kam von weiter oben, und sie standen beide.
»Was sollen wir denn jetzt machen?« Sie hoffte so sehr, dass seine Antwort, irgendein Plan, frei von Zögern kommen würde, gut durchdacht und ohne größere Probleme durchführbar.
»Ich weiß es nicht. Noch nicht«, war alles, was Maximilian schließlich sagte. Dann suchte er wieder Sophies Hand und zog sie ein Stück näher zu sich. »Sie zittern
ja.«
Weil sie nicht wie ein Angsthase wirken wollte, sagte sie schnell: »Ich friere leicht«, und zwang sich, nicht mehr zu zittern, was sich aber als schwierig herausstellte, weil es im Luftschutzkeller doch sehr kalt war und sie nur ein leichtes Sommerkleid trug.
Und dann musste sie ganz plötzlich anfangen zu weinen, zuerst leise, sie wollte nicht, dass er es merkte, aber dann zog er sie noch näher an sich und legte beide Arme um sie, und Sophie presste ihr Gesicht in seine Armbeuge, spürte einen etwas kratzigen Stoff und gleichzeitig die Wärme, die er ausstrahlte, und dann konnte sie nicht mehr und schluchzte laut; alles brach aus ihr heraus.
Maximilian sagte gar nichts, er streichelte ihren Rücken und hielt sie fest, so fest, wie sie noch nie jemand gehalten hatte. Und Sophie hätte ewig so stehen bleiben können. Ewig.
Einige Minuten später ließ Maximilian sie langsam los. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Sophie. »Es ist nur, weil ich ... weil ich ... es ist alles ein wenig zu viel.«
»Das verstehe ich sehr gut. Falls Sie Angst haben, dann geben Sie es ruhig zu«, antwortete Maximilian. »Angst ist schon seit einigen Jahren alles, was geblieben ist. Sie hat sogar die Hoffnung in den Hintergrund gedrängt. Sehr langsam zwar, aber letztlich war sie stärker.« Er lachte leise auf. »Jetzt müsste ich mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen. Es ist doch als Mann meine Aufgabe, Sie zu beschützen, und dann fange ich an, von Angst zu sprechen.«
»Wenn es aber nun mal so ist«, entgegnete Sophie.
»Wussten Sie eigentlich, dass es einen Unterschied zwischen Angst und Furcht gibt?«, fragte Maximilian und wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wenn man sich fürchtet, sind alle Sinne in Habachtstellung. Man spürt seine Instinkte, ist bereit zu flüchten oder sich zu verteidigen. Angst ist anders. Hat man Angst, ist man wie gelähmt und fühlt sich ganz dumpf und wie benebelt, jede Bewegung und das Denken fällt einem schwer. So empfinde ich es zumindest.« Er machte eine kurze Pause. »Und warum erzähle ich Ihnen das jetzt? Weil wir uns weder Angst noch Furcht leisten können. Jedenfalls jetzt nicht. Nicht in dieser Situation. Verstehen Sie? Wenn wir uns ängstigen oder fürchten, egal vor was, können wir Fehler machen. Wir müssen versuchen, klar zu denken, zu überlegen. Schritt für Schritt. Nur so haben wir vielleicht die Möglichkeit, hier herauszukommen.«
»Was ist ... wenn es uns trotzdem nicht gelingt?«
Maximilian trat wieder einen Schritt näher zu Sophie und fasste sie an den Schultern. »Es muss uns gelingen. Wir werden es schaffen. Und vielleicht ... sucht man ja tatsächlich schon nach uns. Wenn wir Glück haben, ist bald alles ausgestanden. Trotzdem können wir nicht untätig herumsitzen und warten. Das können wir uns in dieser Situation nicht leisten.«
»Aber was dann? Was sollen wir tun?« Sophie war ratlos und hilflos zugleich.
»Das werden wir beide gemeinsam entscheiden. Hören Sie? Wir beide gemeinsam.«
»Ja«, sagte Sophie leise. »Nur ... wann wollen wir damit anfangen?« Sie spürte Maximilians warme Hände durch den leichten Stoff ihres Kleides, dann ließ er sie überraschend los.
»Jetzt gleich«, sagte Maximilian mit fester Stimme. »Und womit?«
»Waren Sie schon einmal hier unten?«, wollte Maximilian wissen.
»Nein, noch nie. Ich wohne gar nicht hier. Ich bin nur zufällig in Sachsenhausen, weil ich eine Freundin besucht habe. Mein Mann und meine Kinder sind zu seinen Eltern gefahren, und ich, ich wollte zu Lotti. Das heißt, ich war auch bei Lotti. Bis die Sirenen losgingen.« ›Lotti‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Hoffentlich ist dir nichts passiert. Bitte, bitte, ich möchte nicht, dass dir etwas passiert ist. Das könnte ich nicht ertragen.‹ »Lotti ist meine beste Freundin«, sagte sie dann noch. »Wir kennen uns schon sehr lange. Aber wie gesagt, nein, ich war noch niemals hier unten. Ich kann mir schon denken, wieso Sie fragen. Sie hoffen, dass ich mich ein bisschen auskennen könnte.«
Maximilian nickte und überlegte. »Das Erste, was wir brauchen, ist Licht. Lassen Sie uns den Boden systematisch absuchen, Zentimeter für Zentimeter. Immerhin könnte jemand vorsorglich Kerzen und Zündhölzer deponiert haben. Falls passiert, was uns passiert ist. «
Sophie hörte, dass Maximilian sich von ihr wegbewegte und folgte ihm vorsichtig. Sie kniete sich hin und tastete den Boden ab.
»Warum sind Sie eigentlich hier ?«, fragte sie Maximilian kurze Zeit später unvermittelt.
»Weil ich wie Sie die Sirenen gehört habe. Und den nächsten Schutz gesucht habe.«
»Nein, das meine ich nicht. Es ist doch Krieg, und Sie ... « - »Verstehe«, sagte Maximilian. »Ich hatte drei Tage Heimaturlaub. Morgen müsste ich eigentlich wieder an die Front. Aber so wie es aussieht, schaffe ich das nicht. Es sei denn, ein Wunder geschieht. Allerdings bin ich Realist und glaube nicht an Wunder. Jedenfalls nicht in diesen Zeiten.« Sie krochen beide auf dem harten Boden herum, spitze Steine bohrten sich in Sophies Knie. Ab und an ertasteten sie etwas, versuchten herauszufinden, was es war, aber meist handelte es sich nur um Holz- oder Betonstücke. Doch dann spürte Sophie plötzlich etwas, das anders war. Weicher und nachgiebiger. »Hier!«, rief sie in die Richtung, wo sie Maximilian vermutete und hörte, dass er rasch näher kam.
»Das sind tatsächlich Kerzen«, sagte er froh. »Wenn hier jetzt noch ... ja! «
Drei Sekunden später zündete er eine der Kerzen an und hielt sie hoch. Und Sophie und er schauten sich zum ersten Mal in die Augen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sie sah nichts, obwohl sie ihre Augen so weit aufgerissen hatte, wie es nur ging. Dafür roch sie den Staub, er roch intensiv und setzte sich überall fest. Am liebsten hätte sie nicht geatmet, aber das ging ja nicht. Warum um alles in der Welt war das hier so dunkel? Während sie sich behutsam vorwärts tastete, musste sie husten. ›Bleib ruhig‹, ermahnte sie sich immer wieder. ›Das Licht ist ausgefallen. Das ist ganz normal bei einem solchen Angriff. Such die Wand und dann gehst du an der Wand entlang, und zwar so lange, bis du zu einer Tür kommst. Draußen ist es dunkel, es ist also völlig unmöglich, dass von irgendwoher Licht hier reinfällt. Atme durch. Auf gar keinen Fall darfst du jetzt panisch werden. Wenn du panisch wirst, handelst du unüberlegt. Und unüberlegtes Handeln kannst du dir in dieser Situation nicht leisten.‹
Langsam arbeitete sie sich durch Geröll. Sie spürte die Steine. Tastete sich weiter nach vorn. Und kam endlich zu einer Wand, jedenfalls hoffte sie, dass es eine Wand war. Etwas stand davor, nur was? Und alles bröckelte.
Obwohl sie tapfer sein wollte und nicht panisch, durchflutete sie Angst: ›Was mache ich, wenn es hier überhaupt keine Wand und vor allen Dingen keinen Ausgang mehr gibt? Was ist, wenn ich hier eingeschlossen bin, der ganze Schotter ein Hinauskommen unmöglich macht? Das darf nicht sein. Es muss einen Ausgang geben.‹ Sie fühlte sich so allein - sie war ja auch allein, außer ihr war niemand in diesen Teil des Kellers gelaufen. Alle hatten versucht herauszukommen und waren in die andere Richtung gerannt.
»Hallo?«, sagte sie in die Stille, aber niemand antwortete. Sie ging weiter, fühlte überall nur kalten Stein und manchmal ein Stück hochragendes, zersplittertes Holz.
Von außen drangen keine Geräusche zu ihr. Nachdem vorhin die Bomben so nah bei ihnen eingeschlagen hatten, war sie instinktiv in den hinteren Teil des Kellers gerannt. Das war vielleicht ein Fehler gewesen. Möglicherweise war nämlich jetzt der kleine Durchgang verschüttet. Und möglicherweise würde auch niemand nach ihr suchen, weil man annahm, sie sei tot. Oder weil keiner ahnte, dass sie überhaupt hier drin war. Weil sie ja nur zufällig hier in Sachsenhausen gewesen war. Bei ihrer Freundin Lotti. Wo war Lotti?
»Hallo?« Sie merkte, wie verzweifelt sie klang.
»Ja«, kam es im nächsten Moment leise zurück. Eine Männerstimme. Sie war so froh darüber, nicht alleine zu sein, dass sie vor Erleichterung beinahe zu weinen anfing.
Sie tastete sich langsam in die Richtung vor, aus der die Stimme gekommen war, und stolperte über Schutt. »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Mann. »Wir wissen nicht, ob noch etwas einstürzen könnte.«
Ein wenig später hatte sie ihn erreicht und kniete auf dem kalten Boden, fragte ihn, ob er verletzt sei.
»Ich weiß es nicht. Irgendwas liegt auf meinem Bein.« Blind fuhren ihre Hände an ihm herunter, dann spürte sie Widerstand. Es war etwas aus Holz. Beim dritten Versuch schaffte sie es, drückte es hoch und er konnte die Beine hervorziehen. »Danke«, sagte der Mann leise und schien sich aufzusetzen. Sehen konnte sie das nicht; es war stockfinster.
»Sind wir allein?«, fragte er nach einigen Augenblicken. »Offenbar schon. Nachdem vorn alles eingestürzt ist, bin ich nach hinten gerannt«, antwortete sie ihm. »Man konnte ja kaum seine Hand vor den Augen erkennen, deswegen weiß ich nicht, ob noch andere außer uns hier sind.«
»Wir müssen das überprüfen«, sagte der Mann. »Vielleicht ist jemand bewusstlos.«
Sie nickte, obwohl sie ihn ja gar nicht sehen konnte. Noch nicht einmal schemenhaft konnte sie etwas wahrnehmen, die Dunkelheit war übermächtig. Und wieder griff die Angst nach ihr - was, wenn es hier überhaupt keine Luftzufuhr gab? Wenn der Sauerstoff immer weniger würde und sie es nicht schafften, hier herauszukommen? Was war dann?
»Es scheint, als ob hier alles zugeschüttet ist.« Der Mann stand jetzt neben ihr, sie konnte seinen Geruch wahrnehmen. Er roch herb. Intensiv herb. Von links kam das Geräusch von knarrendem Holz, Steine schienen zu rollen. Er tastete nach ihrer Hand und zog sie in die andere Ecke, während ein Balken brach und noch mehr Schutt herunterprasselte.
Es war merkwürdig für sie, aber in seiner Nähe fühlte sie sich sicher. So, als ob sie wüsste, dass ihr bei ihm nichts passieren konnte.
Eine halbe Stunde später hatten sie festgestellt, dass sich niemand außer ihnen beiden in diesem Teil des Luftschutzkellers befand. Zwar waren sie sicher, dass niemand da sein konnte, aber sie schauten trotzdem noch einmal nach, suchten alles ab. Nichts. Niemand. Sie wussten auch, dass es äußerst schwierig sein würde, ohne Werkzeug hier herauszukommen. Wo sie den Ausgang vermuteten, lagen schwere Steine, das hatten sie ertastet; es würde Tage dauern, sich hier auch nur ansatzweise einen Weg freizuschaufeln.
»Sind Sie durstig?«, fragte der Mann. Über solch profane Dinge hatte sie sich bislang keine Gedanken gemacht. Aber nun merkte sie, dass sie tatsächlich durstig war, sehr sogar, doch bevor sie das sagen konnte, spürte sie das kalte Metall einer Feldflasche an ihrem rechten Unterarm. »Hier, bitte«, sagte der Mann. »Mein Name ist übrigens Maximilian.«
»Sophie.« Dankbar schraubte sie die Flasche auf und trank.
»Wir müssen vorsichtig sein«, erklärte er kurze Zeit später. »Wir wissen nichts über die Statik des Gebäudes. «
»Wird man uns denn nicht suchen?« Sie versuchte, das aufsteigende ungute Gefühl zu unterdrücken. »Doch«, sprach sie weiter, noch bevor Maximilian antworten konnte. »Natürlich wird man uns suchen. Ich habe ja Familie. Meine Familie wird mich finden wollen. Mein Mann, er wird sich fragen, wo ich bin, und meine Kin-
der ... sie ... ich muss doch wieder nach Hause zurück.«
Maximilian antwortete ihr nicht gleich, Sophie hörte ihn nur gleichmäßig atmen. »Es ist Krieg.« Seine Stimme klang resigniert. »Und wir wissen nicht, wie es da draußen überhaupt aussieht. Wir wissen im Moment gar nichts. Nur, dass wir am Leben sind. Wir beide.« Die letzten Worte klangen warm und so, als wollten sie ihr die Angst nehmen. Maximilian hatte eine tiefe Stimme, sie hörte sich gut an. Sicher. Sophie waren Stimmen schon immer wichtig gewesen. Sie fragte sich, wie er wohl aussehen mochte. Ob er dunkle Haare hatte oder ob sie blond waren. Jedenfalls musste er größer sein als sie, das hörte man, denn seine Stimme kam von weiter oben, und sie standen beide.
»Was sollen wir denn jetzt machen?« Sie hoffte so sehr, dass seine Antwort, irgendein Plan, frei von Zögern kommen würde, gut durchdacht und ohne größere Probleme durchführbar.
»Ich weiß es nicht. Noch nicht«, war alles, was Maximilian schließlich sagte. Dann suchte er wieder Sophies Hand und zog sie ein Stück näher zu sich. »Sie zittern
ja.«
Weil sie nicht wie ein Angsthase wirken wollte, sagte sie schnell: »Ich friere leicht«, und zwang sich, nicht mehr zu zittern, was sich aber als schwierig herausstellte, weil es im Luftschutzkeller doch sehr kalt war und sie nur ein leichtes Sommerkleid trug.
Und dann musste sie ganz plötzlich anfangen zu weinen, zuerst leise, sie wollte nicht, dass er es merkte, aber dann zog er sie noch näher an sich und legte beide Arme um sie, und Sophie presste ihr Gesicht in seine Armbeuge, spürte einen etwas kratzigen Stoff und gleichzeitig die Wärme, die er ausstrahlte, und dann konnte sie nicht mehr und schluchzte laut; alles brach aus ihr heraus.
Maximilian sagte gar nichts, er streichelte ihren Rücken und hielt sie fest, so fest, wie sie noch nie jemand gehalten hatte. Und Sophie hätte ewig so stehen bleiben können. Ewig.
Einige Minuten später ließ Maximilian sie langsam los. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Sophie. »Es ist nur, weil ich ... weil ich ... es ist alles ein wenig zu viel.«
»Das verstehe ich sehr gut. Falls Sie Angst haben, dann geben Sie es ruhig zu«, antwortete Maximilian. »Angst ist schon seit einigen Jahren alles, was geblieben ist. Sie hat sogar die Hoffnung in den Hintergrund gedrängt. Sehr langsam zwar, aber letztlich war sie stärker.« Er lachte leise auf. »Jetzt müsste ich mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen. Es ist doch als Mann meine Aufgabe, Sie zu beschützen, und dann fange ich an, von Angst zu sprechen.«
»Wenn es aber nun mal so ist«, entgegnete Sophie.
»Wussten Sie eigentlich, dass es einen Unterschied zwischen Angst und Furcht gibt?«, fragte Maximilian und wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wenn man sich fürchtet, sind alle Sinne in Habachtstellung. Man spürt seine Instinkte, ist bereit zu flüchten oder sich zu verteidigen. Angst ist anders. Hat man Angst, ist man wie gelähmt und fühlt sich ganz dumpf und wie benebelt, jede Bewegung und das Denken fällt einem schwer. So empfinde ich es zumindest.« Er machte eine kurze Pause. »Und warum erzähle ich Ihnen das jetzt? Weil wir uns weder Angst noch Furcht leisten können. Jedenfalls jetzt nicht. Nicht in dieser Situation. Verstehen Sie? Wenn wir uns ängstigen oder fürchten, egal vor was, können wir Fehler machen. Wir müssen versuchen, klar zu denken, zu überlegen. Schritt für Schritt. Nur so haben wir vielleicht die Möglichkeit, hier herauszukommen.«
»Was ist ... wenn es uns trotzdem nicht gelingt?«
Maximilian trat wieder einen Schritt näher zu Sophie und fasste sie an den Schultern. »Es muss uns gelingen. Wir werden es schaffen. Und vielleicht ... sucht man ja tatsächlich schon nach uns. Wenn wir Glück haben, ist bald alles ausgestanden. Trotzdem können wir nicht untätig herumsitzen und warten. Das können wir uns in dieser Situation nicht leisten.«
»Aber was dann? Was sollen wir tun?« Sophie war ratlos und hilflos zugleich.
»Das werden wir beide gemeinsam entscheiden. Hören Sie? Wir beide gemeinsam.«
»Ja«, sagte Sophie leise. »Nur ... wann wollen wir damit anfangen?« Sie spürte Maximilians warme Hände durch den leichten Stoff ihres Kleides, dann ließ er sie überraschend los.
»Jetzt gleich«, sagte Maximilian mit fester Stimme. »Und womit?«
»Waren Sie schon einmal hier unten?«, wollte Maximilian wissen.
»Nein, noch nie. Ich wohne gar nicht hier. Ich bin nur zufällig in Sachsenhausen, weil ich eine Freundin besucht habe. Mein Mann und meine Kinder sind zu seinen Eltern gefahren, und ich, ich wollte zu Lotti. Das heißt, ich war auch bei Lotti. Bis die Sirenen losgingen.« ›Lotti‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Hoffentlich ist dir nichts passiert. Bitte, bitte, ich möchte nicht, dass dir etwas passiert ist. Das könnte ich nicht ertragen.‹ »Lotti ist meine beste Freundin«, sagte sie dann noch. »Wir kennen uns schon sehr lange. Aber wie gesagt, nein, ich war noch niemals hier unten. Ich kann mir schon denken, wieso Sie fragen. Sie hoffen, dass ich mich ein bisschen auskennen könnte.«
Maximilian nickte und überlegte. »Das Erste, was wir brauchen, ist Licht. Lassen Sie uns den Boden systematisch absuchen, Zentimeter für Zentimeter. Immerhin könnte jemand vorsorglich Kerzen und Zündhölzer deponiert haben. Falls passiert, was uns passiert ist. «
Sophie hörte, dass Maximilian sich von ihr wegbewegte und folgte ihm vorsichtig. Sie kniete sich hin und tastete den Boden ab.
»Warum sind Sie eigentlich hier ?«, fragte sie Maximilian kurze Zeit später unvermittelt.
»Weil ich wie Sie die Sirenen gehört habe. Und den nächsten Schutz gesucht habe.«
»Nein, das meine ich nicht. Es ist doch Krieg, und Sie ... « - »Verstehe«, sagte Maximilian. »Ich hatte drei Tage Heimaturlaub. Morgen müsste ich eigentlich wieder an die Front. Aber so wie es aussieht, schaffe ich das nicht. Es sei denn, ein Wunder geschieht. Allerdings bin ich Realist und glaube nicht an Wunder. Jedenfalls nicht in diesen Zeiten.« Sie krochen beide auf dem harten Boden herum, spitze Steine bohrten sich in Sophies Knie. Ab und an ertasteten sie etwas, versuchten herauszufinden, was es war, aber meist handelte es sich nur um Holz- oder Betonstücke. Doch dann spürte Sophie plötzlich etwas, das anders war. Weicher und nachgiebiger. »Hier!«, rief sie in die Richtung, wo sie Maximilian vermutete und hörte, dass er rasch näher kam.
»Das sind tatsächlich Kerzen«, sagte er froh. »Wenn hier jetzt noch ... ja! «
Drei Sekunden später zündete er eine der Kerzen an und hielt sie hoch. Und Sophie und er schauten sich zum ersten Mal in die Augen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Stephan
- 334 Seiten, Masse: 13,3 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004823
- ISBN-13: 9783868004823
Rezension zu „Zwei halbe Leben “
"Gekonnt fängt Rebecca Stephan die Atmosphäre der Nachkriegsjahre ein und verwebt sie mit einer traurig-romantischen Liebesgeschichte." (HörZu, 14.05.2010)"Mehr Emotion geht nicht." (Jolie, 05.06.10)
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